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Jörg

Juretzka

Nomade

Ein Roadmovie

Rotbuch Verlag

eISBN 978-3-86789-845-4

1. Auflage

© 2021 by BEBUG mbH / Rotbuch Verlag, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Umschlagabbildung: Anterovium/AdobeStock

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Rotbuch Verlag

Axel-Springer-Str. 52

10969 Berlin

Tel. 01805/30 99 99

(0,14 Euro/Min., Mobil max. 0,42 Euro/Min.)

www.rotbuch.de

FÜR CORA UND VERENA

Spezieller Dank an Sleaford Mods feat. Billy Nomates für ›Mork n Mindy‹

Sämtliche Figuren dieses Romans sind frei erfunden.

Tiefe Nacht unter der Kuppel eines sternklaren, wenn auch mondlosen Himmels. Der Diesel nagelte gelassen vor sich hin, der Aufbau quietschte und knarzte, wann immer eines der Räder in eine Vertiefung sackte oder sich eine weitere hüfthohe Düne hochwälzte. Die Monotonie des Geschaukels und des erzwungenen Schneckentempos drohte mir allmählich den Saft abzudrehen, da erfasste mein Fernlicht das Wrack. Ich ließ den Truck darauf zurollen, stoppte und nahm den Gang raus. Das Auto, ein SUV mit Starrachsen, lag auf dem Dach, ausgebrannt und umgeben von wild verstreuten Ausrüstungsteilen. Es war nicht das Fahrzeug, das ich suchte, aber es sah so aus, als ob es noch nicht lange daläge. Und das nicht etwa entlang einer Piste, sondern mitten im wegelosen Niemandsland. Da stellt sich dann schon die Frage, was wohl mit den Insassen ist. Deshalb fuhr ich erst mal nicht weiter, sondern knipste den Suchscheinwerfer an, ließ den Lichtschein langsam hin und her über die platte Einöde streifen. Ein Paar schmaler, gelber Augen leuchtete kurz auf und verschwand blitzartig wieder. Ansonsten nichts als helle Dünen auf dunklem Geröll, wie Schaumkronen auf nächtlicher See, ununterbrochen bis hin zu der fernen Linie, wo die matte Schwärze des Landes auf die mit Gefunkel durchsetzte Schwärze des Himmels stieß. Müde presste ich den Zugschalter ins Armaturenbrett und der Motor verstummte. Dann klickte ich der Reihe nach alle Scheinwerfer aus und Dunkelheit senkte sich über die Szenerie. Mit kurzem Zischen blies die Bremse etwas Druck ab, als ich den Fuß vom Pedal nahm. Stille folgte. Knisternde Stille und fast völlige Finsternis, all der Sterne zum Trotz.

Bella hob den Kopf und sah mich fragend an.

»Feierabend«, entschied ich.

Sie erhob sich von ihrem Lager im Beifahrerfußraum, streckte sich einmal durch, schüttelte schlackernd den Kopf und trottete dann durch die schmale Passage nach hinten, in die Wohnkabine. Ich stieß die Fahrertür auf, schwang mich aus dem Sitz und kletterte die Sprossen runter. Der Wind hatte für den Moment etwas nachgelassen, und doch war es zu kalt für T-Shirt und Shorts. Am Heck löste ich die Verriegelung und ließ die Alutreppe runter, stieg rauf, öffnete die Tür. Bella kam heraus und zögerte kurz, bevor sie sich mit der ihr eigenen Skepsis hinabtastete. Die Lochblechstufen sind und bleiben ihr nicht geheuer. Ich hätte sie auch aus der Beifahrertür rauslassen können, doch der Truck ist zu hoch und Bella zu groß und zu schwer für solche Akrobatik. Von einem Haken an der Tür schnappte ich mir meine Windjacke und mein Stirnlicht und streifte beides über.

Bella war schon vorgelaufen, um das Wrack zu inspizieren. Es schien tatsächlich höchstens ein, zwei Tage alt, das Blech noch nackt und glänzend, wo es den Lack weggebrannt hatte, ohne auch nur einen Hauch von Flugrost. Ein Viertürer, das Dach komplett zu einer Seite weggeknickt, kein Blick ins Innere möglich. Den ringsum verteilten Krempel hatte der Wind schon halb unter Flugsand begraben. Alles war angekokelt, zerrupft, zertrampelt, aber, zumindest auf den ersten Blick, ziviler Natur – Kleidung, Campingausrüstung, Vorräte in Dosen, Kanistern, Tüten und Kartons. Keine Waffen, keine Munition, nichts in Tarnfarben. Gut so. Hätte es sich um ein Militärfahrzeug gehandelt, wäre ich augenblicklich weitergefahren. Man möchte nicht von einem übellaunigen, schwerbewaffneten S&R-­Kommando überrascht werden, wie man in den Resten von etwas herumprockelt, das vielleicht ein Unfall, unter Umständen aber auch ein Anschlag gewesen sein konnte.

Bella schnüffelte eifrig, aber ohne einen Laut an der Karosserie herum. Solang sie still ist, hat sie noch nichts gefunden. Nichts oder niemanden, je nachdem. Nach einer Weile hob sie den Kopf, stand einen Moment steif da, und setzte sich dann in Bewegung, als ob sie von ihrer Nase gezogen würde. Ich seufzte unwillkürlich und ging ihr hinterher. Keine Minute später hörte ich ihr kurzes, heiseres Heulen.

Sie lagen in einer flachen Mulde. Die eine Leiche war komplett verbrannt, ein schauderhaftes, mit schwarzen Fetzen behangenes Gerippe, die andere nur zur Hälfte, von den Füßen hoch bis zur Hüfte. Der Wind, vermutete ich. Der verbliebene Torso – wahrscheinlich der eines Mannes, schwer zu sagen, die gelbäugigen Tiere der Nachbarschaft hatten ihn schon ausgiebig benagt, ein Anblick, der für immer bei mir zu bleiben versprach – war noch frisch genug, um zu stinken, etwas, das in der Wüste wegen der rapiden Austrocknung nur ein paar Tage anhält. Beide hatten je ein Loch in der Stirn und keine Hinterköpfe mehr. Hingerichtet, aus nächster Nähe.

Ich knipste das Stirnlicht aus, tätschelte Bella den Kopf und raunte ein paar Worte, halb lobend, halb tröstend. Drehte mich um, ging zurück und erklomm die Leiter, rauf auf den Dachgepäckträger, verschaffte mir einen Rundumblick. Kein Licht, kein Funkenflug, kein Anzeichen menschlicher Anwesenheit, soweit mein Auge reichte. Nach einem langen, tiefen Atemzug kraxelte ich wieder runter.

Zwei Zivilisten, ermordet. Direkt neben dem Tatort die Nacht zu verbringen erscheint ein bisschen eine bizarre Idee, doch die Täter würden nicht zurückkehren – wozu? – und Tote sind und bleiben die ruhigsten Nachbarn.

»Sollen wir?«, fragte ich, und wir machten uns auf unsere übliche, spätabendliche Runde, Bella wie immer dicht an meiner Seite. Sie ist es auch, die den Kurs bestimmt. Weil sie meinen Sinnen nicht so recht traut. Man mag es nicht für möglich halten, sich in einer Ebene zu verlaufen, doch es wird dunkel in der Wüste, viel dunkler, als man sich das als Städter vorstellen kann, und die Gleichförmigkeit mancher Landschaften bewirkt, dass da nichts ist, woran man sich orientieren könnte. Mit anderen Worten: Du gehst nachts ohne Lampe kacken und wenn du den Rückweg nur um ein paar Grad verpeilst, kann es sein, dass du anschließend dein Fahrzeug nicht wiederfindest.

Bella drängte mich sanft immer mal wieder ein bisschen nach links, zwischen der nächsten und dann der übernächsten Düne hindurch, so dass unsere Runde tatsächlich zu einer Kreisbahn wurde, die da endete, wo sie begonnen hatte. Zurück im Truck schloss ich die Tür hinter uns, streifte Jacke und Schuhe ab und zwängte mich in meine Koje. Bella rollte sich direkt neben meinem Kopfende auf einem Läufer zusammen, grunzte zufrieden und schlief ein, während mir noch eine Weile skelettierte und angefressene Leichen auf der Netzhaut herumtanzten.

Zum x-ten Mal fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat, und warum. Leute suchen, Tote finden. Ganz ähnlich wie damals, in der Anfangsphase meiner Zeit als Privatdetektiv. Vom ersten Auftrag an war mir das Aufspüren Vermisster einerseits leichtgefallen, wie eine sich spontan manifestierende Begabung, und gleichzeitig seltsam abwegig erschienen, geradezu verstörend. Natürlich hoffst du, die jeweilige Person lebend, gesund und munter anzutreffen, die Gründe für ihr Verschwinden eigentlich trivial und bald vergessen. Umarmungen, Schulterklopfen, Tränchen, Happy End für alle. Doch in der sogenannten Zivilisation verschwinden Leute äußerst selten aus trivialen Gründen. Und um ahnen zu können, wohin sie sind, hilft es, zu wissen, woher sie kommen. Sobald du diesen Deckel lüftest, kriegst du – egal in welchem Umfeld – immer wieder Verhältnisse zu Gesicht, die geprägt sind von Erbärmlichkeit, Gier und Gewalt. Immer wieder Alk und Drogen, immer wieder niedere Beweggründe, immer wieder Missbrauch. Du kniest dich trotzdem rein, und wenn du den oder die Gesuchten endlich vor dir hast, dann sind sie so gut wie nie gesund und munter und schon gar nicht immer lebend. Irgendwann bin ich ausgestiegen, hab mir andere Jobs gesucht, andere Probleme aufgehalst und andere Beklemmungen zugelegt. Und jetzt rutschte ich da wieder rein, als ob ich wider besseres Wissen nicht genug davon bekäme.

Mein Umzug in die Wüste hatte als Versuch begonnen, ein paar tiefer sitzende Traumata zu verarbeiten. Und es hat geklappt, erstaunlicherweise. Die Weite, die Menschenleere, die fantastische Ruhe, die notwendige Konzentration auf die Anforderungen eines Daseins allein in der Wildnis, all das zusammen regelte mich runter. Nach und nach schlief ich wieder ein bisschen besser, bekam meine Paranoia in den Griff, meine Schuldgefühle, fand zumindest ansatzweise, streckenweise so was wie Frieden.

Und dann wurd mir fad.

Die Geschichte meines Lebens, wenn ich nur eine Sekunde drüber nachdenke.

Bellas gleichmäßige Atemzüge lullten mich schließlich ein und ich driftete weg in ein paar Stunden voll der üblichen Alpträume.

Ich klemmte den Spaten zurück in seine Halterung an der Seite des Aufbaus, ging neben dem Wrack auf die Knie, beugte den Kopf runter und inspizierte die mittlerweile kaum noch auszumachenden Reifenspuren im frühen, flachen Licht der Morgensonne. Sie verliefen schnurgerade. Keinerlei Verwerfungen, wie sie einem Überschlag unweigerlich vorausgehen.

Bella stupste mich mit der Nase an, ihr war nach Frühstück, also kraxelten wir rein in unsere mobile Behausung. Das SatPhone blinkte in seiner Halterung auf der Werkbank. Eine SMS, weitergeleitet von Mombassa. missing: mitsub. pajero. uk. 2 pers. m/m. dest. dakar. last seen 4.1. tam. Ich warf einen Blick auf den Wandkalender über der Spüle, ein Geschenk von Freund Charly, wie jedes Jahr. Dünne Frauen mit dicken Titten über hochglanzpolierten Harley-Davidsons, wie jedes, wie jedes, wie jedes, jedes, jedes Jahr. Ich sag: ›Wie wär’s mal mit Leuchttürmen, oder Hundewelpen, oder Alpenpanoramen?‹, doch er lacht nur, als ob ich das unmöglich ernst meinen könnte.

Anhand der wie ein Nachgedanke unter die Stilettos und Chromspeichenräder gequetschten Datumsleiste war das letzte Lebenszeichen der beiden Briten mittlerweile zehn Tage alt, aus Tamanrasset, von wo ich vor nur zwei Tagen aufgebrochen war.

Ein Napf frisches Wasser und ein Napf Trockenfutter für Bella, ein Becher Kaffee und eine Handvoll Trockenfutter (Kekse) für mich. Ab und zu mal wieder ein Toast wäre schön, und abends auch mal irgendetwas anderes als Spaghetti mit Öl, Knoblauch und Chilischoten, doch die Vorratshaltung in einem kühlschranklosen Vehikel, das sich jeden Mittag wie ein Ofen aufheizt, beschränkt sich zwangsläufig auf lauter Zeugs, das unter solchen Bedingungen durchhält, ohne schon am zweiten oder dritten Tag anzufangen zu gären, abzugasen und in unansehnliche Pilzkulturen aufzublühen.

Fertig mit Frühstück, spülte ich ab und räumte weg, schnappte mir meine Nikon und machte mich an die Arbeit. Ohne eine nachvollziehbare Dokumentation werden die Leute nicht für tot erklärt, was es den Angehörigen erheblich erschwert, sich um das Erbe zu streiten.

Die Sonne jagte den Himmel hoch, die Temperaturen hechelten ihr hinterher, der verfluchte Wind nahm wieder Fahrt auf. Bella verzog sich unter den Truck, bettete ihr Kinn auf einer Vorderpfote und sah mir unter schläfrigen Lidern hervor zu. Erst mal knipste ich die Karosse. Die Kennzeichen waren im Feuer geschmolzen, doch es handelte sich um einen Mitsu­bishi Pajero, und ich hatte keine Zweifel, dass es das vermisste Fahrzeug war. Am Heck hatte noch eine größere Stelle silbermetallicfarbenen Lacks überlebt, mit einem Rest Sprühlack-Slogan (…kar or bust), und der Vollständigkeit halber machte ich auch davon ein Bild. Dann zog ich ein Paar Latexhandschuhe über, ging zur Mulde und fotografierte nacheinander die Leichen aus möglichst gnädigen Winkeln im Ganzen, schließlich, so gut es ging, ihre Zähne, Ober- und Unterkiefer separat. Dem Halbverbrannten schnitt ich obendrein noch eine Haarsträhne ab und tütete sie ein. Er trug eine Fliegerjacke mit zahlreichen Taschen, die ich der Reihe nach durchfingerte, obwohl klar war, dass mir da schon jemand zuvorgekommen war. Musste ja nicht heißen, dass sie dasselbe gesucht hatten wie ich. Doch ich fand nichts. Ein Schwarm Schmeißfliegen stieg auf, und mein Frühstück mit ihnen, als ich den Toten auf den Bauch drehte. Unter seiner rechten Achsel kam ein kurzläufiger Trommel­revolver zum Vorschein, sandig, feucht und stinkig vor Leichenflüssigkeit. Ich nahm ihn hoch, wischte ihn so gut es ging sauber, zog den Stift, die Trommel schwenkte raus. Alle Kammern voll, alle Patronen intakt, nicht eine davon abgefeuert. Die Opposition war einfach schneller und entschlossener gewesen, wie es so oft den Unterschied macht zwischen Profis und Amateuren. Was ich nicht kapierte war, wieso sie den Wagen nicht mitgenommen, sondern aufs Dach gewälzt und abgefackelt hatten.

Eigentlich drängte es mich, weiterzufahren, ich suchte ein Schweizer Ehepaar, doch erstens ist eine Stunde in der Wüste kein Zeitmaß – man verlernt sehr schnell, sich beeilen zu wollen – und zweitens hatte ich eine Vorahnung in diesem Fall, rechnete instinktiv mit dem baldigen Eingang einer Lösegeldforderung. Obendrein wollte ich einfach wissen, was hier passiert war. Deshalb entriegelte ich die Seilwinde des Trucks, packte den Haken, legte mir das Drahtseil über die Schulter, stapfte los, zog es über das Wrack und befestigte es auf der anderen Seite unten an der B-Säule. Zurück im Truck startete ich den Motor, ruckte den Bedienungshebel nach vorn und die Winde begann zu wickeln, straffte das Seil, drehte die Karosse erst auf die Seite und schließlich um auf die reifenlosen Räder. Ich ließ den Motor laufen, bis ich den Haken gelöst und das Seil wieder komplett auf der Spule hatte. Aus Gewohnheit und – wie man sah – guten Gründen halte ich mein Fahrzeug gern in einem Zustand sofortiger Aufbruchsbereitschaft.

Die Windschutzscheibe des Pajero war zerborsten und hing nur noch hier und da an Resten von Dichtgummi, doch die Fahrzeug-ID-Nummer in ihrem linken unteren Winkel hatte das Feuer überstanden. Ich machte ein Foto. Unter der Motorhaube kam ein Benziner mit großem, rundem Luftfiltergehäuse zum Vorschein, allerdings minus Deckel und Filter. An der Seite des Motorblocks sabberte schwarzes Öl aus einem beinahe faustgroßen Loch. Pleuel abgerissen, Kurbelwelle gebrochen, irgend so was, das so hässlich knallt, dass man gleich weiß, das war’s. Also: Motorschaden mitten in der Einöde, fernab jeder Piste und Oase. Eijeijei. Katastrophe. Kein SatPhone, oder kein Signal, was auch immer, kein Kontakt zur Welt. Eijeijei. Doch sie haben Wasser dabei, Lebensmittel. Ein Tag vergeht, noch einer, noch einer. Wachsende Beklemmung. Es muss doch … Und Tatsache: Da naht ein Fahrzeug. Frenetisches Winken und Rufen, große Erleichterung. Denn man hilft sich gegenseitig in der Wüste, das weiß jedes Kind. Die Rettung naht in Form eines, ich rate mal, Toyota Pick-ups. Die Dinger heißen ›Hilux‹, doch ›Trouble‹ wäre wesentlich passender. Denn die Insassen – in der Regel mehrere meist bewaffnete Männer – wollen in diesem Fall gar nicht helfen, sie denken noch nicht mal dran. Sie wollen Geld und alles andere von Wert und sich dann aus dem, tja, Staub machen. Erleichterung schlägt in Entgeisterung um, dann in Empörung. Ein Wort gibt das andere, man verliert die Nerven, versucht sich zur Wehr zu setzen, das misslingt. Peng und peng. Geschätzte fünf, sechs Tage hatten sie hier ausgeharrt, Tage und Nächte, hatten gehofft, gebangt, ihre Vorräte schwinden sehen, nur um dann kurz vor knapp ausgerechnet an die Falschen zu geraten. Ja, Scheiße.

Mombassa lag mir dauernd in den Ohren, dass ich nicht länger unbewaffnet herumfahren soll. Es stimmt schon, weite Teile der Sahara sind gesetzlos, sich selbst überlassen. Schmuggler, Schleuser, Räuberbanden und Milizen jeglicher Couleur nutzen diese Gegenden als Transitrouten und Rückzugsgebiete. Doch die Räume sind riesig, die Chancen auf Begegnungen gering. Bisher hatte ich Glück gehabt, doch es gab keine Garantien, dass es für immer halten würde. Andererseits waren die Briten im Besitz einer Schusswaffe gewesen, und viel hatte sie ihnen genützt. Man muss damit umgehen können, man muss blitzartig entscheiden, sie einzusetzen, und das dann knallhart durchziehen, ohne auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen. Alles nicht so einfach.

Eher lustlos und ziemlich hastig suchte ich den ganzen Kram zusammen, der rings um die Karosse verstreut lag. Sämtliche Behälter waren geöffnet, Schlafsäcke, ja selbst die Sitzpolster aufgeschlitzt, alles war zerrupft und durchwühlt worden, bis hin zum Luft­filterkasten. Die Täter hatten gründlich gesucht, das Fahrzeug regelrecht ausgeweidet, schließlich aufs Dach gerollt – um zu schauen, ob irgendetwas unter dem Wagen versteckt war – und letzten Endes zusammen mit den Leichen angesteckt. Um Spuren zu beseitigen oder wozu auch immer.

Ich ließ nur die Lebensmittel liegen, stopfte alles andere in den Motorraum, gab einen Schluck Diesel drüber, steckte es an. Ja, ja, ich weiß, das Klima. Doch in der Wüste verrottet nichts, man muss es verbrennen oder es vermüllt die Landschaft für immer. Der Wind blies die Flammen hoch, und im letzten, im allerletzten Moment griff ich noch mal hinein und zog den Luftfilter wieder heraus. Meine Finger hatten beim Reinstopfen etwas entdeckt, das mein Hirn erst ein bisschen später mitbekam: eine Klebenaht, rings um den Innenrand. Jemand hatte den Luftfilter aufgesägt, auseinandergenommen und nachher wieder zusammengeklebt. Ich riss die obere Hälfte ab. In einem sauber und kreisrund in das Filtermaterial geschnittenen Loch steckte ein Senfglas. Ich pulte es raus, besah mir den Filter noch mal gründlich, warf ihn zurück in die Flammen. Dann hielt ich das Glas hoch ins Licht. Es war voll harter, runder, fingerdicker, rotbrauner Stäbe. Opium, vermutlich iranisch oder af­ghanisch, wenn nicht jemenitisch oder sonst woher. Kaum ein bewaffneter Konflikt weltweit, der nicht auch mit Drogen finanziert wird. Doch das interessierte mich in diesem Augenblick nicht, schließlich hatte ich das Zeug nicht bezahlt. Ich schraubte den Deckel ab, holte einen Stab raus, schnupperte, leckte daran – bitterer als eine Kündigung, bitterer als eine Scheidung, bitterer als ein Haftantritt, also richtig, ernsthaft bitter – und fühlte eine Wärme, die an Zärtlichkeit grenzte. Ich würde schlafen, diese Nacht. Tief und fest.

Ich ließ die Toten, wo sie lagen, zog nur mein GPS-­Gerät zurate und notierte ihre Position. Vielleicht wollte sie ja jemand holen kommen. Vielleicht wollte ja tatsächlich eine Behörde einen Blick drauf werfen. Dann schickte ich Mombassa eine SMS mit den Fakten, den Daten und der Fahrzeug-ID. Die Haarprobe würde ich versenden, sobald ich zurück in Tamanrasset war, die Fotos nur auf behördliche Anforderung. Sie waren im Grunde nicht zumutbar.

Bella und ich liefen noch eine kleine Runde, vertraten uns ein wenig die Füße, bevor wir einstiegen und unseren Weg fortsetzten, dem Züricher Ehepaar hinterher. Sie wollten ins Adrar des Ifoghas, einen Gebirgszug im Südwesten Algeriens, um nach Felszeichnungen zu suchen. Es gab exakte Koordinaten, einen klar definierten Punkt, von wo sich die beiden ein letztes Mal gemeldet hatten, und den steuerte ich jetzt an, so direkt es das Gelände zuließ. Noch zwei Tage, schätzte ich, vielleicht auch drei. Bella kraxelte auf den Beifahrersitz, legte ihr Kinn auf die Tür und ließ sich den Fahrtwind um die Nase streichen. Ich konzentrierte mich aufs Fahren, hing dabei meinen Gedanken nach.

Das Opium war ein seltsamer Fund. Zu viel, um, sagen wir, nur ein paar Urlaubsnächte zu verdösen, zu wenig, um als professioneller Handel Sinn zu ergeben. Ich vermutete, sie hatten das Zeugs irgendwo im Norden erstanden, um es in der Partyszene von Dakar zu verkaufen und so die Reisekosten wieder reinzuholen. Und zwanzig Jahre in einem afrikanischen Knast zu riskieren. Es ist erstaunlich, auf was für Ideen die Leute kommen, um ein bisschen Geld zu sparen. Aber es erklärte auch ihren Versuch, die Grenze nach Mali irgendwo im Nirgendwo zu kreuzen. Arme Idioten.

Wann immer ein Vorderrad eine Düne erklomm, wollte es da wieder runter, wann immer es in eine Mulde sank, wollte es tiefer hinein. Das Resultat war ein Schlingerkurs, der pausenlose Lenkkorrekturen erforderte, die mit der Zeit auf die Arme gingen, und von da in die Schultern. Das Fahren abseits der Straßen schlaucht. Selbst mit einem Lkw mit extra großen Rädern musst du obendrein ständig auf der Hut sein, dir nicht an einem halb im Sand verborgenen Felsbrocken einen Reifen zu zerschneiden oder eine Spurstange zu verbiegen. Von den Risiken, die gesamte Fuhre aufs Dach zu legen, mal ganz zu schweigen. Die Schweizer waren in einem Expeditionsmobil unterwegs, auf Unimog-Basis, viel besser und viel teurer geht’s nicht. Doch auch ein Unimog ist auf vier aufgeblasenen Gummibälgen unterwegs und hat – vor allem mit Wohnaufbau – einen hohen Schwerpunkt. Ein Fahrfehler genügt, die Kiste kippt um und steht von allein nicht wieder auf. Okay, rufst du eben Hilfe. Doch Satellitenkommunikation und GPS haben Wüstenreisen nur scheinbar sicherer gemacht. Mit deinem SatPhone musst du im Fall der Fälle auch tatsächlich jemanden erreichen, und der muss wiederum in der Lage sein, entweder selbst loszufahren und dich zu retten oder aber jemanden aufzutreiben, der Zeit und Lust dazu hat. Und das sind nur die logistischen Unwägbarkeiten. Mechanische, elektrische, elektronische kommen hinzu. Ladegeräte können kaputtgehen, ohne dass du es merkst. Das Telefon als solches braucht nur ein bisschen viel Mittagssonne abzukriegen und seine Innereien schmelzen dahin wie die Weinbrandbohnen im Mund von Tante Mia, ausgerechnet kurz bevor du, sagen wir mal, diesen Böschungswinkel unterschätzt. Oder dir, festgefahren, die Kupplung verschmurgelst. Obendrein sind die Dinger mittlerweile selbstverständlich alle klein und handlich. Passen in jede Hemd- oder Hosentasche. Fallen raus, völlig geräusch­los im tiefen Sand der wunderschönen Düne, die du gerade erklimmst, und tauchen erst fünfzig Jahre später wieder auf. So wie du, wenn du Pech hast.

Mit dem Sonnenstand kletterten die Temperaturen, auch die des Kühlwassers. Als die Anzeige endgültig in den roten Bereich zu wandern drohte, tauchte am Horizont ein Baum auf, mit flacher, breiter Krone. Ein Baum, ein einzelner Baum, seit Jahrzehnten, Jahrhunderten einsam und allein inmitten all dieser Wüstenei. Man möchte ihn in den Arm nehmen. Ich hielt dar­auf zu, steuerte den Truck in den Schatten, stoppte, stellte den Motor ab. Bella erhob sich, drehte sich auf ihrem Sitz und sah mich fragend an.

»Mittagspause«, sagte ich.

Je nachdem, wie klar der Himmel ist, wie heiß es wird, legen wir um diese Zeit meistens eine Rast ein, halten Siesta im Schatten des Trucks und fahren später weiter, bei Bedarf bis in die Nacht.

Ich klappte die Leiter am Heck runter, ging rein und kochte mir einen Becher Tee, den ich mit nach draußen nahm, wo ich mich im Schatten der Baumkrone und im Windschatten des Stammes auf den Boden hockte.

Der Nordost-Passat ist ein muskulöser, sportlicher Typ, dem, einmal in Fahrt, nicht so bald die Puste ausgeht. Und er ist ein sturköpfiges, übellauniges Arschloch. An manchen Tagen, manchen Orten, pulsiert er geradezu vor grimmiger Energie. Und er ist sandhaltig, biestig stechend sandhaltig, immer und überall, es kann einen den letzten Nerv kosten.

Bella streunte ein Weilchen herum, schnüffelte hier, schnüffelte da, bis der Wind auch ihr zu viel wurde, und gesellte sich dann zu mir.

Eines der Motive, meine – und Bellas – Talente hier in der Wüste zur Anwendung zu bringen, war wohl die Aussicht auf unkompliziertere Ursachen, wenn Leute verloren gingen. Verunfallt, verirrt, stecken geblieben, Sprit alle, ein Schaden am Auto. Natürliche, durch die karge Landschaft geprägte Notlagen, keine sozialen Gründe, und bitte keine familiären. Und damit einhergehend rechnete ich mir größere Chancen auf ein Happy End aus. Bisher, ich sag’s nicht gern, ohne den gewünschten Erfolg. Positiv betrachtet, hatte mich mein Entschluss aber zumindest davor bewahrt, mir am Rhein-Herne-Kanal, auf unseren täglichen Spaziergängen – vor allem aber auf dieser Bank, dieser Parkbank in der Nähe dieses Kiosks – umgeben von Bierpullen den Arsch abzulangweilen.

Vielleicht brauchte ich einfach nur eine Aufgabe, eine Beschäftigung, egal was, wie ein Rentner, der vor seinem Haus das Moos aus den Gehwegfugen kratzt.

Ich schlürfte meinen Tee. Wer immer die beiden Briten umgebracht hatte, es waren mehrere gewesen, genug, um den Wagen aufs Dach zu wälzen. Sie lebten zu weit weg, um den Mitsubishi abzuschleppen und in Teilen zu verkaufen, und doch nah und gut versorgt genug, um auf die Vorräte und Ausrüstung der beiden Toten husten zu können. Obendrein hatten sie es einigermaßen eilig, mit ein bisschen mehr Zeit hätten sie das Opiumversteck schon herausgekitzelt aus den beiden, deshalb vermutete ich, dass sie irgendeiner Einheit angehörten, einer Truppe. Armee, Grenzpolizei, Zoll? Ganz egal, was – es war ein zutiefst unbehaglicher Gedanke. Man will, man muss jemandem vertrauen können, oder es fängt an, dir den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Bella rollte sich zusammen und schlief ein, und kurz darauf machte ich es ihr nach.

Die Dünen wuchsen in die Höhe, je länger sich der Nachmittag hinzog, drängten uns weiter und weiter nach Süden ab. Auf der Landkarte sieht alles immer simpel aus, gähnende Leere überall, man bräuchte eigentlich nur einer schnurgeraden Linie zu folgen, doch um allzu schroffes Terrain und gerade um diese ›Ergs‹ genannten Sandgebirge macht man meist besser einen Bogen. Selbst mit einem Wüstentruck kann es sonst passieren, dass du in einem Dünental strandest, aus dem du aus eigener Kraft nicht wieder rauskommst. Oder nur nach endloser Plackerei mit Seilwinde, Sandanker und Sandblechen. In den Sportvideos von Wüstenrallyes braten sie immer mit Vollgas über alles hinweg, doch diese Veranstaltungen haben mit der Realität der Fortbewegung in die Wüste so viel gemein wie die Formel Eins mit dem morgendlichen Stadtverkehr.

Schon bald war der dunkle Boden nicht mehr zu sehen, wühlten wir uns durch weichen Sand, der stündlich tiefer wurde. Der Motor musste jetzt richtig arbeiten, knurrte verbissen, saugte eine Menge Sprit weg. Ich wäre noch weiter ausgewichen, doch am südlichen Horizont reckten sich schon die nächsten Dünenkämme in den Himmel, leuchtend orange und ebenso schön wie schwer zu queren, so dass ich weiter Kurs Richtung Westen hielt, es dem Auge und dem Gefühl am Lenkrad überließ, wo der Sand den geringsten Widerstand zu leisten versprach.

Das Rätselhafte war, dass die Schweizer augenscheinlich perfekt vorbereitet zu ihrer Exkursion aufgebrochen waren. Ein Fahrzeug mit Allesüberwinder-Qualitäten, eine Bevorratung für Wochen und eine tägliche Meldung bei ihrem Amateurarchäologen-Verein, der schon mehrmals ähnliche Expeditionen von Lausanne aus begleitet hatte. Die Vereinsmitglieder waren es, die um Hilfe gebeten und sämtliche Informationen zur Verfügung gestellt hatten, doch auch sie konnten trotz mehrfachen Nachfragens keine GPS-Kennung des Unimogs liefern.

So blieb nur die letzte Positionsangabe der Züricher von vor ziemlich genau zwei Wochen. Nach fünf Tagen ohne Meldung hatten die Lausanner, wie vorher vereinbart, das Paar und den Unimog als vermisst gemeldet. Zwei Tage später war ein Suchtrupp von der Militärbasis in Timiaouine aufgebrochen, angeblich unterstützt von einem Flugzeug. Nach vier Tagen war die Suche ohne Ergebnis beendet worden. Immerhin. Wären es afrikanische Migranten gewesen, hätte man sich nur den Hintern gekratzt und die Schultern gezuckt. Doch nach Angehörigen der westlichen Industrienationen wird schon gesucht. Es gibt da einen gewissen Druck von den Botschaften auf die Regierung – Stichwort ›Reisewarnung‹ – und der wird weitergereicht an die Behörden der Provinzen und von da an die Vertreter in den nächstgelegenen Oasen. Die setzen jetzt nicht unbedingt Himmel und Hölle in Bewegung. Dazu mangelt es allzu oft an der rechten Begeisterung oder einfach nur an Empathie.

Ich muss das erklären. Vor allem Individual- oder Abenteuerreisende sonnen sich gern in dem Interesse, das ihnen von den Wüstenbewohnern entgegengebracht wird, halten es nicht selten für Respekt, wenn nicht Bewunderung für ihren Mut und ihre Zähigkeit, mit denen sie sich einen Urlaub lang den Widrigkeiten der Sahara stellen, und übersehen dabei, dass die Leute einfach nur Zerstreuung suchen. Es ist scheiße langweilig in diesen isolierten Käffern, also lässt man sich bereitwillig auf Gespräche mit Auswärtigen ein, lauscht höflich ihren Angebereien und denkt sich seinen Teil dazu. Ich bin mir sicher, dass die meisten, mit denen ich hier Kontakt habe, innerlich den Kopf schütteln über das Streunerleben, das ich führe. Ein Typ, der aus einem Land kommt, in dem man nur einen Hahn aufdrehen muss, um an Wasser in beliebiger Menge zu kommen, anstatt es Eimer für Eimer aus einem tiefen Loch hochzerren zu müssen, der bequem zu Fuß zum Arzt oder zum Supermarkt gehen kann, der vom Staat fürs Nichtstun mehr Geld bekommt als ein algerischer Landarbeiter mit seiner tagtäglichen Wühlerei verdient – und der statt in diesem Luxus zu schwelgen lieber in einer rollenden Hundehütte haust und sich unablässig in der gottverfluchten Einöde her­umtreibt? Seid nett zu ihm, Kinder, aber haltet ein bisschen Abstand, denn er muss einen an der Waffel haben, der Gute.

Wenn jetzt einer oder mehrere solcher Spinner verschüttgehen, dann ist das eben ihr Pech, vermutlich Schicksal, oder Allahs Wille, und da die Chancen, den oder die Vermissten zu finden, erfahrungsgemäß gering, Kosten, Strapazen und Risiken einer derartigen Suchaktion aber nicht zu unterschätzen sind, reißt sich dafür niemand wirklich ein Bein aus.

Nach dem ›Sorry, aber …‹ aus Timiaouine hatten die Lausanner auf Vermittlung des Zollchefs von Tamanrasset mich kontaktiert. Und ich war jetzt den dritten Tag unterwegs. Die Sache ist die: In den mittlerweile vierzehn Tagen hätten es die beiden zur Not auch zu Fuß nach Timiaouine schaffen können. Durch schwieriges, weil felsiges Gelände, sicher, aber felsig heißt auch, zumindest teilweise, schattig. Dass sie es nicht getan oder nicht geschafft hatten, ließ schon vermuten, dass etwas Ernsteres vorlag, eine fatale Mixtur aus Kommunikationsabriss und Immobilität.

Gegen Abend stieg das Gelände leicht, aber stetig an, und Felsboden begann sich durch den Sand zu drücken. Überall in der Gegend standen, in höflichem Abstand zueinander, knorrige, blattlose Büsche. Die sinkende Sonne stach mir in die Augen und machte es nicht leichter, die Sträucher zu umfahren. Überflüssige Sorgfalt, könnte man meinen, denn sie sehen tot aus, komplett verdorrt, trocken wie Zunder, doch das täuscht. Ich bin mal für drei Tage mit einem Defekt an der Spritpumpe in einer ähnlichen Gegend gestrandet, hab am Abend des ersten Tages mein Wasch­wasser neben solch einem Strauch ausgeschüttet, am nächsten noch mal, und als ich tags drauf endlich fertig war mit der Reparatur, hatten sich an sämtlichen Zweigen Knospen gebildet, aus denen leuchtend grüne Blätter ans Licht drängten. Man glaubt nicht, wie viel pflanzliches Leben sich hier im Wartestand befindet. Wenn der Passat Regenwolken im Gepäck hat, bleiben die gern an den Bergen hängen, entladen sich in heftigen Güssen. Ohne Wald, ohne Boden, um es aufzunehmen, rauscht alles Wasser die felsigen Hänge hinab, schießt unten in die Ebene und folgt dabei meist schon vorhandenen, häufig tief ins Gelände gespülten trockenen Flussbetten, ›Wadis‹ oder auch ›Oueds‹ genannt. Kaum ist das Wasser durch, pressen sich Blumen und Wildkräuter nur so aus dem Boden, füllen das gesamte Tal in kürzester Zeit mit Farben und Leben, bis ein paar Wochen später alles wieder verblüht, verdorrt, trockenfällt, manchmal für Jahre, manchmal Jahrzehnte, für schlicht und einfach unbestimmte Zeit. Unvorstellbar. Alles, was wir gedanklich mit dem Begriff ›Geduld‹ verbinden, die Flora der Wüste kann darüber nur müde lächeln.

Wir fuhren bis in die Nacht hinein. Der Felsgrund neigte sich irgendwann wieder abwärts und wir legten noch ein paar gute, flotte Kilometer auf ebenem, festem Sand zurück, bis Bella unruhig wurde und ich den Truck auslaufen ließ.

Wir tippelten eine Runde unter den Sternen, dann füllte ich Bella den Napf und kochte Spaghetti. Goss das Wasser ab, teilte die Nudeln – eine Hälfte für Bellas Frühstück –, kippte die andere Hälfte in die Pfanne, mischte Olivenöl, Knoblauch, gehackte Chilischote und eine Handvoll kleingeschnippelter Trockenfrüchte darunter. Der Wind wehte mäßig, also baute ich Klapptisch und -stuhl draußen auf, nahm die Pfanne und ein Stück Fladenbrot mit hinaus und schaufelte mir mein Abendbrot rein. Ein schmaler Fingernagel-Mond zeigte sich am Horizont. Der Auspuff und andere heiß gewordene Teile des Trucks kühlten unter letzten, knackenden Geräuschen ab, danach herrschte Stille. Ich ging rein, wischte die Pfanne aus, verstaute sie in ihrer Lade, brühte mir einen Tee auf, kramte den kleinen Campinggas-Bunsenbrenner aus dem Schrank unter der Werkbank, riss einen Streifen Alufolie ab und schnappte mir ein Feuerzeug, einen gläsernen Strohhalm, ein kleines Küchenmesser und das Senfglas, packte alles draußen auf den Tisch. Windjacke, Jogginghose an, fläzte ich mich in meinen Campingstuhl, säbelte etwas bröckeliges Opium in die längsgefaltete Alufolie, brachte den Brenner zum Fauchen, hielt die Folie über die Flamme und saugte mir mit dem Trinkhalm den entstehenden Dampf in die Lunge. Bisschen heiß im Hals, bisschen bitter auf der Zunge, aber schon ein paar Minütchen später … aah. Jetzt der Tee. Perfekt.

Die Milchstraße beherrschte den Himmel, das Erstaunlichste immer wieder, dass so viel Masse, so viel unbändige Energie in solcher Geräuschlosigkeit vonstattengehen kann. Satelliten rasten kreuz und quer von Horizont zu Horizont und so dicht über meinen Kopf, dass ich meinte, sie mit der Hand einfangen zu können. Ja, genau. Haha. Mit der Hand. ›Like a voodoo chile‹. Ich dampfte noch ein bisschen was. Tee war alle. Wenn schon.

Bella leckte mir die Hand, schreckte mich auf. Zeit für den Abendspaziergang. Also denn. Vollkommen ebener Untergrund, vollkommener Frieden darüber. Absolutes Wohlbefinden.

Zurück am Truck holte ich mir zwei Decken raus, legte eine auf den Boden, streckte mich darauf aus und wickelte mir die andere um den Balg. Lag da, meinen Hund an meiner Seite, den Blick in die Unendlichkeit gerichtet, nur zu bereit, im warmen Schlick des Schlafs zu versinken. Alle Reiseführer warnen davor, doch mit genug Opiat im Blut verliert dieses ganze krabbelnde, schleichende, haarige oder hornige, beißende oder stechende, giftige Getier sehr, sehr, sehr, sehr viel von seinem Schrecken. Alle Reiseführer warnen ja auch davor, das Wasser zu trinken, und …

Die Sonne feuerte ihre ersten Strahlen hoch in den Himmel und quer über die Ebene, genau in mein Gesicht, voll auf die Zwölf. Ich kniepte ein Auge auf und nur eine Sekunde später füllte eine feuchte Hundezunge mein rechtes Ohr, gefolgt von freudigem Ge­hechel. Ich richtete mich auf, ausgeschlafen wie schon lange nicht mehr. Das Opium summte noch ein wenig in meinen Adern, doch nicht genug, um mich zu hindern, den neuen Tag mit einigem Elan anzugehen. Bella rannte vor, ich mit dem Spaten auf der Schulter hinterher, weit raus in die Ebene, wo ich mir völlig außer Atem ein Loch in den Boden stach, mich drüberhockte und … haarscharf daran vorbeischrappte, glubsch­äugig zu werden. Opium stopft, ich sag's euch.

Ein hastiges Frühstück, Sachen zusammengepackt, und schon saßen wir auf unseren Sitzen, ich glühte den Diesel vor, startete, wartete, dass der Druck im System die Bremsen freigab, und wir waren unterwegs. Fenster offen, Nase oder Ellbogen raus, gerader, fester Grund, die Sonne in den Spiegeln, rechte Hand in Bellas Fell, zwölfter Gang bei Halbgas und Rückenwind, müheloses, einfaches Rollenlassen. Kein Mensch, und nichts von Menschenhand Gemachtes weit und breit, allein unterwegs auf einem fernen, wilden Planeten.

Schon gegen Mittag kamen die ersten Gipfel des Adrar-­des-Ifoghas-Gebirges in Sicht. Wir legten eine Pause ein, ich checkte mein SatPhone – keine neue Nachricht – und stellte die Navi-Funktion meines GPS-­Geräts ein. Mit ein bisschen Glück würden wir den letzten bekannten Aufenthaltsort der Züricher noch heute Abend erreichen.

Keine neue Nachricht bedeutete auch keine Lösegeldforderung, oder noch keine. Sollte eine eingehen, würde ich sofort kehrtmachen und das Weite suchen. Wenn mich die letzten Jahre eines gelehrt haben, dann, mich nicht in die Geschäftspraktiken von Terror­milizen oder der Organisierten Kriminalität einzumischen. Staaten – ich meine: Staaten – haben ihre Schwierigkeiten damit, und die können sie behalten, was mich angeht. Nein, danke. War da, hab’s gesehen, hab’s getan, und hab mehr mit nach Hause gebracht als nur das bedruckte T-Shirt.

Bella und ich dösten ein bisschen, doch schon nach kurzer Zeit wurde ich zappelig, wollte weiter. Vielleicht, nur vielleicht, aber, verdammt, warum nicht?, vielleicht warteten die Züricher ja wirklich auf Hilfe, hatten sich entschlossen, den Schutz und die Vorräte ihres wie auch immer liegengebliebenen Fahrzeugs nicht zu verlassen und würden sich wie verrückt freuen, mich zu sehen. Ja. Ein kurzer, wärmender Gedanke, der nur allzu bald schon wieder der nüchternen Kühle erfahrungsgestützter Skepsis weichen musste.

Egal, wir fuhren.

Das Tageslicht schwand wie von energischer Hand abgedimmt und ich musste sämtliche Scheinwerfer einschalten, um den beständig unebener werdenden Boden auszuleuchten. Das Lenkrad war jetzt in ständiger Bewegung, der Schaltknüppel erst recht. Der Truck hat ein Sechs-über-Sechs-Klauengetriebe, bei dem jeder Gangwechsel durch den Leerlauf muss, mit Doppelkuppeln rauf, Doppelkuppeln plus Zwischengas runter. Braucht eine gewisse Eingewöhnung, doch anschließend wird man mit der Zufriedenheit belohnt, die die Handhabung einer anspruchsvollen, dafür aber wohlgeölt und höchst präzise arbeitenden Mechanik mit sich bringt.

Das Gelände wurde ruppiger, das Vorwärtskommen langsamer und schwieriger, doch ich hatte meinen Spaß. Das GPS gab jetzt kleine, piepende Geräusche von sich, in immer kürzer werdender Taktung, und mein Herz klopfte, weil wir uns unserem Ziel näherten und keiner sagen konnte, was uns da erwartete.

Nun ja. Ich fuhr bis zum Dauerton, stoppte und knipste das GPS aus. Was uns erwartet hatte, war – Überraschung – ein Stück Wüste, mit teils felsigem, vom Wind geschmirgeltem, teils sandigem Grund, und das, soweit das Licht der Scheinwerfer reichte. Ich schaltete sie aus, dann den Motor. Das Herzklopfen der Erwartung gab sich recht bald. Wir waren da, am Ziel, doch viel los war hier nicht. Na, mal sehen, was der Morgen brachte. Es ist immer ein kleines Ereignis, ein mildes Gefühl von Abenteuer, wenn du beim Aufwachen nur vage Vorstellungen davon hast, wo, in welcher Landschaft von welcher Farbe und Kontur du am Vorabend gelandet bist.

Bella verließ mich, trieb sich allein herum, das Luder, wie sie es schon mal gerne tut, ich kochte inzwischen Reis für uns beide. Rührte gekörnte Brühe mit hinein, und einen ordentlichen Schuss Olivenöl. Probierte. Schmeckte irgendwie … bäh. Mir war eh nicht so sehr nach essen. Wir waren da, angekommen am Ausgangspunkt unserer Suche, und das rieb mich auf. Okay, ich aß ein paar Löffel, fürs Gewissen, dann noch ein paar für die Konstitution, ließ den Rest bei geöffnetem Deckel auskühlen.

Holte den Klapptisch raus, den Stuhl, den Bunsenbrenner und was es sonst noch so braucht, um einen Tag am Steuer harmonisch ausklingen zu lassen und erzwungene Untätigkeit erträglich zu gestalten. Morgen war ein neuer Tag, und bis dahin …

Bella kam aus dem Dunkel angetrottet, rieb ihren Kopf an meinem Bein und gab dieses tiefe Grummeln von sich, das sich wie auf die Stimmbänder übertragenes Magenknurren anhört.

»Na«, sagte ich, »wolln wir mal sehen, was der Maes­tro so hingezaubert bekommt.« Ich mischte Trockenfutter mit dem Reis und stellte ihr den Napf vor die Nase. Mit wohligem Grunzen machte sie sich drüber her. Sie ist ein großes Mädchen mit gehörigem Appetit, und sie mag alles, was ich ihr vorsetze. Lerne kochen, sage ich immer, wenn du sie an dich binden willst. Aussehen, Einkommen, Sex, Status – alles völlig überschätzt. Lerne kochen, lerne zu kochen, was sie mögen, und sie fressen dir aus der, tja, Hand.

Ich sackte wieder auf meinen Klappstuhl, qualmte ein bisschen was weg. Doch die große, die richtige Ruhe wollte sich nicht recht einstellen. Morgen früh, im ersten Licht, würden wir uns auf die Suche machen, und noch hatte ich keinen Plan, keine Vorstellung, wo anfangen und wohin von da aus.

Ich räumte den Tisch leer, ging rein und holte meine Kartentasche raus. Erst als ich die topographische Karte Südalgeriens auf der Tischplatte ausbreitete und sie liegenblieb, ohne dass ich beide Unterarme und mindestens einen Oberschenkel aufbieten musste, um sie am Davonflattern zu hindern, wurde mir mit einem dankbaren Seufzer klar, dass der seit Wochen unablässig blasende Wind plötzlich eingeschlafen war.

In der Schublade des Schreibtisches neben der Werkbank fand ich ein Lineal, einen Bleistift, einen Spitzer. Ich habe den Truck samt Einrichtung übernommen und brauchte bisher eigentlich immer nur Vorräte aufzustocken – Wasser, Diesel, Gas, Lebensmittel. Alles andere, von Schreib- und Küchenutensilien über Werkzeug bis hin zu bestimmten Ersatzteilen, ist zu meiner anhaltenden Verblüffung irgendwie vorhanden. Die defekte Spritpumpe zu reparieren hat damals auch deshalb drei Tage in Anspruch genommen, weil ich zweieinhalb Tage lang versuchte, die fehlerhafte Dichtung selber zu schnitzen, bis ich am dritten Tag in einer Schublade der Werkbank eine ganze Tüte voll Dichtringe gefunden habe, von denen gleich mehrere exakt passten.

Mithilfe des Lineals übertrug ich im Schein meines Stirnlichts die GPS-Daten auf die Karte, markierte unseren Standort mit einem präzisen Kreuz. Stand dann eine Weile da und sah es mir zufrieden an, bevor ich mir einen Ruck gab.

Die südlichen Ausläufer des Adrar des Ifoghas liegen wie die Finger einer gespreizten Hand auf der Ebene, die Finger dabei felsig, die Zwischenräume sandig. Wir befanden uns an einer Stelle ähnlich der Spitze eines rechten Zeigefingers, mit einer großen, halbrunden Ausbuchtung zur östlichen Seite und einem schmaleren, sich beständig verengenden Tal auf der westlichen. Beides zusammen war viel zu weitläufig, um es an einem Tag erkunden zu wollen, deshalb würde ich mich für eine Seite entscheiden müssen. Und selbst dann musste ich meine Suche räumlich eingrenzen.

Ich knipste mein Stirnlicht aus, fachte den Brenner an, inhalierte Dampf und ordnete meine Gedanken.

Legte man die Durchschnittsgeschwindigkeit, mit der wir uns herbewegt hatten, zugrunde, befand sich Timiaouine etwa anderthalb bis zwei Tagesreisen entfernt. Das bedeutete, die von dort gestartete viertägige Suchaktion war aller Wahrscheinlichkeit nach so vonstattengegangen: Der Suchtrupp war hier rausgefahren, hatte sich ein paar Stunden lang umgesehen und dann wieder auf den Heimweg gemacht. Die unmittelbare Umgebung sollte damit abgegrast sein.

Die Schweizer wollten Felszeichnungen suchen. Diese Bilder stammen aus der Eiszeit, als in der Sahara ein mediterranes Klima geherrscht hatte, mit entsprechender Vegetation und, wenn auch dünner, Besiedlung. Die riesige Zeitspanne seitdem konnten nur Zeichnungen an besonders geschützten Orten überstehen, unter überhängenden Felswänden etwa, oder in Höhlen, auf alle Fälle aber: im Gebirge.

Die Schweizer würden kraxeln müssen, wollten dabei aber ganz bestimmt ihr Mobilheim möglichst nahe zur Hand haben. Über den felsigen Zeigefinger zu fahren dürfte unmöglich sein, selbst mit einem Unimog. Blieben die sandigen Täler. Von hier aus in die Berge, möglichst kommod und so nah wie nur eben machbar ran.

Ich knipste das Stirnlicht an, ging rein, suchte und fand einen Zirkel, knöpfte mir die Karte noch mal vor und zeichnete einen Halbkreis um unseren Standort, der grob der halben Entfernung zu Timiaouine und somit ungefähr einer möglichen Tagesreise entsprach. Einen Halbkreis in Richtung der Berge. Irgendwo zwischen hier und da musste etwas passiert sein.

Ich machte die Lampe wieder aus, setzte mich, griff noch mal zu Brenner und Stanniol. Inhalierte, exhalierte, lehnte mich im Stuhl zurück. Möglichst kommod …

Der Gebirgsausläufer, an dessen Spitze wir campierten, erstreckte sich in Nord-Süd-Richtung, lag also quer zum Passatwind, der drüber hinwegrollt und an der Leeseite den Sand zu einem Chaos von Dünen verwirbelt. Auf der Luvseite bläst er dagegen nur gleichmäßig den Hang hinauf … Wollte ich möglichst kommod so nah es nur ging an die Berge heran, ich würde es durch das weite, halbrunde Becken auf der Vorderseite des Felsausläufers versuchen und nicht durch das sich immer weiter verjüngende Tal auf seiner Rückseite. Und je länger ich darüber nachdachte, je gründlicher ich das Für und Wider abwog, desto sicherer wurde ich mir, dass die Schweizer ganz ähnlich entschieden hatten. Also. Alles klar, alles ganz einfach. Die Fahrtrichtung für morgen früh stand fest. Wunderbar. Es geht doch nichts über einen Zustand entspannter Inspiration.

Die Sonne krallte sich mit gleißender Hitze in meine Lider und ich stöhnte auf, erwachte zu einem grausam verrenkten Hals in dem nicht wirklich zum Übernachten konstruierten Campingklappstuhl.

Noch nicht ganz wach schmiss ich schon alle am Vorabend gezogenen Schlüsse und darauf fundierenden Pläne über den Haufen. Drogen waren immer schon beschissene Ratgeber.

Möglichst kommod, mein Arsch. Die Schweizer mochten nur Hobby-Archäologen sein, aber sie hatten ihre Erfahrungen und ich schätzte, sie wussten, dass das, was sie suchten, sich in einem schroffen, engen Tal wesentlich eher finden lassen würde als in einem exponierten, halbrunden Becken.

Begleitet von Bella joggte ich mir die Steifheit aus den Extremitäten und möglichst auch das Opiat aus den Blutbahnen. Wir hoppelten in Richtung des westlich gelegenen Tals, wo ich mir schon mal einen ersten Blick im frühen Morgenlicht verschaffte, und ja, es war das vermutete Chaos aus kreuz und quer geblasenen Dünen, hellgelb und weich im Kontrast zu den kantigen dunkelbraunen Felsen des Ausläufers und der fernen Berge. Ich hielt an, Puls bis hoch in die Ohren, Atemzüge wie Messerstiche ins Zwerchfell, und besah mir die vor uns liegende Strecke mit einer nicht unfreundlichen und doch grimmigen Entschlossenheit. Hier zu fahren würde nicht einfach werden, doch wer will es schon einfach? Mann, ich konnte es kaum erwarten, in die nächste Oase einzufallen und den Leuten da von meinen neuesten Abenteuern zu erzählen.

Wir gingen zurück, aßen was, tranken was, ich ließ etwas Druck aus den Reifen für eine breitere Auflage, dann schwangen wir uns in die Fahrerkabine.

Bella wurde es bald zu schaukelig, sie glitt vom Beifahrersitz und rollte sich im Fußraum zusammen, mit Hintern und Schultern gegen die Wände links und rechts abgestützt. Ich aktivierte das kurz übersetzte Vorgelege des Getriebes, schaltete die Differentialsperren dazu und hielt das Lenkrad mit leichter Hand, ließ den Truck sich seinen Weg durch die Sandberge wühlen. Auf jedem Kamm orientierte ich mich neu und wurde mir immer sicherer, dass die Dünen zur Mitte des Tals hin abflachten, deshalb schwenkte ich in diese Richtung ein. Es gibt bei fast jeder Suche einen Moment, wo du dich einklinkst, wo deine Fühler Kontakt melden, wo du spürst, du liegst richtig, du kommst nah und näher. Mein Puls pumpte Adrenalin in meine Adern, schwemmte alles andere raus. Meine Augen waren weit, sahen alles, meine Sinne wach, sämtliche Antennen ausgefahren.

Nach Reifenspuren Ausschau zu halten war sinnlos, vierzehn Tage Passatwind hätten die Kettenschneisen einer Panzerarmee ins Nichts geblasen. Ich ließ einfach den Blick schweifen, vielleicht hörte uns ja jemand, vielleicht sah uns jemand, vielleicht winkte uns jemand, folgte ansonsten meinem Instinkt, der mich weiter und weiter nach Norden, aber auch Richtung Talmitte zog, bis wir eine weitere Düne hinabglitten, wie meist mehr rutschend als fahrend, und ich ruckartig auf die Bremse trat, nur einen Meter oder so vor einer scharfen Abbruchkante im Sandboden.

Wir kamen zum Stehen, ich nahm den Gang raus, machte den Motor aus und mein Magen gab ein Geräusch von sich wie ein Korken, den man zurück in den Flaschenhals drückt, ein leises, feuchtes, protestierendes Reibungsquietschen. Vor mir erstreckte sich ein von Nord nach Süd verlaufendes Wadi, mehrere Meter tief, an dieser Stelle gut und gern hundert Meter breit, die steilen Wände gewellt wie Vorhänge, der Boden einladend eben und fest und gut befahrbar. Und in breiten Streifen entlang beider Ränder dicht bedeckt mit jungen, frischen Blüten.

Das sah nicht gut aus. Okay, es war ein schöner Anblick, nur leider überschattet von bösen Vorahnungen. Ich startete den Motor wieder, bugsierte den Truck ein Stück rückwärts, nahm wieder Kurs Richtung Norden, durch die Dünen, folgte dem Rand des Wadis bis zu einer Biegung, in der es das Ufer so weit ausgewaschen hatte, dass ich wie über eine Rampe ins Flussbett hinabfahren konnte.

Die ganzen mechanischen Kletterhilfen waren nun nicht länger nötig, also schaltete ich alles zurück auf normalen Fahrbetrieb. Bella nahm ihren Platz auf dem Beifahrersitz wieder ein, ich wählte einen tiefen Gang und wir krochen langsam das Wadi bergan, mein Magen eine Kakophonie von Quietschtönen. Die Felswände des Tals wuchsen links und rechts in die Höhe und rückten enger zusammen. Auch das Wadi wurde beständig schmaler, dabei steiler. Felsbrocken, die das Wasser aus den Bergen mitgebracht hatte, lagen verstreut herum, manche so groß wie ein Pkw. Ich umkurvte ein paar davon und stoppte dann abrupt. Ich hatte den Unimog gefunden. Oder besser, das Chassis. Oder noch präziser, seine vier Räder, denn mehr ragte nicht aus dem glattgewaschenen Sand her­aus, nur zwei Paar Halbkreise mit Stollenreifen. Der Rest des Fahrzeugs war kopfunter im Sand verschwunden. Ich machte den Motor aus, kletterte aus der Kabine, ging nach hinten und ließ auch Bella raus. Sie sah sich um, folgte meinem Blick, ging zu den Reifen, schnüffelte eine Weile herum und verlor das Inter­esse. Keine Leichen unter dem Sand, hieß das. Nicht hier, zumindest.

Wir liefen ein Stück, weiter hoch. Selbst ohne Blüten sind die von den Wassermassen in Wände aus Fels und Sand gefrästen Schluchten oft von bizarrer Schönheit, laden zum Verweilen, zum Erforschen ihrer Nischen und Ecken, die Schatten bieten und Schutz vor dem unermüdlichen Wind.

Irgendwann wurde mir klar, dass wir in der falschen Richtung unterwegs waren. Das Wadi wurde eng und enger, seine Wände höher und höher. Was immer sich hier vor der Flut befunden hatte, es war weg, fortgerissen.

Zurück im Truck wendete ich, legte den Zweiten ein und wir rollten mit Standgas talabwärts. Nach ungefähr einer Stunde fand ich den Campingaufbau des Unimogs, zusammenfaltet wie ein plattgetretener Karton und halb unter Schwemmsand begraben. Ich hielt an, ließ Bella raus, packte eine Flasche Wasser, das GPS-Gerät und die Nikon in einen kleinen Rucksack, griff mir den Spaten. Wir besahen uns den Aufbau, der mit einer Fensterseite nach oben dalag. Ich brach das Fenster raus, Bella und ich steckten unsere Köpfe in die Öffnung. Das Innere war halbvoll Wasser und Sand gelaufen, ein Durcheinander aus Textilien, Utensilien, Flaschen, Dosen, zerschmetterter Einrichtung, roch aber unverdächtig, einfach nur nass.

Spaten auf der Schulter, Bella dicht bei mir, setzte ich meinen Weg zu Fuß fort. Noch hatten wir zwei Stunden Tageslicht zu erwarten. Nach rund einer Stunde schreckte mich Bella mit einem kurzen Aufheulen aus meinen Gedanken. Nase dicht über dem Boden lief sie in enger werdenden Kreisen um eine bestimmte Stelle herum, bevor sie mit den Vorderpfoten zu scharren begann. Ich sagte: »Lass mich mal«, sie machte Platz und ich stieß den Spaten in den kompakten Sand. Nur ein paar Minuten später gab ich auf. Das Loch lief unaufhaltbar voll Wasser, das Wasser brachte neuen Sand, ein Weitergraben war sinnlos. Ich holte das GPS-Gerät hervor, speicherte die Position und wir gingen weiter.

Dreißig Minuten später ragte vor uns ein Fuß aus dem Flussbett. Ein menschlicher Fuß, oder besser gesagt das, was davon noch übrig war, abgenagt und jetzt schon UV-gebleicht. Die Sonne sank, also machte ich mich zügig ans Graben, immer rings um das senkrecht im Sand steckende, nackte Bein. Verwesungsgeruch stieg auf und wurde mit jedem Spatenstich schlimmer, bis auch hier in einer Tiefe von gerade mal einem halben Meter Wasser von allen Seiten einbrach, wofür ich, ganz ehrlich, mehr als nur ein bisschen dankbar war. Spätestens im Frühjahr sollte der Boden weit genug durchgetrocknet sein, um die beiden zu bergen, doch bis dahin war das praktisch unmöglich. Position gespeichert, machten wir uns in rasch fallender Dunkelheit und unter einem theatralisch heraufziehenden Sternenhimmel auf den Rückweg. Bella war vergnügt, all die Blumen, die Feuchtigkeit im Boden, das frische Grün waren Musik für ihre Nase, doch ich fühlte mich leer, enttäuscht, irgendwie mitgenommen. Die beiden Schweizer hatten keinen großen Fehler gemacht, keine Idiotie begangen, nichts, wofür man sich an den Kopf packen müsste. Sie waren einfach nur einem trockenen Flussbett gefolgt, das möglicherweise seit Jahren kein Wasser gesehen hatte und so wirkte, als ob es auch Jahrhunderte gewesen sein könnten. Was also sollte schon passieren? Ja, genau.

Es gab Spaghetti, mal wieder, gefolgt von Opiumdampf und Pfefferminztee. Die Mondsichel wanderte den Himmel hoch, tauchte das Wadi in fahles Licht, und ohne Wind war die Stille vollkommen. Ich holte mein SatPhone raus und schickte die traurigen Neuigkeiten zusammen mit den Geo-Koordinaten nach Lausanne. Ein halbe Stunde später kam die bange Frage, ob ich mir sicher sei, was ich mit einem bedauernden Ja beantwortete. Danach kam nichts mehr außer bestürztem Schweigen. Kristof ›Hiob‹ Kryszinski, auch ›Bad News‹ genannt. Fünf Tage unterwegs und vier gefundene Leichen waren ein neuer persönlicher Rekord, wenn auch kein richtiger Grund zum Feiern. Sitzen und Grübeln half allerdings gar nichts, deshalb rief ich Bella und wir wanderten noch mal ein Stück das Wadi hoch, durch eine von reißenden Fluten surreal geformte Landschaft in vergänglicher Blüte, monochrom im Mondschein, bis es irgendwann Zeit wurde für die Koje.

Die Sonne weckte mich, wie üblich, zu Bellas uneingeschränkter Begeisterung, und während unserer Morgenrunde zog ich Bilanz, versuchte meine gedrückte Stimmung zu verscheuchen. Ich hatte niemanden auf dem Gewissen, ich hatte nur gesucht, gefunden, Meldung gemacht. Haken dahinter. Mehr war von mir nicht zu erwarten, mehr gab es nicht zu tun, nichts weiter dazu zu sagen. Die kommenden Tage konnte ich mich treiben lassen, musste nur den Spritverbrauch im Auge behalten, alles andere war in beruhigendem Maße vorhanden. Also. Rückkehr zur Normalität.

Nach dem Frühstück blickte ich dem Truck unter die linke, dann die rechte Seite der schmalen Schnauze, füllte Öl und Kühlwasser nach, holte den Luftfilter aus seinem Gehäuse, blies ihn aus und setzte ihn wieder ein, warf einen kritischen Blick auf die Keilriemen und den generellen Zustand aller Kabel und Leitungen, fand nichts, was mein Eingreifen nötig gemacht hätte, und verriegelte die Klappen wieder. Zog den spiralförmigen Druckschlauch in die Länge, einmal ums Auto, und brachte die Reifen wieder auf ihren normalen Luftdruck. So.

Brenner und Senfglas standen noch auf dem Klapptisch, und die Versuchung, den Rest des Tages im Tran zu verdödeln, kam und ging. Ich räumte alles rein, machte den Truck startklar. Der Gedanke, den zerstörten Aufbau des Unimogs noch kurz nach Wertsachen zu durchsuchen, kam, und verging ebenfalls. Irgendwas entdeckt man fast immer, doch ich war nicht in der Stimmung, hatte nicht das Gefühl, etwas finden zu können, an dem ich anschließend echtes Vergnügen haben würde.

Weg hier. Nur raus aus dem Wadi. Selbstverständlich wirkt es höchst unwahrscheinlich, dass ein Wüstenflusstal, das nur alle Jubeljahre mal für kurze Zeit Wasser führt, in zwei Wochen gleich zweimal hintereinander durchflutet wird, doch ist die Risikobewertung in dieser Hinsicht eine Bitch: Ist eine Flut durch, ist die Chance, von einer erneuten Welle überrascht zu werden, wieder genauso hoch oder niedrig wie vorher. Es ist, unter umgekehrten Vorzeichen, wie beim Lotto: Niemand hält es für möglich, dass zweimal hintereinander dieselben Zahlen gezogen werden, und doch kannst du jede Woche hingehen und die Zahlen der letzten Ziehung ankreuzen, ohne dass es deine Chancen auf einen Hauptgewinn auch nur um ein Jota schmälert.

Also, weg hier. Nur eins, eins musste noch sein: Ich holte den Zinkeimer raus, scharrte mir damit eine schöne, große, tiefe Mulde in den Boden, sah zu, wie sie voll Wasser lief, zog mich aus, hockte mich nackt in die sandige Brühe und gönnte mir eine gründliche Wäsche, etwas, das bei Wüstenreisen nur allzu leicht zu kurz kommt. Und, einmal dabei, noch eine Rasur. Bisschen wie vor einem Date. Eau de Toilette? Wo hab ich’s nur …?

Jetzt aber. Frische Plörren an, der Mann wie neu, weg hier. Fehlte nur … Bella. In der Mulde, auf dem Rücken, in leichter Wälzbewegung, Zunge halb aus dem Maul, alle Viere hoch in die Luft gestreckt, wohlig grunzend wie eine dicke, glückliche, graue Sau.

Ich geb’s dran, dachte ich. Soll sich doch jemand anders um die Verschwundenen kümmern, sich mit ihren Leichen belasten. Ich will nur noch meine Ruhe, meinen Frieden, meine Freiheit. Und ab und zu mal eine schöne Suhle.

Die Fahrerkabine durchweht vom Duftstoff ›Chien Mouillé‹, rollten wir das Wadi abwärts, bis es in der Ebene in die Breite ging und verschwand. Nur ein paar angeschwemmte Kakteen markierten noch den äußersten Rand der Flut, bis hierhin war sie gekommen, um dann endgültig im Boden zu versickern.

Meine generelle Richtung war zurück nach Tamanrasset, von da vielleicht ins Hoggar-Gebirge oder in die Ténéré, ich war noch unentschlossen, hatte aber auch keine Eile. Ich passierte unseren vorgestrigen Übernachtungsplatz, umrundete die Spitze des Gebirgsausläufers, besah mir die Gegend östlich davon. Eine milde gewellte, durchgehend hell ockerfarbene Dünenlandschaft bedeckte das halbrunde Becken mit seiner fernen Peripherie aus dunkelbraunem Gestein. Neigung und Höhe der Dünen machten einen durchaus befahrbaren Eindruck, doch ich wusste nicht recht, was ich wollte, oder wohin. Gleichzeitig stand die Sonne im Zenit, knallte nur so aufs Dach, da bot es sich an, eine Pause einzulegen und die Entscheidung zu verschieben. Nichts trieb mich, nichts konnte mich zwingen. Ich parkte den Truck zwischen Felsen, kochte mir einen Tee, suchte und fand einen gangbaren Weg hinauf auf das zerklüftete Gestein, setzte mich oben in den Schatten eines großen Brockens, schlürfte Tee und ließ den Blick schweifen. Die Mittagshitze sog Sandwirbel in die Höhe, die für kurze Zeit über die Ebene taumelten, bevor sie wieder in sich zusammenfielen. Bella gesellte sich zu mir, gähnte ansteckend, streckte sich aus und schloss die Augen. Ansteckend, wie gesagt.

Ich hörte Stimmen. Im ersten Moment war ich mir sicher, dass ich träumte, im zweiten, alarmiert, dass nicht. Ich war wach, und jemand rief irgendwas Fragendes. Ich stand auf. Blickte runter zum Truck. Ein weißer Toyota Pick-up parkte dahinter. Er parkte so, dass er meinen Truck zwischen den Felsen fest­nagelte. Jemand sah mich, jemand winkte mir. Mit einem Sturmgewehr. Ja, Scheiße.

Es waren die ersten Lebenden, die ich seit fast einer Woche traf, doch meine Begeisterung darüber hätte nicht bescheidener ausfallen können. Sie waren zu dritt, ein sehr junger Weißer, der mich fatal an Sid Vicious erinnerte, ein sehr junger Schwarzer, den ich auch ohne nur die geringste Ähnlichkeit mit dem Punksänger ungerechterweise Johnny Rotten taufte, und ein Dritter, den ich nur als Schemen auf dem Beifahrersitz sehen konnte. Die Youngster waren beide unterernährt, bewaffnet mit AKs – was sonst? – und machten einen wie auch immer gehetzten Eindruck. Leute unter Schock, auf der Flucht, Zeugen oder Beteiligte von etwas Dramatischem, so was in der Art. Aufgekratzt, mit unsteten Blicken in Augen, die für ihre jungen Jahre schon zu viel gesehen hatten, kurz angebunden, mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Ich trat zu ihnen, Bella dicht an meinem Bein, auch sie angespannt. Wenn ihr eine Situation nicht behagt, gibt sie ein Knurren von sich, so tiefgestimmt, dass man es mehr spürt als hört.

»Wir brauchen deine Hilfe«, sagte Sid sachlich in einem Cockney-gefärbten Englisch.

Ich nickte ein Nicken, das Verständnis seiner Worte signalisieren, aber nichts darüber Hinausgehendes versprechen sollte. Schwierig, ich weiß. Sinnlos, obendrein. Egal, was sie vorhatten, egal, was sie von mir wollten, ich hatte keinen wirklichen Verhandlungsspielraum.

Johnny hockte sich auf einen Felsen und behielt mich und Bella abwechselnd in nervösem Blick. Er schien nicht viel zu sagen zu haben.

»Du bist nicht zufällig Arzt?«

Ich schüttelte energisch, geradezu kategorisch den Kopf. Es nutzte mir nichts. Sid winkte mich mit sich zur Beifahrerseite des Pick-ups, wo der Dritte bei offener Tür saß. Die ganze rechte Flanke des Wagens entlang zog sich eine Spur von Einschusslöchern, die Ränder frisch und silbergrau, wo es den weißen Lack weggefetzt hatte. Ich begann zu verstehen. Kaum etwas rüttelt einen so durch wie unter Beschuss zu geraten.

Der Mann auf dem Beifahrersitz war schon älter, ach was, er war alt. Ein hageres, tief zerfurchtes Gesicht, ungesund bleich unter der dunkelbraunen Haut, ums Kinn ein mit Grau durchsetzter, dichter Gabelbart, eine Fellmütze auf dem Kopf, und das bei diesen Temperaturen. Afghane, ich war mir fast sicher. Er wandte mir den Kopf zu, die Augen schmal, Mimik und Bewegung steif vor Schmerz. Er trug eine bestickte Weste über einem bauschigen weißen Hemd, dazu eine Containerhose in Camouflage. Weste, Hemd, Hosenbund und selbst der Sitz darunter waren schwarz vor Blut, das offenbar weiterhin aus einer nicht sehr gekonnt verbundenen Verletzung an der linken Schulter quoll. Kein Wunder, dass er so bleich aussah.

»Ich fürchte, ich kann da nichts tun«, sagte ich ehrlich.

Er versuchte zu sprechen, winkte mich näher zu sich. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, beugte mich vor und spürte etwas Rundes, metallisch Kühles mein T-Shirt hochschieben und sich in meine linke Schulter bohren. Der Afghane krächzte etwas, das ich ohne jede Kenntnis seiner Sprache glasklar als ›Hilf mir oder teile mein Schicksal‹ verstand. Beflügelnd, es gibt kein anderes Wort dafür.

Die Größte der Gasflammen des Herds fauchte unter dem Nudeltopf. Zwischen Werkbank und Schreibtisch waren zwei stählerne Böcke untergebracht, die ich hervorzog und im Rausgehen Johnny zuwarf. Von der Seitenwand des Trucks löste ich die beiden Sand­bleche, legte sie oben auf die Böcke, darauf rollte ich eine Isomatte aus und ging wieder rein. Ich fand eine Aldi-Tüte, die ich mit der Öffnung über den jetzt schnell heißer werdenden Kochtopf stülpte und mit Gaffer-Tape notdürftig fixierte. Die Youngster bug­sierten den Afghanen Schritt für Schritt zu unserem improvisierten OP-Tisch, während ich die Anästhesie vorbereitete. Kaum lag der alte Mann, stellte ich den Klapptisch mit Brenner, Alufolie und einer Stange Opium neben ihn. Er nickte und brauchte offenbar keinerlei Instruktionen. Sid, unverkennbar aus einer sozialschwachen englischen Vorstadt, dessen punktvernarbte Arme mir so ziemlich alles über ihn erzählten, sah das Opium, sah zu mir, wieder zurück und schluckte sichtbar. Ich wies ihn an, dem Afghanen Weste und Hemd auszuziehen und den Verband vom Leib zu schneiden. Johnny, dem irgendwie alles Städtische abging, der auf eine ungelenke Art mehr wirkte wie ein afrikanisches Landei, mehr Kral als Kiez, konnte seine Augen nicht von Bella lassen, die wieder­um seine Angst spürte, was sie noch misstrau­ischer und knurriger machte. Wenn ein Bewaffneter sich vor deiner Hündin fürchtet, bist du gut beraten, sie aus der Schusslinie zu holen, deshalb nahm ich sie mit rein, schloss die Tür.

Die Aldi-Tüte blähte sich prall mit Dampf gefüllt über dem Topf. Ich stellte das Gas aus, pellte die Tüte ab. Unter der Werkbank fand ich die übliche, angebrochene und schon lange zu Gummigelee erstarrte Silikonkartusche, schraubte und zerrte die Spitze ab, schnitt sie mir passend und zog sie kurz durch das noch ganz leicht kochende Wasser.

Draußen hatten sie inzwischen den Oberkörper des Afghanen, dem dünner Opiumqualm aus allen Kopföffnungen quoll, freigelegt. Einer der Vorbesitzer des Trucks hatte eine Schwäche für hochprozentigen

Wodka und mir einen Karton voll hinterlassen. Ich schnappte mir eine der Pullen und riss im Rausgehen noch einen Meter Küchenkrepp ab.

Während ich das Wundumfeld mit Wodka abrieb, besah ich mir die Verletzung. Schusswunde, Eintrittsloch vorn wie oft eher klein, Austrittsöffnung hinten glücklicherweise nicht allzu groß. Blut quoll nur aus der vorderen Wunde, was mir nicht gefiel.

Mein Vorhaben war, die Verwundung im Ganzen, von vorn bis hinten, zu säubern. Natürlich hätte ich ihn auch einfach nur neu verbinden und mit einem aufmunternden Klaps weiterschicken können, doch wir befanden uns zwei Tage von der nächsten Oase entfernt, ein Zeitraum, der bei einer solch tiefen und zweifellos verschmutzten Verletzung eine sichere Entzündung bedeutete. Gründlich säubern und verbinden war das Mindeste und das Einzige, was ich für ihn tun konnte. Sollte sich herausstellen, dass eine Arterie zerfetzt war, würde er das Ende des Tages nicht mehr erleben, sollte ein Knochen verletzt sein, könnte er die Schulter verlieren, und den Arm dazu. In beiden Fällen, so spürte ich, würde man den Deutschen mit dem komischen Truck zumindest mitverantwortlich machen. Alles, was ich also tun konnte, tun musste, war die imminente Entzündungsgefahr so gut es ging einzudämmen und dann aufs Beste zu hoffen. Die Wüste ist eine absolute Scheiß­gegend, um sich Feinde anzulachen. Du weißt nie, wann und wo du sie wiedertriffst.

Drinnen im Truck schnitt ich eine Ecke der mit Dampf sterilisierten Aldi-Tüte ab, drückte die Kartuschenspitze hindurch und befestigte sie mit Gaffer-Tape. Das Wasser im Topf war inzwischen so weit abgekühlt, dass man die Finger reinhalten konnte, wenn auch nur kurz. Doch ich wollte es heiß.

Der Afghane musterte mich reglos, wie ich, Tüte unterm Arm, Verbandskasten unterm anderen, Kochtopf in Händen, die Tür hinter mir schloss. Johnny stand an seiner Seite, also reichte ich ihm den Topf, bedeutete dem Afghanen, sich hinzulegen und so weit nach oben zu rutschen, dass die Schulter ins Freie ragte. Er tat, wie verlangt, hielt aber dabei wie die ganze Zeit schon eine Hand auf seiner Pistole, eine Attitüde, die ich mir fest für meinen nächsten Zahnarztbesuch vormerkte.

Ich fragte: »Bereit?«, und er nickte. Dann nahm ich die Tüte, drückte die Kartuschenspitze in die Eintrittswunde, der Afghane saugte Luft zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch, ich hielt die Tüte auf, befahl Johnny, das Wasser hineinzuschütten, und, als das passiert war, verzwirbelte ich die Tüte obenrum und presste sie so fest ich nur konnte zusammen. Der Afghane war ein zäher alter Knochen und hatte obendrein mittlerweile genug Opiat in den Adern, um eine ausgewachsene Kuh von den Hufen zu holen, und trotzdem schrie er mir dermaßen gellend ins Ohr, dass es noch Minuten später darin klingelte. Doch die Spülung funktionierte, was immer den Schusskanal blockiert hatte, prustete raus, gefolgt von schönem, rotem Blut. Und erschossen hat er mich auch nicht. Ein flotter erster Verband unter der Achsel hindurch, je ein dicker Wattebausch auf beide Wunden, ein strammer zweiter Verband um die Brust und unter der Achsel hindurch und das Ganze noch zweimal rum, und das Operationsteam trat geschlossen einen respektvollen Schritt zurück, um in spontanen, minutenlangen Applau-

Ein wütendes Kläffen, mein Kopf fuhr herum, wo ich Sid rückwärts die Treppen des Trucks runtertaumeln und unten auf den Arsch fallen sah, grimmig beobachtet von Bella, oben auf der Treppe. Wollte wohl mal nachsehen, ob ich drinnen noch mehr von dem guten Zeug gebunkert hatte, der kleine Scheißkerl. Noch auf dem Hintern riss er seine Waffe hoch, zielte auf Bella. Ein Schuss peitschte, Sid gefror mitten in der Bewegung und wir sahen uns an, ich über den leicht zitternden Lauf der Pistole des Afghanen hinweg. Nicht gesichert, das Ding, da knallt’s dann schon mal, wenn jemand wie ich danach grapscht.

Ich sagte erst mal nichts, hielt die Pistole auf die englische Vorstadtratte gerichtet, ging seitwärts zum Truck, die Treppe hoch, bugsierte Bella mit dem Hintern zurück in den Aufbau und schloss die Tür von draußen mit dem Fuß. Sid und ich zielten weiter aufein­ander, Johnny lugte aus der Deckung des Pick-ups, AK im Anschlag. In Momenten wie diesen fließen tausend Schweißtropfen und du spürst jeden einzelnen davon.

›Und jetzt?‹, stand riesengroß im Raum, und keiner von uns dreien schien darauf eine Antwort zu haben.

Der Afghane hatte sich aufgesetzt, hielt sich den linken Arm, blickte stoned und genervt zugleich drein, bellte einen kurzen Befehl in die Runde, worauf Sid und Johnny langsam ihre Waffen sinken ließen, rutschte vom Tisch und kam Schritt für Schritt zu mir gehumpelt, verlangte seine Waffe zurück. Er hatte die Situation unter Kontrolle, nichts würde geschehen, ohne dass er es anordnete, und was er befahl, würde passieren, ohne dass jemand widersprach. Er wirkte, als ob er sein Leben lang Kommandos gegeben hätte.

Ich packte die Pistole beim Lauf und händigte sie ihm aus. Er nickte, prüfte den Stand der Sonne, blickte den Weg zurück, den sie gekommen waren, und sagte etwas auf Arabisch, das wie ›Abmarsch‹ klang. Sid antwortete auf Englisch, dass sie nicht genug Benzin hätten. Johnny klopfte gegen den Tank des Trucks und fragte: »Gazole?« Es war das erste Wort, das er bisher geäußert hatte. Ich nickte. Die drei steckten die Köpfe zusammen, und ich sah sie schon fröhlich mit meinem Laster davonfahren, während mein Gerippe in der Sonne bleichte.

Ich sagte: »Moment«, ging zur andern Seite des Trucks, wo eine Halterung voller Zwanzig-Liter-Kanister unterm Aufbau hängt, zog zwei davon raus, trug sie zum Toyota und stellte sie ab. »Benzin«, sagte ich. Gefunden, auf dem Dach eines gestrandeten und verlassenen Pkws, und mitgenommen, für eine Gelegenheit wie diese. Man hilft ja, wo man kann.

Johnny öffnete die Kanister, roch dran, verschloss sie wieder und packte sie in den Pick-up, der Afghane nahm den Bunsenbrenner und den Rest des Opiumstabes an sich, ließ sich vorsichtig auf den Beifahrersitz sinken, Johnny schwang sich hinters Lenkrad, Sid kletterte auf die Ladefläche, nahm mit dem Rücken zur Fahrerkabine Platz, der Motor des Toyotas sprang an und sie fuhren los.

Gern geschehen, dachte ich gallig, und beehren Sie uns nicht wieder, als Sid seine Waffe ruckartig hochnahm und einen Schuss abfeuerte, nur einen, doch den in die Hecktür des Trucks, auf Kniehöhe. Ich stand geschockt da, er schwenkte die Waffe in meine Richtung, zielte, ich stand immer noch, wie gelähmt, erwartete die spitze Flamme aus dem Rohr schießen zu sehen und den fürchterlichen Aufprall zu fühlen, der dich von den Beinen reißt, dir den Atem raubt und, sofern du noch lebst, den Tod in gleichem Maße fürchten wie herbeisehnen lässt. Doch Sid grinste nur mit seinen Cola-Zähnen, nahm die Waffe runter und zeigte mir den Finger. Ich starrte ihm hinterher, bis ihn die Staubwolke des Toyotas verschluckte. Dann rannte ich zum Truck.

Meine Hand auf der Türklinke zitterte. Ich drückte sie runter, zog die Tür auf, Bella und ich sahen uns an und betrachteten dann noch eine ganze Weile die zipfelförmige Ausbuchtung im Alublech der inneren Türbekleidung. »Wenn du willst«, sagte ich und schlang meinen Arm um ihren Hals, zog sie zu mir, »suche ich und finde ich und töte ich dieses Arschloch.«

Sie lehnte sich gegen mich und leckte mir über die Wange. Wenn es nach ihr ging, waren wir fertig mit dem Thema, doch ich habe einen Charakterzug, manche sagen: einen -fehler, mit dem ich schon mein ganzes Leben lang konform gehe: Ich bin nachtragend.

Vermutlich jeder einzelne der zahlreichen Vorbesitzer hat ein paar Änderungen vorgenommen, nachdem sie den Truck gekauft hatten. So auch ich. Eine davon war, die Innenseite der Rückwand mit zwei Lagen Reifengummimatte und dickem Aluriffelblech zu armieren, eine, wie sich gerade gezeigt hatte, vorausschauende Entscheidung.

Der Toyota verschwand am Horizont. Sie hatten es eilig, als ob sie vermuten würden, verfolgt zu werden. Ich fragte mich, was das für mich bedeuten könnte, wenn bald schon die nächste Horde Bewaffneter angeprescht kommen sollte. Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nix mehr, war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Mann, ich war alle. Also machte ich das in meinen Augen einzig Gescheite. Räumte auf. Wusch das Blut von der Isomatte, hängte die Sandbleche zurück, faltete die Böcke zusammen und verstaute sie. Irgendwas roch hartnäckig nach Schießpulver. Ich nahm meine rechte Hand hoch, schnupperte dran – sie war’s – und stellte zu meiner Verwunderung fest, dass sie den Hals der Wodkaflasche umklammert hielt.

Eine halbe Stunde später befand ich mich seelisch wieder halbwegs im Gleichgewicht. Seelisch, wie gesagt. Körperlich war ich möglichweise ein ganz klein wenig außer Balance, einen Hauch wackelig auf den Beinen, aber egal.

Die Sonne sank. Ich hantierte herum, sprach eine Menge mit Bella, kochte ihr aus Kartoffelflocken, Trockenmilch, Öl und Wasser einen schönen Topf Püree, das sie liebt. Einmal dabei, setzte ich einen Hefeteig an und stellte ihn abgedeckt auf die Werkbank. Im Küchenschrank fand ich eine Dose gebackene Bohnen, die ich mit nach draußen nahm und zehn Schritte weit wegtrug, ehe ich mit abgewandtem Gesicht die Deckellasche zu mir zog. Doch nichts sprühte übelriechend in die Gegend, also machte ich mir die Bohnen warm, tat zu viel gekörnte Brühe und viel zu viel Chili dran, was aber irgendwie total gut mit zu viel Wodka harmonierte, echt ein Geheimtipp. Ich schlabberte mir das Zeug rein, torkelte eine Weile unter den Sternen herum, bis ich irgendwann meine Decken rausholte, mich einmuckelte und darauf wartete, dass die Milchstraße zu rotieren begann, oder zumindest zu dröhnen.

Nomade

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