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Hilmer hatte keine Mühe, den Weg zum Hinterausgang des Palastes zu finden. Unterwegs begegnete ihm noch nicht einmal jemand. Als er auf die Straße trat, sah er, dass die Sonne bereits langsam wieder unterging. In etwa einer Stunde würde es dunkel sein. Umso besser, dachte der Lemming. Dann erkennt mich wenigstens niemand.

Die Zeit bis zum nächsten Morgen konnte noch ganz schön lang werden. Hilmer wusste nicht so recht, wohin er nun gehen sollte. Eine Wohnung hatte er nicht mehr und es schien ihm zu riskant, irgendwo ein Zimmer zu mieten. Im Freien wollte er die Nacht aber auch nicht verbringen.

Der Flüchtling entschloss sich, an der Rückseite des Palastes entlang zu gehen. Vielleicht gab es dort ein Gartenhaus, in dem er Unterschlupf finden konnte. Als er jedoch die königlichen Grünanlagen erreichte, traf es ihn wie ein Schlag in den Nacken.

„Ich wusste doch, dass man diesem Kerl nicht trauen kann“, sagte Turgi und sprang auf.

„Wie hat er es bloß geschafft, aus dem Kerker zu entkommen?“, fragte Targi.

„Sicher hat er Hilfe gehabt“, vermutete Torgi.

„Was macht ihr denn hier?“ Hilmer hätte nicht gedacht, dass er seine drei Vettern so schnell wiedersehen würde. Sie saßen im Garten inmitten eines Skulpturenparks, der dem furchtlosen Wonibalt gewidmet war, und schauten den Flüchtigen böse an. Sie hatten sich bereits zu einer wirklichen Plage entwickelt. Warum nur hatten sie sich ausgerechnet diesen Platz zum Ausruhen ausgesucht?

„Wir betrachten die wunderbaren Anlagen“, antwortete Turgi und grinste Hilmer an.

„Dafür haben wir jetzt viel Zeit“, sagte Targi.

„Eigentlich sollten wir ja bereits tot sein“, fügte Torgi hinzu.

„Was wollt ihr?“

„Nur mit dir reden“, antwortete Turgi.

„Und das soll ich euch glauben?“

„Warum nicht?“, fragte Targi zurück.

„Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, wolltet ihr mich die Klippen hinunterwerfen. Ich glaube nicht, dass ihr eure Meinung geändert habt.“

„Das ist ungerecht“, stellte Torgi fest. „Du tust ja gerade so, als wären wir an allem schuld.“

„Natürlich seid ihr das“, entgegnete Hilmer. „Wenn ihr mich einfach in Ruhe gelassen hättet, wärt ihr jetzt tot und ich hätte meine Ruhe. Aber das konntet ihr ja nicht tun. Ihr musstet euch ja als die großen Helden aufspielen und mich zu Helmut schleifen. Ihr habt es euch selbst zuzuschreiben, dass ihr noch lebt.“

„Wir müssen jetzt einfach das Beste aus der Situation machen“, sagte Turgi.

„Wie meinst du das?“

„Ganz einfach, Hilmer“, erklärte Targi. „Wir können dich nicht einfach so gehen lassen. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis dieser unfähige Hamster den Galgen errichtet hat.“

„Bis dahin werden wir bei dir bleiben“, entschied Turgi.

„Oder anders gesagt, du bei uns“, korrigierte Torgi seinen Bruder.

„Das meint ihr nicht ernst“, sagte Hilmer.

„Oh doch“, widersprach Turgi.

„Du wirst uns nicht wieder los“, sagte Targi.

„Finde dich damit ab“, schlug Torgi vor. „Dann wird es für uns alle leichter.“

„Ich glaube euch kein Wort“, sagte Hilmer und schüttelte den Kopf. Ihm war bewusst, dass seine Vettern jede Chance ihn zu töten nutzen würden. Egal, wie weit Dieter mit dem Galgen war. Er durfte ihnen nicht trauen.

„Du tust uns unrecht“, sagte Turgi und lächelte Hilmer schief an. „Wir wollen doch nur dein Bestes.“

„Ihr wollt meinen Tod.“

„Das ist das Gleiche“, behauptete Targi.

„Wie stellt ihr Witzfiguren euch das vor? Meint ihr, wir können jetzt die nächsten Tage zusammenleben, als wäre nichts geschehen? Es muss euch doch klar sein, dass ich nicht freiwillig bei euch bleiben werde.“

„Dann zwingen wir dich dazu“, sagte Targi. „Es liegt an dir, ob wir dich fesseln, oder du die nächsten Tage frei zwischen uns leben kannst.“

Hilmer wusste, dass seine drei Vettern etwas im Schilde führten. Am Morgen hätten sie ihn noch am liebsten auf der Stelle erschlagen und jetzt taten sie so, als seien sie seine Freunde. Der Lemming beschloss, dass Spiel von Turgi, Targi und Torgi zunächst mitzumachen. Eine andere Wahl hatte er im Moment ohnehin nicht. Später würde es sicher eine Möglichkeit geben, seine Widersacher zu überlisten.

Turgi, Targi und Torgi führten Hilmer in ihre Wohnung. Da die drei Brüder zusammenlebten und keine Weibchen hatten, konnten sie noch auf ihre alte Behausung zurückgreifen. Diese wäre erst ein paar Tage nach ihrem Tod geräumt und neu vermietet worden. Hilmer wurde in das Wohnzimmer geführt und musste sich zwischen Targi und Torgi auf ein Sofa setzen.

Turgi verschwand, kehrte aber nach kurzer Zeit mit vier Bechern zurück. „Worauf wollen wir trinken?“, fragte er, nachdem er jedem einen Becher hingestellt und selbst ebenfalls Platz genommen hatte.

„Auf das Leben“, schlug Hilmer vor und grinste seine Vettern an, die synchron den Kopf schüttelten. Er traute ihnen noch immer nicht und rechnete mit einer Falle. Plötzlich hatte er eine Idee und beschloss, sie sofort in die Tat umzusetzen. „Schaut mal aus dem Fenster“, rief er und deutete eifrig dahin.

Turgi, Targi und Torgi fielen auf seinen Trick herein und starrten in die angegebene Richtung. Blitzschnell vertauschte Hilmer die Becher.

„Was ist da?“, fragte Turgi aufgeregt und schaute wieder zu Hilmer.

„Ich kann auch nichts sehen“, stellte Targi verärgert fest.

„Warum erschreckst du uns so?“, beschwerte sich Torgi.

„Ich muss mich wohl geirrt haben. Wo waren wir stehen geblieben?“

„Wir wollten einen guten Schluck nehmen“, sagte Turgi. „Es ist egal, worauf wir trinken, lasst uns den Wein einfach genießen. Einen Vorteil muss es ja haben, dass wir noch am Leben sind.“

„Auf den Tod“, sagte Targi und seine Brüder stimmten begeistert zu.

Die vier Lemminge stießen ihre Becher gegeneinander und tranken sie, wie es bei ihrem Volk üblich war, in einem Zug leer. Hilmer ließ seinen Blick von einem seiner Vettern zum nächsten wandern, alle drei sahen ihn erwartungsfroh an. Offensichtlich war seine böse Vorahnung, was den Inhalt der Becher betraf, richtig gewesen. Den Beweis bekam er wenige Sekunden später.

„Mir ist so heiß“, stöhnte Torgi plötzlich und versuchte aufzustehen. Noch ehe er sich vom Sofa erheben konnte, wurde sein Gesicht feuerrot und er schnappte verzweifelt nach Luft. Der Lemming fiel zurück in die Polster. Er griff sich mit beiden Pfoten an die Kehle, als wollte er sich so gegen einen Angreifer schützen. Seine Augen wurden groß und traten hervor.

„Was ist los“, schrie Turgi und sprang auf, um seinem Bruder zu helfen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er begriff, was passiert war.

„Dafür wirst du bezahlen“, sagte Targi leise und schaute Hilmer hasserfüllt an.

Die Farbe von Torgis Zunge wechselte zu blau. Sie hing ihm weit aus dem Mund und schien auf das Doppelte angeschwollen zu sein. Es bildeten sich Schaumblasen in seinem Rachen, die über die Lippen liefen, sich am Kinn sammelten und auf seine Brust tropften. Dann war es vorbei. Nach einem Röcheln wich der letzte Lebensfunke aus Torgis Körper und er sank schlaff in sich zusammen.

Bevor Hilmer etwas unternehmen konnte, stürzten sich Turgi und Targi auf ihn. Beide waren außer sich vor Wut und schlugen mit aller Kraft auf ihren Vetter ein. Der nahm zwar noch die Arme hoch, hatte aber keine Chance, sich gegen die Faustschläge und Tritte zu wehren. Erst als Hilmer regungslos zwischen Turgi und Targi auf dem Boden lag, ließen die beiden von ihm ab und sprangen weinend an die Seite ihres Bruders. Jetzt konnten sie nur noch hoffen, dass er den Weg ins gelobte Land gefunden hatte.

Hilmer

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