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[9]1 Massenanfall von Verletzten: Was ist das?

Von einem Massenanfall von Verletzten oder Erkrankten – kurz MANV – spricht man, wenn die Anzahl der zu Versorgenden die Anzahl der sofort verfügbaren Rettungsmittel und/oder die Versorgungskapazitäten der Notfallkrankenhäuser übersteigt. Es ist also keine sofortige Versorgung aller Patienten nach individualmedizinischen Gesichtspunkten, wie es sonst im regulären Rettungsdienst der Fall ist, möglich. Es handelt sich um den Bereich zwischen Überlastung des Regelrettungsdienstes und der Notwendigkeit, eine Katastrophe festzustellen (siehe auch Bild 1).

Bild 1: Einordnung des MANV in die verschiedenen Versorgungsstufen (Quelle: Jörg Rühle) [zurück]

[10]Es gibt keine allgemeingültige Aussage, ab welcher Anzahl zu Versorgender von einem Massenanfall von Verletzten gesprochen wird. Es ist leicht absehbar, dass Faktoren wie Rettungsmitteldichte, Anzahl und Kapazität der Notfallkrankenhäuser und auch die unterschiedliche Rettungsmittelvorhaltung zu verschiedenen Tageszeiten einen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit im Bereich MANV haben. So kann z. B. eine Großstadt einen Verkehrsunfall mit fünf Verletzten zur Mittagszeit ungleich besser bewältigen als ein ländlicher Bereich dies um Mitternacht könnte.

1.1 Ursachen des MANV

Schon beim Betrachten der Ursachen des MANV fällt auf, dass dieser keine isoliert den Rettungsdienst betreffende Problemstellung ist. Denn in der überwältigenden Mehrzahl der MANV-Lagen sind neben dem Rettungsdienst auch Feuerwehr, Polizei und andere Rettungskräfte am Einsatzgeschehen beteiligt. Häufige Ursachen für das Auftreten eines MANV sind:

 Verkehrsunfälle,

 Brände,

 Terroristische Anschläge,

 Massenerkrankungen,

 Planbare Einsätze (z. B. Großkonzerte).

Durch Verkehrsunfälle kommt es schnell zum Erreichen der regionalen unteren MANV-Grenze. Schon ein Unfall mit einem vollbesetzten Pkw kann taktische Herangehensweisen aus der [11]MANV-Konzeption (z. B. Sichtung) erforderlich machen. Insbesondere Schadenereignisse mit Bussen können zu einem MANV-Szenario führen. Hierbei ist, ähnlich wie bei Eisenbahn- oder Verkehrsflugzeugunfällen, bedingt durch die große Anzahl von Insassen zunächst – sofern keine anderen gesicherten Erkenntnisse vorliegen – von einem MANV-Einsatz auszugehen.


Bild 2: Verkehrsunfall mit einem Bus

[12]Bekanntermaßen kommt es bei Bränden immer wieder zu Personenschäden, besonders durch die Ausbreitung von Rauchgasen. Vor allem in Objekten mit vielen Bewohnern kommt es so schnell zu einer großen Anzahl Betroffener. Bedrohte Objekte sind unter anderen: Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, Hotels und Hochhäuser. Daher empfiehlt es sich bereits im Rahmen der Einsatzvorbereitung entsprechende Maßnahmen auch zur Beherrschung eines MANV zu planen.


Bild 3: Brand in einem Wohnkomplex

Terroristisch motivierte Anschläge oder auch Amoklagen stellen eine besondere Herausforderung dar. Derartige Ereignisse [13]verfolgen die Zielsetzung, möglichst viele Menschen gleichzeitig zu treffen. Bei der Verfolgung dieses Zieles wird auch vor Kräften der Gefahrenabwehr nicht haltgemacht. Solche als Polizeilage bezeichneten Einsätze erfordern eine von der gewohnten Einsatztaktik abweichende Herangehensweise. Die in solch einer Situation meist unklare eigene Sicherheitslage macht eine sehr enge Abstimmung mit den Kräften der polizeilichen Gefahrenabwehr notwendig. Hier gilt es unbedingt zu vermeiden, dass Einsatzkräfte in aus polizeilicher Sicht unsichere Bereiche gelangen. Um dies sicherzustellen, sind insbesondere in der Frühphase eines Einsatzes und bei dynamischen Lagen Bereitstellungsräume deutlich außerhalb des unsicheren Bereiches erforderlich. Anschläge mit ABC-Gefahrstoffen bedürfen einer besonderen Logistik, hier sei auf die Notwendigkeit der (Verletzten-)Dekontamination für eine große Personenzahl hingewiesen.


Bild 4: Verletztendekontamination

[14]Auch eine größere Anzahl von Erkrankten kann die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr fordern. Denkbare Szenarien sind: Lebensmittelvergiftungen vieler Personen (z. B. Salmonellen in einer Großküche), Pandemien (pandemische Auswirkungen wurden durch den Erreger SARS-CoV-2 deutlich) oder Explosivepidemien (z. B. verunreinigtes Trinkwasser). Auch hier kommt dem Schutz der Einsatzkräfte, insbesondere bei unbekannten Krankheitserregern, eine große Bedeutung zu.

Unter planbaren Einsätzen sind alle Situationen zusammengefasst, die eine gründliche, vorhergehende Organisation ermöglichen. Solche Situationen können Sportveranstaltungen, Konzerte, Demonstrationen oder sonstige Großveranstaltungen sein. Natürlich kommt es nicht bei jeder dieser Veranstaltungen zu einem MANV. Die große Anzahl von Menschen auf kleinem Raum erhöht jedoch das Risiko, dass es bei einem Schadenereignis (z. B. Panik, Brand, terroristischer Anschlag) zu einer erhöhten Anzahl von Betroffenen kommt. [15]Aus diesen Gründen ist die Gestellung einer Brandsicherheitswache und/oder eines Sanitätsdienstes bei solchen Veranstaltungen notwendig. Darüber hinaus sollten weitere Maßnahmen, wie z. B. die Definition einer Einsatzmittelkette, das Festlegen von Bereitstellungsräumen und Entwicklungsflächen sowie das Erstellen eines Kommunikationsplanes für nachrückende Kräfte, bereits im Vorfeld einer Großveranstaltung ergriffen werden. Nur so kann der Vorteil der Planbarkeit auch im eintretenden Schadenfall genutzt werden.


Bild 5: Demonstrationen können aufgrund der beteiligten Personenanzahlen zu einem MANV führen.

1.2 Verschiedene Stufenkonzepte des MANV

Angelehnt an die üblichen Alarmstufen im Bereich des Brandschutzes gibt es diese auch im Bereich des Rettungsdienstes und damit auch für den MANV-Einsatz. Bewährt hat sich hier die Benennung der Alarmstufe nach der maximal zu bewältigenden Patientenzahl:

 MANV 10: bis max. 10 Patienten

 MANV 20: > 10 bis max. 20 Patienten

Somit ist für jeden, auch für überregionale Kräfte, ersichtlich um welche Größenordnung MANV es sich handelt. Die Abstufungen müssen in der Alarm- und Ausrückeordnung eingepflegt und mit entsprechenden Einsatzmittelketten versorgt sein. Es gibt jedoch keine bundeseinheitliche Aussage über die Zuordnung der maximalen Patientenzahlen in eine MANV-Stufe. Dies ist wie bereits beschrieben von regionalen Faktoren [16]– Rettungsmitteldichte, Krankenhauskapazitäten etc. – abhängig und im Rahmen der Einsatzvorbereitung zu definieren. Leitgröße hierfür ist die schnellstmöglich klinische Versorgung der Patienten. Insbesondere Traumapatienten bedürfen einer schnellen klinischen Diagnosestellung und gegebenenfalls einer chirurgischen Intervention, um ihr Überleben zu sichern.

Die terroristischen Anschläge der letzten Jahre, aber auch die Vorbereitung auf Großereignisse in Deutschland (z. B. EXPO 2000 in Hannover, Weltjugendtag in Köln oder die FIFA- Fußballweltmeisterschaft) haben gezeigt, dass man die zur Bewältigung solch großer Patientenzahlen notwendigen Kräfte und Mittel nicht mehr allein regional vorhalten kann. Hier werden überregionale Einheiten fest in ein System zur Bewältigung eines großen MANV-Ereignisses eingebunden. Die hier angenommenen Größenordnungen von MANV 250 bis hin zu MANV 1000 bewegen sich schon deutlich außerhalb des gängigen MANV-Rahmens im Bereich einer Großschadenlage. Damit ein solches System im Ernstfall möglichst reibungslos funktionieren kann, sind etliche Vorbereitungsmaßnahmen notwendig, so z. B. die Festlegung von Alarmierungswegen, die Gestellung von Lotsenfahrzeugen bzw. Kartenmaterial, die Einrichtung von Sammelplätzen und der Aufbau der Kommunikationsstruktur. Auch unterhalb solcher Größenordnungen kann die gegenseitige Unterstützung benachbarter Gebietskörperschaften im Einsatzfall erforderlich sein. Um dies so reibungslos wie möglich zu gestalten, bietet es sich an, zumindest auf Landesebene einheitliche Strukturen vorzugeben.

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