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Prolog

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Die säuerliche Geruchsmischung aus Männerschweiß und verbranntem Fleisch dringt ihr immer tiefer in die Nase. Ein intensiver Geruch der Verwesung breitet sich aus. Ekelerregend. Schon wieder dieser Alptraum von der Gefangenschaft in einem tiefen Brunnen.

Aber sie kennt das Drehbuch, sie weiß genau, was geschehen wird, wenn der Mann mit der Sturmmaske über die rostige Leiter in den dunklen Schacht hinabsteigt und der grelle Lichtstrahl einer riesigen Taschenlampe ihre Wangen verbrennt. Mit seinen kräftigen, stark behaarten Armen wird er ihr wieder zwischen die zitternden Beine greifen. Seine feuchten Hände werden ihre Oberschenkel streicheln und vielleicht auch ein Stück weiter nach oben tasten. Sie würde seinen heißen Atem und seine Erregung spüren, aber sein Gesicht nicht erkennen, wenn er sie wieder mit dem Gesicht gegen das Fenster schlägt und frische Blutflecken die Glassplitter der matten Scheibe verfärben. Ihre Augen schmerzen, und nur noch verschwommen erkennt sie das Auto und die Silhouette des fliehenden Mörders.

Zu wissen, dass es nur ein Traum ist, das macht ihr weniger Angst. Immer wieder tauchen nachts diese Erinnerungen auf, die sie in der hintersten Ecke ihres Gedankenlabyrinths abgelegt hatte. Auch heute wird sie wieder schweißgebadet, mit rasendem Herzen und stechendem Kopfschmerz erwachen. Wie so oft inmitten der Stille einer Nacht.

Doch ganz plötzlich spürt sie eine innere Unruhe.

Irgendetwas ist heute anders.

Aber was?

Eine riesige raue Zunge leckt ihr Gesicht ab, und irgendetwas knabbert an ihren Haaren.

Ein warmer Hauch streift ihre glühenden Wangen. Es ist

nicht die Frische des Windes, der manchmal ihre schrecklichen Gedanken wegfegt. Nein, es ist ein unangenehmer Geruch, der immer stärker in der Nase brennt.

Fauler Atem, beißend stinkender Urin und der Geruch von Kot. Schlimmer als in der Tiefe einer Klärgrube.

Dann schleckt die riesige Zunge ihren Unterarm ab. Sie öffnet die Augen.

Erschrickt.

Ein spitzes Gesicht.

Direkt vor ihrer Nase.

Zwei Augen starren sie an.

Riesig groß.

Schwarz.

Von einem Fell umrahmt.

Von einer Sekunde auf die andere wird ihr Körper von einer Gänsehaut überzogen.

Das kann doch nicht wahr sein.

Ein Ziegenkopf.

Ein lebender Ziegenkopf, aus dessen Maul ihr der faulige

Geruch in die Nase strömt.

Sie rollt sich zur Seite. Die Ziege erschrickt, zieht den

Kopf aus der Öffnung des Gatters und reibt sich die kurzen Hörner am Holz. Hinter dem Gatter starren sie mehrere Ziegen an.

Sie will die linke Hand zur Nase führen. Erst jetzt spürt sie die schwere Kette am Handgelenk.

Ihr Herz rast.

Immer schneller.

Ich möchte aufwachen, hört sie ihren stummen Schrei.

Mit einem Schlag wird ihr bewusst: Dies ist kein Traum.

Im Traum sind ihre Beine meist gelähmt.

Jetzt aber kann sie sich bewegen.

Das Herz klopft ihr bis zum Hals. Sie spürt den pelzigen Geschmack im Mund. Die Nasenschleimhaut und der Rachen brennen, als hätte man darin ein Feuer entfacht.

Dann ertönt ein schriller Schrei. Kein stummer Hilferuf wie im Traum. Nein, es ist ihr eigener Schrei. Sie kann sich hören, schreit ihre Angst aus sich heraus.

Der Albtraum ist grausame Wirklichkeit geworden. Sie ist aus einer Ohnmacht erwacht und liegt in einem Stall – eher in einem so niedrigen Holzverschlag, dass sie vermutlich nicht aufrecht stehen könnte.

Ungläubig tastet sie mit den Händen den Stallboden ab. Ein geöffneter Schlafsack liegt auf dem Stroh, aber kein einziges Kleidungsstück bedeckt ihren Körper.

Sie ist nackt.

Ein kalter Schauer steigt in ihr auf.

Angstschweiß breitet sich auf dem ganzen Körper aus. Welche Kleidung hat sie zuletzt getragen?

Sie kann sich nicht erinnern.

Ungläubig blickt sie sich um, und ein bisher nie gekanntes Angstgefühl überfällt sie.

Die Glieder der Kette sind so dick, dass selbst ein ausgewachsener Stier sie nicht auseinanderreißen könnte. Das andere Ende der etwa zwei Meter langen Kette ist in die halbhohe Wand eingemauert.

»Bitte, lieber Gott, lass es einen Traum sein!«, flüstert sie, blickt nach oben, starrt gegen das graue Wellblech der schrägen Dachkonstruktion und hat das Gefühl, die provisorisch befestigte Decke könnte ihr jeden Moment auf den Kopf fallen. Doch ebenso wenig, wie sie an Gott glaubt, glaubt sie in diesem endlosen Moment daran, dass sie träumt.

Sie kann sich nicht daran erinnern, was geschehen ist.

Hat das Gefühl für Zeit verloren.

Ihr Blick wandert durch die schmalen Spalten zwischen den Brettern der breiten Holztür. Dahinter erkennt sie Bruchteile einer Landschaft.

Kein Gebäude weit und breit. Keine Straße.

Kein Weg.

Keine Menschen.

Keine Stromleitungen.

Niemandsland.

Als sie sich aufsetzen will, laufen die Ziegen erschrocken hin und her. Die Tiere sind offenbar sehr ängstlich. Der aufgewirbelte Staub tanzt in den schmalen Lichtfäden der Abendsonne, die sich durch die breiten Lücken zwischen den Brettern vom Tag verabschiedet.

Oder geht die Sonne erst auf?

Wo ist Osten?

Sie muss beobachten, ob die glühende Kugel am Himmel hinter den Hügeln verschwindet oder aufsteigt. Hat genügend Zeit. Alle Zeit der Welt.

Zeit, nach der sie sich immer gesehnt hat. Aber doch nicht in solch einer Situation. Die Ziegen wirbeln erneut Staub auf.

Sie muss husten.

Mit Schrecken wird ihr bewusst, warum der Entführer – oder waren es etwa mehrere? – ihren Mund nicht geknebelt hat. Sie könnte wie eine Wahnsinnige schreien. Keine Menschenseele würde in dieser Einsamkeit ihre Hilferufe hören.

Plötzlich tauchen die ersten Erinnerungen an den Überfall auf. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als sie bewusstlos wurde.

Sie will aufstehen, fühlt sich aber wie gelähmt.

Ihre Glieder sind schwer wie Blei.

Ein taubes Gefühl breitet sich in beiden Armen aus.

Auf dem rechten Arm haben sich die runden Konturen

der Kettenglieder wie eine Tätowierung in das Fleisch eingegraben.

Wie lange hat sie bewusstlos auf der Kette gelegen?

Die Ausweglosigkeit ihrer Lage wird ihr mit jeder Sekunde bewusster.

Sie taucht ein in ein Wechselbad der Gefühle: Angst und Wut, Hoffnung und Resignation, ein Schwebezustand zwischen Leben und Tod. Mit dem linken Handrücken wischt sie sich die Tränen von den Wangen.

Erst jetzt bemerkt sie, dass unzählige Pferdefliegen ihren Körper umkreisen und sich auf ihrem nackten Körper niederlassen. Mit der freien Hand will sie sie vertreiben. Vergeblich. Die Insekten setzen sich immer wieder auf die Haut. Es kribbelt am ganzen Körper. Ihr eigener Schweißgeruch vermischt sich mit dem beißenden Gestank des Urins der Ziegen.

Auf dem rechten Fuß bewegt sich eine dicke Spinne langsam nach oben. Sie zieht das Bein an und schnippt das eklige Tier mit Daumen und Zeigefinger weg.

Was will er von mir?

Was hat er mir angetan?

Sie greift sich mit der ungefesselten Hand zwischen die Beine.

Hat er sie berührt?

Vergewaltigt?

Zumindest verspürt sie keine Schmerzen.

Aber das bedeutet nichts.

Sie blickt sich in ihrem Gefängnis um.

Die Kette reicht genau bis zu einem Donnerbalken in der hinteren Ecke. Unter dem behelfsmäßigen Klosett gähnt ein Loch. Sie kann nicht erkennen, wie tief es ist.

Daneben steht ein Toilettenpapier-Halter mit drei Rollen. Chromfarben. Glänzend. Also neu. Oder frisch gereinigt. In einem Ziegenstall. Sie kann es nicht glauben.

Wie lange will der Entführer sie hier gefangen halten?

In dem Futtertrog vor der Mauer , die ihr Klosett von der Schlafstelle trennt, steht ein Fünf-Liter-Kanister mit einer glasklaren Flüssigkeit. Ohne Beschriftung.

Mit Wasser gefüllt.

Ein gesunder Körper benötigt mindestens zwei Liter Flüssigkeit am Tag. Spätestens am dritten Tag ihrer Gefangenschaft müsste er den Kanister wieder auffüllen.

Dann würde sie ihn kennenlernen. Zumindest sehen. Oder sie würde verdursten.

Was wäre schlimmer?

Ein Blind Date mit dem Entführer?

Vergiftetes Wasser?

Oder elendig verdursten?

Die grausamsten Vorstellungen verirren sich in ihrem Gedankenlabyrinth. Sie wird fast hysterisch und kriecht auf die Holztür zu. Die Kette ist zu kurz. Ihre zitternden Hände können die Tür nicht erreichen. Ob sie verschlossen ist?

Jetzt bloß nicht den Kopf verlieren!

Reiß dich zusammen!, flüstert eine innere Stimme.

Denk nach!

Sie muss eine Möglichkeit finden, sich zu befreien.

Fluchtpläne schmieden.

Aus der Gefangenschaft entfliehen.

Nachdem sie den ersten Schock überwunden hat, versucht sie, die Situation zu analysieren. Sie hat erst kürzlich in einer Zeitung gelesen, dass die Gefahr, Opfer einer Geiselnahme oder Entführung zu werden, in den letzten Jahren weltweit stark angestiegen ist. Doch niemals im Leben hätte sie daran geglaubt, dass es sie selbst einmal treffen könnte. So etwas passiert immer den anderen. Arbeitsplatzverlust! Schwerer Unfall! Suchterkrankung! Krebs! Tod des geliebten Partners! Man glaubt fest daran, dass man selbst vom Schicksal verschont bleibt. Und an Entführung denkt man schon gar nicht.

Sie hat die wichtigsten Aussagen des Artikels noch gut in Erinnerung. Es scheint fast so, als sei in ihr beim Lesen eine dunkle Vorahnung aufgestiegen. Zu den Risikogruppen zählen Menschen in Krisengebieten. In einigen Ländern soll sich inzwischen eine regelrechte Entführungsindustrie entwickelt haben. Die Geiselnehmer des einundzwanzigsten Jahrhunderts haben sich auf Entführungen spezialisiert und arbeiten mit modernster Technik. Auf dem illegalen Markt wird sogar ein Handbuch für Entführer angeboten. Von der Einrichtung einer geeigneten Unterkunft für die Gefangenschaft, einem detaillierten Zeitplan für die eigentliche Entführung, die unauffällige Verschleppung der Geisel an einen nicht identifizierbaren Ort bis hin zu Strategien bei der Lösegeld-Übergabe und der Freilassung wird dort eine Erfolg versprechende Entführung bis ins kleinste Detail beschrieben: zum Beispiel wie die Entführer durch Gegenobservationen und bewusstes Streuen falscher Spuren die Entdeckungsgefahr auf ein Minimum reduzieren können.

Eine beliebte Zielgruppe der Entführungsbranche sind Straßenkinder, die es auch in Deutschland in ausreichender Zahl gibt. Nur selten werden sie vermisst. Sie verschwinden spurlos und eignen sich als Organspender, Kindersoldaten oder als Menschenmaterial für die Prostitution und sexuell begehrte Ware für Pädophile. Man könne sogar eine Entführung bestellen, recherchierte der Journalist dieser interessanten Reportage. Und der Auftraggeber könne in einem detaillierten Fragenkatalog ankreuzen, wie die Entführer das Opfer behandeln sollen. Mit oder ohne Exekution? Wenn ja, schnell oder langsam? Mit oder ohne Folter? Oder darf es nur eine Scheinhinrichtung sein?

Die Dunkelziffer bei Entführungen ist höher als bei anderen Straftaten, da die Angehörigen in den meisten Fällen keine Polizei einschalten und das geforderte Lösegeld zahlen, recherchierte der Autor des Artikels.

Aber warum wurde sie entführt?

Sie hat nicht den Hauch einer Ahnung.

Wer soll das Lösegeld zahlen?

Sie hat keine reichen Eltern.

Es kann nur eine Verwechslung mit einer anderen Frau

sein, einer Frau, die ihr ähnlich sieht.

Ja, so wird es sein.

So muss es sein.

Es gibt keine andere Erklärung.

Aber mit wem hat man sie verwechselt?

Ein winziger Hoffnungsfunke erwacht.

Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Sie muss den Irrtum unbedingt mit dem Entführer klären. Er wird enttäuscht sein, weil er die falsche Frau verschleppt hat. Sein Problem.

Gleichzeitig trifft sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein schrecklicher Gedanke: Vielleicht hat er sich gar keine bestimmte Person ausgesucht. Sie war lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort.

Er ist kein Geiselnehmer, er ist ein Mörder.

Er will nur töten.

Egal, wen.

Sie kann sich nicht mehr von diesem Gedanken lösen. Aber wie wird er sie umbringen?

Mit welcher Methode?

Warum hat er es nicht bereits getan?

Warum versorgt er sie mit Wasser und Toilettenpapier? Wann wird er den Wasserkanister auffüllen?

Wenn überhaupt.

Fragen über Fragen. Sie erinnert sich an einen Artikel in der FAZ, in dem der Autor die Weiße Folter beschrieb. Keine Schläge.

Kein Missbrauch.

Kein Gift.

Kein Kopfschuss.

Bereits die totale Isolation über eine gewisse Zeit könne einen Menschen töten, behauptete der Autor. Wenn das stimmt, wird sie nie erfahren, warum man sie verschleppt hat.

Sie ist am Ende ihrer Reise angelangt: ein menschliches Bündel Elend, in einem von Ziegenkot verschmutzten Holzverschlag hilflos dem Tod ausgeliefert.

Wieso geht sie eigentlich davon aus, dass es nur ein Entführer ist?

Vielleicht wurde sie von mehreren Männern entführt, und diese würden morgen wie wilde Tiere in diesem Stall über sie herfallen.

O Gott! Darüber darf sie jetzt nicht nachdenken.

Sie muss sich von der grausamen Vorstellung lösen, Opfer einer Mehrfachvergewaltigung zu werden. Sonst wird sie wahnsinnig. Das geschieht doch nur im Krieg. In Europa zuletzt im ehemaligen Jugoslawien. Heute immer noch auf anderen Kontinenten.

Und dann spürt sie wieder die fette Spinne.

Das Tier hat sich auf ihren Fuß gesetzt und bewegt sich langsam nach oben. Immer weiter. Wann wird die Spinne ihr Gift ...?

Sie kann den Gedanken nicht zu Ende führen und fällt erneut in eine tiefe Ohnmacht.

LEICHENSPUREN

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