Читать книгу Pilgerwahnsinn - Jörg Steinert - Страница 3
ОглавлениеVIELE WEGE FÜHREN NACH SANTIAGO
Warum fühle ich mich ausgerechnet auf einem überlaufenen katholischen Pilgerweg so geborgen? Ich ostdeutscher Protestant und papstkritischer Geschäftsführer einer Lesben- und Schwulenorganisation. Ich, der Fremdsprachen nur schlecht beherrscht, seinen Feierabend am liebsten mit Netflix-Serien verbringt und sich vor Bettwanzen total ekelt.
Erstaunte Blicke sind mir nicht fremd, wenn ich von meinen zahlreichen Reisen auf dem Jakobsweg berichte. „Du bist den ganzen Weg gelaufen?“, lautet dabei die häufigste Frage. Nein, ich bin nicht zu Hause losgelaufen. Denn genau dort beginnt nämlich der Jakobsweg. Vor der eigenen Haustür.
Auch gibt es nicht den „einen“ Weg nach Santiago de Compostela, sondern eine Vielzahl an Möglichkeiten. Natürlich gibt es Haupttrassen, je näher man der sagenumwobenen Stadt im Nordwesten Spaniens kommt. Der bekannteste Hauptweg ist der Camino Francés, der an den Pyrenäen beginnt und dann 800 Kilometer durch verschiedene Regionen Spaniens führt.
Immer mehr Menschen aus der ganzen Welt pilgern wieder auf Jakobswegen nach Santiago zum Grab des Apostels Jakobus. Im Jahr 1973 wurde die Ankunft von nur 37 Pilgern registriert. Im Jahr 2019 waren es über 340.000 Frauen, Männer und Kinder.
Der Jakobsweg gehört zu den großen Abenteuern unserer Zeit. Ungefährlich, aber aufregend. Anstrengend und zugleich genussvoll.
Der Camino, so nennt man den Jakobsweg in Spanien, macht süchtig. Aber was genau gibt einem der Weg, von dem alle reden? Der Weg, auf dem Menschen nach einer schweren Lebenskrise Kraft tanken. Der Weg, der ein willkommenes Kontrastprogramm zum beschleunigten Alltag darstellt.
Gemäß einem Sprichwort pilgert man nach Jerusalem, um Jesus zu finden, und nach Rom, um auf den Spuren von Petrus zu wandeln. Auf dem Weg nach Santiago findet man aber vor allem sich selbst.
Meine erste Pilgerreise war trotz eines holprigen Starts unbeschreiblich schön und fühlte sich wie das Paradies auf Erden an. Beim zweiten Mal ging sehr viel schief, die Voraussetzung für ein noch größeres Abenteuer. Jeder weitere Weg war anders und brachte mir jeweils nicht das, was ich suchte, sondern was ich brauchte. Egal wie groß die Frustrationsmomente zwischendurch auch waren, am Ende strahlten meine Augen vor Glück.
Zu Fuß in der Fremde unterwegs sein. Meist allein, aber nicht einsam. Das ist der Jakobsweg.