Читать книгу Götzendämmerung I - Jörg Werner - Страница 5
Engelskonklave
ОглавлениеJa, es hatte alles an jenem düsteren Dezembertag im Hier und Jetzt zur Weihnachtszeit begonnen.
Von Westen her zog ein schmutzig graues Atlantiktief über den Horizont, saugte den letzten Rest von Farbe aus den Straßen der Stadt und brachte den Winter. Lichterketten schwankten im aufkommenden Sturm und Christengel belästigten von überall her das wachsame Gemüt.
Nicht dass Max Taschkes Zustand besondere Wachsamkeit zugelassen hätte.
Im Gegenteil, seit Eleonore vor einigen Tagen spurlos verschwunden war, bekämpfte er eine aufkommende Engelphobie mit Bier, Whisky, zunehmendem Fernsehkonsum und nutzlosen Internetrecherchen. Eleonore blieb verschwunden.
Die Phobie bereitete ihm Sorgen, besonders jetzt zur Weihnachtszeit.
Als er am späten Nachmittag auf der durchgelegenen Couch in seinem Wohnbüro erwachte, stellte er ohne allzu großes Erstaunen fest, dass er, zur Hilflosigkeit verdammt, letzte Nacht Zuflucht im Glauben gesucht hatte. Ein verfluchter Fehler, wie er sofort vermutete, als sein Blick auf ein Papier fiel, das vor ihm auf dem Tisch zwischen leeren Bierflaschen und einer Whiskypfütze lag.
Eine verschnörkelte Urkunde mit dem Bild eines bewaffneten Engels in der unteren Hälfte bestätigte Herrn Max Taschke seine Ordinierung zum Priester der Church of the Latter-Day-Dude, der am langsamsten wachsenden Religion der Welt. Erst als er nach einem Panikanfall im Internet die zentrale Botschaft seiner neuen Religion erfasste, beruhigte er sich. Das Glaubenscredo „Maximale Entspanntheit und Predigen durch Nichtpredigen“ erschien ihm außergewöhnlich vernünftig.
Er selbst hätte sich wohl als einen notorischer Skeptiker mit einer Vorliebe fürs Nichtstun beschrieben.
Der Engel auf der Urkunde erinnerte Herrn Taschke wieder an Eleonore.
Auf der Suche nach Ablenkung griff er zur Fernbedienung. Die Nachmittagssendungen versprachen im Allgemeinen einen hohen Unterhaltungswert aufgrund der hirnzersetzenden Schwachköpfe, die sich dort tummelten und den gesunden Menschenverstand attackierten.
Er stieß auf eine Gerichtsverhandlung. Eine Doko-Fiktion mit echten Darstellern, wie eine Einblendung verriet. Das klang hinreichend beknackt. Soweit er von der juristischen Seite des Falls mitbekam, hatten einige Kreuzfahrttouristen den Reiseveranstalter verklagt, weil die Prospekte für die Seereise nicht ausreichend darauf hingewiesen hatten, dass das Mitternachtsmenü erst um vierundzwanzig Uhr gereicht wurde, dass das Tontaubenschießen im Freien stattfand und die Mannschaft auf dem gleichen Schiff nächtigte wie die Gäste. Herr Taschke genehmigte sich daraufhin einen kleinen Whisky und wechselte den Sender.
Volltreffer.
Auf einem der Bibelkanäle tobte ein fundamentalistischer Evangelikaler, ein Werkzeug des Herrn, ein außergewöhnlich schöner Mann im Priestergewand, mit graumelierten Schläfen und kalten Zombieaugen. Er wetterte gegen das zersetzende Gift der Entschuldigung.
„Ein wahrer Christ entschuldigt sich nicht. Niemals, er hat Gott auf seiner Seite. Der Herr lenkt all seine Entscheidungen und Handlungen. Ein wahrhaft gläubiger Christ ist ein Werkzeug Gottes, Amen. Immer und überall und merket: Der Herr fehlt nicht! Ergo: Für was sollte sich ein wahrer Christ, ein Diener des Herrn, also entschuldigen? Für den Ratschlag Gottes? Für den Auftrag Gottes? Für die Anleitung Gottes? Nein, nein und nochmals nein. Keine Entschuldigung! Niemals!“
An dieser Stelle blendete ein Lauflicht am unteren Bildschirmrand den Namen des religiösen Zombies ein und bat um Spenden, während der merkwürdige Heilige mit Namen Elias Matzerat, ein Sprachrohr des Herrn, wie das Lauflicht weiter verkündete, ein Loblied anstimmte. Sogleich stürzten einige üppige Damen mit umgeschnallten Engelsflügelchen auf die Bühne und fielen in die Lobpreisung ein. Licht flutete über die verzückten Gestalten. Herr Taschke fühlte sich an eine absurde Oper erinnert, wo Musik, Gesang und Protagonisten sich zu einem Gesamtkunstwerk vermischten, welches das Publikum in kollektiver Panik aus dem Opernhaus trieb. Das Lauflicht verkündete unterdessen: Dienen statt denken, denn wer denkt, der sträubt sich.
Er fegte vor Schreck das Whiskyglas vom Tisch und beschloss, der Engelsparanoia die Stirn zu bieten. Er entschied sich, dem Gefieder auf ihrem Terrain entgegenzutreten und, trotz heraufziehenden Schneesturms, einen Christmarkt aufzusuchen.
Ein Weihnachtsmarkt stellte seit je her einen Ort für folkloristisch getarnten Alkoholismus, Gefühlsduselei und falsche Besinnlichkeit dar. Genau das Richtige für Herrn Taschkes momentane desolate Verfassung.
Erste Schneeflocken mischten sich unter den fester werdenden Regen.
Ein monströser, geflügelter Engel aus Luft und Plastik hieß ihn willkommen und zerrte in den Windböen an dem Stand, an dem er zu Reklamezwecken festgebunden war. Einen kurzen Moment schien es so, als wollte dieser mystische Luftballon die ganze Verkaufsbude, mit ihren Legionen von musizierenden, tanzenden und fliegenden Holzengeln, in die Höhe reißen. Aus etlichen Lautsprechern dudelte ‚Vom Himmel hoch, da komm ich her‘ und ähnlicher unverwüstlicher Weihnachtsschmalz.
Verdammte Engel, schoss es ihm durch den Kopf.
Er hatte sich vor den Unbilden des Wetters unter einen gigantischen Schirm geflüchtet, der einen Stehtisch bedachte. 100% wasserdicht, Vertrauen hält trocken. Frohe Weihnacht, ihre Parkwelten. Erleben sie die wunderbaren Zyklen des Parkens - Ihr Cityparkhaus, stand darauf zu lesen. Wer dachte sich so was aus, Außerirdische auf der Durchreise oder Praktikanten auf Drogenentzug? Es roch nach heißem Apfelwein, Mandeln, Bratwurst und verstopften Toilettenwagen.
Herr Taschke trank Glühwein, kein Getränk der ersten Wahl.
Eine Gruppe junger dynamischer Menschen, drei Jungs und eine junge Dame, hatten sich ebenfalls unter dem Parkweltenschirm eingefunden, nippten an hochprozentigen Getränken und lauschten einem dazugehörigen älteren Herrn mit aristokratischer Miene.
Eine Art Guru oder Professor vielleicht, dachte Taschke.
„Engel sind schwer im Trend“, referierte der Alte.
„Sympathieträger, mit positiven Assoziationen besetzt, Glaubwürdigkeit, Liebe und so.“, warf einer der Dynamischen ein.
„Wir müssen das nur richtig rausstellen.“
„Blödsinn …“, blaffte der Alte, „… wir müssen gar nichts, und wenn wir doch was müssen, um erfolgreich zu sein, dann ist es gegen den Strom schwimmen. Aufmerksamkeit durch das Unerwartete herstellen, provozieren, auffallen.“
Werbeleute, diagnostizierte er entsetzt, ich bin in ein verdammtes Engels-Brainstorming von Werbefuzzies geraten.
„Wir haben ein Produkt zu vermarkten, was war das doch gleich?“ Der Alte spielte mit den jungen Wilden.
„Ein Spiel mit Engeln, Dämonen und dem anderen üblichen, mystischen Personal. Es geht um Gut und Böse und die Herrschaft im Universum.“
„Welches Universum?“
„Irgendein Universum, soll ja inzwischen verdammt viele geben. Parallelwelten, Milchstraßen, Galaxien, Universen wie Sand am Meer, deshalb sprechen die meisten Physiker inzwischen vom Multiversum. Wieso, ist das wichtig?“
„Nur wenn die Erde in dem Spiel vorkommt.“
„Wenn Engel im Spiel sind, auf jeden Fall, sind hier schließlich quasi zu Hause, die Biester.“ Dabei warf der Sprecher, ein durchtrainierter Typ mit kreisrundem Kopf und getigertem Brillengestell, lachend eine Hand in die Runde.
„Mega out, der Scheiß von wegen Gut und Böse, total analog“, erwiderte ein weiterer Jungkreativer gelangweilt und drückte wie besessen auf einem undefinierbaren, ultraflachen Superdesignmultimediateil herum. Herrn Taschke kam es so vor, als versuchte der Kerl, auf einem digitalen Brotbrett eine Bombe zu entschärfen.
„Quatsch, Gut und Böse sind Kategorien für Kinder, in echten Konflikten geht es um Sex, Macht, Geld.“
„Und Gott.“
„Ja, aber der hält sich raus und schickt seine Beamten.“
„Womit wir wieder bei den Engeln wären“, lachte der Alte süffisant.
Er stöhnte verhalten auf.
„Ein scheiß Spiel mit Engeln. Bescheuerter geht’s kaum.“
„Hört sich echt krank an, die Idee.“
„Fassen wir zusammen: Ein Spiel, Kampf um die Macht, bei dem Engel mitspielen, das Universum, die Erde, Dämonen und der ganze Rest“, fuhr der Alte fort.
„Was für ein Rest?“
„Na, alles eben, Existenz, Freiheit, Liebe, Erlösung, Weihnachtsrummel.“ Der Sprecher beschrieb einen weiten Halbkreis mit seinem ausgestreckten Arm, während der Alte ihn
amüsiert musterte. Er durchlitt eine Realitätsabstoßung, eine Form spontaner geistiger Selbstverteidigung. Die Werber machten weiter.
„Ja, sind richtig schießwütig in dem Spiel und wunderschön, die Engel.“
„Na, dann macht was daraus, einen Slogan, der unter die Gürtellinie geht, irgendwas, das das Publikum vor wohligem Entsetzen aufheulen lässt und Käufer vor Neugier sabbernd in die Läden treibt. Marketing ist Krieg und kein Ringelreihen.“
Für einen kurzen Moment machte sich Schweigen in der Werbetruppe breit. Er schlürfte an seinem Glühwein. Jeder kluge Gedanke machte einen weiten Bogen um den Tisch der Denker. Diese gingen dazu über, ihr Kreativpotenzial zu testen.
Der Alte hingegen hatte etwas Sympathisches, wie er den Advokat Diaboli gab, um die digitalen Scheißerchen zum Selberdenken zu bewegen.
„Unsere Engel sind nicht niedlich.“
„Manche Engel können auch anders.“
„Diese Engel schreddern Dämonen.“
„Hat alles noch keinen Biss. Außerdem, wie soll ich mir als Kunde einen Engel vorstellen, der einen Dämonen schreddert, schiebt der einen Gartenhäcksler vor sich her?“
„Motorsäge wäre machbar“, warf einer ein. Ein Vordenker, vermutete Herr Taschke, ihn schauderte.
„Haben sie sich eigentlich schon einmal Gedanken darüber gemacht, wer diese Engel sind?“, fragte der Alte.
„Mystisches, gefiedertes Gesindel und perfekte Werbeträger.“
„Und was weiter?“
Der Alte suchte den Augenkontakt zu Herrn Taschke, der zwischen Entsetzen und Lachen hin- und hergerissen wurde. „Engel sind letztlich nichts weiter als selbstherrliche Beamte eines außer Kontrolle geratenen himmlischen Verwaltungsapparates, könnte man kritisch ausführen“, führte der Guru aus.
„Der Herr vernachlässigt seine Aufsichtspflicht?“
„Der Herr hat damit nichts zu tun, es ist der Vorstand, also die Erzengel, die Mist bauen, nicht der Aufsichtsratsvorsitzende.“
„Religiöse Spitzfindigkeiten. Für mich bleiben die Engel mystisches, gefiedertes Gesindel, das bei vielen hier sitzt“, der Jungkreative klopfte sich demonstrativ auf die Mitte seiner Stirn, „und nicht heraus will.“
„Jawohl, das Gesindel muss heraus“, lachte die junge Dame in der Runde. Die Werber bestellten eine weitere Runde Glühwein und riefen spontan: “Heraus, Gesindel, heraus.“
Der Guru sorgte für Ruhe und ergriff wieder, gütig lächelnd, das Wort: „Früher, als die Menschheit sich noch mit Hingabe für höhere Wahrheiten die Schädel von Angesicht zu Angesicht eingeschlagen hat, da haben die Engel noch direkt mitgemischt. Keine Vision, keine Offenbarung ohne Engel. Je gewaltiger der Auftrag, je größer der Irrsinn, umso grandioser der geflügelte Bote. Kaum ein notwendiges Massaker zur Verbesserung der Welt ohne Berufung auf die Anweisung der himmlischen Beamten. Bei jeder ernsthaften Religionsgründung mit Wahrheitsmonopol, umfangreichem Feindbild und raumgreifendem Völkermord war die Berufung auf Engel eine Notwendigkeit. Heute halten die sich eher zurück. Doch die geheime Instanz hinter den Kulissen der Geschichte sind die Engel. Machen sie sich das klar, junge Dame und die Herren.
Johannes, Mohammed, Jeanne d‘Arc, Rasputin, Lawrenti Beria, George W. Bush, Osama Bin Laden, um nur mal einige zu nennen, alle hatten sie Begegnungen mit Engeln, zumindest haben sie das behauptet.“ Der Alte gluckste vor Vergnügen.
„Unsere Engel kennen keine Gnade“, trötete da unvermittelt eines dieser jungen Werbegenies los.
Herr Taschke verschüttete etwas Glühwein und fegte die Insel seiner Wahrnehmung leer. Der riesige aufgeblasene Engel über dem Verkaufsstand gegenüber zerrte an den Halteseilen, als wolle er unverzüglich fliehen. Dafür hatte er volles Verständnis.
Das Engelkonklave an seinem Stehtisch orderte eine weitere Runde Wein und riss ihn mit einer Frage aus seiner angenehm aufkeimenden Unzurechnungsfähigkeit.
„Was fällt ihnen denn zu Engeln ein, mein Herr, so ganz spontan, meine ich?“
Die Dame in der Gruppe junger Wilder schaute über den Stehtisch und probierte sich in psychologisch fundierter Marktforschung. Nur blöd, dass sie ausgerechnet an Herrn Taschke geraten war.
„Rilke“ schleuderte der über den Tisch und schwieg ansonsten.
„Wie, Rilke? Hört sich nach Schokoriegel an, ungarischer Markt vielleicht.“
„Ein Dichter, Rainer Maria Rilke, geboren 1875 und gestorben irgendwann in den Zwanzigern, soweit ich mich erinnere.
Auf einem schmalen Schollenhügel
Kniet, ganz versteckt im hohen Mohn
Mit staubigen, gebrochnem Flügel
Ein Engel aus rohem Ton …“, rezitierte der alte Werbeguru zufrieden, „… war es das, worauf sie anspielten, mein Herr?“
„Nein, eher auf Rilkes Zeile: Ein jeder Engel ist schrecklich, passt irgendwie besser in ihr Konzept.“
Der alte Fuchs kicherte, während die Kreativen an seinem Tisch dazu übergingen, das Geschlecht ebendieser Engel zu erörtern.
"Große Flügel bedürfen großer Titten."
"Wer sagt, dass Engel weiblich sind?"
"Die Kunden, wer kauft Spiele, in denen es um die Macht geht, hä?"
"Männer, große Jungen und ewige Versager!"
"Eben, und die wollen große Titten, deshalb kennen unser Engel keine Gnade, sind bewaffnet und haben Superbusen, kapiert?"
"Konsequente Kommunikation der Preis-Leistungs-Botschaft nennt man das."
Herr Taschke folgte den zwingend formulierten Gesetzen des Marktes mit zunehmendem Entsetzen. Die Werbefritzen gaben sich so gnadenlos wie ihre Engel. Die Logik der Marketingschlacht kannte weder Freund noch Feind. Das Trommelfeuer banaler Botschaften verwandelte den gesunden Menschenverstand in eine Kraterlandschaft. Über den Gräben der Vernunft wehte der Geruch von geilem Geiz und herrschte purer Optimismus. Doch die Karawane der Werbefritzen zog unerbittlich weiter, stieß ins Herz der Finsternis vor, dort, wo die Kräfte der nackten Gier herrschten. Für diesen Teil der Expedition bedurfte es eines Führers, Leitfigur genannt.
"Wir brauchen eine Leitfigur."
"Haben wir doch in dem Engel mit den riesigen Flügeln und so."
"Was heißt und so?"
"Na, die Oberweite von der geflügelten Tussi und das Flammenschwert."
"Kein Flammenschwert. Das ist vollkommen retro, was wir brauchen, ist was Zeitgenössisches. Einen Plasmawerfer vielleicht."
"Und wie sieht der aus, der Werfer?"
Der Weihnachtsmarkt rings um Herrn Taschke war dem kulturellen Untergang geweiht, ein neuer Zeitgeist zog mit Macht in Gestalt der jungen Generation am Horizont herauf. In Zukunft würden die Holzengel aus dem Erzgebirge nicht mehr musizieren, sondern ultimative Massenvernichtungswaffen tragen, die lieben Kleinen würden gierige runde Kulleraugen bekommen und unter dem Christbaum ethnische Säuberung spielen. Die Moderne versprach ihren eigenen exquisiten Horror, ihn gruselte.
"Der Plasmawerfer ähnelt einem Neutronentransmitter, ist aber filigraner und eleganter im Design."
"Meine Herren, sie verlieren das Wesentliche aus den Augen."
Der alte Werbefuchs steuerte die jungen Wilden wieder auf den rechten Kurs zurück.
"Die zentrale Frage lautet: Woher nehmen wir einen glaubwürdigen Engel für die Kampagne? Wir brauchen ein unverbrauchtes Gesicht. Einen Engel mit Format und Ausstrahlung. Wofür soll unser Modell stehen, was ist die zentrale Botschaft unseres Engels an die Kundschaft?"
„Gewalt ist unverzichtbar.“
„Für was?“
„Na, um die Welt zu retten und die unteilbare Wahrheit zu verkünden.“
„Richtig.“
„Genau“.
„Hätte ich nicht besser formulieren können.“
Herr Taschke stürzte umgehend den Inhalt eines der herumliegenden Schnapsfläschchen hinunter, um nicht in unkontrollierte Zuckungen auszubrechen. Die Wirklichkeit übertraf jede Fernsehsendung.
„Fein, soweit keine Einwände, jetzt brauchen wir bloß noch den passenden Engel.“
Die Marketingexpertin unter den Jungs blieb am Ball.
"Ich stelle mir eine engelsgleiche Erscheinung vor: zeitlos attraktiv mit geheimnisvoller Ausstrahlung, etwas androgyn mit Sex-Appeal, warmherzig und mit einem latent gewalttätigen Charisma. Das muss besonders rüberkommen, das Charisma. Fotografiert in weichen Pastellfarbtönen, etwas flatternde Stoffe im Hintergrund oder ein paar Fahnen."
„Rote Fahnen vielleicht, im Kontrast zu gewaltigen weißen Flügeln.“
„Zu sozialistisch.“
Die sprachen von Eleonore. Es war zu spät zu fliehen. Ihn packte nacktes Entsetzen. Er konnte Eleonore nicht entkommen. Sie saß in seinem Kopf so fest, wie andere Engel in anderen Hirnen. Um wenigstens minimale Entspannung herzustellen, war es nötig, sich die Geschichte mit Eleonore noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.
So ein Foto, wie es die Werbefritzen gerade beschrieben hatten, gab es von Eleonore von Sternberg, es war keine drei Wochen alt und geisterte seitdem durchs Netz.
Ein Bild wie eine Offenbarung, musste sich Herr Taschke eingestehen. Es zeigte eine überaus schöne, zierliche Frau in der hell erleuchteten, geöffneten Tür eines U-Bahn-Zuges in einem Untergrund-Bahnhof, im Rücken zwei schneeweiße, riesige Engelsflügel, die aus ihrem Rücken zu wachsen schienen. Die Schwingen gehörten zu einer überdimensionierten Plakatreklame auf der Tunnelwand hinter der geöffneten Wagentür auf der anderen Seite des Wagens, wo eine geflügelte Getränkedose gen Himmel stieg, weil das angepriesene Getränk angeblich Flügel verleiht.
Ein netter Schnappschuss mit einer Handykamera. Nichts Ungewöhnliches für die Postmoderne, in der jeder Tölpel mit einem fotografierenden Telefon in der Tasche herumläuft und überflüssige Momente festhält, um sie dann ins Netz zu stellen, wo sie sich verbreiten wie eine hochansteckende Geisteskrankheit, und für Verwirrung und Realitätsverzerrung sorgen. Vielleicht ging es auch nur darum, sich der eigenen Existenz zu versichern, indem man die Subjektivität des Augenblicks ins Endlose verlängerte.
Ich halte fest, was vergeht, also bin ich.
Blöd nur, dachte Herr Taschke, dass Eleonore auf dem Foto inmitten von vier verprügelten Anzugträgern stand, die sich, wie schwer verletzte Schlachtopfer ineinander verheddert und verkeilt, ängstlich aneinanderklammerten und völlig irre in die Kamera starrten, als hätten sie ein Rendezvous mit Freddy Krüger hinter sich.
Die daraus folgenden juristischen Verwicklungen lagen auf der Hand. Ein ausreichender Anlass für Eleonore von Sternberg, schon kurz nach diesem Zwischenfall in Anwalt Paul Imenhoffs Kanzlei aufzukreuzen, dort die Vorzimmerdame huldvoll zu ignorieren und in eine kleine Auseinandersetzung wegen einiger unbedeutender Spesenabrechnungen zwischen Anwalt Imenhoff und ihm hereinzuplatzen, um sich umgehend der Dienste der Kanzlei zu versichern. Anwalt Imenhoff und Herr Taschke fühlten sich für einen Augenblick wie Trojaner, denen jemand ein großes Holzpferd ins Büro gerollt hatte.
Wie er wenig später erfuhr, genoss die weitverzweigte Familie der von Sternbergs schon seit etlichen Jahrzehnten die juristische Rückendeckung der Kanzlei Imenhoff und Partner. Dass Eleonore einen ganzen Rattenschwanz von Prozessen aufgrund diverser extravaganter Auftritte und ihres außergewöhnlich impulsiven Charakters hinter sich herschleppte, hatte Anwalt Imenhoff ihm galant verschwiegen.
Das Anwaltsbüro Imenhoff und Partner stand in dem Ruf, die Probleme seiner durchweg zahlungskräftigen Klienten dezent und effizient hinter den Kulissen medialer Aufgeregtheit oder gar öffentlicher juristischer Auseinandersetzungen zu klären. Um die Konfliktlösungsmethoden der Kanzlei rankten sich einige unschöne Gerüchte, die zu vertiefen bisher niemand den Mut gefunden hatte, da kein Mensch den Rest seines Lebens vorwiegend im Gerichtssaal zu verbringen gedachte.
Eleonores jüngster Fall jedoch war auch nach den Kriterien abgebrühter Juristen außergewöhnlich. Er musste lächeln. Eleonores Wille beugte die Wirklichkeit so spielend, wie es nur die Götter vermochten.
Das Schneetreiben nahm zu, einzelne Halterungen, Verstrebungen und Stahlseile sangen im Wind und schlugen gegen die Buden. Der Weihnachtsmarkt klapperte wie ein ausgeleiertes Gebiss.
Die Werbefuzzies machten gnadenlos weiter, als wären sie die Jäger verlorener Einsichten oder geheimer Erkenntnisse.
"Moment, ich glaub', ich hab da vor ein paar Wochen was im Internet gesehen. Tolles Foto. Ein Bild wie aus einem Traum. Engel mit schneeweißen Flügeln, das Licht und die Schattenwürfe in der nächtlichen U-Bahn-Station hätte Goya nicht treffender malen können, und die grobe Körnung der Handykamera ergab irgendwie ‘ne geile Illusion, richtig mystisch und so.“
Herr Taschke orderte weiteren Glühwein, die Werber schlossen sich an.
„Stimmt, ich erinnere mich vage. Ein Gewaltexzess oder etwas in der Richtung.“
„In der U-Bahn nachts, die Frau war auf dem Heimweg, gerät an vier angetrunkene Banker, die Kerle pöbeln sie an, die Frau verbittet sich das, die Typen werden zudringlich, die Frau verprügelt die vier Idioten. Jemand fotografiert und stellt das Bild auf Youtube ins Netz. Dort bekommt es in nur drei Tagen zwei Millionen Klicks. Später fand die Story ihren Weg in die Zeitung, da bin ich darauf gestoßen.“
„Wow, du liest noch Zeitung, du bist ja doch so was von retro.“
„Ach, halt die Klappe.“
Soweit die offizielle Version der Geschichte, dachte er. Nur, dass Eleonore sich angeblich an nichts erinnern konnte, nicht mal, warum sie die U-Bahn und nicht, wie üblich, ein Taxi genommen hatte. Merkwürdigerweise gab es auch keine Zeugen des Zwischenfalls und die Videoüberwachung des Wagens zeigte nur Flimmern und ein weißes Wabern.
Der Weihnachtsmarkt attackierte den letzten Widerstand der puren Vernunft mit Süßer die Glocken nie klingen, das Publikum schob und drängte zu den Alkoholständen. Herr Taschke war sicher, dass ein mahnendes Trio der Anonymen Alkoholiker umstandslos gelyncht worden wäre.
„Die Frau war in der Zeitung?“, fragte der alte Guru interessiert nach.
„Ja, die Geschichte nahm noch mal richtig Fahrt auf, als so eine Spinnerillustrierte fürs Wartezimmer die Sache aufgriff und titelte: „Rückkehr der Schutzengel?“, danach zogen andere nach und es folgte ein ganze Flut von hirnrissigen Artikeln.“
„Hier, ich hab’s“, krakelte der Medienspezialist und zeigte stolz sein mediales Designerbrotbrett in die Runde. Die junge Werbequotenfrau las laut vor.
„Sie sind zurück. Engel zeigt Bankschnöseln, wo der Hammer hängt. Engel der Nacht haut drauf. Schutzengel schlägt zu.“, oder auch: „Danke, Herr. Keine Entschuldigung mehr. Sie kommen. Rachengel in U-Bahn.“
„Au weia“, entfuhr es dem alten Werbeguru.
Ihm wäre jetzt ein Flammenschwert willkommen gewesen. Er hatte maximale Entspannung gesucht, keine Eleonore-Retrospektive.
„Wieso ist da nirgends ein Foto von dem Engel zu finden?“
„Juristisch unterbunden.“
„Wie? Die haben es geschafft, alle Bilder aus dem Netz zu tilgen? Das schafft keiner!“
„Banker schon.“
Mit Geld und Hilfe eines skrupellosen Anwaltes geht alles, dachte Herr Taschke, aber die Dinge hatten sich dennoch komplizierter gestaltet, als die Werbefritzen ahnen konnten.
Er starrte vor sich hin, von düsteren Erinnerungen heimgesucht.
Denn kaum hatte sich die Regenbogenpresse beruhigt und Eleonore ad acta gelegt, fingen seriösere Blätter an, Fragen zu stellen und Rechercheanstrengungen zu unternehmen, um den geheimnisvollen Engel des Untergrundes, Das Phantom der U-Bahn zu finden. Ein seriöses Wochenmagazin brachte den Aufmacher „Schutzengel kontra Banker, greift die himmlische Verwaltung ein?“ Was ausgesprochen reißerisch klang.
Engel waren total en vogue und Banker im freien Fall, was mediale Zuneigung betraf. Eleonore von Sternberg fand sich plötzlich dort, wo nur Narzissten, Egomanen oder Casting-Teilnehmer hinwollten - im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit.
Also hatte Frau von Sternberg die Kanzlei Imenhoff und Partner damit beauftragt, die rechtlichen Unannehmlichkeiten mit der Staatsanwaltschaft und den vier beschädigten Bankern zu regeln. Ein Auftrag, den Anwalt Imenhoff mit einer delikaten Mischung aus scheinbarer Kooperation mit der Justiz, Zuckerbrot und Peitsche gegenüber den Bankern, sowie zielgerichteter Korruption brillant und unauffällig zu erledigen vermochte.
Ihm war die brisante Aufgabe zugefallen, die Öffentlichkeit abzulenken und von Eleonore fernzuhalten. Sie hatte ihn zu ihrem Schwert im Kreuzzug gegen die Mediengeier erkoren.
Als Subunternehmer oder Mann für besondere Aufgaben erledigte er für die Kanzlei diverse, oft delikate Dienstleistungen. Wobei Imenhoff als Freund und Auftraggeber Wert darauf legte, offiziell keinerlei Geschäftsbeziehung mit Herrn Taschke zu unterhalten. Die Vorsicht der Juristen!
Sein Wohnbüro in einer etwas zwiespältig beleumdeten Gegend der Stadt zierte ein schönes, von der Größe eher bescheiden gehaltenes Messingschild mit der schlichten Aufschrift „Sicherheitsmanagement Max Taschke“. Im Internet war er nicht vertreten.
Im Gegensatz zu Anwalt Imenhoffs kompetenter Problemlösung versagte er auf ganzer Linie: Der Pressehype ging weiter. Infolgedessen schäumte Eleonore vor Wut. Das Interesse an ihrer Person riss nicht ab und immer absurdere Spekulationen fanden den Weg in die Öffentlichkeit. Als sie dann noch von einem obskuren religiösen Verein zum Ehrenengel gekürt wurde, verlor sie endgültig die Contenance. Sie stürmte in Herrn Taschkes Wohnbüro, wo sie ihm an die Gurgel zu gehen drohte. Nur von dem hinfälligen Schreibtisch aufgehalten, hinter dem er sich in Deckung begeben hatte, feuerte sie eine schwere Salve wüster Beschimpfungen ab: „Blender, Versager, Trottel, Feigling!“, tobte sie so anmutig.
Da musste es passiert sein.
Er erinnerte sich nur äußerst widerwillig an die folgenden Minuten. Ja, genaugenommen wusste er immer noch nicht, wie es zu dem anschließenden Debakel kommen konnte. Jedenfalls hatte er sich aus seiner Deckung erhoben, sich mit beiden Fäusten auf der Schreibtischkante aufgestützt und völlig ruhig und gelassen gesagt: „Frau von Sternberg, ich glaube, ich verliebe mich gerade in sie.“
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Eleonore völlig verblüfft geschwiegen wie jemand, den ein Königspinguin nach der Formel für die Lichtgeschwindigkeit fragt. Dann schien es, als hätte sich etwas Rauch aus ihrer Nase und den Ohren gekräuselt. Eine Wahrnehmung, die er später auf seine überhitzten Sinne schob. Dann hatte Frau von Sternberg ihre Haltung gestrafft, den Kopf in den Nacken geworfen, das hübsche Kinn energisch nach vorne geschoben, Herrn Taschke kalt gemustert und „Sie sind ja so was von krank“ erwidert. Im Anschluss hatte sie sich umgedreht und war gegangen, elegant und wortlos, ohne die Türen zu schließen. Zurück war nur der Hauch ihres Parfüms geblieben.
Seitdem war Eleonore verschwunden. Selbst Paul Imenhoff vermochte sie nicht zu erreichen.
Zweifel und Selbstvorwürfe nagten seither an seinem robusten Selbstwertgefühl. Er fragte sich, ob der Zeitpunkt für sein Geständnis vielleicht falsch gewählt war oder die Formulierung „ich glaube“ zu viel Spielraum für Zweifel signalisiert hatte. Ein „Ich liebe Sie“ wäre sicherlich eindeutiger gewesen. Andererseits hätte er das distanzierte „Sie“ in diesem Fall besser durch ein „Dich“ ersetzen sollen, „Ich liebe Dich“. Doch dieser Satz war ihm in Anbetracht der Umstände zu intim erschienen. Und außerdem wusste er zu dem Zeitpunkt noch nicht genau, ob er sie wirklich liebte oder nur dabei war, sich zu verlieben, was er in dem Verb „glauben“ zum Ausdruck gebracht hatte. Sein ganzes Geständnis war letztlich ein Triumph der Logik, überlegte Herr Taschke, wahrscheinlich war Eleonore einfach zu erregt gewesen, um auf seine wohlgemeinte Avance vernünftig zu reagieren.
„Krawumm!“
Er schrak aus seinen Gedanken, die Werber fuhren herum. Mit Wucht hatte sich unter lautem Knall der luftige Weihnachtsengel von der Bude gegenüber losgerissen und taumelte im Schneetreiben der Freiheit entgegen. Viele Weihnachtsmarktbesucher winkten ihm nach, bis ein Sicherheitsbeamter im Weihnachtsmannkostüm eine großkalibrige Pistole zog und das Feuer eröffnete.
Ein kleiner Junge jubelte: „Treffer!“, ein paar putzige Mädchen kreischten: „Feuer frei auf fette Engel.“ Auf einer kleinen Bühne sang ein Chor „Friede auf Erden, den Menschen ein Wohlgefallen.“
„Eine Gefährdung des Luftraumes“, erklärte der Weihnachtsmann verlegen und kippte an einer der Buden, noch zittrig von dem einseitigen Feuergefecht, einen Jägermeister.
„Peng, peng“, skandierten die Werber, winkten dem Schützen zu und tranken eine weitere Lage Kräuterschnaps.
„Hier, sehr interessant, ich hab doch noch was gefunden“, meldete sich der Werber mit dem medialen Brotbrett zu Wort. Er begann zu nuscheln.
„Was denn?“, fragte jemand aus der Runde und schlürfte an einer winzigen Schnapsflasche. Die Expertenrunde an Herrn Taschkes Tisch löste sich allmählich in Chaos auf.
„Eine Pressenotiz, hört mal: Eine Vertreterin des Vereins Engelswächter erklärte gestern gegenüber dieser Zeitung, dass …“
„Moment mal bitte, könnten sie den Namen dieses Vereins noch einmal vorlesen?“, unterbrach der Werbeguru den jungen Wilden.
„Engelswächter.“
Der Alte kramte in seiner Manteltasche, förderte eine Visitenkarte zutage und reichte sie an die junge Dame zu seiner Linken weiter. Die las laut vor:
„Engelwächter. e.V. Jede Tugend braucht ihre Wächter, noch eine Telefonnummer und das ist alles, mehr steht da nicht.“
Herr Taschke hätte vor Schreck beinahe sein Glas fallen lassen.
„Komischer Zufall …“, erklärte der Alte, „… diese Engelswächter sind auch unsere Auftraggeber.“
„Ist das nicht irre?“, kicherte die Quotenfrau unter den wilden Denkern.
„Echt irre, ja. Darauf trinken wir. Salut, auf die Wacht.“
In seinem Strom der Gedanken kam es zu weiteren Turbulenzen und er verschüttete etwas Glühwein. Die Werber waren indessen dazu übergegangen, undefinierbare kleine Schnäpse unter ihr Getränk zu mischen, wahrscheinlich um die Kreativität nicht trockenfallen zu lassen.
Die Visitenkarte wurde herumgereicht. Wie selbstverständlich wanderte sie auch zu ihm, er musterte sie interessiert.
Auf blütenweißem Papier mit schwerem Goldrand zeigte die Karte einen undefinierbaren Planeten, über den die zarten Schemen einiger Putten schwebten. Darüber stand der Text in schwungvollen Lettern. Die Rückseite zierten zwei gekreuzte Flammenschwerter. Herr Taschke hatte genug gesehen. Er reichte die Karte weiter.
Der Vordenker hatte angefangen, wie rasend sein Multimediasurfbrett zu traktieren, Schweiß stand ihm auf der Stirn.
„Nicht zu fassen“, war alles, was er nach einiger Zeit erschüttert hervorstammelte, „Kaum Informationen, diese sogenannten Engelswächter gibt es nicht, kommen im Netz nicht vor.“
„Vielleicht ist das Netz nur schlecht informiert“, warf die Dame der Runde ein.
„Was steht denn im Netz?“
„Sag ich doch: nichts.“
„Sei’s drum, der Auftrag ist relevant, und, wenn ich die Dame und die Herren darauf hinweisen darf, auch schon finanziert. Das Geld liegt auf einem Notarkonto bereit.“, erwiderte der Alte unbeeindruckt.
„Also ziehen wir die Kampagne Grausame Engel ganz groß auf. An die Arbeit."
"Was machen wir mit dem Neutronentransmitter?"
Herr Taschke überlegte gerade, wie wohl das Klatschen einiger gedachter Ohrfeigen klang, als ihn sein Mobiltelefon aus der Zuhörerrolle riss. Er hatte das Handy wegen Eleonore nicht abgestellt. Voller Demut für die Gnade eines guten Timings meldete er sich: „Hallo.“
Es schneite jetzt in schweren Flocken, die durch das Licht der Bogenlampen und Budenbeleuchtungen trieben. Der erste Schnee blieb schwer und feucht liegen.
Seine Schuhe saugten sich langsam voll. Die Welt wurde leiser, der erwachende Winter dämpfte jedes Geräusch.
„Hallo, spricht dort Herr Taschke, Max Taschke?"
"Ja, am Apparat."
"Wo stecken Sie?“
„Zwischen Engelsexperten, im strategischen Hauptquartier einer gnadenlosen Werbeschlacht, es geht um die Macht.“
„Wir haben keine Zeit für schlechte Scherze, Herr Taschke. Es ist etwas passiert, Sie müssen unverzüglich kommen."
Ein Anruf aus der Gruselkammer des kollektiven Unterbewusstseins, und dank der portablen Telefone gab es kein gnädiges Entrinnen mehr. Wer fürchtet sich nicht vorm schwarzen Mann? Der hat jetzt ein Mobiltelefon und erreicht jeden rund um die Uhr, vorzugsweise an der Supermarktkasse. Keine Pause von gar nichts. Geschichte wird gemacht und alle sind dabei. Ein Frösteln lief ihm Wirbelsäule herunter.
"Wer spricht bitte? Was ist passiert?"
„Entschuldigung, ich vergaß mich vorzustellen, mein Name ist Brummle, Inspektor Brummle, und es geht um das Verschwinden einer Klientin von ihnen, ich habe gerade mit Anwalt Imenhoff telefoniert und er war der Ansicht, sie könnten mir eher Auskunft geben."
“Wer bitte ist verschwunden?“
"Eine Frau von Sternenberg ist verschwunden!“
„Wirklich?“
"Ja, unter sehr mysteriösen Umständen."
Er spürte den Sog unbekannter Kräfte, etwas nahm gewaltig Fahrt auf. Eleonore war nicht einfach nur untergetaucht, wie er bisher angenommen hatte, sie war verschwunden. Das machte einen Unterschied.
"Was genau ist passiert Inspektor?"
"Kann ich ihnen so nicht sagen. Nicht am Telefon, nicht jetzt, bitte kommen sie umgehend zu uns ins Präsidium. Wir wären ihnen sehr verbunden, es eilt."
"Ich bin schon unterwegs. Bei dem Wetter könnte es etwas länger dauern."
Er verstaute das Mobiltelefon und wollte unverzüglich aufbrechen, als ihn der alte Guru aufhielt.
„Kleinen Moment noch, mein Herr, sie haben unser ganzes Gespräch mit angehört, einige unserer kleinen Betriebsgeheimnisse erfahren und sie kennen Rilke. Da wäre es sehr freundlich von ihnen, wenn ich ihnen eine Frage stellen dürfte.“
„Nur zu, mein Herr.“
„Nun gut, haben sie mal etwas von diesen Engelwächtern gehört?“
„Nein, und ich habe das Gefühl, das es besser auch so bleiben sollte. Frohe Weihnachten und viel Glück mit ihren Engeln.“
„Frohe Weihnachten!“, jubelten die jungen Genies. Der Vordenker klopfte zum Abschied mit einer der leeren Kräuterschnapsflaschen an seine Stirn und skandierte dazu: “Heraus, Gesindel, heraus.“, woraufhin die Meute einfiel und grölte: „Heraus, Gesindel, heraus.“
Der Chor betrunkener Werbeleute begleitete Herrn Taschkes Abgang.
„Heraus, Gesindel, heraus.“
Die Werbeleute und Weihnachtsengel verschwanden hinter ihm im Schneeregen und wurden von der Welt verschluckt wie der Fliegende Holländer vom Sturm.