Читать книгу Literaturstreit und Bocksgesang - Jürgen Brokoff - Страница 6
I. Einleitung: Literarische Autorschaft und intellektuelle politische Öffentlichkeit
ОглавлениеAm 19. 9. 2015 erscheint im Magazin Der Spiegel ein Artikel, der die Berichterstattung über die gestiegene Zahl der nach Europa und Deutschland Geflüchteten mit einer Reportage über die Arbeit der Flüchtlingshilfe in Hamburg verbindet. Der Autor schildert seine Eindrücke, die er bei Besuchen in einer Halle des Hamburger Messegeländes über die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, ihre Antriebe und Motive bei der Organisation von Kleiderspenden und anderen Formen der Flüchtlingshilfe gewonnen hat. War der Anlass des ersten Besuchs die Spende von »vier Ikea-Taschen«[1] eigener Kleidung für Geflüchtete, so reiht sich der Autor bei den nachfolgenden Besuchen selbst in die Gruppe der Ehrenamtlichen ein. Beim zweiten Besuch ordnet er sich jenen zu, die in der Halle Herrenoberbekleidung sortieren, bei den anschließenden Besuchen wird er »der Kinderabteilung zugewiesen« (105) und »in eine Menschenkette gestellt« (ebd.), um Kartons mit gespendeter Kleidung per Hand durch die große Halle zu transportieren. Der auf Selbsterfahrung basierende Bericht zeichnet ein anschauliches Bild von den Leistungen der Helferinnen und Helfer quer durch die Generationen und Bildungsschichten, und er charakterisiert den Einsatz der Beteiligten als Versuch, dem ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes über die Achtung und den Schutz der Menschenwürde »mit einfachen Mitteln Geltung zu verschaffen« (108).
Bei aller Anschaulichkeit der Reportage gibt deren Überschrift Rätsel auf. Sie lautet Abschwellender Bocksgesang. Im zweiten Absatz des Beitrags klärt der Autor seine Leserschaft über den gewählten Titel auf. Er führt, ohne genauere Hinweise auf die Gattung oder Machart des Zitierten zu geben, Sätze aus dem »anschwellenden Bocksgesang« (105) von Botho Strauß an. Diese Formulierung des Reporters legt nahe, dass der namentlich erwähnte Autor Strauß einen Bocksgesang angestimmt hat. Die Reportage verhält sich dazu konträr: Aus dem anschwellenden wird ein abschwellender Bocksgesang.[2]
Über den Text aus dem Jahr 2015 sind insgesamt zehn Zitate verteilt, die als wörtliche Übernahmen von Strauß gekennzeichnet sind. Was haben Zitate eines literarischen Autors in einer Reportage über die Arbeit der Hamburger Flüchtlingshilfe zu suchen? Wie kommen sie dort hinein? Offenkundig dienen sie dem Verfasser als eine Art Kontrastfolie, vor der sich sein Bericht besser abhebt. Dass dabei das Thema der Reportage vom Schreiben der Reportage nicht zu trennen ist, zeigt sich unter anderem daran, dass der Autor im Verlauf seiner Arbeit als Reporter selbst zum Flüchtlingshelfer wird. Wenn die vom Journalisten und Flüchtlingshelfer geschriebene Reportage den Titel Abschwellender Bocksgesang trägt, dann tritt der »anschwellende Bocksgesang« von Strauß in einen Gegensatz nicht nur zur Reportage, sondern auch zu dem von ihr Berichteten. Der »anschwellende Bocksgesang« von Strauß ist gegen Anstrengungen wie die der Hamburger Flüchtlingshilfe gerichtet – so lautet die Botschaft der Spiegel-Reportage. Damit wende sich Strauß implizit auch gegen die Voraussetzungen, die zur Flüchtlingshilfe geführt haben. Der »anschwellende Bocksgesang« von Strauß sei gegen Flucht und Migration gerichtet.
Das Verfahren der Reportage ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Der erste Einwand, der die von der Reportage nahegelegte Lesart des Titels von Strauß betrifft, ist noch vergleichsweise gering zu veranschlagen. Die Frage, ob ein Text mit der Überschrift Anschwellender Bocksgesang zwangsläufig so verstanden werden muss, dass der Titel den Text selbst, also das eigene Verfahren, die eigene Darstellungsweise beschreibt, oder ob dieser Titel, der eine deutsche Übersetzung des griechischen Wortes für ›Tragödie‹ ist, nicht vielmehr auf den Gegenstand des Textes bezogen ist, lässt sich durch einen Blick in Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang[3] beantworten. Es zeigt sich, dass die Bezeichnung »Bocksgesang«, die in der Spiegel-Fassung des Textes außer im Titel nur an einer weiteren Stelle verwendet wird, sich nicht auf den Text selbst bezieht, sondern auf die von ihm beschriebenen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen zu Beginn der neunziger Jahre: Der »Bocksgesang« geht »aus der Tiefe unseres Handelns« (205) hervor und ist Anzeichen einer »künftigen Tragödie« (ebd.), deren Gestalt nicht zu erkennen ist.[4] Dies festzustellen bedeutet nicht, den Begriff der Tragödie als passende Bezeichnung für die beschriebenen Entwicklungen unkritisch gelten zu lassen.
Auch der zweite Einwand, dem zufolge der von der Reportage zitierte Essay Anschwellender Bocksgesang zwar ebenfalls im Magazin Der Spiegel erschienen ist, aber doch zu einer anderen Zeit und unter anderen Bedingungen, nämlich zu Beginn des Jahres 1993, ist eher von untergeordneter Bedeutung. Denn das Verfahren, Zitate aus zeitlichen und sachlichen Entstehungszusammenhängen herauszulösen, ist in politischen und publizistischen Auseinandersetzungen gängige Praxis. Wer die Arena der politischen Öffentlichkeit betritt, muss wissen, was er tut. Der in dieser Hinsicht reichlich erfahrene Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger vermerkt 1992, dass das Betreten dieser Arena »auf eigene Gefahr«[5] erfolgt.
Gravierender ist hingegen der dritte Einwand, nämlich dass Zitate aus dem 1993 erschienenen Text Anschwellender Bocksgesang auf geschickte Weise in die Spiegel-Reportage von 2015 eingearbeitet wurden und dort in collagierter Form der eigenen Erzählung dienen. Das wird bereits bei den ersten beiden Bezugnahmen auf Strauß deutlich. Das erste wörtliche Zitat aus Strauß’ Essay bezieht sich auf die dort thematisierte Herausforderung, den zu Beginn der neunziger Jahre in Deutschland Zuflucht suchenden »Heerscharen von Vertriebenen und heimatlos Gewordenen« (203) mit Mitleid, Hilfsbereitschaft und Güte zu begegnen. Im Anschluss an diese zitierte Äußerung, die im Hinblick auf die Bezeichnung »Heerscharen« eine Sprachkritik erfordert,[6] heißt es in der Reportage von 2015:
Vor mehr als 20 Jahren schrieb Botho Strauß diese knirschenden Zeilen, die Zahl der Asylbewerber war auf über 400 000 angestiegen, und in seinem »anschwellenden Bocksgesang« entwarf er das düstere Bild eines Volkes, das nicht »durch feindliche Eroberer« herausgefordert werde, aber »nach innen um das Unsere« kämpfe und so wegen seines »modernen egoistischen Heidentums« überfordert werde. (105)
Abgesehen davon, dass das zitierte »Heidentum« im Essay eine scharfe Grundsatzkritik erfährt und ihm nach Auffassung des Autors mit der Förderung einer christlichen Haltung zu begegnen wäre, die Mitleid, Hilfsbereitschaft und Güte allererst ermöglicht, geht es im einleitenden Teil von Strauß’ Essay nicht um die Belange eines Volkes. Die durch die Pronomina »unser« und »wir« bezeichnete Gruppe wird im Text von Strauß präzise benannt: »wir Reichen«.[7] Unmittelbar vor der vom Verfasser der Reportage zitierten Passage ist bei Strauß in kritischer Absicht vom »reichen Westeuropäer« die Rede, der »auch sittlich über seine Verhältnisse gelebt« habe.[8] Anders, als es die Spiegel-Reportage suggeriert, entwirft Strauß hier keineswegs in nationaler oder gar nationalistischer Perspektive »das düstere Bild eines Volkes«. Ausgangspunkt seines Textes ist vielmehr in europäischer Perspektive eine (Selbst-)Kritik des reichen Westens.
An anderer Stelle kommt die Spiegel-Reportage von 2015 auf den Wandel der öffentlichen Meinung über die Flüchtlingshilfe im Sommer desselben Jahres zu sprechen. Im Verlauf dieses Sommers sei die anfänglich euphorisch und rückhaltlos begrüßte Arbeit der Flüchtlingshelferinnen und Flüchtlingshelfer immer stärker einer Kritik unterzogen worden. Auch hier zieht der Verfasser der Reportage eine Verbindungslinie zu Strauß, dem Urheber des »anschwellenden Bocksgesangs«:
Und nun sieht mancher Journalist, Blogger und Facebook-Kommentator auch in ihnen [den Helferinnen und Helfern, J. B.] den Grund dafür, dass zu viele Fremde dem Lockruf ins Altkleiderparadies gefolgt seien. Seit Botho Strauß den »Fanatismus des Guten« zur Gefahr für das Abendland erklärt hat, ziehen seine Nachbeter immer wieder in den lächerlichen Kampf gegen das Gutmenschentum. (105)
Im Text Anschwellender Bocksgesang ist die hier zitierte Formulierung nicht zu finden. Sie steht aber, ohne dass dies in der Reportage irgendwo vermerkt würde, in einem anderen Text von Strauß, der 2013 ebenfalls im Spiegel erschienen ist. In diesem Text mit der Überschrift Der Plurimi-Faktor. Anmerkungen zum Außenseiter kritisiert Strauß im Rahmen einer Reflexion über den »Typus des Außenseiters« die »Vorschriften des politisch Korrekten und Guten«, die einen »gewissen Fanatismus des Guten« erkennen lassen und die Arbeit des literarischen Autors im öffentlichen Meinungsbildungsprozess beeinflussen.[9] Von Migration, Flucht oder Flüchtlingshilfe ist in diesem 2013 publizierten Text an keiner Stelle auch nur ansatzweise die Rede. Ihren Kulminationspunkt erreicht die Spiegel-Reportage von 2015 im folgenden Absatz:
Das dunkle Deutschland der Brandstifter und Hetzer wird überstrahlt vom hellen Deutschland der Luftballons und Kuscheltiere, aber dazwischen macht sich das graue Deutschland der Ängstlichen immer breiter, die mahnen und warnen, die Terroristen ins Land strömen sehen und Analphabeten, die das Unsere in Schulen, um Wohnungen und gegen volle Gefängnisse kämpfen sehen. Es ist der rechte Mainstream des »Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-Dürfen«, der sich mit zusammengeschusterter Wahrheit mutig dem Mitleid entgegenwirft, wenn auch nicht mit der schwellenden Sprache eines Botho Strauß. Was bei ihm der »verklemmte deutsche Selbsthass« ist, »der die Fremden willkommen heißt, damit hier, in seinem verhassten Vaterland, sich die Verhältnisse endlich« ändern, ist bei rechtspopulistischen Journalisten wie den Roland Tichys und Hugo Müller-Voggs der linke Mainstream, dem es an Verstand und Nationalbewusstsein fehlt. Seit zwei Jahrzehnten sitzen sie in der Schneise, die Botho Strauß geschlagen hat, und schreiben immer denselben Artikel über »Gutmenschen« und »politisch Korrekte«: Das Land müsse sich befreien vom Diktat derer, die es multikulturell zugrunde richten, die keine Ahnung von den Notwendigkeiten einer modernen Gesellschaft haben, schon gar nicht von einer Ökonomie, der wir alle den Reichtum verdanken, den sie leichtfertig aufs Spiel setzen. (106)
Auch wenn Strauß hier nicht direkt dem »dunklen« Deutschland der Brandstifter und Hetzer zugeschlagen wird, sondern dem »grauen« Deutschland der ängstlichen Mahner und Warner: Die vorgenommene Eingliederung in den »rechten Mainstream«, der sich in der Frage der Flüchtlingshilfe »dem Mitleid entgegenwirft«, und die hergestellte Verbindung zum Rechtspopulismus, als deren Vorreiter Strauß hier präsentiert wird, wiegen schwer.
Der Spiegel-Reportage nun jenseits der Analyse ihres problematischen Verfahrens vorzuwerfen, dass sie analog zur »zusammengeschusterten Wahrheit« des »rechten Mainstream[s]« ihrerseits ein entstelltes Bild des Autors Strauß präsentiert, das nicht auf naiver Fehllektüre, sondern auf »intentionale[r] Falschlektüre«[10] basiert, würde bedeuten, ihre Polemik zu verlängern. Das geheime Zentrum dieser von Affekten bestimmten Polemik liegt dabei in der verächtlichen Kennzeichnung von Strauß als »Dichter« (105, 108). Mehrfach verwendet der Verfasser der Reportage diese typisierende Formel und kommt dabei bezeichnenderweise ohne Namensnennung aus.
Nicht der Fortsetzung, sondern der Analyse solcher Polemik gegen den »Dichter« Strauß, der Teil eines »rechten Mainstream[s]« sei, gilt das Interesse der vorliegenden Studie.[11] Sie stellt die Texte von Strauß, aber auch die von anderen Autorinnen und Autoren, etwa von Christa Wolf, Hans Magnus Enzensberger, Peter Handke und Martin Walser, in einen größeren Zusammenhang. Artikel wie die Spiegel-Reportage von 2015 prägen das öffentliche Erscheinungsbild literarischer Autorinnen und Autoren, sie haben Einfluss auf die diesbezügliche Meinung. Zugleich bleiben diese Artikel nicht ohne Wirkung auf die davon betroffenen Autoren.[12] Sie bestimmen deren weiteres Agieren im öffentlichen Raum und prägen nicht zuletzt ihr literarisches Schaffen. Vor diesem Hintergrund gilt es zu analysieren, wie öffentliche Diskussionen über literarische Texte und Darstellungen von Öffentlichkeit in literarischen Texten sich wechselseitig dynamisieren und ineinandergreifen. So sieht sich Strauß mit Erscheinen der Reportage vom September 2015 in der Öffentlichkeit als ein Kritiker der aktuellen Flüchtlingshilfe dargestellt, ohne bis dahin zu diesen aktuellen Fragen überhaupt Stellung genommen zu haben.
Zwei Wochen später, am 2. 10. 2015, veröffentlicht Strauß im Magazin Der Spiegel eine »Glosse« unter dem Titel Der letzte Deutsche.[13] Der Text lässt sich als Reaktion auf die Reportage über die Hamburger Flüchtlingshilfe verstehen. Ob die Veröffentlichung von Strauß’ Reaktion auf die Reportage, die ins Gesellschaft-Ressort des Magazins fällt, auch mit den divergierenden Interessen der unterschiedlichen Ressorts innerhalb der Spiegel-Redaktion zusammenhängt, muss Spekulation bleiben. Die Verbindung beider Texte geht jedenfalls aus der redaktionellen Notiz zum Beitrag von Strauß hervor:
1993 veröffentlichte der Schriftsteller und Dramatiker Botho Strauß, 70, im SPIEGEL seinen berühmten Essay »Anschwellender Bocksgesang«. [….] Kaum ein Text in der Publizistik des wiedervereinten Deutschlands sorgte für mehr Empörung und Diskussionen, von seinen Gegnern wurde Strauß zum Vordenker eines neuen rechten Deutschlands erklärt. Vor zwei Wochen noch setzte sich der SPIEGEL-Redakteur Cordt Schnibben in einem Text über seine Erlebnisse als Helfer in den Hamburger Messehallen, wo mehr als 1000 Flüchtlinge untergebracht waren, kritisch mit den umstrittenen Thesen des Schriftstellers auseinander. Nun beschäftigt sich Strauß, der zurückgezogen in der Uckermark lebt, aus Anlass der Flüchtlingskrise ein zweites Mal mit dem Thema. (122)
Für den hier interessierenden Zusammenhang ist es wichtig, dass die Spiegel-Reportage, die Strauß vorab eine negative Haltung zur aktuellen Flüchtlingshilfe zugeschrieben hatte, zum diskursiven Kontext der Glosse Der letzte Deutsche gehört. Sie bildet gewissermaßen den Schreibanlass für die Glosse, die gemäß den Gesetzen der Gattung in Form eines spöttischen Kommentars auf politische oder publizistische Ereignisse reagiert. In dieser Glosse, die die zwei Wochen zuvor erschienene Reportage mit keinem Wort erwähnt, nimmt Strauß nun in der Tat kritisch zu aktuellen Fragen von Flucht und Migration Stellung. Er macht sich dabei, wie er selbst schreibt, zur »komischen Figur« (124): Er sei der »letzte Deutsche« (122), der als verbliebenes »Subjekt der Überlieferung« (123) fest daran glaube, »Hüter und Pfleger der Nation in ihrer ideellen Gestalt zu sein« (124). Ungeachtet der vom Autor selbst eingestandenen und vom Feuilleton durchweg ignorierten Komik, die auch im ironisierten Anspruch besteht, »immer von irgendwas ein Letzter sein zu wollen« (122), provoziert und stimuliert Strauß sein Publikum durch Reizwörter. So schreibt er, dass er lieber »in einem aussterbenden Volk« leben möchte als in einem, »das aus vorwiegend ökonomisch-demographischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird« (123). Er beklagt den in der öffentlichen Diskussion zu verzeichnenden Raub der »Souveränität, dagegen zu sein« (123) und fragt danach, ob »den Deutschen Besseres passieren [könne], als in ihrem Land eine kräftige Minderheit zu werden« (ebd.). Und er thematisiert eine seiner Ansicht nach verbreitete »Sorge« (124) über die »Flutung des Landes mit Fremden« (ebd.) und kritisiert die von ihm beobachtete Haltung der »Selbstaufgabe« (ebd.), derzufolge »endlich Schluss sein [wird] mit der Nation und einschließlich einer Nationalliteratur« (ebd.).
Es ist nicht zu entscheiden, ob die mit den zitierten Formulierungen verbundene politische Positionierung, die auch sprachkritisch zu analysieren sein wird, auf eine seit Längerem bestehende Haltung des Autors schließen lässt, wie viele seiner Gegner und Kritiker annehmen, oder ob sie durch die Reportage erst angestoßen wurde. Es wäre nicht das erste Mal, dass die öffentliche Markierung als Rechtspopulist, Antidemokrat oder Ausländerfeind zu einer nachträglichen Bestätigung der Vorwürfe durch die davon Betroffenen führt.[14] Unabhängig von dieser Frage aber, die nur sozialpsychologisch beantwortet werden kann, sind an die Beurteilung der Glosse – und der causa Strauß insgesamt – in textanalytischer Hinsicht zwei Mindestanforderungen zu stellen.
Erstens ist zu berücksichtigen, dass die Glosse von Strauß kein isolierter Sprechakt ist, sondern in kommunikativen Zusammenhängen steht. Dazu gehört, wie ausgeführt, an erster Stelle die Spiegel-Reportage vom 19. 9. 2015. Überraschenderweise nimmt keiner der Feuilleton-Artikel, die der Glosse von Strauß mit Kritik und zum Teil mit vehementer Ablehnung begegnen, auf die Reportage Bezug.[15] Stattdessen werden Strauß’ Äußerungen ungeachtet der von den Artikeln ins Spiel gebrachten historischen Verweise auf die »Konservative Revolution«, Helmuth Plessner und andere Autoren isoliert betrachtet. Fast scheint es, als herrsche die ansonsten vielfach kritisierte Überzeugung vor, dass das Schriftsteller- und Dichter-Wort auch in der Gegenwart für sich allein steht und aus sich heraus verstanden werden kann. Es macht jedoch einen großen Unterschied, ob sich ein Autor wie Strauß ohne weiteren Anlass zum Thema Flucht und Migration äußert oder ob er mit seinen Äußerungen auf die Veröffentlichungen anderer reagiert, die zuvor ein bestimmtes Bild des Autors in der Öffentlichkeit gezeichnet haben.
Die zweite Anforderung besteht darin, die Äußerungen von Strauß so genau und vorurteilsfrei wie möglich zu lesen und damit der Gefahr einer »Nuancenvernichtung«[16] vorzubeugen. Ein Beispiel aus der Glosse von Strauß kann dies verdeutlichen. Strauß hatte geschrieben:
Die Sorge ist, dass die Flutung des Landes mit Fremden eine Mehrzahl solcher bringt, die ihr Fremdsein auf Dauer bewahren und beschützen. Dem entgegen: Eher wird ein Syrer sich im Deutschen so gut bilden, um eines Tages Achim von Arnims »Die Kronenwächter« für sich zu entdecken, als dass ein gebildeter Deutscher noch wüsste, wer Ephraim der Syrer war. Zuletzt ist es eine Frage der persönlichen Wissbegierde, denn die üblichen Ausbildungsprogramme reichen nicht bis dorthin. Man darf annehmen, dass in puncto Wissbegierde der Syrer sich im Vorteil befindet. (124)
Deutlich erkennbar setzt Strauß an dieser Stelle seine andernorts – etwa im Essay Anschwellender Bocksgesang – geäußerte Kritik an Normenwelt und Bildungsanspruch der Deutschen und »reichen Westeuropäer« fort. Die in der Glosse referierte Sorge, dass die verstärkte Einwanderung von Geflüchteten zur Entwicklung von Parallelgesellschaften beitragen könnte, ist klarerweise nicht die des Autors Strauß. Demgegenüber zu behaupten, dass dieser selbst von der genannten Sorge erfüllt sei, gibt den Sinn der zitierten Stelle nicht richtig wieder. Strauß’ kritische Argumentation ist primär auf die eigene Nation gerichtet. Dies anzuerkennen bedeutet nicht, die von Strauß bezogene Position inhaltlich zu übernehmen oder die vom Autor im Zusammenhang mit der referierten Sorge verwendete Formel von der »Flutung des Landes« unkritisch gelten zu lassen.
Man kann den Sichtweisen und Argumenten, die Strauß in den zitierten Texten vorbringt, begründetermaßen kritisch gegenüberstehen. Umso mehr ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer nuancierten und differenzierten Lektüre. Dabei geht es weniger um die politische Beurteilung der öffentlich vorgetragenen Argumente von Strauß als um die Rekonstruktion der diskursiven Zusammenhänge, in denen diese zu verorten sind. Wie die zitierten Formulierungen der Spiegel-Reportage von 2015 über »rechten Mainstream« und »rechtspopulistische« Autoren zeigen, kreist die Debatte auch um die vermeintliche oder tatsächliche Einnahme »rechter« Positionen durch Intellektuelle, Schriftsteller und »Dichter« in der kulturellen Öffentlichkeit. Dies bestimmt schon 1993 den Streit um den Essay Anschwellender Bocksgesang oder, genauer, den Streit um die Veröffentlichung des Essays. Denn die Gedanken und Argumente, die in den seinerzeit und neuerdings wieder kritisierten Texten von Strauß und anderen vorgebracht werden, lassen sich vom Vorgang der Veröffentlichung nicht trennen. Der öffentliche Charakter einer vermeintlichen oder tatsächlichen Positionierung im »rechten« politischen Spektrum ist konstitutiver Bestandteil der Positionierung selbst und bedarf seinerseits der Analyse.
Zwischen dem Mauerfall am 9. 11. 1989, der ein Jahr später zur Vereinigung Deutschlands führt, und dem Erscheinen von Botho Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang im Februar 1993 vollzieht sich ein bemerkenswerter Wandel in der politischen Diskussionskultur. Er verändert, wie in der vorliegenden Studie erörtert werden soll, die Konzepte von literarischer Autorschaft und öffentlicher Meinung und wirkt sich noch heute auf die Struktur öffentlicher Debatten aus. Diese Struktur wird, bei allen Veränderungen der politischen, kulturellen und medialen Kommunikationsbedingungen, nach wie vor durch Intellektuelle, durch ihre Beiträge und Stellungnahmen in der Öffentlichkeit bestimmt. Im Hinblick auf die weitere Analyse sind deshalb einige begriffliche Präzisierungen notwendig.
Diese betreffen zunächst die Vieldeutigkeit des Begriffs der Intellektuellen, der, nach einem historischen Vorlauf, am Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der Dreyfus-Affäre in Frankreich geprägt wurde und eine von zahlreichen Kontroversen gekennzeichnete Geschichte als »Schimpfwort« und Selbstverständigungskonzept besitzt.[17] Eine Besonderheit ist darin zu sehen, dass an der Definition des Intellektuellenbegriffs vor allem Intellektuelle beteiligt sind, die sich in ihren Kämpfen um Meinungsherrschaft polemisch aufeinander beziehen. Das ist auch dann der Fall, wenn die am Diskurs Teilnehmenden ihre Gegner als Intellektuelle markieren und für sich selbst den Begriff und die Rolle von Intellektuellen ablehnen. In dieser Perspektive, die regionale und nationale Unterschiede (etwa zwischen Frankreich und Deutschland) zu berücksichtigen hat, ist der Begriff der Intellektuellen das Ergebnis eines sich selbst reproduzierenden Diskurses von Intellektuellen über Intellektuelle.[18] Jacques Derrida spricht in Bezug auf Intellektuelle von einem »Definitionsversuch durch sie selbst«.[19] Das erklärt auch die Vielzahl der Bücher über die Rolle und den Status von Intellektuellen im 20. Jahrhundert, die nicht zuletzt nach dem Mauerfall und dem Ende des Ost-West-Konflikts erschienen sind.[20]
Ungeachtet der skizzierten Vieldeutigkeit lässt sich eine Minimaldefinition des Begriffs angeben. Nach einer Formulierung des österreichisch-amerikanischen Nationalökonomen Joseph A. Schumpeter sind Intellektuelle »Leute, die die Macht des gesprochenen und des geschriebenen Wortes handhaben«.[21] Diese Definition wurde nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem von Arnold Gehlen aufgegriffen.[22] Die für Schumpeters »Soziologie der Intellektuellen«[23] maßgeblichen Elemente – das Fehlen einer »direkten Verantwortlichkeit für praktische Dinge«, das Fehlen von »Kenntnissen aus erster Hand« und die »kritische Haltung« als Zuschauer und Außenseiter – zeigen die Ambivalenz einer Begrifflichkeit an, die insbesondere bei Gehlen und später bei Helmut Schelsky eine stark intellektuellenkritische Tendenz erhält. Dagegen gibt Ralf Dahrendorf Schumpeters Definition, dass Intellektuelle die Macht des Wortes handhaben, eine Wendung ins Positive, wenn er die Tätigkeit der Intellektuellen als »selbständigen und bewußten Umgang mit dem Wort«[24] beschreibt. Anhand dieser sprachbezogenen Definition lässt sich der Intellektuellenbegriff mit Blick auf den hier interessierenden Zusammenhang weiter eingrenzen.
Für den »selbständigen und bewußten Umgang mit dem Wort« sind Schriftsteller und Dichter wenn nicht exklusiv zuständig, so doch in besonderer Weise prädestiniert. Schon Gehlens kritische Betrachtung hatte »Publizisten und engagierte Schriftsteller« als »Kerngruppe« der Intellektuellen identifiziert.[25] Auch Dahrendorf selbst, der die Rolle der Intellektuellen jenseits von Berufsgruppe, Status und Klassenzugehörigkeit prinzipiell durch jede Form des selbstständigen und bewussten Umgangs mit dem Wort erfüllt sieht, nennt an vorderster Stelle den »Dichter«.[26] In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist es dann Michel Foucault, der bis zum Aufstieg der Figur des »spezifischen Intellektuellen«[27] die von ihm kritisch betrachtete Figur des »universalen Intellektuellen« in erster Linie im Schriftsteller repräsentiert sieht: »Bis dahin war der Intellektuelle par excellence der Schriftsteller«.[28] Und noch im Übergang zum 21. Jahrhundert sieht die Forschung bei aller Schwächung und Infragestellung der öffentlichen Wirksamkeit von Literatur den Schriftsteller als »Musterfall«[29] des Intellektuellen an. Im Anschluss an diese Überlegungen geht es in der nachfolgenden Analyse um Schriftsteller als Intellektuelle und um Intellektuelle als Schriftsteller, wobei zu berücksichtigen ist, dass es sich hierbei nur um einen Ausschnitt aus dem Feld der Intellektuellen und der »Intellektualität«[30] handelt. Dieser Ausschnitt wird von literarischen Akteuren und von der Diskussion über ihr mögliches Verschwinden aus der Öffentlichkeit bestimmt.
Wenn es, wie der angeführte Kontext der Glosse von Strauß aus dem Jahr 2015 zeigt, dabei auch um die unfreiwillige oder selbstgewählte Positionierung im »rechten« politischen Spektrum geht, erscheint es sinnvoll, die kontrovers diskutierte Frage nach der Figur des ›Rechtsintellektuellen‹ auf die Frage nach der Figur des ›rechtsintellektuellen Schriftstellers‹ einzugrenzen. Beide sind nicht identisch. Wortmächtige Rechtsintellektuelle hat es in allen Phasen der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und auch davor, etwa in der Weimarer Republik, gegeben. Das Spektrum nach 1945 reicht, um einschlägige Namen zu nennen, von Martin Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Jünger über Armin Mohler, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky bis zu Robert Spaemann und, mit Einschränkungen, Karl Heinz Bohrer. Wesentlich unklarer ist dagegen die Lage in Bezug auf die Figur des rechtsintellektuellen Schriftstellers. Gibt es diese Figur überhaupt oder ist sie eine Fiktion, die nach dem Fall der Mauer im vereinten Deutschland einer politischen Linken als Schreckgespenst und einer politischen Rechten als Wunschtraum und Projektionsfläche dient? Welche Gründe sprechen für, welche gegen ihre Existenz? Lässt sich im Zuge einer zunehmenden Auflösung von Rechts-Links-Schemata überhaupt sinnvoll von einer solchen Figur sprechen? Und falls dies möglich oder, aus welchen politischen oder moralischen Gründen auch immer, sogar geboten erscheint: Was ist das Anstößige, das Skandalöse an ihr? Obwohl viele Arbeiten zur literarischen Skandalproduktion, zu medialen Aufmerksamkeitsstrategien von literarischen Autoren und zur Formierung einer Neuen Rechten im vereinten Deutschland vorgelegt wurden, sind die genannten Fragen bislang weitgehend unbeantwortet geblieben. Das hat auch mit der von Foucault konstatierten Reduktion der Intellektuellen auf »so genannte ›Links‹intellektuelle«[31] zu tun. Eine in diesem Kontext zu erörternde Frage ist, ob die für Linksintellektuelle beanspruchte »politische Kultur des Widerspruchs«[32] nicht in vergleichbarer Weise auch die andere Seite des politischen Spektrums zu kennzeichnen vermag, ohne dass damit ein weitergehender Symmetriegedanke in Bezug auf das politische Gefüge impliziert sein muss.
Die vorliegende Analyse versucht eine erste Antwort auf die gestellten Fragen und geht dabei auch auf Diskussionen zurück, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der neu gegründeten Bundesrepublik über Öffentlichkeit, öffentliche Meinung und die Bedeutung der Literatur für den öffentlichen Meinungsbildungsprozess geführt wurden. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht jedoch die angedeutete intellektuelle Verschiebung in der deutschsprachigen Diskussions- und Debattenkultur zwischen Mauerfall und Einheit einerseits und der Veröffentlichung von Strauß’ Essay im Frühjahr 1993 andererseits – zwischen Literaturstreit und Bocksgesang. Diese Verschiebung hängt auch mit Veränderungen des politischen Koordinatensystems nach dem Untergang der DDR, dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, der Auflösung des Ost-West-Konflikts und der Formierung der Berliner Republik zusammen, vor allem aber ist sie Ausdruck eines ebenso komplexen wie umfassenden Transformationsprozesses, der die von Massenmedien bestimmte Sphäre der Öffentlichkeit(en) betrifft. In einer durch verschärfte Medienkonkurrenz geprägten Situation verstärke sich auf dem Feld der Literatur und des Literaturbetriebs die Neigung zur Skandalisierung ebenso wie der Kampf um die knapper gewordene Ressource medialer Aufmerksamkeit. Jürgen Habermas, der nach 1945 zu den wichtigsten Theoretikern eines »Strukturwandel[s] der Öffentlichkeit«[33] gehört, sieht durch die abermalige Transformation der »Medienöffentlichkeit«[34] auch die Rolle der Intellektuellen beeinträchtigt:
Vermissen wir nicht die großen Auftritte und Manifeste der Gruppe 47, die Interventionen von Alexander Mitscherlich oder Helmuth Gollwitzer, die politischen Stellungnahmen von Michel Foucault, Jacques Derrida und Pierre Bourdieu, die eingreifenden Texte von Erich Fried oder Günter Grass? Liegt es wirklich an Grass, wenn dessen Stimme heute kaum noch Gehör findet? Oder vollzieht sich in unserer Mediengesellschaft erneut ein Strukturwandel der Öffentlichkeit, der der klassischen Gestalt des Intellektuellen schlecht bekommt?[35]
Die Gründe für den »erneut« sich abzeichnenden Strukturwandel erkennt Habermas in der »Entformalisierung der Öffentlichkeit und in einer Entdifferenzierung entsprechender Rollen«.[36] Durch die in paradoxer Gleichzeitigkeit stattfindende Erweiterung und Fragmentierung öffentlicher Diskurse, die dem Aufstieg der Massenmedien und internetbasierter Kommunikationsformen geschuldet seien, werde der »begrüßenswerte Zuwachs an Egalitarismus« mit der »Dezentrierung der Zugänge zu unredigierten Beiträgen bezahlt«.[37] Der von Habermas verwendete Begriff des Egalitarismus zeigt an, dass es nicht nur um den Bedeutungsverlust der Qualitätspresse und der in diesem Bereich tätigen gatekeeper geht, sondern auch um ein politisches Problem. Dieses politische Problem ist im medialen Wandel selbst zu verorten, weil sich in dessen Verlauf die Kommunikation zunehmend der intellektuellen Kontrolle entzieht. Befördert dies Tendenzen, sich der kulturellen Hegemonie bestehender Öffentlichkeitsregime zu widersetzen?
Die nachfolgenden Überlegungen nehmen die hier sichtbar werdende Verschränkung politischer und medialer Aspekte in ihrer Beschreibung des Wandels von literarischer Autorschaft und öffentlicher Meinung nach 1989 in den Blick. Sie konzentrieren sich dabei auf die Jahre nach der Wende und untersuchen Texte literarischer Autoren, die diesen Wandel reflektieren und ihn selbst zum Ausdruck bringen. Es geht also nicht darum, gesellschafts- und medientheoretische Fragestellungen von außen an diese Texte heranzutragen, sondern das gesellschaftskritische und medienreflexive Potential der Texte selbst zu erfassen. Die Analyse greift damit eine Diskussion auf, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts über das Verhältnis von Gesellschaftskritik und Gesellschaftstheorie geführt wurde. Der Philosoph Michael Walzer hatte in seinem Essay Die Tugend des Augenmaßes die Frage aufgeworfen, ob es Gesellschaftskritik ohne zugrunde liegende Gesellschaftstheorie geben kann, und dargelegt, dass die damit zur Diskussion stehende »Verbindung von Theorie und Kritik offen für Zweifel« ist.[38] Karl Heinz Bohrer, der zu Walzers Thesen Stellung nimmt, ist entschieden der Ansicht, dass Gesellschaftskritik ohne Gesellschaftstheorie nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert ist. Unter dem Stichwort einer »Phänomenologie der Einzelnen« führt er die »gesellschaftskritischen Möglichkeiten des dichterischen Blicks« ins Feld.[39] Die Formel vom »dichterischen Blick« klingt zunächst vage und ein wenig pathetisch, sie fußt aber auf der durchaus nüchternen Einsicht, dass durch literarische Schreibweisen andere Phänomene in den Blick geraten als durch eine »gesellschaftstheoretisch orientierte soziale Erzählung«, die beispielsweise Erfolgreiches über die funktionierenden Institutionen der »deutschen Bundesrepublik« nach 1945 zu berichten weiß.[40] Bohrer zufolge sind es insbesondere die scheinbar entlegenen, leicht zu übersehenden Nuancen, die in literarischen, dichterischen Texten zu ihrem Recht kommen. Durch die Freilegung dieser Details verbinde sich in der Literatur auf spezifische Weise eine gesellschaftskritische Erkenntnisfähigkeit mit moralischer Wirkung:
Je mehr die Schriftsteller – auch die der Vergangenheit – sich nach philosophischen Universalien ausrichteten, umso weniger erkannten sie wirklich. Je mehr sie die Nuance des noch Verborgenen, dem ein Wort fehlte, hervorholten, umso stärker war auch die moralische Wirkung.[41]
Man muss nicht so weit gehen und im Anschluss an Bohrer »auf den Dichter als Paradigma einer künftigen Gesellschaftskritik verfallen«,[42] zumal es sich bei den hier behandelten Texten nur in Teilen um literarische Texte im enger gefassten Sinne, stets aber um Texte literarischer Autoren handelt. Diese Texte nehmen aber im hier interessierenden Kontext eine so zentrale Stellung ein, dass es bei aller Berücksichtigung politischer und medialer Aspekte geboten ist, ihre genaue Analyse in den Vordergrund zu stellen.[43] Das ist mit Blick auf die zum Teil sehr polemisch geführten Debatten zu Beginn der neunziger Jahre keineswegs selbstverständlich. Es gilt für Christa Wolfs literarische Erzählung Was bleibt, die im Zentrum des ersten gesamtdeutschen Literaturstreits steht und den Ausgangspunkt der hier in den Blick genommenen Verschiebung bildet. Und es gilt für Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang, an dessen Überlegungen zur Frage, »rechts zu sein«,[44] seinerzeit viele Anstoß genommen haben – und dies vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Wandels der politischen Diskussionskultur in Deutschland auch heute noch tun.