Читать книгу Oskar trifft die Schwiegermutter - Jörgen Dingler - Страница 5
Null.
ОглавлениеHamburg, Juli 2000
Ihr Begleiter war tot.
Sein Oberkörper ruhte vornüber gebeugt auf der zum Esstisch umfunktionierten Planke, der Kopf befand sich seitlich gedreht im Vorspeisenteller, ein Shuriken steckte tief in seiner Stirn, die Augen waren offen. Der Geruchssinn der Frau registrierte die mit dem Tode einhergegangene Darmentleerung des Mannes. Er wurde vor gerade mal einer Minute von dem schnellsten menschlichen Wesen getötet. Sie rümpfte angewidert die Nase, bevor sie die Augen aufriss und auf die dunkle Gestalt richtete. Diese stand unverändert da, hatte die Hände in die Hüfte gestemmt. Nichts deutete darauf hin, dass sie den Wurfstern geschleudert hatte. Die dunkle Gestalt war in der Tat schneller, als sogar ihre Augen es erfassen konnten und somit absolut tödlich. Die bis eben furchtlose Rassefrau war nun mit dem todbringenden Phantom allein. Sie wich zurück, presste sich gegen die extra für diesen Abend montierte Rückenlehne. Ihre geweiteten Augen spiegelten, was sie sah. Und das, was sie sah, konnte sie kaum glauben.
»Getroffen!«, kam es mädchenhaft aus dem Dunkel. »Lass stecken…« Die Stimme verdüsterte sich, zitierte ätzend eine Bemerkung des nunmehr Toten. »Und wie ich steckenlasse… steckt doch super!«
»Das… das gibt‘s doch nicht!«, stammelte die Frau auf Französisch.
»Mais oui«, korrigierte die niedliche Stimme, die nun ebenfalls ins Französische wechselte. Im Dunkel blitzte erneut etwas Rundes mit Zacken auf. Was den Shuriken hielt, wurde sichtbar. Der Ursprung der niedlichen Stimme huschte in den schwach erleuchteten Bereich.
Die Frau richtete sich auf, erwartete das, was nun kommen würde: ihren Tod. Auch sie hatte keine Chance, niemand hatte eine Chance. Und nun wusste sie, dass sie sogar doppelt keine Chance hatte. Ihre Augen spiegelten, was sie sah:
zwei junge, schöne, zweibeinige, tödliche Katzen ganz in Schwarz.
Sie kannte diese beiden nur zu gut. Sie hatten sie gefunden, mehr noch, wussten um ihre Absichten. Aber dass sie im ‚Doppelpack‘ aufkreuzten, das war nun wirklich eine Überraschung… und mithin ein zweifach sicherer Tod.
Die Rassefrau hatte mehr als nur geahnt, dass der Vater der beiden einem dieser bildschönen, blutjungen Geschöpfe sein tödliches Handwerk beigebracht hatte. Aber beiden? Wie konnte das sein? Oder nein, halt! Sie waren Zwillinge, diese beiden waren Zwillingstöchter… ihre Zwillingstöchter. Sie war die Mutter. Ihre Zwillingstöchter waren unzertrennlich, noch bevor sie laufen oder sprechen konnten. Längst konnten beide viel mehr als nur laufen und mehrsprachig sprechen. Sie waren Hochseilartisten, unvergleichlich geschickt, angstfrei und schnell. Beide.
Nun standen also beide Töchter vor ihr – mit der Absicht, sie, die eigene Mutter zu töten. Eine Schwester musste der anderen das tödliche Handwerk beigebracht haben. Ja, es konnte nur so sein! Wie gesagt, die beiden waren unzertrennlich, nicht auseinander dividierbar – nicht eben eine Seltenheit bei eineiigen Zwillingen.
Wie stolz hätte sie sein können. Auf diese wohlproportionierten, langbeinigen Grazien, die da vor ihr standen und anscheinend nonverbal berieten, wer die Mutter denn nun töten sollte. Es kam der mediterranen Rassefrau wie eine Ewigkeit vor, und doch waren es nur wenige Sekunden. Genauso wie ihr ihre Gedanken wie viele Minuten vorkamen, real aber lediglich in Sekundenbruchteilen ihren schönen Kopf durchfluteten.
Die schwarzgewandeten Grazien hatten sich entschieden.
»Lebwohl, Maman«, kam es auf Deutsch-Französisch im Duett.
Die Rassefrau kniff ihre Augen zu Sehschlitzen und blitzte die Vollstreckerinnen an. Das Opfer wirkte gefährlicher als die Täter.
»Ich sehe euch wieder… in einem anderen Leben«, zischte sie.
Die zwei jungen Damen sahen sich an, drehten ihre Köpfe wieder nach vorn – ein einstudiertes Ballett tödlicher Zwillingsschwestern.
»Sehr unwahrscheinlich«, konterte die später Erschienene. Eiseskälte ergriff Besitz von ihrer niedlich-frechen Stimme.
Nicht einmal ein Zwinkern später spuckten die rechten Handflächen beider Phantome gleichzeitig je einen Wurfstern aus.
Hier hilft nichts mehr!
Die Rassefrau war schneller als normale Menschen, der Vater der beiden war außergewöhnlich schnell, aber diese zwei jungen Frauen – Mädchen eher – toppten alles Bekannte. Alles. Selbst die geübten Augen der Frau waren mit dieser Schnelligkeit überfordert. Reflexe waren ohnehin nicht mehr gefragt, abgerufen zu werden. Zu spät, zu schnell.
Schmerz. Bohrend, stechend, Agonie auslösend. Sehen war schon spüren. Sie hatte kaum die Shuriken auf sich zufliegen sehen, schon spürte sie sie in ihrer Stirn. Und sie wusste, wie sich ihr Liebhaber nur wenige Minuten zuvor gefühlt haben musste.
Sie kippte, ihr Körper sackte über die Seitenwand des Beibootes, sie fiel, ließ sich fallen. Schmerz, immer noch dieser Schmerz. Dann das Eintauchen. Der Sommer 2000 war ein außergewöhnlich warmer Sommer, sogar im wenig sonnenverwöhnten Hamburg. Das Wasser war nicht kalt, aber brackiges Hafenwasser, brrr! Alles war schwarz. Sie blutete, zwei Wurfsterne hatten sich in ihre Stirn gebohrt, sie sank in die Tiefe.
Aber sie war nicht tot.
Sie erblickte den Kiel des Großseglers. Noch vor Minuten hatte sie gut zehn Meter weiter oben gesessen, ein köstliches Mahl vor sich. Merde! In Filmen stellen sie es immer so dar, als könnten Menschen unter Wasser fast wie an Land sehen. Menschliche Augen sind auf den Brechungsindex der Luft abgestimmt, nicht auf den des Wassers. Verschwommen nahm sie die Konturen des Päckchens wahr, das sie am hinterem Kiel hatte anbringen lassen. Da, wo sich der Rumpf verschlankte, um nahtlos ins Ruder überzugehen. Zudem lag diese Stelle unweit der hinteren Rettungsboote. Tiefe Nacht, Dunkelheit, Sehen unter Wasser ohne Schwimm- oder Taucherbrille, sie war schwerverletzt – hier gab es mehr als eine Höchstschwierigkeit. Dann waren da noch ihre Töchter an Deck, die sie soeben ‚getötet‘ hatten. Die würden sicherlich nachhelfen, falls sich die Tötung als Tötungsversuch herausgestellt haben sollte.
Die Frau tauchte zu dem Päckchen, das sie bewusst in eine helle Ummantelung einschlagen ließ. Ihr Sommerkleid umwehte geradezu mystisch ihre schönen Beine, aufgewirbelt durch das Wasser und ihre Schwimmbewegungen. Die Highheels hatte sie längst abgestreift, die sanken zu Boden des Hafenbeckens, schlugen sanft auf, wirbelten Schlick auf, versanken dann halb in ihm. Sie zerrte das Päckchen hervor, riss es auf. Sie war top in Form, trank selten, rauchte so gut wie nie, und doch ging ihr die Luft aus. Die Schmerzen spürte sie kaum noch. Gut. Eine Sorge weniger. Die Frau nestelte nach dem Inhalt des Päckchens, legte es frei, riss die letzten Fetzen der Verpackung weg, ärgerte sich darüber, dass es ihre ‚dienstbaren Geister‘ nahezu tödlich gut eingepackt hatten.
Aber sich ärgern kostet zusätzliche Luft!
Runterkommen, M ä dchen, runterkommen …
Als Trost dies: Falls sie es überleben sollte, würde sie sich ihre dienstbaren Geister nochmal vornehmen – gleichermaßen als Genugtuung wie Geldeinsparung. Wer es sich mit ihr verschiss, war so gut wie tot. Falls es sich nicht gerade um ihren Mann oder die beiden da oben handelte.
Sie hatte endlich den Inhalt von der Verpackung befreit. Noch etwas länger, und sie hätte sich nicht mehr tot zu stellen brauchen. Sie klemmte die Mitte des silbernen Röhrchens zwischen die Lippen und sog gierig ein. Sonderbares, blubberndes Zischen setzte ein, und es kam… nichts. Das war das Ende. Ein Ende als leichtbekleidete Leiche in einem Hafenbecken. Das sollte ihre Bestimmung sein? Mais non! Ihr war danach, das letzte Quäntchen Luft zum Schreien zu nutzen. Aus Angst? Weit gefehlt. Weder Verzweiflung noch Angst, sondern Ärger ergriff sie. Wenn sie schon mit einer Emotion sterben sollte, dann sollte es Wut sein. Halt! Nach dem dritten Zug kam etwas, nun immer mehr. Der Sauerstoffabscheider, der dem Wasser Sauerstoff entzog und für Luftatmer nutzbar machte, tat seinen Dienst. Dieses Behelfsmittel war noch im Erprobungsstadium, die US-Navy führte seit Jahrzehnten Versuche durch, von der Serienreife war es immer noch weit entfernt. Aber es funktionierte gut genug – hier und jetzt. Und es rettete ihr Leben. Hier und jetzt.
Das andere, was ihr Leben gerettet hatte, war eine Applikation auf ihrer Stirn. Sie atmete wieder, lebte wieder. Nun war es an der Zeit, auch das andere, was sie am Leben gehalten hatte und in dem das steckte, was sie ‚getötet hatte‘, von der Stirn zu reißen. Es tat weh, Blut schoss unter Wasser aus ihrer Stirn. Sie riss den Hitech-Überzug ab, der ebenso wie der Unterwasser-Atmer ein Prototyp war – Silikon, eine dicke Gummischicht, dann Kevlar, dann eine Schicht aus geflochtenem Stahldraht und schließlich wieder Gummi. Es sah absolut echt aus, kaum ein Unterschied zu ihrer natürlichen Stirn war zu erkennen. Für diese Unauffälligkeit durfte die lebensrettende Schicht nicht zu dick sein. Doch musste sie dick genug sein, damit Wurfgeschosse steckenbleiben, nicht aber ihr tödliches Werk verrichten konnten. Den Rest der Tarnung besorgten die langen dunklen Haare der Frau, die sie dieses Mal über der Stirn trug. Es war ihrem mittlerweile toten Begleiter aufgefallen, obwohl Männern neue Schuhe oder eine neue Frisur selten auffallen (»Neue Frisur?« »Extra für dich.« Pustekuchen). Immer fällt etwas gerade dann auf, wenn es nicht auffallen soll. Noch eine unangenehme Überraschung: Die künstliche Stirn konnte die Wurfsterne nicht gänzlich von der echten fernhalten. Die Spitzen der Shuriken hatten sich mehrere Millimeter tief ins Fleisch gedrückt, waren demnach speziell veredelt oder gehärtet, also noch tödlicher als tödlich. Typisch! Ohne die schützende Hitech-Schicht hätten diese Sterne wie bei ihrem Lover den Schädelknochen wie Butter durchschlagen und wären tief in den Frontallappen des Gehirns eingedrungen – exitus.
Es lag nahe, dass der blutjunge Star der internationalen Killerbühne eine der Situation angepasste Tötungsmethode anwenden würde. Diese Methode würde sie absolut tödlich anwenden, bevorzugt am Kopf der Zielperson. Man befand sich inmitten einer nächtlichen Millionenmetropole. Feuerwaffen waren nicht die erste Wahl für eine unauffällige Tötung – nicht einmal schallgedämpfte, was allenfalls schallverringert bedeutet. Vom nachts weithin sichtbaren Mündungsfeuer ganz zu schweigen. Überhaupt war davon auszugehen, dass ‚Kali‘ diese Gelegenheit zum Zuschlagen in Erfahrung gebracht hatte – die Frau befand sich gewissermaßen auf dem Präsentierteller. Damit hatte wiederum sie die besten Voraussetzungen für ein perfektes Täuschungsmanöver gehabt.
Kali? Die Informanten der Frau hatten sogar den Decknamen des neuen Killersuperstars herausbekommen – ein Superkiller, der niemand anderes als ihre Tochter, wie wir jetzt wissen ihre Töchter, war.
Kali, Todesgöttin, wie passend… Kali 1 und 2… Wer war eins, wer zwei?
Sollte Kali nicht auf den Plan treten, würde alles so verlaufen, wie ursprünglich angedacht. Davon war nicht auszugehen. Familie ist Familie. Die blutjunge Kali war sicherlich ähnlich gerissen wie sie. Es war von Komplikationen auszugehen. Folgerichtig waren entsprechende Mittel einzusetzen, um diese Komplikationen überleben zu können. Der Lover, der ihr für geraume Zeit ein neues Leben ermöglichen konnte, war nicht mehr und nicht weniger als ein ersetzlicher Kollateralschaden. Genauso kam es. Er war ein Schwerkrimineller nach normalen Maßstäben, aber ein Leichtgewicht verglichen mit den Qualitäten ihrer Familie. Genau deswegen war er jetzt tot. Aber sie nicht.
Lichtstrahlen durchbrachen die Wasseroberfläche, durchleuchteten das Hafenwasser. Die tödlichen Schwestern waren körperlich perfekt, perfekt ausgerüstet… und schlau. Den Qualitäten ihrer Familie entsprechend, wollte sich die Frau nicht zu dem toten kriminellen Leichtgewicht gesellen. Er war ein Werkzeug für diesen Abend, vielleicht für ein neues Leben. Wäre es anders gekommen, wäre ‚Kali‘ nicht erschienen, hätte sie das Werkzeug früher oder später selbst entsorgen müssen – je nachdem, wie lange er von Nutzen war und sie bei Laune halten konnte. Diese Entsorgung war nun nicht mehr nötig. Die ‚Ratschläge‘, ihr Lover solle schleunigst verschwinden oder sogar ins Wasser springen, waren nichts anderes als Psychologie – quasi ein Verstärker, damit er genau das nicht tun würde. Als typischer Gangstermacho würde er den Teufel tun, sich vor einem zierlichen jungen Mädel zu verpissen. Da konnte die noch so möchtegern-gefährlich im Batgirl-Look daherkommen. Auch hätte er niemals getan, was eine Frau ihm befahl. Insofern waren ihre ‚Empfehlungen‘, sich aus dem Staub zu machen, die Garantie für sein Bleiben und somit für seinen Tod.
Jetzt waren nur noch Vaarenkroogs – oder Duchamps – unter sich.
Die sonst so furchtlose Frau reagierte verschreckt. Als wären die Lichtstrahlen tödliche Laserstrahlen, die sie nur knapp verfehlten. Und es würde ihren Tod bedeuten, entdeckten ihre Töchter sie – noch in Bewegung, also auch noch lebendig. Die Frau begab sich mit geschickten wie anmutigen Schwimmbewegungen wieder dorthin, wo die Strahler nicht hinreichten und wartete. Sie klammerte sich mit allen Vieren an den hinteren Kiel der ‚Rickmer Rickmers‘ und würde so lange verharren, bis die Lichtstrahlen erloschen. Und noch ein wenig darüber hinaus. Ihre Unauffindbarkeit war kein unzweifelhaftes, aber zumindest brauchbares Indiz für ihren Tod. Die Zwillinge hatten schließlich nicht alle Zeit der Welt, im ‚schwarzen Strampler‘ auf dem Schiff rumzuturnen. Ihre Töchter mussten auch aus einem anderen Grund bald verschwinden. Die Frau sog immer weniger Sauerstoff, dafür mehr und mehr Wasser durch das Röhrchen ein. Kein Wunder, dass das ‚Wunderding‘ sogar nach jahrzehntelanger Forschung und Entwicklung noch nicht serienreif war.
»Nichts. … Sie ist tot«, sagte das eine Phantom auf Französisch. Das andere schüttelte den Kopf, war skeptisch.
»Sie ist ein Luder… und verdammt clever«, sagte die später auf der Bildfläche Erschienene auf Deutsch. Sie erklomm das höher liegende Achterdeck und clippte die Lampe an den Gürtel. Sekundenbruchteile später vollführte sie mehrere Flicflacs. Ihre mit minimaler Geräuschentwicklung vorgetragene Turneinlage katapultierte sie geradewegs ans Heck des Schiffes. Sie griff erneut zur Stablampe, ging am Ruderstand vorbei, warf einen Blick auf den daran anschließenden, sargähnlichen Kasten mit dem Schiffsnamen an beiden Seiten: nichts. Dann beugte sie sich grazil über die Reling, hielt den kompakten Strahler auf das Wasser und durchleuchtete alles, was in ihrem Bereich lag. Ihr Anblick war ausnehmend sexy, und doch würde niemand in dieser Situation an Sex denken. Zumindest keiner, der das Teenageralter hinter sich gelassen hatte und einen IQ oberhalb der an diesem Abend vorherrschenden Temperaturen besaß. Wieder schüttelte sie ihren Kopf, war nach wie vor skeptisch. Sie begab sich zurück in Richtung Hauptdeck, wo sich ihre Schwester befand.
Die andere, Ersterschienene ließ den gleißenden Strahl ihrer kleinen Stableuchte das Wasser seitlich des Schiffsrumpfes durchbrechen – auch hier nichts. Sie löschte das Licht, steckte die Leuchte in ihren Gürtel, beobachtete ihr schwarzgewandetes Ebenbild, das nun die andere Seite ebenso vergeblich absuchte und blieb auffallend cool.
»Chris, lass uns abhauen«, sagte sie schließlich auf Deutsch, obwohl sie im Gegensatz zu ihrer Schwester eine Vorliebe für das Französische hegte, »falls sie noch lebendig ins Wasser fiel, ist sie ertrunken.«
Die Zweiterschienene mit der Präferenz fürs Deutsche und der auffallend niedlichen Stimme schüttelte erneut den Kopf, schaltete den kompakten Strahler aus, steckte ihn in ihr Halfter, senkte ihr schönes maskiertes Gesicht, sah die andere ernst an und bestätigte
»Oui, cherie. On y va.«
Paris, April 2006
Die wohlgeformten roten Lippen einer jungen Dame sprachen in den Hörer eines öffentlichen Telefons in der Pariser Innenstadt. Sie sprach abwechselnd deutsch und französisch.
»Wieso? Was ist mit dem Bubblegum?«, fragte sie auf Französisch. Die Stimme am anderen Ende antwortete. »Von einer neuen Quelle???«, wiederholte sie den letzten Teil der auf Französisch gegebenen Information etwas zu laut auf Deutsch. Die junge Dame trug eine große Sonnenbrille, ihre langen dunklen Haare hatte sie nach oben zusammengesteckt und unter einer modischen Baskenmütze von Kangool verborgen. Hinter ihr quälte sich der Verkehr durch die Millionenmetropole. Sie war nicht sonderlich groß, aber von aufregender Statur mit perfekten Proportionen. Ihre – geachtet ihrer übersichtlichen Größe – aufregend langen Beine steckten in knallengen Bluejeans, an den Füßen trug sie Highheels mit Lederriemen und Nieten. Sie war ein Hingucker, selbst in der Welthauptstadt der Mode, einer Metropole, die nicht eben arm an Topmodels und anderen stilsicher gekleideten, aufregenden Frauen ist.
Sie selbst hatte auch etwas mit Mode zu tun.
»Das ist unsicher, cherie«, merkte sie an. »Ein neuer, noch unbekannter Lieferant für Bubblegum ist unsicher. Wie vertrauenswürdig ist er?«
‚Bubblegum‘ war die sprachliche Codierung für Plastiksprengstoff. Bevorzugtes ‚Bubblegum‘ war ein in jeder Hinsicht illegaler, daher noch schwerer zu bekommender Plastiksprengstoff ohne eingebaute taggants, die international vorgeschriebenen, von Spürhunden oder Röntgenstrahlen detektierbaren Zusatzstoffe. Lieferanten für derartige Substanzen waren auch für einflussreiche Menschen schwer bis gar nicht aufzutreiben. Der letzte Lieferant sprang aus nicht näher genannten Gründen plötzlich ab, und die Selbstversorgung, sprich Eigenentwicklung und -fertigung befand sich noch im Aufbau, war also noch nicht soweit.
Ein kräftiger Mann – Ende dreißig, blaue Handwerkerlatzhose – erschien und herrschte die junge Frau an, sie solle ihr Telefonat langsam mal beenden.
»Moment, cherie«, gab sie der Stimme am anderen Ende zu verstehen. »Hier gibt es grad eine kleine Störung.«
»Hast du kein Handy, oder was?«, blaffte sie zurück. »Verpiss dich!«
Weil ihn eine zierliche junge Frau angeblafft hatte, beging der Störende einen entscheidenden Fehler: Er versuchte, sie anzufassen. Eine kräftige Männerhand griff nach dem Arm der sonnenbebrillten Schönheit mit dem beigen Kangool-Barett und der beigen Weste über einem ebenfalls beigen Pullover. Fast im selben Moment lag er waagerecht in der Luft, platschte anschließend rücklings auf den Boden und blieb dort liegen. Selbst, wenn man es genau beobachtet hätte, wäre schwerlich auszumachen gewesen, dass die zierliche junge Frau dafür verantwortlich war. Wie bei den besten Zaubertricks hätte sogar eine verlangsamte Wiederholung nicht wirklich viel zutage gefördert. Es war einfach zu gut gemacht, zu schnell sowieso.
»So, wir können weiterreden«, sprach sie ungerührt in die Sprechmuschel, »Wir haben keine Zeit mehr, das Zeug vorher noch großartig zu testen. Naja, wahrscheinlich werden wir es ohnehin nicht brauchen… hoffentlich brauchen wir es nicht«, brabbelte sie und zischte abschließend
»Shit! Ich hasse sowas!«
Sie knallte den Hörer auf die Gabel – da war doch noch was! – und drehte sich zu dem Handwerker um. Er lag nach wie vor auf dem Boden, kam nun langsam wieder zu sich, bewegte sich, röchelte. Ihre Mundwinkel, die bis eben noch hängend ihre miese Laune widerspiegelten, schnellten nach oben. Ebenso schnell konditionierte sie ihren Gesichtsausdruck auf erschrocken und mitfühlend. Besorgnis heuchelnd stakste sie händeringend auf den Handwerker zu.
»Mon dieu!«, sie kniete sich zu ihm hinunter, tätschelte seine schlaffe, schwere Hand, »Sie Armer, was ist denn mit Ihnen passiert? Warten Sie, monsieur, ich helfe Ihnen auf!«
Sie half ihm geschickt auf und war in der Tat froh, dass er sich bei ‚seinem Sturz‘ keine schweren Verletzungen zugezogen hatte. Das hielt sie aber nicht davon ab, ihm leise ins Ohr zu raunzen
»Mach irgendeinen Stress, und du liegst gleich wieder.«
Er stand wieder auf eigenen Beinen, wenn auch wackelig und sah sie staunend an. Sie indes grinste ihn breit an, senkte dann ihren Kopf und wechselte ihr Grinsen in ein gefährliches Grinsen. Der Mann vermutete richtig, dass sie hinter ihren dunklen Gläsern Blitze auf ihn abschoss.
»Merci, mademoiselle«, zischte sie durch die Zähne. Er kapierte nicht gleich, also nickte sie ihn auffordend an.
»M… merci, mademoiselle«, quälte er sich schließlich heraus.
»Pas de quoi, monsieur.«
Ein paar Passanten applaudierten, weil dieses zierliche Wesen dem armen, gefallenen, kräftigen Mann wieder auf die Beine geholfen hatte. Sie verbeugte sich ausgesprochen galant, wie es nur Menschen mit Bühnenerfahrung können und entschwand.
»Gefährliches Miststück«, zischte der Handwerker, als sie vermeintlich außer Hörweite war.
Sie hörte es dennoch, was sie erst recht breit grinsen ließ.
Genfer See, Mai 2006
Die zwei Menschen hatten nicht den Hauch einer Chance gegen die zwei Katzen.
Zwei Wachleute der privaten Wach- und Schließgesellschaft Securité Romande schoben wie üblich Dienst in der schlossartigen Villa oberhalb des Genfer Sees. Während der Ausbildung zum Objekt- oder Personenschützer wird man auf manches vorbereitet, aber sicher nicht darauf, mit Pfeilgeschossen aus Pusterohren außer Gefecht gesetzt zu werden. Quasi wie es Naturvölker im Dschungel mit ihrer Beute tun. Das passte irgendwie. Und weil es nicht nur funktionell, sondern auch thematisch passte, hatten sich die beiden Schützinnen für diese Betäubungsart entschieden.
Der Besitzer der mondänen Villa war der CEO des größten Nahrungsmittelkonzerns der Welt. Er hatte im Namen dieses Konzerns das Versprechen gegeben, die Kinderarbeit auf afrikanischen Schokoladenplantagen zu beenden. Ein Versprechen, das er nicht eingehalten hatte. Insofern war der von einer, sagen wir mal ‚Weltverbesserer-Organisation‘ in Auftrag gegebene Job den ausführenden jungen Damen auch hochwillkommen. Weil er in ihr Weltbild passte. Sie würden die Hälfte des horrend hohen Lösegeldes behalten können, das diese ‚Weltverbesserer‘ mit der Entführung des CEOs zu erpressen gedachten. Obwohl die beiden zweibeinigen, schwarzen Raubkatzen dieser Organisation kaum unkritischer als dem Lebensmittelmulti gegenüber standen, sollte hier der Zweck Mittel und Auftraggeber heiligen. Obendrein ging es weniger um die Kohle, die hier einzustreichen war. Die zwei jungen Frauen hatten genug davon. Nach einer furchteinflößenden, nicht verfolgbaren Entführung würde nach Erfüllung der Bedingungen die Freilassung erfolgen. Und beides würde garantiert passieren. Es war der Job der katzenhaften jungen Damen, den CEO des Weltkonzerns in die Hände der vermeintlichen Weltverbesserer zu bringen. Das war weder ein moralisches noch handwerkliches Problem. Jede von ihnen hatte bereits getötet, mehr als einmal, auch berüchtigte, ja gefürchtete, schwer erreichbare wie schwer zu besiegende Gegner… mehr als einen auf einmal. Jede für sich war bereits die Beste, als Duo waren sie chancenlos für jeden Gegner.
Gut, die Bewacher waren ausgeschaltet. Und genau diese Bewacher besaßen die Schlüssel für das Objekt – wie leichtsinnig. Jetzt besaßen die zwei Katzen diese Schlüssel. Sie sahen / nickten sich an – eine von ihnen trug eine blaue, die andere eine rote Strähne in ihrem schwarzen Pagenkopf, ihrer ‚Mireille Mathieu-Frisur‘. Sie hatten sich auch optisch weiterentwickelt, sahen in ihren schwarzen Dressen mit Lederbesatz hinreißend aus. Ein neutraler Beobachter hätte eine nicht von der anderen unterscheiden können – bis auf die blaue und rote Strähne. Die zweibeinigen Raubkatzen verstanden sich nonverbal und verschafften sich mittels der Schlüssel Zugang zur Villa. Aber hier wartete erst die eigentliche Schwierigkeit. So ähnlich wie Züge nach wenigen Kilometern stoppen, falls der Lokführer nicht regelmäßig die Sicherheitsbremsung deaktiviert, verhielt es sich auch hier. Die ausgeschalteten Wachleute hatten alle fünf Minuten ein Signal zu geben. Taten sie das nicht, riegelte eine Art reale Firewall den Kern der Villa ab. Die Wachmänner waren seit zwei Minuten K.O. und hatten das letzte Signal vor vier Minuten und fünfzig Sekunden gegeben – vierminuteneinunfünfzig, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig…
… fünf Minuten.
Rotierende Rotlichter kündigten eine Veränderung an. Die schwarzgekleideten jungen Damen sahen sich an. Sie befanden sich im geräumigen Vorraum, der ihnen Zugang zum Inneren verschaffen würde. Verdammt! Sie waren zum ersten Mal nicht schnell genug. Ihre Informationen besagten, dass das, was nun passierte, erst nach fünfzehn Minuten passieren würde. Sonst richtig, nun aber eine Fehlinformation. Und ‚nicht schnell genug‘ galt im doppelten Sinne. In gut zehn Metern Entfernung vor ihnen fuhr eine metallene Zwischenwand hinunter, schottete den Innenbereich ab. So schnell waren selbst diese zweibeinigen Katzen nicht, um sich nach vorn zu begeben und eben noch unter der zügig herabsinkenden Wand aus metallenen Lamellen hindurch zu gleiten.
Aber sie waren vorbereitet – Fehlinformation, nicht optimaler Ablauf hin oder her. Es musste improvisiert werden. Der mit der roten Strähne im Haar war das gleich aus mehreren Gründen nicht recht. Sie war Perfektionistin, hasste Änderungen des Plans, vermied Improvisation. Am meisten hasste sie aber, dass nun der neue, aus einer nur angeblich vertrauenswürdigen Quelle stammende Plastiksprengstoff zum Einsatz kommen musste. Die mit der blauen Strähne ließ es darauf ankommen. Sie nickte in Richtung Seitenwand. Direkt dahinter befand sich ein Badezimmer. Man musste nicht die zwischenzeitlich geschlossene, stabiler als die Wände erscheinende Metallzwischenwand überwinden, um reinzukommen.
Einfach die Wand sprengen und wir kommen rein!
Dann schnell die Zielperson schnappen, den Heli rufen, den der jüngere Halbbruder der beiden pilotierte… und weg!
Es war riskant genug. Der Vorraum war zwar geräumig, aber Plastiksprengstoff hat eine sehr hohe Sprengkraft, die sich innerhalb dieses begrenzten Raumes gefährlich wichtig machen würde. Doch diese beiden jungen Frauen mit den geschwärzten Augenpartien waren alles andere als Weicheier. Einfach in die am weitesten entfernte Ecke gehen, sich wie Katzen einrollen, Mund etwas auf, Ohren zuhalten und zünden!
Die mit der blauen Strähne griff in ihr Halfter und entnahm ein faustgroßes Stück Plastiksprengstoff. Beide hatten dieselbe Menge in ihrem Halfter… für alle Fälle. Sie begab sich zur Seitenwand, knetete die plastilinartige Masse an die Wand und entnahm als Letztes einen per Funk auslösbaren Zünder. Die mit der roten Strähne stand einige Meter von ihr entfernt und beobachtete sie mit einer Mischung aus Skepsis und Ungeduld. Skepsis, weil es sich um neues Material aus einer noch ungeprüften Quelle handelte, Ungeduld, weil bis jetzt schon einiges nicht nach Plan verlief.
Sie wollte im selben Moment losschreien. Es gibt ganz sichere Gefühle, die man nicht erklären kann. Jetzt und hier trat so eins auf den Plan.
Halt! Irgendwas stimmt hier nicht!
Zu spät. Die zweibeinige Katze mit der blauen Strähne steckte soeben den Explosivzünder in die graue Masse. Als ein unsichtbarer zweiter Kontakt die ohne Zünder kaum gefährliche Knetmasse berührte, geschah, was erst in einigem Abstand per Druck auf den Auslöser erfolgen sollte. Dank blitzschnellem Auffassungsvermögen merkte, ja spürte sie, was passieren würde. Ihre außergewöhnlichen Reflexe ließen ihre stärkeren, der Wand näher seienden Glieder – als Rechtshänderin den rechten Arm und das rechte Bein – sich mit aller Wucht von der Wand abstoßen, die das Verheerende, das Zerstörerische trug. Zeitgleich riss sie ihren Kopf nach links, also Kopf und Gesicht soweit wie möglich vom Explosionsherd fort. Sekundenbruchteile später explodierte der Zünder – aus welchem verfickten Scheißgrund auch immer!
Sie war geradezu übernatürlich schnell. Aber nicht schnell genug.
In diesem Moment ließ der explodierende Zünder den eigentlichen Explosivstoff seiner Bestimmung nachgehen.
Bummmmmm!
‚Explosion‘ ist ein schwaches Wort für das Inferno, das sich aus einem grellen Lichtblitz, einer unbeschreiblichen Wucht, die den Vorraum in Schallgeschwindigkeit durchflutete und einem überraschend aushaltbaren, weil dumpfen Knall zusammensetzte. Es war mehr der Druck, der die Ohren belastete, als der Klang. Der Sound klang nicht mal ‚gefährlich‘, schon gar nicht tödlich – wie ein extragroßer, kräftiger, basslastiger Silvesterkracher. Zudem hörten sie ihn nicht zum ersten Mal. Dennoch würden sie diesen Ton niemals in ihrem Leben vergessen. Niemals.
Weniger aushaltbar war das, was die einige Meter entfernt Stehende erkennen konnte, bevor Reflexe ihre Augen schlossen und sie an die Wand gedrückt wurde: umherwirbelnde Körperteile.
Noch weniger aushaltbar war dieses Szenario für diejenige, deren Körperteile umherwirbelten. Die, die am Explosionsherd gestanden hatte.
Es war vorbei. War es vorbei? Die junge Frau ganz in Schwarz stützte sich auf alle Viere – Katze. Ihre schwarze, nun zerzauste Pagenkopfperücke mit der roten Haarsträhne bedeckte doch tatsächlich noch ihre zusammengesteckten echten Haare. Die Perücke wiederum war vom Staub der zerborstenen Wand bedeckt. Ihr Gesicht mit der geschwärzten Augenpartie war von Staub und Blutspritzern übersät. Ihre Ohren dröhnten – Tinnitus. Hören war also keine Option. Sehen, sie musste sehen! Sie öffnete vorsichtig ihre Augen. Es war dunkel. Nicht nur, dass die heruntergelassenen Metallzwischenwände das Licht aus dem Inneren abschirmten (das taten sie schon vor der Explosion), war nun auch jede Außenbeleuchtung erloschen, die zuvor durch die gläserne Seite des Vorraums geschienen hatte. Diese Glasfläche war nach wie vor intakt, was auf Panzerglas – zumindest dünneres – schließen ließ. Auch innen war alles dunkel… und scheinbar unbelebt, wie das Loch in der Mauer erkennen ließ. Die Explosion hätte Bewohner des Hauses auf den Plan gerufen.
Sie lebte noch… und griff nach ihrem Multifunktionsgürtel, drückte mehrfach hintereinander auf den Knopf in der Mitte der Schnalle, drückte geradezu verzweifelt das Funksignal, auf das hin der Helikopter sie einsammeln sollte. Dann fingerte sie in Richtung der Stablampe.
Die andere musste tot sein, keine Frage. Zum ersten Mal seit vielen Jahren zitterten ihre Finger. Zuletzt hatten ihre Finger gezittert, als ihr Vater von ihr erwartet hatte, dass sie das einstudierte Trapezkunststück bei der Generalprobe schaffen sollte. Davor hatte sie nicht einmal gezittert, als ihr Vater sie und ihre Schwester zum ersten Mal ganz mit nach oben genommen hatte. Da waren sie gerade mal sechs. Im Gegenteil – sie hatte sich sogar darauf gefreut. Aber jetzt zitterte sie wieder.
Ihre Finger zerrten die Stablampe aus dem Gürtel – neue Technologie, LEDs. Sie schaltete sie ein. Nun zitterte sie erst recht.
Sie muss tot sein!
Ihre Schwester musste tot sein. Körperteile waren durch den Raum geflogen, große Körperteile. Es hatte ihre Schwester in Stücke gerissen.
Das Rauschen in ihren Ohren ließ nach, das bislang vom Tinnitus übertönte Stöhnen wurde hörbar. Sie richtete ihre Stablampe in die Richtung, aus der sie die Laute vernahm, und robbte dort hin.
Auf dem Boden lag ein blutendes Etwas, das mal ihre Schwester war. Sie ließ den Strahl der Stablampe flink und angstvoll über den am Boden liegenden Körper huschen. Und sie war weißgott nicht ängstlich. Der Körper war nicht mehr intakt, richtiger wäre: nicht mehr ganz.
Nun wusste sie, dass sie in Sekundenbruchteilen richtig gesehen hatte. Bei der Explosion war nicht nur ein Arm, sondern auch ein Bein durch den Raum geflogen. Aber das war nicht alles. Die auf dem Boden liegenden Überreste dessen, was noch vor wenigen Minuten ihre geliebte, genau wie sie wunderschöne Schwester war, waren offensichtlich allem beraubt, was sich auf der Seite befunden hatte, die der Explosion näher war. Außer einem blutenden Stumpf unterhalb der rechten Schulter und der Entsprechung unterhalb des rechten Hüftgelenks, war auch die rechte Gesichtshälfte ein dunkler, blutiger Brei. Die schwarze Pagenkopfperücke mit der blauen Strähne hatte es ihr vom Kopf gerissen – wie ihre richtigen Haare, von denen nurmehr schwarze, verbrannte Stoppeln zeugten. Hätte sie nicht den Kopf nach links, also in der Kürze der Zeit so weit wie möglich von der Explosion fortgerissen, wäre hier kein Kopf mehr gewesen. Kaum zu glauben, dass dieses Horrorszenario trotzdem das unter diesen Umständen bestmögliche, nur mit unglaublichen Reflexen Erreichbare war.
Das blutige, staubige, verstümmelte Etwas sah das naturgemäß nicht so. Den ebenfalls zerrissenen Lippen entwich in diesem Moment mehr als nur ein Stöhnen. Ein leises, kaum zu verstehendes
»Töte mich.«
Dieses Etwas, das auf dem Boden lag, und einmal ihre Schwester war…
… war immer noch ihre Schwester.
Weil es lebte.