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6 – Mord und Brand
ОглавлениеRheidersum, Freitag, 11. November 1938
Elisabeth starrte auf den Zeitungsartikel. Wild schossen ihr die Gedanken durch den Kopf. Vor vier Tagen hatte das Unheil seinen Anfang genommen.
Die Stimme des Sprechers im Großdeutschen Rundfunk hatte sich regelrecht überschlagen.
Herschel Feibel Grynszpan, ein polnischer Jude von siebzehn Jahren, hatte am 7. November 1938 in Paris auf den deutschen Legationsrat Ernst Eduard vom Rath geschossen. Dieser starb zwei Tage später an seinen schweren Verletzungen.
Gestern Morgen, kurz nach Melkzeit, war Onkel Theodor plötzlich im Stall aufgetaucht, absolut ungewöhnlich für diese Stunde. Helfried, ihr Vater, hatte ihn erstaunt angeschaut.
»Was machst du denn schon hier in aller Herrgottsfrühe?«
»Den Herrgott lass lieber aus dem Spiel. Der hat damit nichts zu tun. Die Synagoge in Leer brennt! Und die SA hat sie angezündet!«
»Sind die jetzt völlig übergeschnappt?«
»Und weißt du, wer dabei war?« Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte Theo hinzugefügt: »Unser lieber Herr Bürgermeister Drescher! Der soll persönlich die Vorhänge angezündet haben!«
In der Ostfriesischen Tageszeitung, dem amtlichen Organ der NSDAP und aller Behörden Ostfrieslands im Gau Weser-Ems, war an diesem Freitagmorgen ein kurzer Bericht mit Fotos des aufgebahrten vom Rath und der Überführung der Leiche ins Deutsche Reich abgedruckt. Darunter einige wenige Zeilen voller Pathos.
Elisabeth ließ die Zeitung sinken und schaute ins Leere. Eine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. Sie schrak hoch: »Ach, du bist es, Onkel Theo!«
Theo Strodthoff tippte auf die Zeitungsseite: »Lies das mal vor, ich habe meine Brille nicht dabei!«
»Den Text von Goebbels?«
»Genau den!«
Elisabeth zitierte:
Aufruf Dr. Goebbels’ an die Bevölkerung
Berlin, 10. November
Reichsminister Dr. Goebbels gibt bekannt:
Die berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes über den feigen jüdischen Meuchelmord an einem deutschen Diplomaten in Paris hat sich in der vergangenen Nacht in umfangreichem Maße Luft verschafft. In zahlreichen Städten und Orten des Reiches wurden Vergeltungsmaßnahmen gegen jüdische Gebäude und Geschäfte vorgenommen.
Es ergeht nunmehr an die gesamte Bevölkerung die strenge Aufforderung, von allen weiteren Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum, gleichgültig welcher Art, sofort abzusehen. Die endgültige Antwort auf das jüdische Attentat in Paris wird auf dem Wege der Gesetzgebung bzw. der Verordnung dem Judentum erteilt werden.
Elisabeth legte die Zeitung auf den Tisch.
Theodor Strodthoff holte tief Luft: »Da soll uns weisgemacht werden, dass diese Gewalttaten spontan vom Volk ausgegangen seien. Im ganzen Deutschen Reich gleichzeitig und mit Sicherheit die SA immer vorneweg. Für wie blöd halten die uns eigentlich?«
Lilli zuckte ratlos mit den Schultern: »Wie haben die Leute reagiert? Du warst doch gestern früh da.«
»Abgesehen von den SA-Schreiern haben die Leute eigentlich nur stumm dagestanden oder sind gleich erschrocken weitergegangen. Von großer Zustimmung konnte ich nicht viel merken. Übrigens hat die SA jüdische Geschäfte zusammengehauen und die Leute herausgetrieben.«
Lilli schaute ihn entsetzt an: »Und was haben sie mit ihnen gemacht?«
»Zum Viehhof haben sie sie gejagt, später auf Lastwagen geladen und weggefahren!«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht. Ich hörte nur einen der SA-Männer sagen: ›Jetzt kriegt das Pack die richtige Behandlung.‹ Es waren auch alte Leute und Kinder darunter!«
Elisabeth schwieg.
»Du sagst ja gar nichts.«
»Mir fällt auch nichts mehr ein!«
Dabei fiel ihr in dem Moment doch etwas ein. Sie wusste nicht, warum es ausgerechnet diese Begebenheit vor etwa vier Jahren war. Die beiden jüdischen Viehhändler David und Salomo de Vries, die immer zusammen auf einem schweren Motorrad kamen, hatten von ihrem Vater wieder einmal mehrere Rinder gekauft. Der Abschluss des Handels war traditionell mit Handschlag besiegelt worden. Anschließend gab es zum Tee Rosinenstuten. In die Butter, die Lilli dazu auftrug, hatte sie vorher mit einem Messer ein großes Hakenkreuz gezogen.
In diesem Moment schämte sie sich entsetzlich dafür. Was mochte wohl aus David und Salomo de Vries geworden sein?
Und was war mit …?
»Onkel Theo, du erinnerst dich noch an Gesa Hellmann?«
»Ja, natürlich. Wohl niemand wird sie vergessen haben.«
»Sie war damals meine beste Freundin.«
»Ich weiß. Nach dem Mord warst du völlig verstört, verständlicherweise. Deine Mutter hat es dir zwar so schonend wie möglich beigebracht, aber das änderte ja nichts an dem schrecklichen Geschehen.« Theodor Strodthoff schaute seine Nichte an. »Es beschäftigt dich immer noch?«
»Ja, aber – ich weiß auch nicht, wie ich jetzt darauf komme – was ist eigentlich damals aus dem Täter geworden?«
»Berend de Buhr? Wegen seines schwachen Geisteszustandes wurde er von einem Professor für Psychiatrie und Rechtsmedizin untersucht. Es war übrigens derselbe, der damals das Gutachten über den Massenmörder Fritz Haarmann erstellt hat.«
»Haarmann war voll zurechnungsfähig und wurde hingerichtet – richtig?«
»Ja.«
»Und Berend?«
»War eindeutig schwachsinnig. Dieser Professor Schultze hat ihn für schuldunfähig erklärt. Das Gericht hat daraufhin Berends Einweisung in eine geschlossene Psychiatrie verfügt.«
»Das hatte ich schon vermutet.«
»Vor einiger Zeit erhielten die Eltern die Mitteilung, dass Berend verstorben sei. Auf dem Totenschein stand Lungenentzündung als Todesursache.«
»Du glaubst nicht recht daran, Onkel Theo?«
»Wäre es ein Einzelfall, hätte ich nicht unbedingt Zweifel.«
»Welchen Fall gibt es denn noch?«
»Volli Knockmol …«
»Ach du lieber Gott, der arme Kerl!«
Der Junge hieß mit Vornamen nicht etwa Volker, wie man hätte annehmen können. Die Bezeichnung Volli verdankte er dem bedauerlichen Umstand, dass er absolut schwachsinnig war und daher umgangssprachlich Vollidiot oder in Kurzform eben Volli genannt wurde. Er hatte die besondere Fähigkeit, dass er sich seine Kniegelenke aus- und wieder einrenken konnte, was ein knackendes Geräusch verursachte. Andere Kinder trieben bisweilen ihren bösen Schabernack und sagten zu ihm: »Volli, knockmol!« Der arme Junge glaubte, damit die Anerkennung der anderen Kinder erringen zu können, und tat ihnen immer diesen Gefallen. Einige Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde er in eine Anstalt eingewiesen und verstarb dort.
*
Am 1. Januar 1934 trat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft. Während der NS-Zeit wurden etwa dreihundertfünfzigtausend Menschen »von Amts wegen« sterilisiert, wobei mehrere Tausend bleibende gesundheitliche Schäden erlitten oder zu Tode kamen.
Offiziell begann die Vernichtung des im NS-Jargon »lebensunwerten Lebens« am 1. September 1939, zeitgleich mit dem Kriegsbeginn. Ebenso offiziell eingestellt wurde dieses Euthanasieprogramm nach öffentlichen Protesten, denen vor allem der katholische Bischof von Münster Clemens August Graf von Galen im August 1941 eine nicht zu überhörende Stimme verlieh.6
Bei weiteren derartigen Todesfällen außerhalb dieser Zeit liegt zumindest der Verdacht nahe, dass man auch hier im Sinne der NS-Ideologie verfuhr.
Es gab unterschiedliche Arten des Umgangs mit Menschen, die an geistigen Behinderungen litten, oder unheilbar Kranken. In manchen Anstalten brachte man diese gezielt mit Giftinjektionen oder Gas um, in anderen »Pflegeeinrichtungen« ließ man sie ohne jede medizinische Hilfe dahinvegetieren oder schlicht verhungern.
Schon in der psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift Nummer 34 aus dem Jahr 1936 war Folgendes zu lesen: »Sehr interessant und in Deutschland wohl nur noch einmal in Schleswig vorkommend, sind die im Dorf Neusandhorst7 entstandenen drei Pflegehäuser, die von Bauern betrieben werden, und wo der Stallraum des niedersächsischen Bauernhauses in kleinste, ärmliche Schlafkabinen für Geisteskranke umgebaut ist. Jeder Bauer hat ca. zwanzig Patienten. Es sind Fälle, die sonst als Familienpfleglingsfälle von den Anstalten einzeln vergeben werden. Hier haben die Erbhofbauern diese in eigener Regie – ohne ärztliche Kontrolle – genommen. Es muss ein ganz gutes Geschäft sein! …«
6 Für die drangsalierten und verfolgten Juden fand sich leider keine Stimme, die ein solches Gewicht gehabt hätte.
7 Nordöstlich von Aurich.