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Geburt und Kindheit im katholischen Sudetengau
ОглавлениеEin ganz normaler Tag mitten im Ersten Weltkrieg im Mai 1916. Am Rande der von Kämpfen und ethnischen Reibereien verschlissenen und sich im Zerfall befindlichen österreich-ungarischen Monarchie, im vom Krieg verschonten Egertal befindet sich das sudetendeutsche Dorf Atschau (Uhostany). Es liegt idyllisch oberhalb der Stadt Kaaden. Dort erblickt ein Mädchen das Licht der Welt. Sie wird auf den Namen Marie Theresia Steigenhöfer hören. Ihre Eltern waren bescheiden lebende Siedler. Sie wohnten am Rande des Dorfes und hatten hinter dem Haus neben dem Obstgarten ein Stück Feld. Haus, Feld und Garten lieferte vor allem der Mutter genügend Arbeit. Der Vater konnte nicht mehr wie früher rackern, denn er war einer der ersten Versehrten des andauernden Krieges. Ein Granatsplitter hatte ihm einen Unterschenkel weggerissen. Zum Pech gehört aber auch das Glück, den Großteil des Krieges zu Hause zugebracht zu haben.
Es ist eine angenehme Zeit am Ende des Frühlings. Die Bäume stehen in voller Blüte und man könnte im Dörfchen Atschau die Härten dieser Zeit vergessen. An den Sonntagen erschallt aus den Dörfern und Städtchen das Geläut der Glocken. Es ist eine traditionell katholische Region. Von Kind an werden die Leute durch die Kirche beeinflusst. Sie allein gilt als perfekt und unfehlbar. Die Kirche begleitet die Menschen von der Geburt über die Taufe, Firmung, Heiligen Kommunion und Eheschließung bis zur Beisetzung. Sie gibt dem einzelnen Normen vor. Jedoch die gröbsten Verstöße gegen die Gebote, den Krieg und die Vertreibung greift sie nicht an. Diese gelten als höhere Gewalt, die die Menschen zu dulden haben.
Atschau liegt an den Ausläufern des Duppauer Gebirges. Die Kleinstadt Duppau (Doupov) mit den umliegenden Dörfern war auf Grund seiner Abgeschiedenheit ein einmaliges Zeugnis westböhmischer Geschichte und Kultur. Inzwischen ist diese Kulturlandschaft weitgehend zerstört. Die Stadt Duppau mit ihren Kirchen, Friedhöfen, dem Gymnasium und den verwinkelten Gassen mit den Krämerläden und Handwerkern existiert nicht mehr. Ein Truppenübungsplatz ergriff in den Zeiten des kalten Krieges Besitz von großen Teilen des Duppauer Gebirges. Jagdbomber übten die Bekämpfung von Erdzielen wo einst das städtische und dörfliche Leben stattfand. Sicher wird eine Rekultivierung des Landes erfolgen, aber die Stätten der alten sudetendeutschen Tradition und Kultur sind unwiederbringlich.
Was wird das Leben dem eben mitten im Krieg geborenen Mädchens bringen? Klar, besser es wäre noch ein Junge geworden, der Haus und Hof führen kann. Vater wollte gern die Viehwirtschaft ausweiten. Neben Hühnern, Enten und Kaninchen sollte eine Kuh und ein paar Schweine für etwas mehr Einkünfte sorgen. Vor Marie sind den Steigenhöfers bereits ein Mädchen und ein Junge beschert worden. Und später sollte noch ein Brüderlein hinzukommen.
Wer ahnte schon, dass das Leben der Marie einmal der Schwerpunkt in einem E-Book sein wird? Sie führte doch - ein für diese Jahre - fast ganz normales Leben. Es gilt wichtige Fakten und Ereignisse aus ihrem Leben über die Zeiten hinweg für folgende Generationen zu bewahren. Seit ihrer Geburt sind eben gerade einmal reichlich 100 Jahre vergangen. Doch bereits heute sind einige ihrer Daten schon fest im digitalen Zeitalter verankert. So ist das Geburtsdatum Bestandteil vieler Codes und Passworte. Daran hatte in der vordigitalen Zeit keiner gedacht.
Marie wuchs in dieser ländlichen Idylle oberhalb der schönen Egerstadt Kaaden auf, wurde da getauft und gefirmt. Die Leute waren streng katholisch erzogen und lebten die Regeln der Religion.
Es bleibt wenig Zeit, um etwa an christlichen Feiertagen Kaadens Parks und Gassen zu besuchen. Nur hin und wieder war neben dem dörflichen Kirchgang auch der Besuch einer der Kaadener Kirchen und Gottesdienste auf der Tagesordnung. Ehrfurchtsvoll betrat klein Marie stets diese Gotteshäuser.
Marie verbrachte glückliche Kindertage, obwohl auch sie notwendigerweise in die Pflichten der Arbeit in Haus, Hof und Garten eingebunden war.
Schnell wuchs das Mädel heran, besuchte die Volksschule und ging in die Lehre als Hauswirtschafterin bei begüterten rechtschaffenen Kaadener Bürgern – bei der Familie des Stadtapothekers. Sie wurde neben der Lehre allerdings zu allen möglichen sonstigen Hausarbeiten herangezogen – bis zu 12 Stunden am Tag. Das störte keinen. Den anderen jungen Mädels ging es nicht anders. Mädchen ihrer Herkunft blieben die Türen der Gymnasien verschlossen. Ihr älterer Bruder Eduard besuchte bereits das Gymnasium und sollte studieren. Mit dieser Belastung war das Limit der Familie bereits überschritten.
Härte und Zorn des Vaters
Marie war von kleinem Wuchs, aber mit ihren braunen Kastanienaugen ein hübsches Mädchen. Kein Wunder, dass die Buben ihr nachsahen. Ihr tat das gut – völlig normal. Sie war aber zu strenger Keuschheit erzogen. Sexuelle Aufklärung allerdings fand in der keuschen Familie nicht statt.
Und es geschah was geschehen musste: die kleine Marie war mit knapp 17 Jahren plötzlich schwanger. Ihr sei nicht klar gewesen, wie das passieren konnte. Das ist nachvollziehbar, wurden doch die Heranwachsenden wegen der katholischen Prüderie nicht aufgeklärt. Themen wie Sexualität wurden durch die Eltern gemieden. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf. Zunächst versuchte das Mädel durch geeignete Kleidung das Malheur zu vertuschen. Aber spätestens im Frühsommer 1933 war das nicht mehr möglich.
Der Vater wurde zornig, wo doch damit so viel Schande über die Familie gekommen sei.
Nach der Geburt des strammen Sohnes Herbert änderte der Vater seine Einstellung nicht. Immer wieder gab es verbale Auseinandersetzungen in der Familie aufgrund des unehelichen Kindes. Die katholische Moral stand weit über der Menschlichkeit. Normen galt es strikt einzuhalten. Zuneigung und Verständnis wogen nichts.
Als Sohn Herbert aus dem Gröbsten heraus war, verwies der Vater seine Tochter in ihrem Pech des Hauses. Sie sollte sehen, wie man sich im Leben durchkämpft. Sohn Herbert blieb bei den Großeltern.
Marie schlug sich als Haushaltshilfe bei verschiedenen Familien in Dörfern Tuschmitz und Luschitz bei Komotau durch. Sie verschwieg die Existenz ihres unehelichen Kindes – der Schande wegen.
Sie war beliebt, weil sie fleißig, ordentlich und zuverlässig war. Dennoch war es ein Leben von der Hand in den Mund – also ganz normal wie bei allen jungen Frauen ihres Standes zu dieser Zeit auch. Immerhin kam sie im Unterschied zu ihrer Mutter in der „Welt“ herum. Ihre Mutter behauptete stets, sie sei nie weiter als bis in die Kreisstadt Komotau gekommen.