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Berlin, Montag, 21.07.2014

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Bruno Hallstein sitzt noch etwas verschlafen an seinem Esszimmertisch, der eigentlich ein Multifunktionstisch ist. Jetzt nicht wie der legendäre MuFuTi, der die DDR-Möbelindustrie auf Weltniveau bringen sollte. Nein, der hier ist ein einfacher Pinienholztisch mit vier festen Beinen, auch nicht ausziehbar oder in der Höhe verstellbar. Aber so von der Vielfältigkeit her schon Multi, Arbeitstisch, Ablagetisch, Computertisch, Radioreparaturtisch, Kreuzworträtsel- und Sudokutisch, manchmal eben auch Esstisch. Bruno hat sich heute ausnahmsweise mal ein Frühstück zusammengestellt, wollte nicht wie sonst üblich in der Küche nur schnell etwas einwerfen. Schließlich hat er morgen Geburtstag und das heißt, morgen beginnt der Ernst des Lebens. Da kann, ja da muss man heute noch einmal vernünftig frühstücken, so mit frisch aufgebackenen Brötchen, Aufschnitt, Kaffee und natürlich der Tageszeitung.

Fehlt noch was? Ach ja, bisschen Musik könnte nicht schaden. Dann hör ich meine Essgeräusche nicht so…

Er steht noch einmal auf und schaltet das kleine Internetradio an. Er hat sich schon lange abgewöhnt, heimische Sender zu hören. Zu sehr geht ihm diese massenproduzierte englischsprachige Popmusik auf die Nerven und dann diese peinlich lustigen Moderatoren, die eigentlich alles sind, nur nicht lustig und moderieren? Also Moderation ist etwas anderes, da steckt das Wort moderat drin. Und wer will schon morgens beim Frühstück überhaupt Witze hören? Bruno Hallstein jedenfalls nicht. Ihn interessiert auch nicht, ob auf dem Berliner Ring irgendwo ein Blitzer steht, nicht mal wenn er in beide Richtungen blitzt, und überhaupt blitzen, was ist das eigentlich für ein blöder Ausdruck? Die Dinger blitzen doch gar nicht mehr. In dem Radio ist noch der Sender von gestern eingeschaltet, Radio Tirol. Den hört er eigentlich auch nur, um etwas über seine zweite Heimat zu erfahren, Wetter, neueste Nachrichten, Schneelage, usw. Also Schneelage im Juli natürlich völlig unsinnig. Die Zeiten, wo man in den Gletscherskigebieten mit der Möglichkeit zum Sommerskilauf geworben hat, sind schon ewig vorbei, und Bruno zweifelt, ob es diese Möglichkeiten überhaupt je gegeben hat. Er hat sie jedenfalls nicht erlebt, kann sich noch erinnern, wie er 1986 einmal den Versuch unternommen hat, im Mai am Stubaier Gletscher Ski zu fahren, aber das hatte mit Skifahren nicht viel zu tun. Spätestens ab Mittag versank man bis zu den Knöcheln im weichen Matsch und tiefen Wasserlachen. Er fragt sich seitdem auch, weshalb man eigentlich im Sommer Skifahren muss. Eine belastbare Antwort ist ihm dazu noch nicht eingefallen.

Es ist kurz nach halb Neun und sein Tiroler Sender bringt Regionalnachrichten. Da unterscheidet er sich nicht von allen anderen Radiosendern dieser Welt, es gibt nur schlechte Neuigkeiten, Verkehrsunfälle, Bergunfälle, Mord und Totschlag, Raub und Erpressung, weiß der Teufel, was die Menschen noch alles im Repertoire haben. Manche zünden auch Häuser an. Bruno dreht die Lautstärke noch etwas herunter und ist froh, als endlich wieder Musik zu hören ist, mal was auf Italienisch, auch nicht schlecht. Bruno hat sich gerade in den Sportteil seiner Zeitung vertieft, als sich sein Smartphone meldet, Karla.

"Guten Morgen, mein Schatz, hast du gut geschlafen?"

"Schatz? Was soll das denn? Hast du noch Restalkohol im Blut?"

"Mein Gott, da will man mal nett sein …"

"Sag doch einfach Karla zu mir."

"Nee, also dann lieber Frau Zinke. Hast du gut geschlafen, Frau Zinke?"

"Ja, Herr Hallstein, habe ich. Ich wollte dich übrigens nur fragen, was du dir zum Geburtstag wünschst. Aber wie ich dich einschätze, wahrscheinlich gar nichts."

"Doch, doch, ich wünsche mir ein, warte mal …, ja, ich weiß, ich wünsche mir einen Ohrring."

"Hast du sie noch alle? Einen Ohrring? Wie wär's denn mit einem Tattoo?"

"Tattoo wär auch nicht schlecht. Ist dir ein Ohrring zu teuer?"

"Nein, wie kommst du darauf? Für dich ist mir nichts zu teuer. Hast du denn überhaupt ein Loch im Ohr? Ich glaube eher, du hast ein Loch im Kopf."

"Gibt's nicht welche, wo man ohne Loch im Ohr auskommt? Loch im Ohr ist nicht gut, das tut ja weh. Meine Mutter hat immer solche Clips getragen. Genau, ich wünsche mir einen Ohrclip."

"Pass mal auf, Loch im Ohr tut nicht weh aber ich würde körperlichen Schmerz empfinden, wenn du mit einem Ohrring oder Clip herumlaufen würdest."

Bruno erkennt, dass mit Karla heute Morgen nicht zu spaßen ist. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie es mit der Geschenkefrage äußerst ernst gemeint hat. Dabei müsste sie wissen, dass Bruno seinen Geburtstag am liebsten ganz ignorieren würde. Immerhin haben sie sich wenigstens darauf geeinigt, dass sie sich heute Abend in der 'Alten Mühle' zum Essen treffen. Vielleicht feiern sie in den Geburtstag rein, stoßen gemeinsam an, mal sehen, wie es sich ergibt. Im Moment ist ihm noch nicht nach Feiern zumute. Ist ja auch noch früh am Tage. Bruno hat die Zeitung zur Seite gelegt, da kann er nachher noch einmal reinschauen. Jetzt muss er erst mal seine Bude auf Vordermann bringen. Man weiß ja nie, nachher landen sie heute Abend noch hier in seiner Wohnung und dann? Frauen sind da sehr sensibel. Obwohl, eines kann man ihm nicht vorwerfen, dass er nicht auf Sauberkeit achtet. Gut, eins ist klar, Junggesellenhaushalt, das schon, aber eigentlich immer alles pikobello. Auch er selber, immer gepflegt und ordentlich angezogen, da ist Bruno Hallstein sehr eigen. Einmal in der Woche kommt auch eine Putzfrau, die so die Grundreinigung durchführt, Beispiel Fensterputzen oder wo man hinterher sagt In-Bad-und-WC-ist-alles-Okay. Die junge Russin ist mit ihren zwei Kindern allein und froh, dass sie diese Beschäftigung bei Bruno gefunden hat, wohnt gleich ein Haus weiter. Bruno hat sie mal beim Bäcker getroffen und mitbekommen, wie sie die Verkäuferin gefragt hat, ob die nicht wisse, ob jemand eine Haushaltshilfe suchen würde. Auf der Straße hat er sie dann einfach angesprochen und war vom ersten Augenblick an von ihrer Eignung überzeugt. Gut, da spielte schon auch eine Rolle, dass sie sehr hübsch war, so mit ganz hellen Augen. Viele Russinnen sehen so aus aber viele übertreiben dann auch, viel Make-up, aufreizende Kleidung und dann diese weißen viereckigen Fingernägel. Aber Valentina überhaupt nicht, ganz normal, ganz dezent, naja, Bruno hat es jedenfalls bis heute nicht bereut, dass er ihr diesen Job gegeben hat. Er bezahlt sie fair und lässt ihr alle Freiheiten. Wann und wie oft sie kommt, was sie saubermacht und mit welchen Mitteln, alles ihre Sache. Da mischt er sich nicht ein. Sie hat einen Schlüssel und Bruno vertraut ihr völlig. Sie dankt es mit absoluter Perfektion und Zuverlässigkeit. Meistens ruft sie zwei Tage vorher an, fragt, ob etwas Besonderes getan werden müsse und dann ist sie da, bringt immer ihre beiden Kinder mit und Bruno kann nur staunen, wie fleißig die Mutter und wie artig die Kinder sind. Das Mädchen sitzt meistens die ganze Zeit am Esszimmertisch und malt in einem Buch Figuren mit Farbstiften aus, also noch eine Funktion, Maltisch. Der Junge, wohl schon etwas älter, will seiner Mutter immer helfen. Sie gibt ihm kleine Aufträge, wie Staubwischen oder Blumengießen, wobei Blumengießen? Naja, mit Mühe und Not kommt man in der ganzen Wohnung auf zwei Blumentöpfe, eine Ficus Benjamina, die ihm seine Schwester Anette zum Einzug geschenkt hat und eine Orchidee, auch ein Geschenk. Bruno weiß nicht mehr von wem und staunt immer wieder, dass diese Blume überhaupt noch existiert.

Er hat jetzt aus der Abstellkammer den Staubsauger geholt und fasst nach dem Einschalten den Entschluss, den er immer fasst, wenn er staubsaugt. Ein neuer Sauger muss her, dieses Höllengeräusch ist auf Dauer nicht auszuhalten und mit Sicherheit hochgradig gesundheitsgefährdend. Und wie immer stellt er ihn nach Abschluss der Arbeit wieder in die Abstellkammer zurück, einmal geht noch. Das Monster ist inzwischen an die zehn Jahre alt.

Vielleicht sollte ich mir einen neuen Staubsauger zum Geburtstag wünschen.

Bruno wirft noch einen Blick in die anderen Zimmer, nach seiner Meinung alles in Ordnung. Sogar das kleine Gästezimmer, das er eigens für eventuellen Besuch eingerichtet hat, sieht sauber und aufgeräumt aus. Allerdings Gästezimmer nicht ganz der treffende Name. Bisher hat nur er selber hier übernachtet, obwohl das breite Bett recht komfortabel ist. Bruno findet manchmal in seinem Schlafzimmer, wo er echte Ehebetten zu stehen hat, keine Ruhe, meistes im Sommer, wenn es sehr warm ist und die Fenster offen stehen. Dann kommt es schon mal vor, dass ihn der ewig anhaltende Straßenverkehr nicht zur Ruhe kommen lässt. So ein Kopfsteinpflaster ist ja vielleicht ganz nostalgisch, nur wenn alle paar Sekunden ein Auto durch die Straße fährt, Hölle, gerade nachts, wenn alle anderen Geräusche verstummt sind. Das Fenster des Gästezimmers geht nach hinten zum Hof raus. Da ist es ruhig. Aber es hat auch noch einen anderen Reiz im Gästezimmer zu schlafen, fast wie Urlaub, wo man ja auch in fremden Betten schläft. Apropos Urlaub. Seit knapp zwei Wochen sind in Berlin Sommerferien. Hier draußen in Tegel merkt man nicht so viel davon, weil natürlich auch in den Schulferien viele Tagesgäste die schöne Umgebung des Tegeler Sees und seiner Wälder genießen wollen. In der Innenstadt merkt man aber schon, dass viele Berliner in den Urlaub gefahren sind.

Vielleicht sollte ich auch mal wieder wegfahren. Ist schon ein Weilchen her, zuletzt Ostern 2012. Oje, wenn ich daran noch denke. Bombenanschlag beim Osterfeuer und ich saufe bald in der Ostsee ab. Und dann die schöne Monika, die schwarze Witwe…

Bruno reißt sich von den trüben Gedanken los, obwohl die Erinnerungen an die Frau seines Cousins so trübe gar nicht sind, eher verwegen. War schon eine heiße Kiste damals. Hat ihn fast an der Beziehung zu seiner Karla zweifeln lassen.

Naja, alles Schnee von gestern. Überhaupt Schnee, Skifahren war ich auch nicht im letzten Winter. Ist ja kein Wunder, dass ich urlaubsreif bin. Anna mal wiedersehen, das wäre richtiger Urlaub für mich. Aber was mache ich dann mit Karla? Die will doch dann bestimmt mit…

Bruno kommt zu keinem Schluss. Muss auch nicht jetzt sein. Er zwingt sich, über die Gestaltung seines Geburtstages nachzudenken, quasi Eventmanagement. Karla, sein Freund Harry und nicht zuletzt seine Schwester Anette würden es nicht akzeptieren, wenn er einfach über den Sechsundsechzigsten hinweggehen würde. Seine Mutter müsste er auch mal wieder besuchen.

Wäre das nicht eine Idee, alle dorthin einzuladen? Scheiß Idee, die ist inzwischen 91 Jahre alt und ihre lichten Momente sind eher die Ausnahme.

Seit ihrem Oberschenkelhalsbruch vor fast drei Jahren in ihrer Seniorenresidenz Sonnenschein ging es stetig mit ihr bergab. Zuerst glaubten Bruno und Anette noch, dass man ihr nur Zeit geben müsse. Aber in dem Alter arbeitet die Zeit nur gegen einen, und spätestens an ihrem 90. Geburtstag, als ihre beiden Kinder sie besuchten und sie gar nicht wusste, dass sie Geburtstag hatte, und es auch nicht glauben wollte, da ahnten sie, dass das Schicksal nun auch ihre Mutter mit der Altersdemenz eingeholt hatte. Wenn Bruno ganz ehrlich zu sich selber ist, und das ist er zuweilen, dann ist er froh, wenn er da nicht hin muss. Zu sehr erschüttert ihn der Anblick dieser vielen alten Menschen, wie sie immer unselbstständiger werden, fast nichts mehr allein können. Er hat vor kurzem ein Buch gelesen, in dem der Autor das Leben seines an Demenz erkrankten Vaters beschreibt und das Zusammenleben mit ihm. Bruno erinnert sich sehr gut an die kritische Auseinandersetzung mit der allgemein üblichen Redensart, dass die Menschen im Alter wieder wie Kinder werden würden. Bruno hat den Autor verstanden, der feststellte, dass das gerade nicht der Fall sei, weil Kind sein gleichzeitig bedeutet, Weiterentwicklung, Dazulernen, Fähigkeiten und Wissen anreichern. Davon kann wohl bei seiner Mutter kaum die Rede sein. Menschen, die unter dieser Krankheit leiden, verlassen mehr und mehr diese Welt und man muss ihnen in ihre Welt folgen, wenn man noch so lange es geht eine Gemeinsamkeit mit ihnen erleben will. Hinzu kommt bei Bruno das Problem, dass er das Schicksal dieser alten Menschen immer auf sich selbst projiziert. Er kann gar nicht anders, sieht sich dann in der gleichen jämmerlichen Situation. Jedenfalls belastet ihn ein Besuch bei seiner Mutter immer sehr und er ist schon Tage vorher verspannt und Tage danach noch niedergeschlagen.

Außerdem ist morgen m e i n Ehrentag, den will ich mir nicht versauen. Mama weiß doch sowieso nicht, dass morgen ihr Sohn 66 Jahre alt wird. Eines Tages wird sie mich nicht mal mehr erkennen, das haben die Ärzte mir schon prophezeit. Scheiß Alter und ich werde schon 66, kaum zu glauben. Wer weiß, wie lange es noch geht? Allerdings, wenn ich die Gene meiner Mutter …, aber Demenz ist auch nicht gerade mein erklärter Wunsch. Obwohl die Betroffenen …, die merken ja gar nichts davon oder doch? Kann man sich bewusst sein, dass man seine eigenen Kinder nicht mehr erkennt? Hört sich irgendwie unlogisch an, aber was ist am Menschsein schon logisch? Außerdem habe ich ja gar keine Kinder. Schönes Thema. Wie komme ich jetzt davon wieder weg?

Bevor Bruno die Wohnung verlässt, schaut er noch einmal in den Spiegel, müsste sich eigentlich noch rasieren, hat aber keine Lust.

Kann ich ja nachher noch machen, bevor ich mich mit Karla treffe. Dann rieche ich auch gleich etwas verführerisch. Siehst du, schon ganz andere Gedanken …

Ein Blick auf die Wetterstation zeigt ihm Sommer, Sonne, schon fast 30 Grad und offenbar recht windig. Er trägt leichte Jeans und ein weinrotes Polohemd, zieht aber noch eine dünne Weste darüber. Irgendwo muss man ja seinen Kram lassen, Geld, Papiere, Schlüssel, Handy. Es gibt nicht viel, was Bruno wirklich hasst, aber Herrenhandtaschen gehören dazu. Bruno geht die zwei Treppen gemächlich hinunter, bloß nicht hetzen bei der Hitze. Frau Krause hat deshalb genügend Zeit, sich in Position zu bringen.

"Gut, dass ich Sie treffe. War ganz schön laut gestern Nacht. Hatten Sie Besuch? Also wenn das so weitergeht mit Ihnen, werde ich mich bei der Hausverwaltung beschweren."

"Also erstens, Guten Morgen, Frau Krause, zweitens, es gibt keine Hausverwaltung, nur eine Eigentümerversammlung. Außer ihrer Wohnung sind alle anderen von den Besitzern bewohnt, auch meine. Ich bin sozusagen der Eigentümer dieser Wohnung, falls Sie das verstehen. Dann können Sie sich direkt bei mir beschweren, aber bitte nur schriftlich. Darüber hinaus war bei mir gar nichts los, da müssen Sie wohl etwas verwechseln, und überhaupt, bei der Lautstärke ihres Fernsehers können Sie doch sowieso nichts anderes hören. Schönen Tag noch."

Frau Krause hat brabbelnd die Tür geschlossen, hat wohl ihr Tageskontingent an Sozialverhalten verbraucht. Wenn Bruno guter Dinge ist, kann er über diese Meckerziege nur lachen, wenn er aber schlecht gelaunt ist, kann er schon mal ziemlich grob werden, heute so Mittelwert.

Diese blöde Ziege, jedes Mal hat die irgendwas zu sülzen. Die lauert bestimmt schon hinter der Tür, um mich abzufangen. Also wenn mal eine neue Partei zur Wahl antritt, die die Hexenverbrennung wieder einführen will, dann weiß ich, wo ich mein Kreuz mache.

Bruno geht schräg über die Straße zum Supermarkt Ünal. Naja, Supermarkt, sagt man halt so. Eigentlich ist es ein ziemlich kleiner, aber sehr gut sortierter und besonders exklusiver Markt, zumindest was Brunos Geschmack betrifft. Er geht jedenfalls sehr gerne zu Ünal einkaufen. Früher war das nur so eine Art Kiosk, aber seit Ünal den Laden von seinen Eltern übernommen hat, hat er ihn mehr und mehr erweitert. Jetzt setzt sich seine Kundschaft nicht wie am Anfang nur aus türkischen Landsleuten zusammen. Jetzt kaufen hier alle, von der Arztgattin bis zum urdeutschen Rentner, sieht man ja an Bruno. Er schätzt Ünal auch deshalb, weil der sich mit seinen Kunden sehr intensiv beschäftigt und immer versucht, deren Wünsche zu erfüllen. Deshalb wird bei ihm auch kaum etwas weggeworfen, wie bei den Supermarktketten, deren Müllcontainer jeden Abend schier überlaufen. Für Bruno ist klar, das hat er bei seinen Einsätzen als Unternehmensberater in der Industrie unzählige Male erlebt, falsch disponiert ist weggeworfenes Geld, im Falle von Lebensmitteln besonders tragisch. Aber irgendwie müssen die Händler ja wohl zu viel von der falschen Ware eingekauft haben. Das ist eben der Unterschied zu Ünal. Der kauft die Ware ein, die seine Kunden von ihm haben wollen. Kleiner Nachteil, es kann schon mal vorkommen, dass gewisse Dinge nicht oder nicht sofort zu haben sind. Und ein Schälchen frische Erdbeeren im Januar für zwölf Euro braucht eigentlich kein Mensch. Bruno hat nicht nur einmal erlebt, dass allein wegen dem irrwitzigen Preis, den sich keiner leisten kann oder will, die teuren roten Beeren letztlich im Müll landen. Dafür sind sie dann auch noch um die halbe Welt geflogen worden. Andererseits ist er aber ganz sicher, dass dieser Fall in der Kalkulation schon berücksichtigt wurde, das bezahlt jeder Kunde bei seinen anderen Einkäufen mit. Bruno packt nur die Dinge in den Einkaufswagen, die er gerne mag. Er weiß ja nicht, wer eventuell morgen zu Besuch kommt, hat ja keinen eingeladen. Aber zum Geburtstag lädt man ja nicht ein – oder? Als er vor dem Weinregal steht, tippt ihm jemand auf die Schulter.

"Na, Herr Hallstein, brauchst du Beratung?"

"Ach, Ünal, du bist es. Beratung? Naja, wenn du so fragst. Hast du im Weinsortiment etwas Besonders? Ich brauche was Gutes für einen Geburtstag."

Ünal geht zu einer verschlossenen Vitrine und öffnet die Tür mit einem kleinen Schlüssel, den er aus der Hosentasche gezaubert hat.

"Wie wär's denn mit einem Tignanello? Das wär doch ein sehr schönes Geschenk. Da gibt es auch noch so eine Holzkiste dazu."

"Geschenk? Nein, da habe ich mich falsch ausgedrückt. Ich brauche was zum Anbieten, verstehst du? Da sind mir siebzig Euro pro Flasche ein bisschen viel."

"Ach so, dann hast du Geburtstag. Ich dachte, du suchst ein Geschenk. Schau mal da um die Ecke. Da steht das Angebot der Woche, ein sehr schöner spritziger Riesling von der Mosel. Ist doch gerade bei dem Wetter passend, wenn er gut gekühlt ist. Den kannst du auch gut gespritzt trinken."

Bruno geht zu dem Stapel mit den weißen Pappkartons und studiert das Etikett. Koblenz-Güls an der Mosel, Gülser Königsfels, kennt er sogar, da war er schon auf einem Weinfest. Er packt einen Sechserkarton zu den anderen Sachen in seinen Wagen und marschiert dann zur Kasse. Ünals Schwester sitzt dort und lächelt ihn freundlich an, ganz wie es ihr Name verspricht.

"Hallo, Güler, kann ich den Wein hier noch stehen lassen? Bin ja zu Fuß hier, ich hole ihn nachher ab. Ich bezahle ihn aber gleich mit."

"Klar, stellen Sie ihn dort an die Seite. Wir können den Wein auch anliefern. Wir haben seit letzter Woche einen Praktikanten, dem sage ich Bescheid."

"Na, das wäre ja Spitze! Vielen Dank."

Bruno stopft seine Einkäufe in seinen mitgebrachten Kultbeutel aus DEDERON, den er vor Jahren von seiner Schwester geschenkt bekam, eigentlich mehr so als Gag, den er aber seitdem nicht missen will, und den er immer dabei hat, wenn er einkaufen geht. Sein Beutel ist noch ein Original DDR-Produkt, braun beiges Karomuster, und keiner von den inzwischen neu geschöpften Exemplaren, die allerdings mit ihrem poppigen Design auch ein großer Verkaufserfolg sind. War sozusagen doch nicht alles schlecht …

Bruno hat seine Wohnung erreicht, diesmal ohne Frau-Krause-Intermezzo. Allerdings stellt er fest, dass die zwei Stockwerke immer mehr zur Belastungsprobe für seine Kondition werden. Muss wohl auch am Wetter liegen.

Naja, in Ausreden war ich ja noch nie verlegen. Müsste unbedingt mal was für meine körperliche Verfassung tun. Ab morgen werde ich jeden Tag mindestens eine Stunde spazieren gehen, am besten noch vor dem Frühstück, dann habe ich die Wampe nicht so voll. Vielleicht sollte ich mir auch mal diese Nordic-Walking-Stöcke besorgen und dann mit einem kernigen Klickklack die Straßen entlangfegen. Gute Idee, dann kaufe ich mir gleich noch die passende figurbetonte Sportkleidung dazu, am besten in neongelb, und beglücke die Tegeler Bürger mit meinem Anblick. Bei meiner Figur wäre wahrscheinlich neonbraun angebrachter.

Bruno packt seine Sachen aus und verstaut sie im Kühlschrank. Er hat den DDR-Beutel gerade wieder kunstvoll zusammengerollt und an seinen Stammplatz im Flur gelegt, da klopft jemand an die Wohnungstür. Bruno öffnet etwas verwundert und erkennt aber sogleich, warum der Besucher nicht die Klingel benutzt hat. Vor ihm steht ein junger Bursche, vielleicht vierzehn oder fünfzehn, der mit beiden Händen einen weißen Pappkarton und oben drauf eine kleinere Holzkiste balanciert.

"Das soll ich hier abgeben und schönen Gruß von Ünal."

Bruno nimmt erst mal die Holzkiste von dem Weinkarton herunter und bittet den Jungen dann hereinzukommen.

"Stell den Karton einfach da auf den Küchentisch. Vielen Dank für 's Hochtragen. Warte mal, ich habe noch was für dich."

Bruno kramt aus seinem Portmonee einen Fünfeuroschein und drückt ihn dem Jungen in die Hand. Augenblicklich erstrahlt ein freudiges Lächeln und zeigt blendend weiße Zähne. Er stammelt ein Dankeschön und hört wahrscheinlich gar nicht mehr richtig zu.

"Sag dem Ünal herzlichen Dank von mir. Ich habe mich sehr gefreut."

Bruno kann hören, wie der Junge die Treppenstufen hinunterspringt, immer zwei auf einmal. Dann schließt er die Wohnungstür und bekommt nicht mehr mit, wie eine keifende Frau Krause einen gutgelaunten Jungen zur Sau macht. Der Junge wehrt sich, indem er ohne sich umzudrehen blitzschnell das Haus verlässt, sozusagen Deeskalationsstrategie. Frau Krause empfindet das anhaltende Lächeln dieses ungehobelten minderjährigen Störenfrieds als Provokation ihrer Autorität und steckt damit schon die zweite Niederlage an diesem Tag ein. Dabei ist es gerade mal Mittag.

Bruno ahnt zwar, was in der Holzkiste steckt, muss aber doch nachschauen, sicherheitshalber. Er ist übervorsichtig, wäre ja ein Jammer, wenn die Flasche Tignanello zu Bruch ginge. Einen so teuren Wein hat er noch nie besessen, geschweige denn getrunken. Sofort grübelt er über zwei Dinge nach. Wo bewahrt man eine solch wertvolle Flasche Wein am besten auf und zu welchem Anlass öffnet man diese?

Auf beide Fragen fallen ihm spontan keine Antworten ein und so legt er die Flasche zunächst einmal wieder in die mit Holzwolle gepolsterte Kiste zurück. Die landet dann in einer der unteren Schubladen seines Wohnzimmerschranks.

So, da liegst du erst mal sicher. Vielleicht ist das der Beginn einer wunderbaren Sammelleidenschaft für hochwertige Rotweine. Dann müsste ich mir ein Weinregal zulegen, oder noch besser, einen temperierten Weinschrank. Weiß nur nicht wann und mit welchen Mitteln ich diese Sammlung erweitern soll. Ich sage allen Bescheid, falls sie mir mal was schenken wollen…

Bruno checkt nochmal kurz die Versorgungslage für den eventuell morgen über ihn hereinbrechenden Gästeansturm. Dabei stellt er fest, dass er wahrscheinlich viel zu viel eingekauft hat. Können ja maximal zwei Leute kommen, Karla und Anette, vielleicht noch Harry, falls er frei bekommt. Dann könnte er sich eigentlich jetzt einen kleinen Imbiss zusammenstellen, bis zum Abend ist ja doch noch ewig lang hin. Nach einigen Minuten hat er sich eine Jause mit Salami, etwas Schinken und zur Abrundung einer dicken Scheibe Käse zusammengestellt. Kurz, aber wirklich nur ganz kurz, reizt ihn der Gedanke, den eben verstauten Rotwein zu öffnen, würde sicher gut passen, aber die Sammlung! So gibt es eben ein Glas Wasser, ist ja auch viel besser bei dieser Mittagshitze, sicher über dreißig Grad.

Nach seiner kulinarischen Unterbrechung fühlt er sich pudelwohl, merkt förmlich, wie die Stimmung steigt, auch getragen durch die Vorfreude auf den gemeinsamen Abend mit Karla, natürlich auch auf das Essen bei Harry. Da muss er überhaupt noch einen Tisch bestellen, sicher ist sicher. Sein Freund Harry ist unterwegs aber Sylvia Schön, Harrys Partnerin, ist am Apparat und nimmt die Tischreservierung an.

"Ihr könnt doch am Stammtisch sitzen, dann kommt Harry sicher dazu und je nach Betrieb könnte ich mich vielleicht auch ab und an dazusetzen. Oder wollt ihr alleine sein?"

"Wie? Nein, wie kommst du denn darauf? Ich wollte mit der Reservierung nur auf Nummer Sicher gehen, bei meinem Glück wäre der Laden heute Abend brechend voll, einschließlich Stammtisch."

"Ach was, wir wissen doch, dass du kommst, hast du doch neulich schon gesagt …"

Bruno stellt das Telefon gar nicht erst in die Ladestation, sondern ruft direkt Karla an.

"Hallo, ich bin es. Ich wollte dich nur fragen, ob ich dich nachher abholen soll. Dann brauchst du nicht selber fahren. Vielleicht trinken wir ja heute Abend das eine oder andere Glas."

"Warum? Dein Geburtstag ist doch erst morgen."

"Naja, vielleicht wird es ja sehr gemütlich und wir feiern rein und außerdem könntest du ja bei mir …"

"Bei dir übernachten? Hast du sie noch alle?"

"Ich habe schließlich auch ein Gästezimmer, falls du nicht mit mir …"

"Na Gott sei Dank, und ich habe schon gedacht, du würdest mit mir ins Bett gehen wollen. Schließlich sind wir erst seit zwei Jahren verlobt, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, und wir sind ja noch soo jung und haben noch alle Zeit der Welt. Meine Mutter hat immer gesagt, ich solle nichts überstürzen, gerade mit Männern nicht. Aber eigentlich ist sie schon lange tot und würde es ja nicht sehen, hmm …"

Karla scheint ja gut drauf zu sein, immer, wenn sie ihn derartig verkohlt. Sie weiß ganz genau, es gibt da so Knöpfe bei Bruno, wenn man daran dreht, kann es ganz schnell passieren, dass er die Fassung verliert. Das macht sie allzu gerne und Bruno, sonst nicht gerade auf den Mund gefallen, kann meist nicht kontern. Aber so geht es Männern, die immer und überall anständig und korrekt sein wollen, gerade auch im Umgang mit Frauen. Brunos Stimmung hat einen kleinen Dämpfer erhalten, was jetzt aber nicht so direkt die Schuld von Karlas Verarsche ist. Vielmehr ist es sein Unvermögen, seine wahren Gedanken zu kommunizieren, also wenn es um solche Themen geht. Wenn Bruno mit einer Frau zusammen ist, hat die schon die ersten drei Runden gewonnen, nur weil sie Frau ist, und Bruno hat auch schon oft genug durch KO verloren, keine Frage. Jetzt geht er doch noch einmal in sein Schlafzimmer und kontrolliert den Zustand etwas genauer. Prompt entdeckt er noch einige Staubfäden an der Decke über den Heizkörpern und an der Lampe, also noch einmal die Höllenmaschine anwerfen und den saugenden Rüssel an die entsprechenden Stellen halten, frische Bettwäsche kommt auch zum Einsatz. Dann stellt er das Fenster auf Kipp, frische Luft, und schließt die Zimmertür.

So, jetzt ist aber wirklich alles erledigt. Im Prinzip könnten jetzt alle kommen. Irgendwie bin ich doch etwas aufgeregt, und das in meinem Alter. Aber wie heißt es so schön? Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an … Na, da bin ich aber mal gespannt.

Bruno wirft einen Blick in den Kühlschrank und nimmt die angefangene Weißweinflasche heraus. Gerade noch ein Glas drin. Dann macht er es sich auf seinem Lieblingssessel bequem und blättert zum x-ten Male in dem Fotokatalog herum, der seit mindestens drei Wochen auf dem Tisch liegt. Immer wieder bleibt er an der gleichen Kamera hängen, dabei kennt er die Technischen Daten und den Funktionsumfang inzwischen in- und auswendig.

Bruno muss eingenickt sein, jedenfalls haben sich die Zeiger auf der Uhr fleißig gedreht, quasi Zeitraffer. Bruno geht in die Küche und startet die Kaffeemaschine, ein doppelter Espresso ist jetzt genau das Richtige. Dann geht er ins Bad, um sich etwas frisch zu machen und wie geplant kommt der Rasierer zu seinem Einsatz. Zum Schluss noch eine ordentliche Portion Aftershave, sozusagen Superfinish. Er muss ja nachher seine Karla begrüßen und Sylvia natürlich auch. Bruno fühlt sich prächtig. Er geht den Weg zur 'Alten Mühle' zu Fuß, das macht er eigentlich immer. Meistens geht er immer die gleichen alten Straßen entlang, die er schon seit seiner Kindheit kennt, Brunowstraße, die Berliner Straße überqueren, dann rechts rein in die Treskowstraße, wo sich seine alte Franz-Marc-Schule in den Ferien langweilt, dann Schulstraße, rechts ab Medebacher Weg bis Alt-Tegel und dann nach links runter zum Tegeler See. Kurz vor der Wilkestraße hat er dann die 'Alte Mühle' erreicht. Karla steht schon vor der Tür, wartet wohl auf ihn. Sie trägt ein ärmelloses knallrotes Kleid, das zu ihrem sommerbraunen Körper einen sehenswerten Kontrast herstellt, sozusagen Hingucker. Über die Schulter hat sie eine dünne weiße Strickjacke gelegt. Das dunkelblonde Haar hat sie lose zu einem offenen Zopf zusammengebunden. Hellrote Lippen lächeln Bruno an und der fühlt sich eingeladen zu einer zärtlichen Umarmung und dem schon insgeheim geplanten Kuss.

"Na du gehst ja ran, da bleibt mir ja der Atem weg."

"Grüß dich, Karla, du siehst fantastisch aus. Ist das Kleid neu? Wie bist du da reingekommen?"

"Spinner, das habe ich bestimmt schon zwei Jahre und du hast es mindestens schon drei, vier Mal an mir bewundern dürfen. Da kommt man übrigens ganz leicht rein, Reißverschluss, you know?"

Ich weiß, Reißverschluss, da kommt man dann auch ganz leicht wieder raus …

"Hast du schon lange gewartet?"

"Nein, ich wäre auch schon reingegangen aber ich habe dich kommen sehen und bin deshalb noch stehen geblieben. Du riechst gut, neues Rasierwasser?"

"Ach was, das benutze ich schon länger als du dein rotes Kleid besitzt. Aber ich rasiere mich ja nicht jeden Tag. Wo sind denn meine Geschenke? Hast du die noch im Auto?"

Karla zieht in unnachahmlicher Weise die rechte Augenbraue hoch, diese Antwort muss reichen, das kennt Bruno schon. Dann betreten sie das Restaurant oder die Kneipe, ganz wie man will. Sylvia mit ihrer langen weinroten Bistro-Schürze kommt direkt auf die Beiden zu. Auch bei ihr verfehlt Brunos Duftwolke ihre Wirkung nicht. Das gibt ihm die Gelegenheit, ausgiebig zu testen, welche der beiden Frauen sich besser anfühlt, schwer zu entscheiden.

"Schön, euch mal beide zusammen bei uns zu sehen, kommt ja leider nicht allzu oft vor."

"Na komm, wir waren doch schon so oft zusammen hier."

Karla bekommt einen leichten Reizhusten, muss an der warmen Luft liegen oder an Brunos Wahrheitsliebe. Am Stammtisch hat es sich Harry schon bequem gemacht. Er liest in einem Taschenbuch, das er aber gleich zur Seite legt, als er Karla und Bruno kommen sieht. Er steht auf und kommt hinter dem Tisch hervor, nur so kann er Karla angemessen begrüßen. Er geniert sich auch nicht, obwohl Bruno etwas sparsam aus der Wäsche guckt, aber jetzt sind sie wenigstens quitt. Die Begrüßung der Männer fällt etwas weniger intim aus, mehr so kernig cooles Zusammenklatschen der Hände, wie es normalerweise Siebzehnjährige tun. Da muss man zum besseren Verständnis wissen, dieses Ritual praktizieren sie tatsächlich seit ihrem siebzehnten Lebensjahr, vielleicht noch länger. Da kann man mal wieder sehen, dass sich so manche Angewohnheit aus der Jugend bis ins hohe Alter hält.

"Na, mein Freund, was liest du denn da schönes?"

"So schön ist das gar nicht, guck mal, allein schon der Titel, der sagt eigentlich alles. Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend."

"Oh ja, da habe ich schon von gehört. Der Typ war auch mal in irgendeiner Talkshow. Wirklich krass, musst du mir mal leihen, wenn du es aushast."

"Das überlege dir aber noch einmal, da fließt dann nämlich reichlich Wasser auf die Mühlen deiner Kirchenverachtung."

Die drei haben Platz genommen und Sylvia steht mit einem Tablett mit vier Sektgläsern am Tisch. Harry verteilt die Gläser und erhebt als erster seines, um eine Rede anzudeuten. Rede ist jetzt übertrieben, obwohl für Harry eigentlich sogar ziemlich lange Rede.

"Gratulieren darf man ja noch nicht aber einen wunderschönen Abend wünschen. Das ist ein sehr schöner Rosé Sekt, der perfekte Start. Danach wird serviert. Wir beginnen mit einer leichten Tomatenconsommé, danach folgt ein kleiner Teller Melone und Schinken. Im Hauptgang gibt es gegrillten Wolfsbarsch und wer dann noch Lust hat, kann wählen zwischen einer kleinen Käseauswahl oder hausgemachtem Zitronenparfait. Das Ganze geht auf Kosten des Hauses und ist sozusagen unser Geburtstagsgeschenk, Bruno, Prost."

Gut drei Stunden später sitzen zwei Frauen und zwei Männer mit zufriedenen und leicht erhitzen Gesichtern am Tisch, nachdem sie ein vorzügliches Menü genossen haben. Inzwischen ist auch die dritte Flasche Südtiroler Weißburgunder leer. Sylvia und Karla unterhalten sich die ganze Zeit, natürlich über die Stärken und Schwächen der Männer. Harry und Bruno unterhalten sich auch, über das schöne Essen und den leckeren Wein.

"Seit Sylvia ihren Sohn mit hierher gebracht hat, ist eure Küche wirklich auf einem ganz hohen Niveau. Hut ab!"

"Ja, da sagst du was. Seit Luca bei uns kocht, hat sich vieles verändert, übrigens auch unser Publikum. Also als ich noch in der Küche gestanden habe, gab es solche Sachen wie Wolfsbarsch nicht. Da hätte ich mich nicht ran getraut, eher so Matjes mit Bratkartoffeln. Überhaupt Bratkartoffeln, wenn wir die auf der Karte haben, kommt es schon öfter vor, dass ich die mache. Da kann ich es sogar mit unserem halbitalienischen Starkoch aufnehmen."

"Naja, nun stell mal dein Licht nicht unter den Scheffel. Deine Küche war eben anders aber genauso gut."

"Blöde Redensart. Weißt du eigentlich woher die kommt? Scheffel, was das ist?"

"Na hör mal! Dem Ingenieur ist nichts zu schwör. Scheffel ist ein altes Hohlmaß für Getreide, glaube ich."

"Gut, aber die Redensart, da müsstest du nämlich mal in die Bibel schauen, da findest du solche Sprüche, aber da guckst du ja nie rein. So sinngemäß, man stellt ja auch kein Licht unter einen Scheffel oder einen Tisch, sondern auf einen Leuchter, um das Haus zu erhellen. Also, lass dein Licht leuchten."

"Na sag ich doch, auch ohne Bibel. Aber bei Bibel fällt mir ein, ich muss morgen früh raus. Kriege Besuch und da muss ich noch einiges erledigen."

"Aber Bruno, jetzt wirst du albern. Ich meine die zehn Minuten wirst du wohl noch aushalten. Außerdem, wir sind doch dein Besuch, wir kommen doch nicht zum Frühstück."

Bruno versucht den Lässigen zu spielen, den Coolen, dem sein Geburtstag völlig egal und dem Zeremonien sowieso zuwider sind. Aber obwohl er eigentlich ein ganz guter Schauspieler ist, diese Rolle hier und jetzt überzeugt nicht. Womöglich liegt es auch daran, dass Karla inzwischen aus ihrer Handtasche ein kleines viereckiges Päckchen herausgeholt hat, blauglänzendes Papier mit einer Schleife aus weißem Satinband, eindeutig Geschenk. Da ist Brunos Neugier natürlich erwacht, trotz der späten Stunde.

"Na gut, das ziehen wir jetzt noch durch aber dann ist Schluss, ich bin hundemüde."

Bruno hat schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass seine Feinmotorik nicht mehr diese Präzision früherer Jahre hat. Das macht sich besonders beim Öffnen von Verpackungen bemerkbar. Was hat er schon für nervenaufreibende Momente erlebt. Erst neulich wieder, eine neue Speicherkarte musste her, eine sogenannte SD-Karte. Also Ladendiebstahl hin oder her, warum aber alle Käufer von solchen Speicherkarten nun gezwungen werden, eine im Vergleich zum Inhalt ungefähr fünfzig Mal so große Blisterverpackung öffnen zu müssen, das wissen die Götter. Scheinbar gibt es aber keine Verpackungsgötter und falls doch, meinen sie es nicht gut mit den Menschen. Bruno hat sich schon lange angewöhnt, um die Verletzungsgefahr zu reduzieren, solche Verpackungen nur noch mit geeignetem Werkzeug zu öffnen. Nur hat er das jetzt natürlich nicht dabei. Aber es ist ja auch keine Blisterverpackung, nur eine in Geschenkpapier eingewickelte Pappschachtel, die mit Klebeband und einer Schleife gesichert ist. Allerdings, Klebeband war wohl gerade im Angebot. Sylvia erbarmt sich seiner und holt eine Schere vom Tresen. Schon geht es besser. Obwohl ihm sechs Augen auf die Finger schauen, Brunos Operation gelingt. Schon beim Anblick der kleinen dunkelblauen Pappschachtel beginnt er zu ahnen, dass es sich wohl tatsächlich um einen Ohrring handeln könnte.

Scheiße, war doch nur ein Witz. Jetzt muss ich mir tatsächlich ein Loch ins Ohrläppchen schießen lassen? Auf gar keinen Fall! Hier endet die Freundschaft …

Der Ohrring ist zwar ein Ring aber nicht für Brunos Ohr, sondern für seinen Finger und da muss auch kein Loch gebohrt werden, einfach aufstecken. Bruno lächelt, streckt den linken Arm aus und hält die Hand hoch. Er hätte nicht gedacht, dass er jemals einen Ring tragen würde, schon gar nicht so einen. Früher, noch als Kind, trug er ab und zu Ringe, Plastiktotenkopf mit giftig glänzendem Metallüberzug, natürlich Kaugummiautomat. Aber der hier, alter Schwede, da hat sich Karla aber richtig angestrengt.

"Gefällt er dir? Schau her, ist genau der gleiche wie der, den du mir vor zwei Jahren von der Ostsee mitgebracht hast. Nur, dass meiner noch den kleinen Stein hat, das fand ich aber für einen Herrenring unpassend. Jetzt sind wir schon seit zwei Jahren verlobt und endlich können es alle sehen."

Bruno ist tatsächlich etwas gerührt, kann aber auch an der alkoholischen Nebenwirkung liegen, dann wird er oft mal melancholisch. Er beugt sich zu Karla rüber und flüstert ihr ein Herzliches Dankeschön ins Ohr. Dann noch einmal ein Blick auf seinen beringten Finger und endlich ist es Mitternacht, Bruno hat Geburtstag. Jetzt gerade berührt es ihn noch nicht, aber die Momente werden kommen, wieder ein Jahr vorüber. Vorüber im Sinne von vorbei, vergangen, nichts mehr zu retten, kann man nicht mehr eingreifen, rückwirkend. Die Vier stoßen noch einmal an und Bruno lässt die Gratulationszeremonie tapfer über sich ergehen. Immerhin Gelegenheit, noch einmal ungestraft den engen Körperkontakt mit Sylvia zu spüren.

Draußen ist es angenehm kühl im Vergleich zu den Tagestemperaturen. Man kann richtig durchatmen. Karla hat ihre Strickjacke übergezogen und sich bei Bruno eingehängt. Die Straßen sind menschenleer und es herrscht eine Stille, wie sie nur die Nacht erzeugen kann. Umso lauter hallen Karlas Schritte durch die Dunkelheit. Beim Überqueren der Berliner Straße müssen sie aber doch aufpassen, einige wenige Autos sind noch unterwegs und an dem Taxistand warten zwei Fahrzeuge mit laufendem Motor, wohl wegen der Klimaanlage. Die Menschen werden eben nicht gescheit, müssen immer und überall auch die fragwürdigsten Errungenschaften benutzen.

Technischer Fortschritt, dass ich nicht lache. Die Idioten könnten bei der Temperatur doch auch mal die Fenster öffnen. Sind doch nicht mal 20 Grad.

Bruno fingert sein Schlüsselbund aus der Jackentasche und schließt die Haustür auf. Um die Zeit wird wohl Frau Krause nicht mehr hinter der Tür lauern. Aber als sie die Tür des Hausdrachens passieren, können sie deutlich den lauten Fernseher hören, wahrscheinlich ist die gute Frau vor ihrer Kiste eingeschlafen. Nur gut, dass Bruno zwei Treppen höher wohnt. Da hört er davon nichts. Irgendwie ist das Zeitrelais für die Treppenbeleuchtung falsch eingestellt oder sie sind mit ihrer Bettschwere belastet einfach zu langsam. Jedenfalls schaffen sie es nicht bis zur Wohnungstür, schlagartig stockdunkel. Zum Glück ist der Lichtschalter mit einem Leuchtknopf ausgestattet und Bruno hat kein Problem dort hinüberzugehen, um das Licht noch einmal einzuschalten. Wobei kein Problem nicht ganz richtig. Wenn da nicht dieser Widerstand wäre, dieses Hindernis, das in der Dunkelheit eine nicht vorherzusehende, gefährliche Falle darstellt. Bruno gerät ins Straucheln und kann sich gerade noch so an der Wand abfangen. Seine Hand landet mehr durch Zufall auf dem Lichtschalter und dadurch kann man sie sehen. Eine zusammengekrümmt am Boden hockende Frau, Alter schwer zu schätzen. Sie hat es sich offenbar mit ihrem riesigen Rucksack so gemütlich wie möglich gemacht.

"Scheiße, hab ich mich erschrocken! Was machen Sie denn da? Wollen Sie zu Möllers oder wollen Sie hier übernachten?"

Brunos Lautstärke soll wohl ein wenig seinen Schrecken überspielen. Auf der Etage wohnen nur er und ein älteres Ehepaar, das aber die Hälfte des Jahres bei seinen Kindern in Spanien verbringt. Karla ist auch der Schreck in die Glieder gefahren und sie hat schon ihr Handy in der Hand.

"Soll ich die Polizei anrufen? Guck dir mal an, wie die aussieht."

"Moment, darf ich auch mal was sagen?"

Die Frau kommt geschmeidig auf die Beine und jetzt kann man sehen, dass sie noch recht jung ist, Bruno schätzt sie auf dreißig, vielleicht etwas darüber. Sie trägt Jeans und ein buntes T-Shirt. Ihre lockigen blonden Haare hat sie mit einem schwarzen Tuch gebändigt, das sie wie eine Indianerin um die Stirn gebunden hat. Sie ist ungeschminkt und auch nicht besonders hübsch, hat aber etwas, das Bruno sofort fasziniert, besonders ihre hellblauen Augen. Diesen hypnotischen Blick muss man erst mal aushalten können, nicht ganz easy.

"Mein Name ist Konny Kramer. Ich weiß, ziemlich blöder Name aber meine Mutter mochte wohl diesen Schlager damals, und da Kramer nun mal vorgegeben war, hat sie Konny als Vornamen gewählt, aber Konny mit K. Ich bin ja auch kein Junge, wie der Conny, der in dem Lied verstorben war."

"Es ist auch kein Schlager und hat im Original nichts mit einem Drogentoten zu tun, sondern ist ein Song über den amerikanischen Bürgerkrieg."

"Ach was weiß ich, ist mir auch egal. Sag mal, können wir nicht reingehen. Ich muss dir was zeigen."

Das kann er ja gerade so leiden, diese plump vertrauliche Art von Menschen, die man gar nicht kennt. Bruno sucht den Blickkontakt zu Karla. Die signalisiert etwas zwischen Bist-du-bekloppt-? und Besser-als-hier-draußen-stehen.

"Also gut, zehn Minuten, dann zischen Sie wieder ab."

Bruno macht keine Anstalten, der fremden Frau einen Platz anzubieten. Die hat ihren 40-Liter Rucksack auf einen Sessel gewuchtet und fängt an, in den diversen Reisverschlusstaschen herumzukramen. Bruno beobachtet sie dabei und stellt fest, dass man für ihre Figur diese engen Jeans erfinden müsste, wenn es sie nicht schon gäbe. Konny Kramer legt einen großen gelben Briefumschlag auf den Tisch, nebst einer Zigarettenschachtel und einem Feuerzeug.

"Hier drinnen wird nicht geraucht. Und kommen Sie endlich zur Sache. Von den zehn Minuten sind drei schon rum."

Die hellblauen Wasseraugen schauen Bruno böse an. Sie greift nach dem Briefumschlag und reicht ihn zu ihm hinüber.

"Da, Papa, da steht alles drin. Regina Kramer, klingelt 's?"

Bruno ist kurz versucht, sich einen vierfachen Cognac einzuschenken. Aber er bemüht sich, die Fassung zu bewahren. Regina Kramer, wer soll das sein? Er zieht einige Papiere aus dem Umschlag und blättert darin herum. Geburtsurkunde, 13.04.1979, Konny Kramer, Mutter Regina Kramer, Vater nicht angegeben, Bezirksamt Wilmersdorf …

"Regina Kramer? Es stimmt, ich kannte mal eine Regina Kramer, aber das war nur ganz kurz, keine feste Beziehung, keine große Liebe, da kann ja jeder kommen. Was soll das? Ich habe doch keine Tochter, da hätte sich Regina doch bei mir gemeldet oder nicht?"

Karla hat sich inzwischen gesetzt. Die rechte Augenbraue ist auch wieder erwacht.

"Guck dir alles an, da ist noch mehr."

Bruno betrachtet ein paar alte Fotos, klarer Fall, das ist er. Das ist auch Regina. Deren Existenz hat er völlig vergessen. Die hatte er überhaupt nicht mehr auf dem Zettel. Aber so sah sie aus, blonde Locken, sportliche Figur, also Mutter und Tochter, das geht in Ordnung.

Aber ich der Vater? Und warum hat sie mich nicht als Vater angegeben? Vielleicht wären wir ja zusammengeblieben, hätten vielleicht sogar geheiratet, eine richtige Familie. Was ist das denn da noch? Ein alter Brief …

"Lies vor."

Dresden, den 25. Mai 2004

Liebe Konny,

ich weiß, dass du nicht gut auf mich zu sprechen bist und ich habe es auch inzwischen akzeptiert, dass du einen eigenen Weg ohne mich finden willst. Da aber durch deine Abwendung die Gefahr besteht, dass wir uns nie mehr sehen und miteinander sprechen werden, möchte ich dir wenigstens eine der vielen offenen Fragen beantworten, die unsere Beziehung über die ganzen Jahre belastet haben, die Frage nach deinem Vater. Es stimmt nicht, dass ich es nicht mit Sicherheit sagen könnte, wer denn dein Erzeuger war. Das war eine Lüge, eine Notlüge. Wahr ist, ich weiß es ganz genau. Ich habe ihn aber nach unserer (einzigen!) gemeinsamen Nacht aus meinem Leben ausgeblendet. Es war auch keine Liebe, nur Sex. Ich habe ihn nicht geliebt und er mich wahrscheinlich auch nicht. Wochen später erhielt ich die Bestätigung, dass ich schwanger bin, aber da waren wir schon nicht mehr zusammen. Ich habe damals lange überlegt, ob ich das Kind, also dich, überhaupt austrage. Aber erstens war es in der damaligen Zeit nicht so ganz einfach abzutreiben, und zweitens spürte ich in mir eine gewisse Freude. Das war ja genau das, was ich immer wollte, ein Kind. Von wem, war mir in dem Moment eigentlich egal. Ich würde schon allein zurechtkommen, allein mit meinem Kind. Was ich nicht beachtet habe, war deine Persönlichkeit. Ich war egoistisch und wollte nicht, dass du deinen Vater kennenlernst. Ich wollte dich nicht mit jemand teilen, wollte dich ganz allein besitzen. Deshalb die Lüge, deshalb die Ausrede, ich hätte zu der Zeit mehrere Beziehungen zu Männern gehabt und wüsste nicht, wer es hätte sein können. Bitte entschuldige, ich liebe dich und wünsche mir nichts mehr, als dass du mir verzeihen kannst. Dein Vater heißt Bruno Hallstein und lebt in Berlin, wahrscheinlich in Tegel. Genaueres weiß ich nicht, außer dass er Maschinenbau studiert hat und gerade dabei war, sich selbstständig zu machen. Ich glaube, er ist Ende der 1940er Jahre geboren. Er war jedenfalls ungefähr zehn Jahre älter als ich. Anbei findest du die einzigen Fotos von ihm, die ich noch habe. Wenn du ihn gefunden hast, sei behutsam, er weiß ja nichts von dir.

In Liebe,

Deine Mama

Bruno lässt die Arme sinken und sucht den Blickkontakt zu Karla, sucht Hilfe, Unterstützung, dafür sind sie doch verlobt. Karla schaut aber unverwandt zu der fremden Frau, die soeben als bisher nicht existierende Tochter Bruno Hallsteins vom Himmel gefallen ist. Paff!

"Und was ist nun? Was willst du von mir? Warum bist du hergekommen? Ich kenne dich nicht. Kann doch nicht sein, dass ich auf einmal so ratzfatz eine Vaterrolle spielen soll. Ich kann das nicht, jedenfalls nicht so schnell."

"Musst du auch nicht. Ich bin nur auf der Durchreise in Berlin und habe Pech gehabt. Mir haben sie am Hauptbahnhof meine Brieftasche geklaut. Jetzt stehe ich ohne Papiere da, Ausweis, Fahrkarte, alles futsch. Was sollte ich in der Situation tun? Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte. Du siehst ja, der Brief ist schon älter. Wenn ich was von dir gewollte hätte, hätte ich mich ja schon früher melden können. Mir fällt es doch auch nicht leicht."

Bruno geht hinaus in die Küche, um sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Der kleine Schwips von der Geburtstagsfeier ist wie weggeblasen.

"Wollt ihr auch was trinken?"

Karla schweigt, keine Antwort. Konny Kramer möchte auch ein Bier. Bruno kommt mit den geöffneten Flaschen wieder herein und will Gläser aus dem Schrank holen.

"Für mich nicht, ich trinke aus der Flasche."

Die Frau, die Brunos Tochter sein soll, trinkt nicht zum ersten Mal aus der Flasche, da hat er einen Blick für. Er selber bleibt beim Glas, eigentlich nur wegen Karla. Wenn er allein ist, nuckelt er meistens auch aus der Pulle.

"Kannst du mir erklären, weshalb du diese ganzen Unterlagen dabei hast? Sieht für mich danach aus, als ob du von vornherein vorhattest, mich zu besuchen. Sonst schleppt man doch sowas nicht immer mit sich rum."

"Nein, natürlich nicht. Aber das ist ein Zufall. Es ist so, dass ich in der Tat schon seit einigen Jahren vorhatte, dich aufzusuchen. Das begann kurz nachdem Mama mir den Brief geschickt hat. Ich bin ja kurz danach von Berlin weg und hatte so ganz allein noch nicht den richtigen Halt in meiner neuen Umgebung gefunden. Ich glaubte damals, dass eine Beziehung zu meinem leiblichen Vater mir vielleicht helfen würde. Ich habe alles in den Rucksack gepackt, habe mich ins Auto gesetzt und bin losgefahren. Deine Adresse hatte ich mithilfe des Internets schnell herausgefunden. Es gab nur ein Ingenieurbüro mit deinem Namen und dann noch in Tegel. Je mehr ich mich dem Ziel näherte, desto mulmiger wurde mir. Die Zweifel wuchsen mit jedem Kilometer. Ich malte mir schließlich aus, dass du nichts von mir würdest wissen wollen, und dass mein Zustand sich dadurch noch verschlimmern würde. Kurz vor Leipzig machte ich eine Kaffeepause und dabei fasste ich den Entschluss umzukehren. Es dauerte dann auch nicht mehr lange und ich fühlte mich in meiner neuen Umgebung immer wohler. Ich gewann Freunde und ich war endlich zu Hause und erwachsen. Ich brauchte weder Mama noch den unbekannten Vater. Ich habe damals diesen Umschlag mit den Papieren und den Fotos im Rucksack vergessen und war darüber sehr froh nach meinem Malheur auf dem Bahnhof. Ich habe ja den Rucksack durchwühlt, um zu sehen, was die Idioten mir eventuell noch alles geklaut haben. Dabei habe ich den Umschlag mit dem ganzen Kram wiederentdeckt. Erst dadurch bin ich auf die Idee gekommen, dich aufzusuchen. Ohne die Sachen hätte ich mich auch gar nicht hierher getraut."

"Und, was stellst du dir jetzt vor? Willst du hier bei mir wohnen? Brauchst du Geld?"

"Na, vielleicht wenigstens für eine Nacht. Ich muss dann morgen alles organisieren, Ausweis, Bankkarte, Kreditkarte. Da muss ich wahrscheinlich viel telefonieren und zur Polizei oder Ordnungsamt. Ich weiß nicht mehr, wie das in Berlin geht."

"Auf jeden Fall nicht sehr schnell. Bis du neue Papiere bekommst, kann es Wochen dauern. Hast du denn deine Bankkarten schon sperren lassen? Sonst räumen sie dir noch das Konto leer."

"Jaja, das war natürlich das Erste, da hat mich die Polizei drauf hingewiesen. Zum Glück haben die Diebe mir mein Handy gelassen, darauf habe ich diese Notrufnummern gespeichert. Ich wusste nur nicht, an wen ich mich sonst noch hätte wenden können. Meine Freunde zuhause können mir hier nicht helfen, zu meiner Mutter habe ich den Kontakt abgebrochen, außerdem ist die nicht mehr in Berlin und meine alte Schulfreundin ist gerade in den USA, ist ein bisschen blöd im Moment. Sonst wäre ich auch nicht gekommen, kannst du glauben. Auf der Parkbank zu übernachten, habe ich mich nun doch nicht getraut. Ich lebe jetzt auf dem Dorf und bin an die Großstadt nicht mehr gewöhnt."

"Nun gut, für ein, zwei Nächte kannst du ja im Gästezimmer bleiben. Morgen müssen wir dann sehen. Am besten wird es sein, zum Bezirksamt zu fahren. Ich kann dich hinbringen. Deine Geburtsurkunde hast du ja dabei und notfalls müsste ich bezeugen…"

"Du kannst doch nicht bezeugen, dass sie wirklich die ist, die sie vorgibt zu sein."

Karla hat sich erhoben und trinkt einen Schluck aus Brunos Glas.

"Ich meine, bei allem Verständnis, aber die Geschichte kann stimmen oder auch nicht. Vielleicht solltest du einen Gentest machen. Der Brief kann doch gefälscht sein. Steht doch jeden Tag in der Zeitung, dass wildfremde Menschen plötzlich vor der Tür stehen und sich als Enkel, Urenkel und was sonst noch ausgeben."

"Deine Frau hat Recht, also ich weiß ja wer ich bin, aber an deiner Stelle wäre ich vorsichtig. Pass auf, ich mache dir einen Vorschlag. Das Angebot für die Übernachtung nehme ich dankend an. Es wäre auch sehr nett, wenn du mich zu diesem Bezirksamt hinfahren würdest. Ich kenne mich ja nicht aus. Den Rest mache ich ganz alleine. Ich habe auch noch ein paar Euroscheine im Rucksack, mache ich immer so, wenn ich auf Reisen bin. Nicht viel aber für die nächsten Tage wird es reichen. Und ich werde denen Dampf machen. Es gibt doch bestimmt vorläufige Ausweise, die man gleich mitnehmen kann. In Bayern gibt es sowas, die gelten drei Monate. Den endgültigen Ausweis muss ich ja ohnehin in meinem Heimatort beantragen."

"Okay, ich glaube das sollten wir so machen. Komm, ich zeige dir dein Bett. Für mich wird es nämlich höchste Zeit."

Die Tochter, die vom Himmel fiel

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