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REFORMISMUS UND REVISIONISMUS

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Nach zwei Jahrzehnten parlamentarischer Tätigkeit mehrten sich in der SPD die Anzeichen, dass das Verhältnis von politischer Alltagsarbeit und revolutionärem Endziel nicht so einfach zu lösen wäre, wie es Engels in seiner Strategie für einen Weg zum Sozialismus dargestellt hatte. Das Erfurter Programm versuchte diese Spannung dadurch aufzulösen, dass einem marxistischen theoretischen Teil, in dem die Partei auf eine (nicht notwendigerweise) revolutionäre Überwindung des Kapitalismus („Zukunftsprogramm“) festgelegt wurde, ein Katalog von reformistischen „Gegenwartsforderungen“ angefügt wurde, ohne Aussage, wie der Kampf um Gegenwartsforderungen konkret zur Erreichung des Endziels beitragen solle. Dass diese Spannung weiter bestand, zeigt der Umstand, dass sich in einigen Fragen tief ins Grundsätzliche gehende Debatten entwickelten: in der Agrarfrage, zu der Engels in einem längeren Aufsatz in der „Neuen Zeit“ noch einmal ausführlich Stellung nahm,53 und über den Begriff „Staatssozialismus“. Wenn für Bismarck „der Staatssozialismus nur ein Mittel zur noch wirksameren Fesselung des Volkes“ war, so kam es Georg von Vollmar darauf an, „welchen Gebrauch der Staat von dem ihm zustehenden Rechten zu machen habe, d. h. in welchem Sinn und von wem der Staat zu leiten sei.“ Für ihn war kein Zweifel möglich, dass diese Rolle „bei fortschreitender Demokratisierung der Staatsgewalt“ die Sozialdemokraten übernehmen wür den. Deshalb sah er „keinen Grund, den Gedanken des Staatssozialismus an sich mit besonderem Eifer zu bekämpfen.“54

Innerparteiliche Konflikte ähnlicher Art entwickelten sich in Österreich nicht, obwohl Struktur und Forderungskatalog des Hainfelder Programms dem Erfurter Programm ähnlich sind. Anders als in Deutschland war es in Österreich die Gruppe der Radicalen, eine „Bakunistisch-anarchistische“ Strömung, und nicht eine Lassalleanisch-staatssozialistische Richtung, die auf ein marxistisches Programm verpflichtet wurde. Der Unterschied zwischen dem Staatssozialismus und dem marxistischen Sozialismus war in der österreichischen Partei zunächst kaum relevant. Die Versuchung zum Abgleiten in den Reformismus ging in Deutschland von der nun schon Jahrzehnte langen parlamentarischen Arbeit aus. Eine relevante Vertretung im Parlament hatte die österreichische Partei erst seit 1907, bis dahin waren hauptsächlich die Gewerkschaften ein gewisser Nährboden für den Reformismus. Dazu kommt, dass das Nationalitätenproblem die Partei in zunehmendem Maße beschäftigte.

Ein innerparteilicher Konflikt von weit größerer Intensität entwickelte sich in der SPD, als Eduard Bernstein nach dem Tod von Engels seine revisionistischen Thesen in einzelnen Beiträgen, systematisch entfaltet in seinem Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ (1899) veröffentlichte. Anders als die reformistischen Querelen betraf der Bernstein’sche Revisionismus die Kernbereiche der sozialistischen Theorie und der politischen Strategie des Wegs zum Sozialismus. In Frage gestellt war nichts weniger als die „geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“: die unter dem Druck des „Gesetzes des tendenziellen Falls der Profit-rate“ immer weiter fortschreitende Konzentration und Zentralisation des Kapitals, die Eliminierung der besitzenden kleinbürgerlichen und bäuerlichen Gesellschaftsschichten, die zunehmende Ausbeutung und „Verelendung“ der proletarischen Arbeiter, Zunahme der Schärfe der periodischen Wirtschaftskrisen, etc., alle Tendenzen in ihrem Zusammenwirken in eine finale Krise mündend, in der das im Klassenbewusstsein geeinte Proletariat in einem „revolutionären“ Akt dem kapitalistischen System ein Ende bereitet. Damit wäre es mit der quasi-naturgesetzlichen Gewissheit des Sieges der sozialdemokratischen Bewegung vorbei gewesen.

Dass Victor Adlers Autorität auch nach Deutschland ausstrahlte, zeigt sich darin, dass er von Anfang an in die heftige Kontroverse, die Bernsteins Thesen auslöste, involviert wurde. Adlers Haltung in dem Konflikt zeigt eine gewisse Ambivalenz. Immer wieder betont er, dass er Bernsteins Thesen für unrichtig halte, aber im selben Atemzug sagt er schon in seiner ersten Stellungnahme, er verstehe Kautskys Reaktion nicht, dass er „Ede’s Haltung halb und halb für Abfall“ nehme. „Ich bin ihm dankbar für jeden Rippenstoß und habe unendlich daraus gelernt.“55 Adler bemühte sich, Kautsky und Bebel zur Mäßigung und zu mehr Verständnis für Bernsteins Kritik zu bewegen. In einem Brief riet er Bebel, „alles zu vermeiden, dass bewiesen werde, ein Mann wie Ede hätte keinen Platz in der Partei“56 – eine Warnung vor einem Parteiausschluss Bernsteins.

Bernstein wandte sich unmittelbar vor dem Erscheinen seines Buches an Adler mit der Bitte um Besprechung, da Kautsky selbst meine, „es sei gut, wenn Du als der Erste in der Parteipresse Dein Diktum über mein Buch abgibst.“ Bernstein setzte auf Adlers „Versöhnungsliebe“: „Ich glaube, bei Dir auf Verständnis rechnen zu können, das den in der deutschen Parteipresse jetzt tonangebenden Rezensenten abgeht.“57

Adler bemühte sich auch, die Gegensätze in ihrer Bedeutung herunterzuspielen. In dem Streit gehe es um die Frage „wo wir stehen, … nicht etwa darüber, wohin wir gehen sollten.“58 Deutlich drückt er – trotz des wiederholten Bekennens zur Orthodoxie – seine Skepsis gegenüber der Verelendungstheorie und der „Katastrophentheorie“ aus.59 Aber letztlich ordnet Adler die Theorie der politischen Arbeit („Gegenwartsarbeit“) unter. Denn „die proletarische Bewegung (ist) keineswegs in erster Linie abhängig von ihrer Theorie; weit eher umgekehrt. … Die sozialistische Theorie ist in gewissem Sinne der Überbau, der mit dem Fortschritt der Entwicklung des Proletariats umgewälzt wird.“ Die Theorie wird „der Bewegung immer nur den Weg erleuchten, nicht aber ihre Bahnen vorzuschreiben vermögen.“60

Die Bernstein-Debatte griff auch auf die österreichische Sozialdemokratie über, jedoch ohne „dass sie zu einer Reaktion von der Mächtigkeit und weittragenden Konsequenz des deutschen Revisionismus führte.“61 Bei aller Skepsis gegenüber zu viel Theorie sah Adler doch die Notwendigkeit zu einigen Änderungen in der Programmatik. Dreizehn Jahre nach Hainfeld erschien ihm die Zeit gekommen, am Parteitag 1901, auf dem es auch zu einer Grundsatzdebatte der Bernstein’schen Thesen kam, eine Revision des Programms vorzunehmen. Erübrigt hatte sich der das allgemeine Wahlrecht betreffend Passus „ohne sich über den Wert des Parlamentarismus, einer Form der modernen Klassenherrschaft, irgendwie zu täuschen“. Im Wesentlichen wurde die marxistische Ausrichtung beibehalten. Einen Niederschlag im neuen Programm fand der Revisionismus durch die Eliminierung der Verelendungsthese, die durch eine differenzierte Formulierung ersetzt wurde . Kautsky, der ebenso wie Bebel als Gast am Parteitag teilnahm, hatte zwar Vorbehalte gegen den neuen Text, gab aber letztlich sein Einverständnis. Bedenken hatten er und Bebel gegen die Ersetzung des Begriffes „gemeinschaftlicher Besitz“ beim Übergang des Eigentums durch „neue Formen genossenschaftlicher Produktion aufgrund gesellschaftlichen Eigentums“62, in der sie ein Zugeständnis an Bernsteins Terminologie erblickte. Ebenso zeigt sich hier aber der Einfluss staatssozialistischer Vorstellungen. Die reformistische Tendenz wird deutlich an der Eliminierung der Aussage, dass „die Arbeiter-Versicherung den Kern des sozialen Problems überhaupt nicht berührt“. Stattdessen wird gefordert, dass „die Arbeiterversicherung einer durchgreifenden Reform zu unterziehen … und unter durchgängiger Selbstverwaltung der Versicherten einheitlich zu organisieren (ist)“.

In der Richtungsdiskussion auf dem Parteitag trat vor allem Engelbert Pernerstorfer, Adlers Jugendfreund und Kampfgefährte beim Widerstand gegen das Sozialistengesetz (1886), als prononcierter Verteidiger von Bernsteins Auffassungen auf, moderater Wilhelm Ellenbogen.63 Wenn Adler in der Theoriefrage weitestgehend die Position der marxistischen Orthodoxie einnahm, so doch unter gleichzeitiger Betonung einer pluralistischen Ausrichtung der Partei, welche die Positionen der vom orthodoxen mainstream Abweichenden ausdrücklich als produktive Beiträge zum Fortschreiten der Gesamtbewegung anerkannte.64 Dass sich in Österreich die Divergenzen zwischen Orthodoxie und Revisionisten nicht zu Parteiflügeln verfestigten, hängt nicht zuletzt auch mit der überragenden Stellung Adlers zusammen. Er betonte zwar immer wieder, dass er seine Rolle nicht als Theoretiker sehe, war aber de facto auch „Cheftheoretiker“ der Partei.65

Theoretisch versuchte er den Konflikt zwischen reformistischer Praxis, welch die Tätigkeit der Partei bis zum Weltkrieg immer stärker prägte, und „revolutionärer Theorie“ dadurch zu lösen, dass er die Streitigkeiten über Reform oder Revolution als „Streitigkeiten um Worte“ bezeichnete. „Wir Sozialdemokraten haben nie anders von uns gewusst als dass wir Reformisten sind, und wir haben nichts anderes gewusst, als dass wir zu gleicher Zeit Revolutionäre sind. Jede Reform ist wichtig und wert jeder Mühe, aber jede Reform ist so viel Wert als Revolution in ihr steckt! Wenn man uns fragt: Revolution oder Reform? So sagen wir Revolution und Reform!“66

Je mehr sich die Organisationen der Arbeiterbewegung – Partei, Gewerkschaft, Konsumgenossenschaften – bis 1914 konsolidierten und auch fühlbare Verbesserungen der sozialen Lage der Arbeiter erzielten, umso stärker wurde der reformistische Zug der Politik auch der österreichischen Sozialdemokratie. Aber nirgendwo erscheint diese Tendenz mit größerer Deutlichkeit als im Ringen um eine Lösung des Nationalitätenproblems. Vordergründig ging es dabei um die Einheit der Partei. Die Sprengkraft des Problems für die Habsburgermonarchie wäre im Sinne der Engels’schen Politikstrategie nutzbar gewesen, um Druck zu erzeugen für die Auflösung der vorbürgerlich-feudalen Strukturen dieses Staatswesens, vor allem durch Forderung nach einem Sezessionsrecht einzelner Teile. Stattdessen war die Erhaltung des Gesamtstaats, wenn auch mit veränderten inneren Strukturen, das Ziel der sozialdemokratischen Reformvorschläge, ohne einen Gedanken daran, wie viel Revolution in einer solchen Reform steckt.

Friedrich Engels

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