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1 Notwendigkeit und Flüchtigkeit ethischer Leitlinien

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Warum dieser Text?

Anlass zu den folgenden Überlegungen gab die Rolle der Psychologie in der andauernden „Coronakrise“. Welche Rolle konnten und sollten Psychologinnen und Psychologen spielen? Mit welcher Haltung und Orientierung traten sie Ratsuchenden und Klienten und Klientinnen gegenüber? Der Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) preschte mit einer Stellungnahme nach vorn und gab sich als Dienstleister der Regierungspolitik zu erkennen. Andere Verbände (s.u.) definierten ihre Rolle abweichend, auch in meinem persönlichen Bekanntenkreis stieß die BDP-Position auf Skepsis. Nicht zum ersten Mal, aber nun mit neuer Dringlichkeit stand die Frage im Raum, welchen Stellenwert ethische Leitlinien für die Psychologen haben können. Haben Sie noch eine praktische Bedeutung oder sind sie nur noch Material zur Veredelung von Strategien der Institutionalisierung cleverer Verbandsvertreter?

Die Arbeit von Psychologinnen und Psychologen wird mit hohen, wertvollen Zielen menschlicher Entwicklung in Verbindung gebracht. So heißt es in den Berufsethischen Richtlinien des BDP (2016):

»Psychologinnen und Psychologen: Achten die Würde des Menschen und respektieren diese in ihrem Handeln;

erkennen das Recht des Einzelnen an, in eigener Verantwortung und nach eigenen Überzeugungen zu leben;

fördern Möglichkeiten der selbstbestimmten Persönlichkeitsentwicklung und tragen zur Gewährleistung fördernder Rahmenbedingungen bei«.

Zu den ethischen und fachlichen Grundlagen nennt der Berufsverband weiter: »Verständigung im sozialen Zusammenleben«, »fördern gegenseitigen Respekt[s]«, »fördern ein redliches Miteinander«.

In einem anderen Abschnitt heißt es:

»... erbringen aufgrund besonderer beruflicher Qualifikation persönlich, eigenverantwortlich und fachlich unabhängig geistig-ideelle Dienstleistungen im Interesse des Auftraggebers und der Allgemeinheit.«

Hier – im Spannungsbogen zwischen eigenverantwortlichem Handeln, Interesse des Auftraggebers und des Interesses der Allgemeinheit – deutet sich an, was an Konfliktstoff und Dilemmata auf Psychologen zukommen kann. Im Abschnitt 3.5 der berufsethischen Richtlinien heißt es dann noch einmal:

»Psychologinnen und Psychologen

unterstützen Individuen, Organisationen und die Gesellschaft darin, Verständigung, Gerechtigkeit und Frieden im sozialen und beruflichen Miteinander zu fördern und die Bedingungen des sozialen Lebens gesundheitsförderlich zu gestalten;«

Bei der Sektion Schulpsychologie im BDP heißt es in der Broschüre »Schulpsychologie in Deutschland (2018) u.a. im Abschnitt der berufsethischen Grundsätze, man wolle Eltern und Schulen in deren Bemühen unterstützen, den Anspruch des Kindes und Jugendlichen

»auf Erziehung und Bildung, auf die ihm [dem Anspruch]entsprechende Entfaltung seiner Persönlichkeit und auf eine altersgerechte und zukünftige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu erfüllen.«

Im gleichen Papier heißt es unter »Arbeitsprinzipien« u.a.

»Beratung und fachliche Stellungnahmen von Schulpsychologinnen und Schulpsychologen sind von Weisungen unabhängig, dazu ist eine neutrale Position im Schulsystem unabdingbar.«

Beim Landesverband Schulpsychologie in NRW (2016) hat man sich vorgenommen, »Beiträge ... zur Humanisierung der Schule sowie zur Entwicklung der Einzelpersönlichkeit und der schulischen Organisation« zu leisten.

Ethische Leitlinien oder Grundsätze sollen der eigenen Berufsgruppe, aber auch der Öffentlichkeit verdeutlichen, dass persönliche gute Absichten noch nicht zu guten Ergebnissen und zur Zufriedenheit führen müssen. Es muss ein Rahmen gesetzt sein, der Verpflichtungen und Aufgaben überindividuell, ethisch-moralisch begründet. Transparenz der Interessen und Klarheit der Verpflichtungen gegenüber anderen „Parteien“ sollten gegeben sein. Ein hohes Gut in allen Leitlinien sind Unabhängigkeit vom Arbeit- und Geldgeber, Neutralität und Ergebnisoffenheit, sowie Kommunikation im Falle von Interessenkonflikten, die sich auf Inhalt und Ergebnis von Beratungen auswirken. Eine hohe Sensibilität der Psychologin und des Psychologen sind gefragt, denn im Lauf der Jahrzehnte haben die Einwirkungsversuche von Institutionen auf den beraterischen und therapeutischen Prozess zugenommen – im Namen einer ressourcenschonenden Steuerung, im Namen von Effizienz. Implizite und explizite Nahelegungen der politisch-verwaltungsmäßigen Spitzen an die Ebene der Praktiker sind ein ständiger Einwirkfaktor auf das, was man Unabhängigkeit des Beraters und Vertrauensverhältnis zwischen Beraterin und Klient nennt. Zu fragen ist, ob angesichts solcher Entwicklungen, die noch immer gepflegte Vorstellung einer „Unabhängigkeit“ nicht eine Illusion ist, die das eigene berufliche Tun „adelt“, aber nicht mehr von den Tatsachen gedeckt ist.

Die ärztlichen Standards der Vertraulichkeit und Verschwiegenheit dürften für die psychologischen Berufe eine Orientierung gegeben haben. Als unverrückbares Grundgesetz, das nie in Zweifel gezogen werden kann, scheint es zum Gepäck der Berater/innen zu gehören. Tatsächlich dürfte es eine direkte Einmischung nur selten geben. Andererseits sind strukturelle Veränderungen im psychosozialen Sektor groß, so dass sich auf diesem Weg „selbstverständliche“, „automatische“ Anpassungen ereignen dürften – überwiegend vermutlich durch die Faktizität der politischen und verwaltenden Instanzen diktiert und nicht im Dialog entwickelt. Eine starke Relativierung von Fachlogiken, Erfahrungen von Deprofessionalisierung sind für die Betroffenen kränkend und weisen sie implizit auf die reduzierten Möglichkeiten von Unabhängigkeit und Fachkompetenz hin, was die Bereitschaft mindert, auf Fachkompetenz und professionellen Standards zu beharren. Mit anderen Worten: Berufliches Selbstbewusstsein hat gelitten oder es wird als solches gar nicht mehr erinnert. Gleichwohl haben Begriffe wie Unabhängigkeit, Neutralität etc. noch immer eine gewisse Strahlkraft. Sie sind eine Erinnerung an ein selbstbewusstes Berufsverständnis. Vielleicht hilft eine weitere Erinnerung anderer Art, sich den Sinn gelebter und praktizierter Ethik bewusst zu machen. Sie könnte womöglich dazu beitragen, den Sinn für substanzielles, ethisch begründetes Handeln wiederzuentdecken und zu stärken und eine schleichende Erosion von Grundwerten nicht einfach geschehen zu lassen.

Schätze, die gehoben werden können

Die Zerrüttungen, die Naziherrschaft und Weltkriege hinterlassen hatten, aber auch ein Unbehagen an aus der Nachkriegszeit fortbestehenden Strukturen und Mentalitäten schufen eine Sensibilität für die Notwendigkeit ethischen Handelns. Die Demokratiebewegungen der BRD in den 1960er, 70er und 80er Jahre, die Erforschung einzelner Schicksale von Professionellen und Opfern der Nazizeit zeigten, dass Ethik und Moral in der öffentlichen und fachlichen Debatte ihren Platz haben können. Sie zeigten auch, dass solche Schritte zur Bewusstseinsbildung Mut und Durchhaltevermögen erfordern und die Tatsachen selbst, wenn sie denn hervorgeholt werden, eine sensibilisierende Wirkung haben. Die Kunst ist womöglich, Wissen und Erfahrungen in die Praxen zu integrieren und sie nicht in Ritualen erstarren zu lassen.

Der Aufschwung der sozialwissenschaftlichen Berufe auf der Grundlage einer komplexer gewordenen Gesellschaft, hatte auch zur Folge, dass ihre Tätigkeitsfelder, die Wirkungen von Gesellschaft und Individuum einer intensiven und allgemeinen Betrachtung zugänglich wurden. Daraus erwuchsen Erkenntnismöglichkeiten und Handlungsfelder wie Supervision und ähnliche Konzepte (vgl. zum Beispiel Pühl 1998, Obermeyer 2016, Gröning 2016). Blockaden und Potenziale lassen sich mit diesem Instrumentarium erfassen und schufen Raum für ein erweitertes Bewusstsein von Verantwortung im psychologisch fundierten Beratungsprozess. Gleichzeitig bedeutete das einen erweiterten Kreis von Wissenden, was nicht jedem gefallen muss. Unter anderem können sich ethisch-moralische Konfliktpotenziale zeigen, die einem „Durchregieren“ im Wege stehen können.

Wie auch schon im Falle der Nutzbarmachung historischer Erfahrungen für ethisch begründete Berufspraxis zeigt sich, dass auch im Falle des Organisations-, Subjekt- und Beziehungswissens die Kunst darin besteht, vorhandenes Potenzial in den Arbeits- und Lebensprozess zu integrieren. Diese Integration ist nicht allein von Sach- und Fachlogiken abhängig, sondern ebenso von Führungs- und Macht-/Einflusslogiken. Die Rationalität verantwortungsvollen Handelns muss nicht mit jener zusammenfallen, die Verwaltung, Politik und Ökonomie für sich in Anspruch nehmen.

Nicht selten sehen sich Psychologinnen und Psychologen (und verwandte Berufe) mit einem „Überschuss“ an Subjekt- und Organisationswissen ausgestattet, das auf ein mächtiges Gegenüber aus Institutionen der Verwaltung, der Politik und Ökonomie stößt. Die fachlichen und ethisch-moralischen Anmerkungen psychosozialer Berufe sind den Verständnissen des „Gegenübers“ fremd, sie stören die bürokratisch-rationalen Abläufe, komplizieren sie.

Themen der Ethik und Moral geltend zu machen, ist unter anderem dadurch erschwert, dass Psychologen traditionell individualistisch sind, wenig Erfahrung und Vertrauen in Selbstorganisation haben. Die berufsständischen Organisationen agieren eher staats- und machtnah, nicht machtkritisch und gesellschaftsbewusst. Die Folge sind Vereinzelung, Ohnmachtsgefühl und eine Tendenz zur Anpassung.

Allerdings zeigen die Veröffentlichungen von Katharina Gröning (Gröning, 2015) deutlich, wie sehr das dem Anschein nach ferne Politische und Gesellschaftliche das Beratungshandeln durchzieht. Schon in meiner beruflich aktiven Zeit und in der Zeit danach hatte ich den Eindruck, dass die Substanz dessen, was ich unter Psychologie verstehe, mehr und mehr sich in Auflösung befindet. In meinem Verständnis sollte es in der Psychologie um Erweiterung von Selbstkenntnis gehen, die den Menschen in die Lage versetzt, sowohl sich als auch seine Umwelt zu verstehen, seine selbstständige Urteilsfähigkeit zu verbessern, die Abhängigkeiten, in denen er steckt zu erkennen und sich bewusst zu ihnen zu verhalten. ... Was ich demgegenüber befürchte ist, dass Psychologie mehr und mehr zu einem Instrument der Formatierung der Menschen wird, mit dem Menschen passend zu externen Strukturen oder Algorithmen gemacht werden. Psychologie würde darin zu einem Instrument der Legitimation fremder Herrschaft und der Abschaffung des Subjekts.

In diesem Sinn zuspitzend und für mich der Anlass, die folgenden Überlegungen aufzuschreiben, war die Stellungnahme des BDP zu den Pandemiemaßnahmen, die 2020 im März begannen. Nach meinem Dafürhalten hat sich der größte und am meisten anspruchsvoll gebende Berufsverband von deutschen Psychologen und Psychologinnen von einer Position entfernt, die man noch als unabhängig, als klientenzentriert und macht-/regierungsneutral oder -fern bezeichnen könnte.

Mich interessierte jenseits des aktuellen Ärgers und der Ungläubigkeit gegenüber dieser Selbstdarstellung, welche geschichtlichen Voraussetzungen es für diese Entwicklung gegeben haben mag, was in der Stellungnahme zum Ausdruck kommt und was das für die ethisch-moralische Orientierung „der“ Psychologie bedeuten könnte. Um Grund unter die Füße zu bekommen, versuchte ich herauszufinden, in welchen Kontexten die moderne Psychologie ihren Anfang nahm. Welche Interessen gab es? Wem sah sie sich verpflichtet? Wie mögen ethische Ausrichtungen davon geprägt worden sein? Daran schließen sich Überlegungen zur Rolle der Psychologie in der Gegenwart an. Dann geht es um die Aktivitäten und Ansätze einer emanzipatorischen Psychologie. In den folgenden abschließenden Kapiteln gehe ich auf allgemein gesellschaftliche Grundordnungen und Grundstimmungen ein. Welches „Material“ haben wir an einschneidenden Erfahrungen zur Verfügung, die wir für eine Humanisierung von Gesellschaft und Psychologie nutzen könnten?

Die Beugsamen

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