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DER TOD DER ALTEN LADY

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Am 5. Oktober 1881 machten sich Schiffer Schütz mit der Brigg Luna von der englischen Südküste aus auf den Weg in die Nordsee. Ziel der Reise war der Hafen Burntisland in Schottland, wo eine volle Ladung Kohlen eingenommen werden sollte.

Die Reise verlief zunächst erfreulich schnell, denn das Schiff segelte im Ballast, also ohne Ladung. Im englischen Kanal blies der Wind von achtern und als Kapitän Schütz den Kurs an der englischen Ostküste entlang nach Norden änderte, drehte der Wind auf Südwest, so dass die Luna auch dort recht schnell vorwärts kam. Am 10. Oktober war die Brigg nur noch 120 Seemeilen vom Zielhafen entfernt.

Doch mit einem Mal änderte sich der Wind. Er drehte erst auf West, dann auf Nordnordwest und kam damit genau aus der Richtung, in die das Schiff segeln musste. Das war ungünstig, denn nun blieb der Besatzung nichts anderes übrig, als mühsam aufzukreuzen. Aber das war nun mal so auf einem Segelschiff, das bereitete niemand Sorgen. Viel unangenehmer war, dass der Wind ständig zunahm. Er brauste durch die Takelage, die aufgewühlte See rannte gegen das Schiff an, Gischt spritzte über das Deck. Die Mannschaft enterte in die Masten, um einen Teil der Segel zu bergen.

In der Kajüte beobachtete der Schiffer mit zunehmender Unruhe, wie das Barometer immer weiter in den Keller sackte. Das sah nach einem kräftigen Sturm, wenn nicht sogar nach einem Orkan aus. Er überlegte einen Augenblick, schaute zur Sicherheit noch einmal in die Karte, dann stieg er die Stufen zum Achterdeck hinauf. »Gehen Sie höher an den Wind, Steuermann«, sagte er, »wir müssen möglichst rasch unter Land kommen, bevor der Wind Orkanstärke erreicht.«

Wilhelm Kolmorgen, der Steuermann, wiegte bedenklich den Kopf. »Gehen Sie vorsichtig mit der Luna um, Schiffer. Die Brigg ist 40 Jahre alt. Die erträgt nicht mehr so viel wie ein neues Schiff.«

Schiffer Schütz wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg. »Die Luna wurde im letzten Jahr in der Werft überholt. Es sind viele Planken ersetzt worden. Das Schiff ist fast neu.«

»Wenn Sie meinen«, sagte der Steuermann.

Es wurden zusätzliche Segel gesetzt und die Luna durch den Sturm geknüppelt, das Schiff schwankte und rollte beängstigend in den hohen Wellen. Im Logis hatten sich die Leute zwischen Tisch und Bank festgeklemmt, sie balancierten ihre Teller mit der Erbsensuppe in der freien Hand.

Einer der Matrosen lauschte auf das Knarren und Ächzen der Schiffsverbände. »Dass wir die little old Lady so quälen müssen«, sagte er und schüttelte verwundert den Kopf, »so einen Höllenritt hält sie sicherlich nicht lange durch.«

Einen Tag später, am Nachmittag des 11. Oktober, gingen die Leute bei Wachwechsel an die Pumpen, wie immer zu dieser Zeit. War das Schiff für gewöhnlich recht schnell lenz, so wollte jetzt das Wasser, das die Pumpen aus dem Laderaum holten, überhaupt nicht weniger werden. Die Seeleute schauten sich erschrocken an.

»Wir haben Wasser im Schiff«, meldete der Zimmermann.

Der Schiffer gab sich gelassen. »Das ist normal. Jedes Holzschiff macht im Sturm etwas mehr Wasser.«

Am Abend waren sie noch 90 Seemeilen von Burntisland entfernt, das mühsame Aufkreuzen hatte nur wenig Fortschritt gebracht. Wieder drehten die Matrosen an den Pumprädern, wieder wollte das Wasser kein Ende nehmen. Mit einem Mal verfärbte es sich schwarz, die Pumpen förderte kleine Kohlenstücke an Deck, dann versiegte der Wasserstrahl.

»Wir haben das Schiff lenz bekommen«, triumphierte der Schiffer.

»Nein«, widersprach der Steuermann, »die Pumpen sind verstopft.«

Schiffer Schütz stieg mit dem Steuermann in den Laderaum hinunter. Er hatte zusätzlich den Zimmermann mitgenommen, der die unumschränkte Autorität an Bord in Sachen Holzschiffbau war. Bereits auf der Leiter hörten sie das Wasser von einer Seite des Raums zur anderen rauschen. Unten im Laderaum stand es zwar nur eine Handbreit hoch, doch schon alleine das Geräusch des schwappenden Wassers ließ den Steuermann erschaudern. Mit der Petroleumlampe leuchteten sie die Bordwand ab. Durch unzählige Ritzen sickerte Wasser herein, Schiffer Schütz und der Zimmermann blickten sich betroffen an.

»Können wir die Leckage abdichten?«, fragte der Schiffsführer.

Der Zimmermann prüfte die Plankengänge und tastete im Wasser auf dem Schiffboden herum. Schließlich erstattete er Bericht. »Überall auf dem Schiff gibt es kleinere Leckagen. Auf dem Schiffsboden, an den Seitenwänden und sogar im Deck. Wir müssten das gesamte Unterwasserschiff andichten, Schiffer. Das ist mit Bordmitteln nicht zu schaffen. Und an die undichten Stellen hinter den Spanten kommen wir ohnehin nicht heran.«

Während sich der Schiffer und der Steuermann berieten, machte sich der Zimmermann zu einem weiteren Kontrollgang auf. »Hier!«, rief er plötzlich. »Der Kohlenvorrat für die Kombüse ist in die Bilge gerutscht und hat die Pumpe verstopft.«

Abwechselnd legten sich nun die Matrosen in die schwarze Brühe und versuchten, die Saugkörbe der Pumpe freizuräumen. Doch all die Mühe brachte nichts, denn es hatten sich Kohlenstücke weit oben in den Rohren festgesetzt, an die nicht heranzukommen war. So musste die Besatzung tatenlos zusehen, wie an den undichten Stellen das Wasser ins Schiff plätscherte und der Pegelstand im Raum zunahm.

»Vielleicht können wir das Wasser mit Eimern aus dem Raum holen«, schlug der Steuermann vor.

Schiffer Schütz blickte über die See. Gerade wieder hatte eine Welle das Schiff getroffen. Die Luna neigte sich zur Seite, eine See kam über die Reling und setzte das Deck unter Wasser. »Das bringt überhaupt nichts«, sagte er. »Dazu müssten wir die Luke öffnen, doch dann schlägt mehr Wasser in den Raum, als wir herausschöpfen können.«

Im Stillen musste Steuermann Kolmorgen seinem Vorgesetzten Recht geben.

Am 12. Oktober stand das Wasser bereits kniehoch. Der Schiffer und der Steuermann zogen sich zur Beratung in die Kajüte zurück, während der Zimmermann und die Matrosen wieder einmal erfolglos versuchten, die Pumpe in Betrieb zu nehmen.

»Das viele Wasser im Laderaum macht der Luna schwer zu schaffen«, sagte der Steuermann, »sie lässt sich kaum noch steuern.«

Der Schiffer nickte.

»Und der Wind hat noch einmal zugelegt. Wir haben jetzt 11 Beaufort, in Böen 12. Wir treiben zurück, weg von der Küste.«

Wieder nickte der Schiffer.

Die beiden Männer horchten auf das Brausen des Orkans, das Dröhnen der Brecher an der Bordwand, das Rauschen des Wassers im Laderaum, das Ächzen und Stöhnen der Schiffsverbände. Schiffer Schütz trat an den Kajüttisch und blickte lange in die Seekarte. »Wir ändern den Kurs«, sagte er schließlich. »Wir segeln über die Nordsee mit Wind von achtern. Wir werden einen norwegischen Hafen ansteuern und das Schiff dort reparieren lassen.«

Steuermann Kolmorgen schreckte vor dieser ungeheuren Ankündigung zurück. Es grenzte an Wahnsinn, mit diesem leckenden Kahn quer über die Nordsee zu fahren. Da brauchte nur der Wind zu wechseln – und schon trieben sie hilflos mitten im Meer, bis ihnen das Wasser bis zum Hals stand. Andererseits gab es wohl keine Alternative, sosehr der Steuermann auch danach suchte.

Die Fahrt vor Wind und Wellen entlastete das Schiff zwar etwas, doch ungeachtet dessen stieg das Wasser im Laderaum weiter an.

»Ob wir es noch schaffen?«, fragte einer der Matrosen im Logis.

Die anderen zuckten hilflos mit den Schultern.

Steuermann Kolmorgen ging auf dem Achterdeck auf und ab, wie immer auf Wache. Ein paar Schritte nach vorne, Segelstellung prüfen, dann nach achtern mit einem Blick auf das Kielwasser. Doch bei diesem Sturm war kein Kielwasser zu sehen. Hohe Brecher rauschten heran, der Wind zerrte an den Wellenköpfen und zerfaserte sie im Wind. Die Wellen waren schneller als das mit Wasser vollgelaufene Schiff, sie rauschten rechts und links vorbei, der Rudergänger musste höllisch aufpassen, dass die Brigg nicht querschlug. Wie es wohl ist, zu ertrinken, dachte Wilhelm Kolmorgen. Er konnte es sich nicht richtig vorstellen, wollte es auch nicht. Er hatte so viel Geld und Zeit in seine Ausbildung gesteckt, und jetzt, wo er endlich Steuermann geworden war, sollte er ertrinken? Er blickte auf die kleine Nussschale am Heck des Schiffes, das einzige Rettungsboot. Sicherlich, es war groß genug für die kleine Besatzung, doch konnte es auch diesen hohen Wellen trotzen? Nein, sagte sich Wilhelm Kolmorgen, ich ertrinke nicht. Ich bin noch zu jung, es ist zu früh zum Sterben. Ich kenne die See seit meiner Kindheit, ich werde sie genau beobachten. Und dann werde ich für mich entscheiden, wann es Zeit ist, ins Boot zu steigen. Ich ganz alleine!

Am Abend des 14. Oktober sichtete die Besatzung der Luna das starke Feuer von Lindesnes an der norwegischen Küste, Hoffnung zeichnete sich in den Gesichtern der Seeleute ab.

»Wird auch Zeit«, brummte der Schiffer, »das Wasser im Raum steht schon zwei Meter hoch.«

»Ich wundere mich schon lange, warum die Luna noch schwimmt«, sagte der Steuermann.

Sie waren nur noch drei Seemeilen vom Hafen entfernt, da sprang der Wind plötzlich auf Nordost um. Er kam damit von vorne und trieb die Brigg von der Küste weg. Mit einem Schlag waren alle Hoffnungen zunichte gemacht. Die Männer standen schweigend an der Reling, sie waren unfähig, ihre Verzweiflung in Worte zu fassen.

Schiffer Schütz versammelte die Besatzung um sich.

»Männer!«, rief er, »wir können Lindesnes nicht mehr erreichen. Der Wind lässt es nicht zu und die Luna gehorcht kaum noch dem Ruder. Deshalb werden wir unseren Plan ändern. Wir segeln nach Süden durch das Skagerrak. Morgen früh setzen wir die Brigg an der dänischen Küste auf den Strand.«

Am Vormittag des 15. Oktober kam die dänische Küste in Sicht, doch angesichts der hohen Wellen entschloss sich der Schiffer, erst einmal in sicherer Entfernung zum Land weiter nach Süden zu segeln. Allerdings erfüllte sich seine Hoffnung auf eine ruhigere See nicht. Der Sturm heulte unentwegt in gleicher Stärke, die Wellen gingen hoch, und überall an der Küste stand die gleiche tödliche Brandung. Um 2.00 Uhr nachmittags lag die Luna so tief, dass jeden Augenblick mit dem Sinken des Schiffes gerechnet werden musste.

»Es bringt nichts, weiter zu segeln«, sagte der Steuermann.

Schiffer Schütz nickte. »Wir werden jetzt auf Land zusteuern. Wenn wir viel Glück haben, hebt uns eine See über die Brandung hinweg an den Strand. Dann ist das Schiff zwar verloren, aber die Leute gerettet.«

Zu hoffen wäre es, dachte Wilhelm Kolmorgen. Doch ein Blick in die Seekarte hatte ihn belehrt, dass die flachen Sandbänke vor der Küste es kaum zuließen, ungeschoren bis an den Strand zu kommen. Und der Schiffer wusste das sicherlich auch.

Zur Beschleunigung der Fahrt wurden alle Segel gesetzt, das schwer angeschlagene Schiff nahm Fahrt auf die Küste auf. Mit klammem Herzen standen die Männer an Deck und starrten auf die Brandungswellen, die sich höher und höher aufbauten, um dann mit unbeschreiblichem Lärm auf den Strand zu donnern.

»Ob wir das überleben?«, fragte der Matrose, der die Befürchtungen der Mannschaft als einziger aussprach.

»Wenn wir bis an den Strand kommen, sind wir gerettet«, sagte der Zimmermann.

Mit seiner schweren Wasserladung lag die Brigg recht tief, zu tief, um über die Sände hinweg zu kommen. Hundert Meter vor der rettenden Küste stieß das Schiff inmitten einer furchtbaren Brandung auf Grund. Durch den schlagartigen Stillstand des Schiffes stürzten die Männer zu Boden. Im gleichen Augenblick knallte es über ihnen laut und scharf. Das waren die Segel, die jetzt zum Land hinflogen.

Steuermann Kolmorgen rappelte sich als Erster auf. Er blickte nach achtern und erstarrte. Eine Grundsee hatte sich hinter ihnen aufgebaut, nahm an Mächtigkeit zu und überragte schließlich das Schiff. Sie knallte gegen das Heck der Luna und hob es an. Der Segler stieg höher und höher, die Männer mussten sich festhalten, um nicht noch einmal nach vorne zu fallen.

Dann war die See unter dem Schiff hindurchgelaufen. Das Achterschiff rauschte das Wellental hinunter und krachte auf den Meeresboden. Holz splitterte, das schwere Ruderblatt schoss aus dem Wasser, wie von einer Kanone abgefeuert. Es flog hoch in die Luft, fiel mit einem schrillen Pfeifton wieder herunter und blieb senkrecht im Deck stecken. Gleichzeitig wurden die Männer mit Gischt überschüttet, die ihnen jegliche Sicht nahm.

Steuermann Kolmorgen wischte sich das Salzwasser aus den Augen und blickte wieder nach achtern. Erschreckt rieb er sich noch einmal die Augen, doch der Anblick veränderte sich nicht: Wo das Heck der Luna hätte sein müssen, war nur noch ein Gewirr aus geborstenem Holz und verbogenem Relingsgestänge. Das Rettungsboot war in zwei Teile gebrochen, die Reste schaukelten in ihren Aufhängungen.

Wieder wälzte sich eine Grundsee heran. »Alle Mann in die Masten!«, brüllte der Steuermann.

Die Aufforderung wäre nicht nötig gewesen. Die Seeleute rannten bereits über das Hauptdeck, vorbei an dem aufgespießten Ruderblatt, und hetzten die Wanten hinauf, als wären sie vom Teufel verfolgt.

Sie waren tatsächlich vom Teufel verfolgt, von einem Seeteufel. Diesmal lief die Welle nicht unter dem Schiff hindurch, diesmal fiel sie mit der Gewalt von Hunderten von Tonnen über die kleine Brigg her. Donnernd schlugen die Wassermassen an Deck, bis zur Saling hinauf spritzte die See, die Masten schwankten von einer Seite zur anderen. Die Welle hob das Schiff vom Grund hoch, schwenkte es parallel zur Küste, setzte es dann wieder mit einem schrecklichen Krachen auf dem Meeresgrund ab.

Steuermann Kolmorgen starrte vom Mast herab auf das Toben der Elemente. Es schien ihm, als wäre die Luna verschwunden, nur die beiden Masten ragten noch über die Brandungswelle hinaus. Einen Augenblick später zog das Wasser weiter Richtung Strand und gab das Schiff frei. Doch wie sah die Brigg jetzt aus: Das Deck war geborsten und die Aufbauten weggerissen. Wer es bisher nicht hatte wahrhaben wollen, sah es jetzt überdeutlich: Die Luna war zum Wrack geworden.

Neben sich hörte der Steuermann ein Fiepen, wie von einem Hund, der alleingelassen worden war. Er blickte auf den Mann, der in den Wanten hing wie ein nasser Sack.

»Was ist los mit Ihnen, Zimmermann?«

»Es ist aus mit uns. Wir machen es nicht mehr lange. Jetzt holt uns der Teufel.«

»Reißen Sie sich zusammen! Es ist doch nicht Ihre erste Strandung.«

»Nein, die dritte. Aber mit jedem Mal werden die Nerven dünner.«

»Noch sind wir nicht tot. Bestimmt kommen bald Leute, die uns retten werden.«

Es waren tatsächlich Helfer am Strand, doch die kümmerten sich nicht um die Luna. Sie hatten genügend mit der Rettung der Besatzung eines anderen Schiffes zu tun, das kurz zuvor gestrandet war.

Inzwischen waren auch die Masten der Luna kein sicherer Zufluchtsort mehr. Jedes Mal, wenn eine Welle das Wrack anhob und dann wieder auf den Meeresboden setzte, lockerten sie sich mehr und mehr in ihrer Verankerung. Sie, die einst fest und sicher gestanden hatten, schwankten jetzt von einer Seite zur anderen. Sie schwankten inzwischen so stark, dass sich die Leute eisern festhalten mussten, um nicht wie reife Pflaumen in die tosende See geschüttelt zu werden.

»Was sollten wir machen? », brüllte der Schiffer von der anderen Seite des Mastes zum Steuermann hinüber. »Wir können uns nicht mehr lange halten.«

Wilhelm Kolmorgen antwortete nicht. Er horchte auf den Sturm, der durch die Takelage jaulte, er blickte auf seine klammen Finger, die schon ganz weiß waren von der Anstrengung des Festhaltens, er fühlte die Kälte des Wassers, das sie ständig überschüttete und das ihn bereits vollständig durchnässt hatte. Und er sah den flackernden Blick des Schiffsführers, seine Angst und die Verzweiflung. Jetzt hat ihn die See geschafft, dachte Wilhelm Kolmorgen erschrocken, der Verlust seines Schiffes hat ihm den Rest gegeben, vielleicht auch die Sorge um seine Leute.

»Ich weiß es nicht«, rief er zur anderen Seite hinüber.

Der Schiffer wollte antworten, doch in diesem Augenblick prallte wieder eine Brandungswelle gegen das Wrack. Als die See weitergezogen war, rief der Schiffer seine Anweisungen in den Wind: »Wir können uns nicht mehr halten, Leute. Springt über Bord und schwimmt an Land.«

»Zu früh!«, schrie Steuermann Kolmorgen zurück.

»Wer gibt hier die Befehle?«, schimpfte der Schiffer.

Die Leute waren unschlüssig. Sie blickten zwischen ihren Vorgesetzten hin und her. Schließlich wandten sie sich an den Zimmermann, denn der war der Fachmann für alles, was mit Holz und Schiffbau zu tun hatte, sein Wort war jetzt entscheidend. Der Zimmermann löste seine verkrampften Hände von den Webleinen und hangelte zum Schiffer hin.

»Die Luna geht zum Teufel, sie ist kein sicherer Ort mehr«, kreischte er. »Ich gehe in die See.«

Das war das Zeichen, sich zum Sprung bereit zu machen. Zwei der Seeleute hatten jedoch Bedenken, sie suchten sich einen Platz in der Nähe des Steuermanns.

Der Schiffer zielte mit dem Finger auf das kleine Grüppchen, seine Stimme schnappte fast über. »Ich befehle Ihnen zu springen!«

»Nein, ich bleibe hier«, widersprach der Steuermann trotzig. »Solange ich noch Holz unter meinen Füßen spüre, bleibe ich.«

Nun gab es nichts mehr zu sagen. Der Kapitän löste seine Hände von den Wanten, kletterte zum Deck hinunter, hangelte auf den Bugspriet hinaus und ließ sich in die Brandung fallen. Der Zimmermann, zwei der Matrosen und der Leichtmatrose folgten ihm, ohne zu zögern.

Die drei Männer in den Wanten verfolgten mit bangen Blicken den Weg ihrer Kollegen. Die hatten bereits die Hälfte der Strecke zum Strand zurückgelegt, als sie von einer Brandungswelle hochgehoben wurden.

»Ich hätte auch springen sollen«, sagte einer der Matrosen, »dann wäre ich jetzt in Sicherheit.«

Keiner der Männer konnte sich mit weiteren Erörterungen aufhalten, denn der nächste Brecher rollte bereits heran. Er traf die Brigg auf der Seite und drückte sie platt aufs Wasser. Die Schiffbrüchigen wurden wie reife Äpfel aus dem Mast geschüttelt. Steuermann Kolmorgen fiel in das eisige Wasser, er ruderte mit den Armen, spürte einen Gegenstand, griff instinktiv danach. Mit beiden Händen klammerte er sich an das Seil, während das Wasser an ihm vorbeiströmte und an seinen Kleidern zerrte. Auch die beiden anderen hatten nach dem Tau gegriffen wie nach einem Rettungsanker. Doch von Rettung konnte keine Rede sein. Der nächste Brecher schlug das Wrack in Stücke, überall schwammen plötzlich Deckteile, Planken und Balken. Der Steuermann erkannte die einmalige Gelegenheit. Er ließ das Seil los und zog sich auf ein vorbeitreibendes Stück Bordwand hinauf. Die beiden anderen Seeleute hatten sich ebenfalls an Teile des Schiffes geklammert, ständig der Gefahr ausgesetzt, von den sich in der wilden See übereinanderschiebenden Schiffsteilen erschlagen zu werden.

Der mit dem Kapitän ins Wasser gesprungene Zimmermann hätte besser seinem Werkstoff, dem Holz, vertrauen sollen. Denn die Männer, die als erste das Wrack verlassen hatte, ertranken allesamt, während die anderen drei auf ihren Holzflößen wohlbehalten den Strand erreichten.

Das Seeamt Rostock3, das sich mit dem Seeunfall der Brigg Luna zu beschäftigen hatte, führte das Leckwerden des Schiffes auf sein hohes Alter zurück,

»denn ein nahezu 40 Jahre altes Schiff kann nicht mehr diejenige Festigkeit im Verbande seiner einzelnen Theile besitzen, welches erforderlich ist, um die Angriffe der See bei schlechtem Wetter zu bestehen.«4

Allerdings stufte das Seeamt den Wassereinbruch nicht als so gravierend ein, dass er nicht durch die Deckspumpe hätte beseitigt werden können. Der eigentliche Grund des Schiffsunfalls war daher in den verstopften Pumprohren zu sehen. Dass die Besatzung bis zum Schluss versucht hatte, die Pumpe wieder in Betrieb zu nehmen, erkannte das Amt wohlwollend an. Die freiwillige Strandung wurde als gerechtfertigt eingestuft, um das Leben der Besatzung zu retten. Die Frage, ob Schiffer Schütz seine Leute zu früh zum Verlassen des Seglers aufgefordert hat, stellte sich das Seeamt nicht. Dies war das übliche Verfahren, denn wenn ein Schiffsführer beim Schiffsunfall verstarb, erledigte sich die Frage, ob er fahrlässig gehandelt hatte und ihm damit die Befähigung zur Führung eines Schiffes aberkannt werden musste.

Konstantinopel von unten und andere Schrecklichkeiten

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