Читать книгу Final - Tanz - Jürgen Ruhr - Страница 6
III.
Оглавление„Jonathan, schön von dir zu hören“, meldete sich Bernd schon nach dem zweiten Klingeln. „Obwohl ich davon ausgehe, dass etwas passiert ist. Sonst würdest du mich ja vermutlich nicht anrufen ...“
„Ja, leider“, antwortete ich. „Sergio wurde entführt.“
„Wie konnte das denn geschehen? Ich dachte, ihr passt auf ihn auf. Jetzt erzähl mal der Reihe nach, Jonathan.“
„Wir hatten keine Chance. Vor einer halben Stunde sind vier maskierte und bewaffnete Männer in das Tanzstudio eingedrungen, in der unser Balletttänzer gerade seine Vorstellung gab. Einer hielt das Publikum in Schach, einer schnappte sich Sergio und zwei hielten Birgit und mir ihre Pistolen an den Kopf. Allerdings auf eine Entfernung, so dass wir nicht an sie herankamen. Dann mussten wir uns auf den Boden legen und die Typen verschwanden mit Sergio. Zuvor hatten sie seiner Frau noch einen Zettel mit der Lösegeldforderung in die Hand gedrückt.“
„Das klingt ziemlich merkwürdig“, bemerkte Bernd und ich spürte, wie er überlegte. „Wie hoch ist denn diese Lösegeldforderung?“
„Zwei Millionen Dollar. Und die sollen bis morgen Mittag bereitstehen. Bei den Männern tippe ich auf Russen und die Pistolen waren alle vier Makarows.“
„Und zwei der Männer kamen gezielt auf Birgit und dich zu?“
Ich nickte heftig: „Ja, genau. Ich hatte den Eindruck, als wären sie vor uns gewarnt worden. Mich würde nicht wundern, wenn diese Jekaterina Krynow da irgendwie ihre Finger mit im Spiel hat. Heute Nachmittag fragte sie uns gezielt nach unseren Waffen und ich dachte, es wäre nur so ein allgemeines Interesse. Doch jetzt kommt mir das im Nachhinein komisch vor.“
„Dann denken wir so ziemlich das Gleiche. Trotzdem dürfen wir die Frau nicht grundlos verdächtigen. Ich nehme aber an, dass sie das Geld nicht wird auftreiben können?“
„Vermutlich nicht. Ich frage mich, ob wir die Polizei einschalten sollen, allerdings haben die Gangster in ihrem Schreiben extra betont, dass sie Sergio umlegen, sobald wir die Polizei informieren.“
„Hmm“, Bernd klang nachdenklich. „Man müsste vorsichtig vorgehen. Das könnte Birgit übernehmen. Aber die Entscheidung solltet ihr Sergios Frau überlassen. Ich werde versuchen, die zwei Millionen aufzutreiben, dann haben wir wenigstens eine Verhandlungsgrundlage. Legt Frau Krynow nahe, die Gendarmerie zu informieren. Die haben für solche Fälle geschulte Leute und können entsprechend vorgehen. Aber seid vorsichtig, falls Sergios Frau in der Entführungssache wirklich mit drinsteckt. Und wenn ihr länger in Paris bleibt, dann besorgt euch ein paar Waffen. Ich habe hier eine Adresse, dort stellt man nicht viele Fragen ...“ Bernd nannte mir die Anschrift, die ich einmal wiederholte und mir dann merkte.
„Gut“, meinte er schließlich, „ich kümmere mich jetzt ums Geld. Mal sehen, ob der Oberstaatsanwalt Eberson eine Möglichkeit findet. Ihr geht auf jeden Fall äußerst vorsichtig vor und sobald es Neuigkeiten gibt, will ich wieder von euch hören. Grüß Birgit von mir!“ Bernd beendete das Gespräch, bevor ich noch etwas sagen konnte.
„Schönen Gruß von Bernd“, meinte ich zu Birgit, die jetzt alleine auf einem der Stühle saß. Madame Routon und Sergios Frau standen an der ‚Bar‘ und bedienten sich des Sekts.
„Was sagt er denn? Ich wette, er ist sauer auf uns.“
„Nein, sauer ist er nicht“, beruhigte ich meine Kollegin. „Wir hatten doch keine Chance. Selbst, wenn wir bewaffnet gewesen wären, hätte ich mir ungern hier eine Schießerei mit vier Russen geliefert. Wir besprechen die Sache nachher in meinem Zimmer. Nur so viel: Bernd will über Eberson versuchen, das Lösegeld aufzutreiben. Und die Entscheidung, die Polizei zu verständigen, sollen wir Jeka Krynow überlassen. Bernd würde es aber für sinnvoll erachten und wir sollten versuchen, Jeka dahingehend zu überreden.“
„Okay, dann rede ich mal mit ihr“, bot sich Birgit an. „Quasi von Frau zu Frau. Seit dem Vorfall eben ist sie nämlich wieder nicht gut auf dich zu sprechen. Sie gibt dir die Schuld an der Entführung.“
Zehn Minuten später setzte sich Birgit wieder zu mir. Sie brauchte nichts zu sagen, denn ich hatte ihr Gespräch mit Sergios Frau beobachtet. Trotzdem erklärte meine Kollegin: „Nein. Sie will einfach keine Polizei. Die Männer würden ihren Sergio töten, du hättest schon genug Mist gebaut und so weiter und so weiter. Ich habe mit Engelszungen auf sie eingeredet, doch Frau Krynow weigert sich. Dann habe ich ihr erklärt, dass wir versuchen werden, das Geld zu beschaffen und erst danach beruhigte sie sich wieder ein wenig.“
„Tja, dann können wir ja jetzt nicht mehr viel ausrichten“, bemerkte ich und erhob mich. „Sehen wir zu, dass wir zum Schiff zurückkommen. Dort sprechen wir die Sache in Ruhe durch und überlegen, wie wir weiter vorgehen. Frag doch Jeka bitte, ob sie mit uns zurückfährt, oder noch hierbleiben will.“
Birgit und ich fuhren alleine mit dem Taxi zum Hotelboot zurück. Jeka wollte noch bei Madame Routon bleiben und so wie ich das mitbekam, trösten sich beide reichlich mit dem Sekt. „Fünfzig Euro, Birgit“, erinnerte ich meine Kollegin an die Wette und hielt die Hand auf.
Doch das Mädchen schüttelte den Kopf: „Nein, du musst zahlen, nicht ich.“
Ich war baff: „Wieso? Es waren exakt neun Zuschauer dort. Also noch nicht einmal Gleichstand. Und wir haben vorher nicht festgelegt, dass es sich um zahlende Zuschauer handeln müsse.“
„Dreizehn waren dort. Dreizehn Zuschauer.“
„Dreizehn?“ Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was sie meinte. „Wie kommst du auf dreizehn? Jeka, Madame Routon, du und ich? Das zählt nicht, wir vier waren beruflich dort. Sergio wird ja auch nicht mitgezählt!“
Birgit lachte: „Nein, das ist schon richtig. Aber du vergisst die vier Männer, die in die Vorstellung kamen. Sie müssen zugeschaut haben, wie Sergio gegen den Spiegel sprang und hinfiel. Und damit sind sie definitiv ‚Zuschauer‘.“
„Das ist doch hirnrissig“, gab ich böse zurück. „Das waren Gangster, die den Auftritt vermasselt haben und keine Zuschauer. Zuschauer sind ruhige Menschen, die auf ihren Klappstühlen hocken und zuschauen. Nicht Männer mit Sturmhauben über dem Kopf und Pistolen in den Händen, die den Künstler entführen.“
„Aber zugeschaut haben sie zunächst“, murrte Birgit. „Wenn auch nur ganz kurz. Weißt du was, Jonathan? Wir überlassen die Entscheidung Christine oder Jennifer.“
„Oder beiden“, knurrte ich und hatte das dumme Gefühl, von meiner Kollegin übers Ohr gehauen zu werden.
Als wir die kleine Lobby des Hotelbootes betraten, winkte uns die Dame hinter dem Empfangstresen zu. „Haben sie es schon gehört?“, fragte sie uns auf Deutsch mit einem reizenden Akzent.
„Nein, was denn?“, schüttelte ich den Kopf.
„Es kam eben in den Nachrichten. Die Polizei hat eine Leiche aus der Seine gefischt. Ein Mann in ... in Unterhosen.“
„Sie meinen in einer Art Strumpfhose?“
„Genau, das war das verschwundene Wort. Ich spreche noch nicht so perfekt Deutsch. Ich habe schon bei der Polizei angerufen, weil ich denke, dass es Monsieur Palyska sein könnte. Sie schicken jemanden vorbei mit einem Foto.“
Ich nickte. „Bitte informieren sie uns, wenn der Mann da ist. Wir würden gerne mit ihm sprechen.“ Wenn es wirklich Sergio war, den die Polizei gefunden hatte, dann brauchten wir uns ja auch nicht mehr an Jekas Verbot zu halten.
Ich nickte der Frau zu und zog Birgit vom Tresen fort. „Gehen wir in mein Zimmer.“
„Meinst du, es könnte Sergio sein, den sie gefunden haben? Die Lösegeldforderung endet aber erst morgen Mittag. Vielleicht ist es ja ein ganz anderer Mann ...“
„In Unterhosen, beziehungsweise in einer Strumpfhose?“, gab ich zu bedenken. „Ich glaube nicht, dass allzu viele Männer zurzeit so herumlaufen. Sollte es sich wirklich um Sergio handeln, dann sehe ich allerdings meine Theorie bestätigt.“
„Deine Theorie? Was für eine?“
„Zunächst einmal denke ich, dass Jekaterina Krynow in der Geschichte mit drinsteckt. Die Entführer in der Tanzschule waren einfach zu gut über dich und mich informiert. Man hat uns beiden eine Waffe an den Kopf gehalten und wusste, dass man uns nicht zu nahekommen durfte, während die neun Zuschauer nur von einem einzigen Mann bedroht wurden. Außerdem hat uns Jeka beim Frühstück heute Morgen quasi nach unseren Waffen ausgequetscht. Nach der Entführung machte das ja Sinn, sofern sie es war, die die Gangster informiert hat. Allerdings dachte ich eher daran, dass Sergio und sie unter einer Decke stecken und diese ganze merkwürdige Tournee nur arrangiert wurde, um die Versicherungssumme zu kassieren.“
„Immerhin fünfzig Millionen Euro, wenn Sergio stirbt“, spann Birgit meinen Faden weiter. „Dann müsste sie jedenfalls von vornherein geplant haben, ihn ermorden zu lassen. Allerdings glaube ich nicht, dass die Versicherung bei einem Mord die Summe so ‚mir nichts, dir nichts‘ auszahlen wird.“
Ich nickte: „Das ist etwas, was nicht so recht zusammenpasst. Falls Sergio wirklich der Tote aus der Seine sein sollte. Ich hätte es eher wie einen Unfall aussehen lassen. Jetzt wird die Versicherung aber erst einmal die Ermittlungen abwarten. Und bei fünfzig Millionen, die Jeka Krynow bekommen könnte, steht sie natürlich ganz oben auf der Liste der Verdächtigen.“
Es klopfte dezent an meine Tür. Ich öffnete.
Die junge Dame von der Rezeption lächelte mich an: „Der Capitaine ist da, sie wollten doch mit ihm sprechen.“
Der Polizist telefonierte gerade, als wir zu ihm traten. Er sprach noch ein paar Worte auf Französisch, dann beendete er das Gespräch. „Bertrand Ferylé“, stellte er sich vor und hielt Birgit die Hand hin. „Capitaine de Police, das entspricht dem Hauptkommissar in Deutschland.“ Er sprach mit einem leichten Akzent, der aber kaum zu hören war. Birgit stellte uns dem Mann vor, der genauso groß war, wie ich. Wir reichten uns die Hände. Ferylé machte einen sympathischen Eindruck. Sein Drei-Tage-Bart war gepflegt, dafür trug er auf dem Kopf keine Haare. Er war schlank und man sah ihm an, dass er regelmäßig Sport trieb.
„Wir haben heute einen Mann aus der Seine gefischt, der Ballettkleidung trug. Aber das wissen sie ja schon, wie mir die Dame hier erklärte.“ Er zog ein Foto aus seiner Jackentasche und reichte es mir. Der Tote darauf war ganz eindeutig Sergio Palyska, der Balletttänzer.
„Das ist Sergio Palyska“, bestätigte ich. „Ich würde mich gerne mit ihnen ungestört unterhalten“, fügte ich dann mit einem Blick auf die Frau hinter dem Empfangstresen hinzu. Es war nicht erforderlich, dass sie mehr als unbedingt notwendig von unserem Gespräch mitbekam. „Wir können auf mein Zimmer gehen.“
„Sie reisten mit Herrn Palyska?“, fragte der Capitaine, als ich die Zimmertüre hinter uns schloss.
„Frau Zickler und ich waren zum Schutz des Tänzers angestellt“, begann ich meine Erklärungen und der Polizist machte sich auf einem kleinen Block einige Notizen. „Sergio Palyska wurde heute Abend von vier bewaffneten und maskierten Männern während einer Tanzveranstaltung entführt. Seine Frau, Jekaterina Krynow, erhielt einen Zettel mit einer Lösegeldforderung. Eine Forderung über zwei Millionen Dollar, die bis morgen Mittag zu beschaffen seien.“
„Und sie haben nicht sofort die Polizei verständigt?“
„Nein, das wünschte Frau Krynow ausdrücklich so. Wir haben versucht, sie zu überzeugen, doch sie blieb hartnäckig.“
Der Kommissar nickte, schrieb wieder etwas in sein Buch und meinte: „Wo fand die Veranstaltung denn statt? Ist Frau Krynow auch hier auf dem Hotelboot?“
„Im Norden von Paris, in der Nähe von Sacré-Coeur.“ Ich nannte ihm die Adresse der Tanzschule. „Die Ehefrau des Tänzers müsste sich noch dort aufhalten. Wenn sie nicht zufällig die Nachrichten gesehen hat, dann weiß sie vermutlich noch nichts von dem Tod ihres Mannes. Allerdings sind die gesamten Umstände dieser Entführung mehr als merkwürdig ...“ Ich erklärte dem Polizisten in allen Einzelheiten von der abgeschlossenen Versicherung Sergios, sowie von der Tournee und den damit verbundenen Ungereimtheiten. Auch erwähnte ich, dass man Birgit und mich gezielt bedroht und an irgendwelcher Gegenwehr gehindert hatte.
Ferylé überlegte einen Moment, dann kam er zu dem gleichen Schluss, den ich vorhin Birgit mitgeteilt hatte: „Ihren Worten nach klingt das so, als würde die Frau hinter der Sache stecken. Nur der Mord an dem Balletttänzer passt nicht dazu. Der Mann wurde in den Rücken geschossen, was vielleicht auf einen Fluchtversuch hindeuten könnte.“
„Wo haben sie Sergio denn gefunden?“, fragte Birgit, die sich bisher zurückgehalten hatte.
„Bei Saint-Ouen. Dort teilt sich die Seine und die Leiche wurde an einer Insel, der Ile des Vannes, angespült. Jedenfalls hat sie noch nicht lange im Wasser gelegen. Hier“, er drückte mir seine Visitenkarte in die Hand, „die Anschrift und Rufnummer vom Revier. Wenn sie mich nicht persönlich erreichen, hinterlassen sie bitte eine Nachricht. Ich werde jetzt erst einmal mit der Ehefrau sprechen. Sie haben mir jedenfalls schon sehr geholfen. Falls ihnen noch etwas einfällt, oder sie in der Sache etwas Neues hören, dann rufen sie mich bitte an.“
Ferylé verabschiedete sich und verließ das Zimmer. Mittlerweile war es fast halb Zwölf nachts und Bernd würde sicherlich nicht erfreut sein, doch ich musste ihn anrufen und über die neue Entwicklung informieren.
Bernd klang weder verschlafen, noch müde und doch musste ich ihn aus dem Schlaf gerissen haben. Er war einer der wenigen Menschen, die ich kannte, die geweckt werden konnten und sofort hellwach waren. „Jonathan. Ich nehme an, dass es Neuigkeiten gibt. Ist der Tänzer wieder aufgetaucht?“
„Ja, im wahrsten Sinne des Wortes“, antwortete ich und musste trotz der Situation über meine Worte schmunzeln. „Man hat ihn mit einer Kugel im Rücken aus der Seine gefischt.“
„Das hört sich nicht gut an. Im Rücken? Vielleicht ein Fluchtversuch. Was sagt seine Frau dazu?“
„Wir haben noch nicht mit ihr gesprochen. Birgit und ich sind zum Hotelboot zurückgefahren und Jeka wollte noch in der Tanzschule bleiben. Wir haben dann hier von Sergios Tod erfahren, da es wohl schon eine Meldung in den Nachrichten gab. Ein Kommissar der hiesigen Polizei hat uns das Foto des Toten gezeigt, es ist eindeutig Sergio, daran besteht kein Zweifel. Wir haben ihm alles mitgeteilt, was wir wissen und er scheint Jeka Krynow auch zu verdächtigen, in der Sache mit drin zu stecken.“
„Gut, Jonathan. Oder eher: nicht gut. Aber wir können jetzt wohl nichts mehr unternehmen. Ich denke einmal, dass eure Aufgabe damit erledigt ist. Braucht die Polizei euch noch? Wegen irgendwelcher Aussagen oder so?“
„Davon hat der Capitaine nichts gesagt. Auch nicht, dass wir die Stadt nicht verlassen dürfen.“
„Dann sprecht bitte morgen mit der Ehefrau von Sergio und kommt so bald wie möglich zurück. Wenn die Polizei sie ebenfalls verdächtigt, wird sie Paris nicht verlassen dürfen. Meldet euch kurz bevor ihr abfliegt, dann holt Christine euch wieder vom Flughafen ab.“
„In Ordnung. Schlaf noch gut.“ Ich legte auf und sah Birgit an. „Und wir sollten jetzt vielleicht auch schlafen gehen. Morgen sprechen wir mit Jeka und dann kümmern wir uns um den Rückflug. Gute Nacht, Birgit.“
Am nächsten Morgen dachte ich noch im Bett darüber nach, was ich Jeka fragen sollte. Mir fiel nicht wirklich etwas ein und ich wollte auch nicht, dass sie bemerkte, welchen Verdacht ich hegte. Ich kam schließlich zu dem Schluss, ihr lediglich mein Beileid auszusprechen und alles Weitere der Polizei zu überlassen. Dieser Fall ging uns jetzt nichts mehr an.
Als ich aus dem Nebenraum das Geräusch der Dusche vernahm, erhob ich mich und folgte dem Beispiel meiner Kollegin. Ich duschte recht kühl und das kalte Wasser verschaffte mir einen klaren Kopf. Hatten wir einen Fehler gemacht? Hätte der Tod des Tänzers vermieden werden können? Ich stellte mir verschiedene Szenarien in der Tanzschule vor, kam aber immer zu dem Schluss, dass im günstigsten Fall nur Birgit und ich gestorben wären, im ungünstigsten Fall allerdings neben Frau Routon auch die Zuschauer erschossen worden wären. Und natürlich Birgit und ich. Aber eine Gegenwehr war ohnehin nicht möglich gewesen, da die Gangster zu weit von uns fort gestanden hatten. Und dass die Männer skrupellos vorgingen, sah man ja an dem toten Sergio.
Birgit und ich traten gleichzeitig auf den Gang. „Morgen Jonathan“, grüßte sie und lächelte. Die Kleine schien gut geschlafen zu haben. „Morgen Birgit. Lust auf Frühstück? Vielleicht ist Jeka ja auch schon auf. Dann können wir ihr direkt unser Beileid bekunden.“
Wir traten in den Sonnenschein, der einen herrlichen Tag versprach. Es war angenehm warm und vom Wasser her wehte ein leichter Wind. Die Terrasse mit den Tischen und Stühlen war fast vollständig leer, lediglich ein Mann saß dort vor einer Tasse Kaffee. Als er uns bemerkte, winkte er Birgit und mich zu sich.
„Herr Kommissar“, begrüßte ich Bertrand Ferylé erstaunt. „Einen schönen guten Morgen. Wollen sie zu uns?“
Ferylé erhob sich und deutete bei Birgit einen Handkuss an. Ich war versucht, ihm meine Hand ebenfalls zum Kuss hinzuhalten, unterließ das dann aber. Wer weiß, wie der Mann reagieren würde. Der Capitaine nickte: „Ja, leider muss ich sie um einen Gefallen bitten. Als ich gestern zu dieser Tanzschule kam und mir endlich eine volltrunkene Madame Routon die Türe öffnete, war Jekaterina Krynow verschwunden. Ich nahm an, dass sie hier ins Hotel zurückgefahren sei, doch heute Morgen erfuhr ich, dass sie noch nicht hier war.“
„Jeka wird doch nicht auch entführt worden sein?“, fragte ich, sah aber keine Logik dahinter, warum man die Frau entführen sollte. „Konnte Madame Routon denn irgendeine Auskunft geben?“
Ferylé schüttelte den Kopf: „Sie sprach lediglich davon, dass Frau Krynow einen Anruf erhalten habe und sehr, sehr wütend war. Dann hat sie die Tanzschule wortlos verlassen. An mehr konnte Madame Routon sich nicht erinnern. Jedenfalls muss ich diese Jeka gestern knapp verpasst haben.“
„Und was bei diesem Telefonanruf gesprochen wurde, wusste die Tanzlehrerin auch nicht, nehme ich an.“
„Ja, sie hat die Sprache nicht verstanden. Stimmt, jetzt da sie es sagen: Madame Routon war sich nicht ganz sicher, aber sie meint, dass die Frau am Telefon russisch gesprochen hat.“
Der Ober kam und wir bestellten für uns das Frühstück. Capitaine Ferylé orderte noch eine Tasse Kaffee. „Ich brauche eine persönliche Identifikation der Leiche. Eigentlich sollte das die Ehefrau übernehmen, doch jetzt muss ich sie bitten, mich in die Pathologie zu begleiten. Wären sie so gut?“
Ich nickte: „Wenn sie uns nur noch frühstücken lassen, dann kommen wir gerne mit ihnen. Aber wir haben heute Sonntag, kommen wir dort überhaupt hinein?“
Der Kommissar nickte: „In der Annahme, Frau Krynow hier zu treffen, habe ich den Pathologen überredet, ausnahmsweise heute Vormittag eine Sonderschicht einzulegen. Er wird also auf uns warten.“
„Gut, natürlich kommen wir mit. Dürfen wir Paris danach verlassen, oder müssen wir noch zu ihrer Verfügung stehen?“
Ferylé lachte: „Nein, sie können jederzeit nach Deutschland zurückkehren. Oder soll ich sie hierbehalten und ihnen so zu ein paar Urlaubstagen verhelfen?“
„Das wäre schön“, meinte ich wehmütig. „Doch unser Chef würde sich vermutlich nicht sonderlich darüber freuen. Es gibt genug Arbeit und unser Jahresurlaub steht auch noch aus. So gerne ich auch hierbleiben würde, wenn es nicht unbedingt sein muss, dann erwartet uns unsere Heimat schon.“
Der Hauptkommissar schob mir seinen Notizblock und einen Kugelschreiber hin: „Geben sie mir eine Rufnummer, unter der ich sie in Deutschland erreichen kann“, meinte er dann und sah uns dabei zu, wie wir Brötchen und Croissants verspeisten.
Als Birgit sich satt zurücklehnte, sah sie mich fragend an: „Soll ich uns für heute Nachmittag einen Flug buchen oder willst du lieber noch einen Tag hierbleiben und morgen zurückfliegen?“
„Nein, das ist in Ordnung. Dann rufe bitte auch Bernd an, denn Chrissi wird uns wieder am Flughafen abholen. Sehen wir zu, dass wir so schnell wie möglich nach Deutschland zurückkommen.“
Ferylé drängte uns nicht, doch ich sah ihm an, dass er froh war, als wir endlich zu seinem Wagen aufbrachen. Fünfzehn Minuten später betraten wir den gekachelten Raum mit den Metalltischen. Ein dicklicher, ungefähr fünfzig Jahre alter Mann in einem weißen Kittel kam uns entgegen. Er nickte uns zu und sprach den Polizisten auf Französisch an. Ich verstand kein Wort, entnahm aber aus dem Tonfall und der Mimik, dass er - vermutlich über unser spätes Erscheinen - nicht sonderlich erfreut war.
„Gustave Perrot“, stellte der Kommissar den Pathologen vor und nannte dann unsere Namen.
„Qui d’accord“, meinte der Weißkittel nur und bedeutete uns, ihm zu folgen. Wir traten an eine Wand, die mit zahlreichen Metalltüren bestückt war. Perrot suchte das richtige Fach, nickte zufrieden und öffnete die Tür. Dann zog er eine Bahre mit einer Leiche, die mit einem weißen Tuch bedeckt war, heraus. Er entfernte das Tuch gerade so weit, dass wir dem Toten ins Gesicht blicken konnten.
„Ja, das ist Sergio Palyska“, bestätigte ich und Birgit nickte ebenfalls. „Es gibt keinen Zweifel.“
„Danke, sie haben mir sehr geholfen. Das war’s dann auch schon. Sie können am Wagen auf mich warten, ich bringe sie dann ins Hotel zurück.“ Ferylé wandte sich erneut an den Pathologen und sprach ein paar Worte mit dem Mann, die ich aber nicht verstand.
Fünf Minuten später schloss er sein Fahrzeug auf. „Gustave Perrot ist ein wenig brummelig“, erklärte er, „doch der Mann hat das Herz auf dem rechten Fleck. Ich habe ihm erklärt, dass sie noch heute nach Deutschland zurückfliegen und er bittet sie, sein schroffes Verhalten zu entschuldigen.“
„Ist schon in Ordnung“, erwiderte ich. „Ich wäre auch nicht erfreut, wenn man mich am Sonntag zur Arbeit rufen würde. Obwohl ... in unserem Beruf kennen wir auch keine geregelten Arbeitszeiten.“
Der Kommissar nickte: „Ja, da gibt es eine Menge Menschen, die dieses Schicksal teilen. Ärzte, Pfleger, Busfahrer und und und. Wenn die alle am Wochenende die Arbeit niederlegen würden, bräche das Land zusammen.“
Während ich noch darüber sinnierte, welche Berufsgruppen alle am Wochenende arbeiten mussten - ich dachte gerade an Curry-Erwin, der keinen einzigen Tag in der Woche frei nahm - hielt Ferylé direkt vor dem Hotelschiff. „Ich wünsche ihnen einen guten Heimflug“, verabschiedete er sich und wir gaben uns die Hand.
„Netter Kerl“, meinte Birgit, als wir das Hotel betraten. „Mir tut es nur um Sergio leid. Dieser merkwürdige ‚Tanz des Flamingos‘ und die Musik waren zwar furchtbar, doch eine Kugel in den Rücken hatte er nicht verdient. Hoffentlich kann die Polizei die Mörder ermitteln und auch der Krynow etwas nachweisen, wenn sie wirklich in der Sache mit drinsteckt.“
Wir flogen um vierzehn Uhr fünfzig mit der Air France zurück nach Düsseldorf.