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Die Landschaft meiner Kindheit: Stettin und westliches Hinterpommern


Die Landschaft meiner Kindheit: Stettin, Dammscher See

In der Hafenstadt Stettin erblicke ich am 16. Januar 1935 im katholischen Carolus-Stift, das den Krieg überdauerte und heute noch von den Polen genutzt wird, bei einer Kaiserschnittgeburt das Licht der Welt. Meine Mutter hatte als Kind die „englische Krankheit“ – Rachitis – und dadurch eine Beckenverengung, die keine natürliche Geburt zuließ.

Carolus-Stift in Stettin

Im Jahre 1935 ist zwar noch Friedenszeit, aber der Verbrecher Hitler hat sich den Machtapparat bereits voll angeeignet und alle ihm nicht passenden Kräfte entmachtet oder gar hinter Stacheldraht gebracht. Die Folgen des 1. Weltkrieges, die Weltwirtschaftskrise und deren Nachwirkungen werden langsam überwunden. Nach und nach nimmt die verheerende Massenarbeitslosigkeit ein Ende. Es kommt der große Hoffnungsaufbruch nach Wirtschaftschaos und Notstand mit Adolf, dem Rattenfänger: Mitte der dreißiger Jahre geht es durch Ankurbelung der Rüstungsindustrie steil aufwärts und langsam in Vollbeschäftigung über. Meine Mutter Erna, geborene Dollerschell, ist 24 Jahre alt, mein Vater Karl 29. Ich bin ihr erstes Kind.

Mütterlicherseits entstamme ich kleinbäuerlichem und väterlicherseits großstädtisch-proletarischem Milieu. Die Vorfahren meiner Mutter kommen aus der Gegend östlich des Oderhaffs in Hinterpommern (siehe obige Karte), mein Großvater väterlicherseits aus dem damals westpreußischen Weichselraum. Mitte der 1930er Jahre wird von jedem öffentlich Bediensteten, auch von einem Telegraphenbauarbeiter der Deutschen Reichspost, ein Ariernachweis gefordert. So habe ich das Glück, durch entsprechende Nachforschung meiner Eltern in den Kirchenbüchern Details über meine Herkunft zu wissen.

Die nachfolgenden, etwas langatmigen Personalien mag der eilige Leser gern überfliegen. Mein aus dem Polnischen stammender Familienname, der ursprünglich im Bereich von Litauen verbreitet war und zu einem später verarmten polnischen Adelsgeschlecht zählte, welches das Lubicz-Wappen führte, ist wahrscheinlich auf eine Ortsbezeichnung zurückzuführen.


Nach einem polnischer Historiker ist dies das Familienwappen der Ruszkowskis.

Einen Ort Ruszkowo fand ich auf der Karte unmittelbar südlich der früheren Grenze (zwischen Ostpreußen und Polen vor 1939) südwestlich von Olsztyn/Allenstein, südöstlich der Kernsdorfer Höhe. Der Ort wäre nur etwa 110 km vom Wohnort meiner Urgroßmutter entfernt. Meine Urgroßmutter Marianna Ruszkowska, wurde am 9.05.1854 in Schönau, Kreis Schwetz, polnisch Przechowo, powiat Swiecie-Pomorze, an der Weichsel in Westpreußen als Kind der Juliana Ruszkowska, geborene Spichalska und des Felix Ruszkowski geboren. Geburts- und Taufzeugnis wurden aus dem Polnischen übersetzt. Mein Vater Karl Ruszkowski (sprich: Ruschkowski), geboren am 3.01.1906 in Stettin, war der älteste Sohn des Arbeiters Julius Ruszkowski und seiner Ehefrau Johanna, geborene Runge. Julius wurde am 29.07.1877 in Wendisch-Neudorf, Kreis Kulm im damaligen Westpreußen geboren. Ursprünglich war er römisch-katholisch. Er verstarb 1947 in Bad Segeberg direkt nach der Zwangsumsiedlung aus dem seit 1945 polnischen Stettin. Er war als Kind zusammen mit seiner Mutter Marianna, die nach seiner Geburt einen Weißenberger geheiratet hatte, nach Stettin gekommen. Meine Großmutter Johanna hatte ihn über ihre Schwester kennen gelernt, die mit seinem Halbbruder Weißenberger verheiratet war. Oma Johanna Ruszkowski war eine geborene Runge und am 10.04.1879 in Stettin als Tochter des Schuhmachermeisters und Kirchendieners Johann Heinrich Karl Runge und der Johanne Charlotte Henriette, geborene Ganz, zur Welt gekommen.


Großmutter Johanna, Vater Karl und Onkel Werner

Mein Vater Karl hatte die Realschule bis zur 8. Klasse besucht und dann Maschinenschlosser gelernt. Den schon begonnenen Besuch der Maschinenbauschule musste er wegen Geldmangels abbrechen. Er erwarb den Führerschein und verdingte sich als Treckerfahrer bei einer Firma, die für ein landwirtschaftliches Gut in Röhrchen unweit von Lübzin östlich der Oder Wiesen umpflügte.


Mein ältester mir bekannter Vorfahre der großmütterlichen Linie Macheel war Jakob Macheel, geboren im Jahre 1766 in Altsarnow im Kreis Cammin in Hinterpommern, der mit Dorothea Sophia, geborene Schmidt, verheiratet war. Zwei seiner acht Kinder, Dorothea Charlotte und Johann David, wanderten nach Amerika aus. Die Nachkommen leben heute in Fox Lake, Wisconsin/USA. Über deren Erscheinungsbild und Ergehen erfahre ich immer mal wieder über facebook. Dorotheas und Jakobs Sohn war der Bauer Michael Macheel, verheiratet mit Caroline Ernestine, geborene Groth. Als deren Sohn wurde am 13.4.1831 Carl Macheel, – meiner Mutter Großvater – in Altsarnow im Kreis Cammin geboren. Carl heiratete Johanna Friedericke Christine Radloff, geboren am 7.1.1840 in Lanke, Tochter der Marie Christine, geborene Groth und des Christian Friedrich Radloff. Es waren die Eltern meiner Großmutter Martha Dollerschell, geborene Macheel, die am 30.11.1877 – auch in Altsarnow – das Licht der Welt erblickte.


Oma Martha hatte acht Geschwister. Der älteste Bruder war mein Großonkel August. Dessen Tochter Hedwig Otto hatte in Altdamm in der Innenstadt einen Friseursalon. An Besuche dort kann ich mich noch gut erinnern. Zu ihren Kindern Ilse und Günther hatte meine Mutter noch in Schwerin-Lankow bis in die 1970er und 90er Jahre Kontakt. – Großonkel Michael und Großtante Toni hatten den Hof von Urgroßvater Carl Macheel in Altsarnow geerbt. Großtante Emma, Marthas Schwester, hatte Wilhelm Groth in Dischenhagen (Kreis Cammin) geheiratet. Die Ehe blieb kinderlos. Deshalb boten sie meinem Onkel Walter Dollerschell nach dessen Konfirmation an, als Hoferbe nach Dischenhagen zu kommen.


Das Haus in Dischenhagen heute in Polen


Onkel Franz und Walter, beide im Krieg „vermisst“

Walter hatte bereits eine Tischlerlehrstelle in Gollnow in Aussicht gehabt. – In Dischenhagen fanden wir von Juli 1943 bis März 1945 Zuflucht, dazu später Näheres. – Großonkel Emil war Schneider in Stettin und mit Großtante Anna verheiratet. Nach zwei Totgeburten blieb die Ehe kinderlos, weil es damals noch nicht den ärztlichen Kunstgriff des Kaiserschnitts gab. Sie luden meine Mutter im Alter von 15-17 Jahren des Öfteren für 2-3 Tage nach Stettin ein, gingen mit ihr ins Theater und wollten sie einmal auf einem Dampferausflug von Stettin nach Rügen mit ihrem Schneidergehilfen verkuppeln.


Dieser junge Mann sagte meiner Mutter jedoch nicht sonderlich zu. Dessen Freund, der mit an Bord war, gefiel ihr viel besser, und so tanzte sie an Bord fast nur mit jenem. Das sah Großtante Anna jedoch nicht gerne und verbot dem Kavalier die Tänze mit Erna. An diesen Ausflug erinnerte sich meine Mutter sehr gerne. Vor Stubbenkammer wurden die Reisenden ausgebootet, und man bestieg die Kreidesteilküste, um dann nach Saßnitz zu wandern, wo das Schiff sie wieder für die Rückreise an Bord nahm. – Großtante Marie war die Witwe von Großonkel Otto, einem Vetter von Oma Martha, der als Brandmeister bei der Feuerwehr bei einem Löscheinsatz tödlich verunglückt war. Wenn sie zum Nähen nach Lübzin kam, saß Klein-Erna immer bei ihr mit an der Nähmaschine. Zitat der Großtante: „Martha, die Erna muss mal Schneiderin werden.“ – Großonkel Ferdinand aus Harkenwalde war Stellmacher und Landwirt. Er war mit der anderen Großtante Anna verheiratet. Die beiden Annas waren grundverschieden in Wesen und Charakter. – Ernas Mutter Martha war das drittjüngste Kind. Bei ihrer Konfirmation hatte der Pastor von Altsarnow Besuch aus Stettin. Diese Leute nahmen Martha als Kindermädchen mit in die Stadt. In Stettin lernte Oma Martha kochen und war später bei einem Kommerzienrat „in Stellung“. Beim Einkauf musste sie für die Dienstboten immer „Leutewurst“ extra beschaffen. Dort in Stettin lernte sie dann auch ihren späteren Mann, Karl Dollerschell aus Lübzin, kennen, der in Stettin als Arbeiter lebte.


Großvater Karl Dollerschell

Mein ältester mir bekannter Vorfahre der mütterlichen Dollerschell-Linie war der Schmied und Viktuarienhändler Johann Heinrich Georg Dollerschell, geboren im Jahre 1798, aus Luisenthal, römisch-katholischer Konfession. Meiner Mutter Lehrer behauptete, Dollerschell sei ein Hugenotten-Name: Der Preußenkönig hatte Generationen zuvor protestantische Hugenotten-Asylanten aus Frankreich in der Oderniederung am Dammschen See angesiedelt. Von Tante Frieda Tank (geborene Dollerschell) wurde diese These jedoch in Frage gestellt, da Ferdinand wie auch andere in dieser Gegend lebende Dollerschells ursprünglich katholisch war. Heinrich heiratete am 31.03.1823 Caroline, geborene Thomas und hatte mir ihr zehn Kinder. Am 7.08.1853 ertrank er im Dammschen See. Vermutlich war er verwand mit Johann Wilhelm Dollerschell, geboren am 21.10.1827 (oder 1828?) in Louisenthal, Kreis Naugard, Pommern), der 1884 nach Amerika auswanderte.

Am 29.03.1836 wurde mein Urgroßvater, Ferdinand Dollerschell, in Luisenthal als Sohn dieses Heinrich Dollerschell und seiner Frau Caroline geboren.

Am 8.4.1837 wurde Johanna Zimmermann als Tochter des Erbbesitzers Johann Christian Zimmermann und Dorothea, geborene Balck, in Lübzin geboren. Sie heiratete meinen Urgroßvater Ferdinand Dollerschell und brachte am 10.5.1875 meinen Großvater Karl Dollerschell in Lübzin zur Welt.

Der großväterliche Dollerschellsche Hof in Lübzin ging zunächst an den Bruder Albert. Da sich dessen Frau nicht mit der unter einem Dach lebenden Schwiegermutter Johanna Dollerschell vertrug und es zu ständigen Streitereien kam, wurde Karl, der sich als Arbeiter in Stettin beim Bau der Hakenterrasse verdingt hatte, auf den Hof geholt. Albert wohnte mit seiner Familie auf der anderen Straßenseite, und die Familien wechselten seither kein Wort mehr miteinander. In Rosenow gab es auch noch Dollerschells. Über Verwandtschaft ist nichts Näheres bekannt.

Am 20.10.1910 wurde meine Mutter, Erna Emma Martha Dollerschell, in Lübzin am Dammschen See geboren. Sie war als viertes Kind das Nesthäkchen. Ihre Schwester Frieda war als Älteste die Stütze der Mutter in Küche, Haus, Stall und Hof. Frieda heiratete Hermann Tank und übernahm mit diesem den Hof. Der Bruder Franz Dollerschell heiratete Käthe Trester und sollte von deren Vater Gustav in Lübzin dessen gut gehende Fleischerei übernehmen. Er gilt seit Kriegsende als vermisst. Der Bruder Walter Dollerschell übernahm, wie bereits erwähnt, vom Onkel Wilhelm Groth den Hof in Dischenhagen und heiratete Erna Keller aus Hohenbrück. Auch Walter gilt seit August 1944 (in Rumänien) als vermisst.

Bei den Dollerschells in Lübzin wurde normalerweise „platt“ gesprochen: Klein Ernas erstes bekanntes Zitat: „Ick kann up'n Disch kiecken!" Meine Mutter und ihre Schwester unterhielten sich, wenn sie sich später im Rheinland trafen, bis ins hohe Alter in pommerschem Platt, das sich allerdings von dem im etwa 30 km nördlich gelegenen Dischenhagen gesprochenen Platt schon wieder stark unterschied und mehr dem vorpommerschen Niederdeutsch glich.


Die Familie Dollerschell - Macheel in Lübzin ↑ am Dammschen See in Hinterpommern anlässlich Friedas Konfirmation: Ganz oben rechts: Großtante Anna(?), zweite Reihe ganz links Großonkel Wilhelm Groth, rechts daneben Großtante Emma Groth, * Macheel, zweite Reihe in der Mitte: die ältere Schwester meiner Mutter, meine Tante Frieda , rechts daneben Großmutter Martha Dollerschell, * Macheel, rechts daneben mit Hut: Großonkel Emil (Schneider), ganz links unten: meine Mutter Erna , etwa sechsjährig, unten rechts: ihr Bruder Walter , links daneben: ihr Bruder Franz (meine Onkel)

Als im August 1914 der Weltkrieg begann, war meine Mutter gut drei Jahre alt. Dass dieser Krieg später der erste genannt werden würde, ahnte man damals noch nicht. Am 2.08.1916, als Erna fünf Jahre alt war, wurde ihr Vater in Frankreich im Krieg erschossen. Großvater Karl Dollerschell war an der Westfront vor Verdun eingesetzt und hatte 1916 zur Erntezeit Heimaturlaub. Vor Ablauf desselben telegraphierte der Lübziner Dorfpastor an die Front und erbat für Karl Verlängerung des Urlaubs wegen noch nicht voll eingebrachter Ernte. Aus der telegraphischen Antwort entnahm man: „genehmigt“. Es war jedoch ein Irrtum: Das Telegramm war verstümmelt. Es hieß in Wirklichkeit: „nicht genehmigt“. Daraufhin wurde der „Fahnenflüchtige“ zu Hause von den Feldgendarmen abgeholt und zur Front zurückgebracht. Für ihn stand sogleich das Todesurteil fest. Er wollte seine Uhr und andere Wertsachen nicht mehr mitnehmen. Vermutlich wurde er in einer Strafkompanie in die vordersten Linien kommandiert und fand kurz darauf vor Fort Duamant den Tod. Großmutter Martha stand mit vier kleinen Kindern und der Landwirtschaft alleine. Der Urgroßvater Ferdinand wollte daraufhin wieder seinen Sohn Albert auf den Hof zurückholen. Mutter Martha wehrte sich aber und blieb. Der kleine Hof mit einem Pferd, sechs Kühen, drei bis fünf Schweinen, Hühnern und Gänsen am östlichen Ende vom „langen Haus“ ernährte die Familie schlecht und recht.

Das Haus der Dollerschells in Lübzin wird heute von Polen bewohnt –

nur wenige Fragmente des „langen Hauses“ überlebten den Krieg –

von mir während eines Polenbesuchs fotografiert

Drei Schweine wurden in der Regel pro Jahr zum Eigenbedarf geschlachtet. Das Fleisch wurde in einem großen Fass eingepökelt, aber auch schon damals in Gläsern eingeweckt. In den Dachkammern duftete es im Herbst köstlich nach den dort gelagerten Winteräpfeln aus dem großen Garten. Großvater Karl war fortschrittlich und hatte bereits vor dem Krieg elektrisches Licht auf dem Hof und zusammen mit einem anderen Bauern eine Mähmaschine. Während der Kriegszeit hatte Großmutter Martha russische Kriegsgefangene als Hilfe, darnach musste sie den Hof mit ihren Kindern alleine bewirtschaften. Beim Pferdekauf und anderen Geschäften versuchte man sie übers Ohr zu hauen. Wenn man sie um ihre kleine Kriegerwitwenrente beneidete, konnte sie sehr zornig werden: schließlich habe man ihren Mann totgeschossen. Sie hatte ein schweres Leben. Sie verstarb im September 1944 kurz vor der Flucht, die ihr damit erspart blieb, im Alter von 66 Jahren.


Klein-Erna

1917 wurde meine Mutter im Alter von sechs Jahren während des Krieges eingeschult. Mit den anderen Geschwistern musste sie immer mit aufs Feld und in den Stall. Oft nahm sie das Gesangbuch mit auf den Acker, um die Liedverse auswendig zu lernen, die für Schule und Konfirmandenunterricht als Hausaufgaben zu erledigen waren. Sie hatte immer Angst, die geforderten Leistungen nicht erfüllen zu können. Klein-Ernas Alptraum war das Melken. Unter der Kuh auf dem Melkschemel sitzend, zitterte sie vor Angst. Sie kriegte das Euter nie richtig leer gemelkt, und ihre große Schwester Frieda musste immer noch nachmelken. Erna war der Laufbursche des Hofes. Wenn zum Mähen mit der Maschine ein zweites Pferd gebraucht wurde, musste sie zum Hof des Partners laufen und fragen. Auf dem Dachboden fand Erna ein geheimnisvolles „7. Buch Moses“, in dem sie oft las.

Palmsonntag 1918, im letzten Kriegsjahr, als Erna sieben Jahre alt war, kam zu Friedas Konfirmation viel Verwandtenbesuch. Das alte interessante Familienfoto (oben) zeugt noch heute davon.

1925 wurde meine Mutter mit 14 Jahren konfirmiert. Bei einer Kriegerwitwe in Lübzin lernte sie zusammen mit zwei anderen Mädchen (Freundin Magda) fünf Monate lang im Winter nähen. Die Künste des Zuschneidens vervollkommnete sie bei ihren Besuchen bei ihrem Onkel Emil, der Mäntel für eine jüdische Konfektionsfirma schneiderte.

Während ihrer Kindheit und Jugend gab es oft Ausflüge mit dem Dampfer über den Dammschen See ans andere Ufer nach Stettin. Eine Dampferfahrt mit Zwischenstation in Bergland und unter der Oder-Baumbrücke hindurch bis zum Bollwerk unter der Hakenterrasse in Stettin dauerte etwa 1 ½ Stunden. Wenn im Winter der See zugefroren war, kam der Eisbrecher und hielt die Fahrrinne für den Dampfer frei. Ging auch das nicht mehr, musste man von Röhrchen aus über Altdamm mit dem Zug nach Stettin fahren. 1925 war der Dammsche See eingedeicht worden. Die Wiesen waren vorher in jedem Winter weiträumig überschwemmt gewesen. Gleich hinter dem elterlichen Hof begannen früher im Winter die Eisflächen, wo die Dorfjugend, auch Erna, kilometerweit bis auf den See hinaus Schlittschuh laufen konnte. Ab dem 10. Lebensjahr war Erna mit Begeisterung Eisläuferin. In einer großen Schlange, Hand an Hand, vorweg der Pastorssohn, zog man auf dem Eis fröhlich gemeinsam seine Bahn. Schlittschuhe und Schuhe hatte Erna von der großen Schwester Frieda übernommen, nachdem diese herausgewachsen war. Im harten Winter 1928/29 war der Dammsche See monatelang bis an Ostern heran zugefroren. Da früher vor der Eindeichung die Wiesen in der Odermündung im Winter regelmäßig überschwemmt waren, hatte Erna immer den Eindruck, der Zug fahre über das Wasser, weil nur der Eisenbahndamm aus den Fluten herausragte. Im Winter gingen die Männer aus dem Dorf auf den zugefrorenen See zum Aalstechen. Es wurden Löcher ins Eis geschlagen, mit Spießen ging es dann auf Aaljagd. In Tonnen wurde der Aal geräuchert.


Lübzin am Dammschen See

In der Inflationszeit wäre kein Geld für eine Neuanschaffung vorhanden gewesen.

Die Stadt war Ernas großes Ziel. Wie hatte doch Bruder Franz gesagt? „Erna, heirat’ bloß keen Buern, den mokst du unglöcklich!“ Weg von der Landwirtschaft, weg vom Dorf! In der Stadt winkte das bessere Leben.


Erna Dollerschell


Mit 18 lernte Erna Dollerschell 1928 beim Tanzen in Lübzin meinen Vater – Karl Ruszkowski – aus Stettin kennen.


1929 verlobten sich Karl und Erna. Die Zeiten waren schlecht. Die Wirtschaft lag danieder. Blanke Not und Massenarbeitslosigkeit beherrschten den Alltag. Mein Onkel Hermann Tank und mein Vater, beide Maschinenschlosser von Beruf, hatten sich 1930 zusammen selbständig gemacht. Mit einem großen Trecker mit Eisenrädern und einem riesigen Pflug dahinter pflügten sie für die Bauern die Wiesen in der Oderniederung um. Die Zeiten wurden immer schlechter: Die Bauern konnten die Rechnungen nicht mehr bezahlen. Hitler erließ den Bauern die Schulden. Konkurrenten drückten die Preise. Firma Hermann & Karl kam in der Folge in die Pleite.

Trecker und Pflug stehen noch bis in die 1940er Jahre hinein auf dem Hof in Lübzin und verrosten. Ich spiele als Junge bei Besuchen in Lübzin darauf herum und habe heute noch den Schmierölgeruch aus dem Getriebe in der Nase.

Vier Jahre lang sind meine Eltern verlobt. Dann wird in Stettin in der Bergstraße 6, wo mein Vater bei seinen Eltern in der Nähe des Hauptbahnhofs lebt, in der 2. Etage eine Wohnung frei. Karl erklärt, jetzt sei die Zeit zum Heiraten gekommen: 1933, Vater ist 27, Mutter 22 Jahre alt, ist dann Hochzeit bei ungewisser Zukunft: Man startet gemeinsam trotz Arbeitslosigkeit und lebt schlecht und recht vom Stempelgeld. Dieses wird immer weiter gekürzt. Zum Schluss gibt es nur noch 12 Reichsmark wöchentlich. Aber meine Mutter kann durch Näharbeiten hinzuverdienen und Schwiegermutter Johanna Ruszkowski sorgt für Kundschaft. Als Karl ihr einmal sagt, sie könne ja sehr viel, nur kochen könne sie nicht, nimmt sie sich das sehr zu Herzen und unternimmt alles, um diese Lücke zu schließen. Ihre Mutter war gelernte Köchin gewesen und hatte das Nesthäkchen nie an den Herd gelassen.


Rückblicke – Autobiographie – Teil 1

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