Читать книгу Die weitere Geschichte des Rauhen Hauses von 1939 bis 2018 - Jürgen Ruszkowski - Страница 7
Erziehungsarbeit in den 1950er Jahren
ОглавлениеDer Herausgeber dieses Buches schreibt in sein Tagebuch:
3. Juni 1955, 23 h: „Stellungswechsel. Ich bin gerade damit fertig, meine Sachen einzuräumen. Soeben bin ich umgezogen. Ab sofort habe ich im Erziehungsdienst zu arbeiten. Meine neue Wirkungsstätte ist die Familie „Kastanie oben“.
Bruder Walter Mahnke übernimmt die Familie ‚Kastanie oben’. Er ist ein recht reifer Mensch, macht seinen „Job“ sehr gut und mit vollem Einsatz, ist pedantisch genau und gerecht und genießt bei den Jungen eine natürliche Autorität.
Im Haus ‚Kastanie’ sammelte er seine ersten Erfahrungen als Erzieher.
Einen guten Einblick in den Alltag des Erziehungsdienstes gibt ein Aufsatz, den der Herausgeber dieses Bandes am 9. September 1955 im Deutschunterricht unter dem vorgegebenen Thema schreibt:
Meine Aufgabe als Erziehungsgehilfe
bei der Arbeit in einer Jungenfamilie des Rauhen Hauses
Als Diakonenschüler des Rauhen Hauses stehe ich neben meiner theoretischen Ausbildung in der praktischen Arbeit als Erziehungsgehilfe. In einer Schülerfamilie betreue ich mit zwei anderen Diakonenschülern, die ‚Brüder’ genannt werden, 19 Jungen im Alter von 12 bis 15 Jahren. – Was bedeutet ‚Familie’? In der natürlichen Familie sind die besten Erziehungsmöglichkeiten gegeben. Wir versuchen, diese Familie so gut wie möglich zu ersetzen. Es wird uns wohl nicht ganz gelingen; denn uns fehlen ja der Vater und die Mutter. Ein junger Erzieher von ca. 25 Jahren kann auch schlecht den Vater bei dreizehnjährigen Jungen ersetzen. Deshalb soll er den älteren Bruder der Jungen darstellen. Die ganze Jungengruppe zusammen mit den Erziehern bildet so unsere Familie. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass wir Erzieher mit den Jungen zusammen essen, zusammen mit ihnen in einem Zimmer schlafen, überhaupt das ganze Leben gewissermaßen mit ihnen teilen. – Wir bewohnen mit unserer Familie eines der vier Häuser, die den Bombenangriff im letzten Kriege überstanden haben. Es ist also ein älteres Haus, das Haus ‚Kastanie’. Im oberen Stockwerk stehen uns 9 Räume zur Verfügung. Sieben davon werden von den Jungen bewohnt. In jedem Zimmer stehen zwei bis vier Betten. – Man kann bei unseren Jungen nicht von ‚schwer erziehbaren’ sprechen, aber doch werden in den meisten Fällen die Eltern nicht mit ihnen fertig und schicken sie dann zu uns. Bei vielen leben die Eltern in Scheidung oder auch getrennt und vertrauen uns ihre Kinder an. Die Jungen besuchen teils die Volks-, teils die Oberschule. Die kleinsten in unserer Familie sind im 6., die ältesten im 9. Schuljahr. – Was ist nun meine Aufgabe in dieser Familie? Ein älterer Bruder, der im letzten Ausbildungsjahr steht, ist bei uns Familienleiter. Mit einem anderen Bruder zusammen stehe ich ihm als Gehilfe in seiner Arbeit zur Seite. Wir haben uns die anfallende Arbeit aufgeteilt, so dass jeder von uns seine Aufgaben hat. Der Familienleiter hat natürlich die Verantwortung für alles und daher auf alles zu achten. Er hat uns Gehilfen sozusagen von seiner Arbeit etwas abgegeben. So kümmert sich der zweite Gehilfe, der schulisch etwas mehr vorgebildet ist, als ich, um die Schularbeiten der Jungen und hat nebenbei noch einige andere kleine Aufgaben. Ich habe für die Aufsicht beim Spielen sowie für die Fluraufsicht aufzukommen und bin für die Sauberkeit und Ordnung verantwortlich. So muss ich zum Beispiel prüfen, ob die Jungen morgens ihr Hausgeschäft ordentlich erledigen, muss die Ordnung in den Zimmern und den Schränken überprüfen. Ich muss sehen, dass die Jungen sich regelmäßig und ordentlich waschen, dass sie ihre Schuhe putzen und überhaupt ihre Sachen in Ordnung halten. – Wie sieht nun so ein Alltag für mich in der Familie aus? Morgens um 5.30 Uhr stehe ich auf. Um 6 Uhr, wenn die Jungen geweckt werden, muss ich ‚einsatzbereit’ sein. Ich halte mich hauptsächlich auf dem Flur auf, sehe hin und wieder in die Zimmer, um nach dem Rechten zu schauen. Die Jungen machen dann die Räume sauber und melden ihr Hausgeschäft bei mir ab. Das geht bis kurz vor sieben Uhr. Dann gehen wir geschlossen in den Esssaal im ehemaligen Schulgebäude zum Frühstück. Bis 8 Uhr sind alle Jungen zur Schule, soweit sie nicht zur Schule müssen, in der ‚Freizeitfamilie’. Ich selber habe den Vormittag über Unterricht. Komme ich mittags gegen 13 bis 13:30 Uhr aus dem Unterricht, so sind dann auch schon einige Jungen von der Schule zurück. Die übrigen kommen bis 15 Uhr nach und nach an. Dann geht in dieser Zeit immer ein Bruder mit einigen Jungen zum Mittagessen. Von 13 bis 16 Uhr ist die Lernstunde angesetzt, in der die Jungen ihre Schularbeiten machen oder die Aufgaben erledigen, die sie vom Familienleiter zur Übung aufbekommen, denn die meisten unserer Jungen stehen in der Schule sehr schlecht, und wir haben es uns zur Hauptaufgabe in unserer Familie gemacht, die schulischen Leistungen der Jungen zu verbessern, damit sie nach Möglichkeit bessere Zeugnisse bekommen. Denn an den Zeugnissen wird der Erfolg unserer Arbeit von den Eltern doch in erster Linie gemessen. – In dieser Lernstunde muss völlige Ruhe im Hause herrschen. Dafür zu sorgen, ist in dieser Zeit meine Aufgabe. Nebenbei sehe ich auch bei Überlastung der anderen Brüder die Hausaufgaben nach. – Nach dieser Zeit der Anspannung und Konzentration sollen die Jungen sich wieder entspannen können. Sie haben daher die Möglichkeit, von 16 Uhr bis zum Abendessen um 18 Uhr und danach bis 19:30 Uhr draußen zu spielen, sich auf dem Zimmer zu beschäftigen, zu lesen oder was sie sonst wollen. Die Aufsicht dabei führe ich. Um 19:30 Uhr machen sie sich zur Nachtruhe fertig. Es werden die Schuhe geputzt, es wird sich gewaschen, das Zimmer aufgeräumt. Um 20:15 Uhr mache ich den ‚Stubendurchgang’. Dabei sehe ich, ob alle im Bett liegen und ruhig sind. Bis 20:30 Uhr können die Jungen noch lesen. Jetzt geht der Familienleiter durch die Zimmer, wünscht den Jungen eine gute Nacht und löscht das Licht. Hiernach kommt für mich die letzte Tagesarbeit: Für kurze Zeit muss ich noch auf dem Flur die Ohren spitzen, um zu hören, ob überall Ruhe herrscht, was aber in der Regel der Fall ist. Dann kann ich mich auf ‚mein’ Zimmer zurückziehen. Dort muss ich aber gut die Lampe verhängen und mich geräuschlos bewegen, um nicht die beiden Jungen zu wecken, die mit mir zusammen in einem Zimmer schlafen. Wenn die Arbeit auch öfter schwer fällt, wenn man oft viel Energie aufwenden muss und der Tag lang ist, so bringt sie doch viel Freude.
Gerhard Jeromin schildert den Alltag in einer Jungenfamilie in Versform:
Ich hab’ noch schnell so auf der Stell’ – so hin und her, so kreuz und quer – mit Qual und auch mit Freude – kein Kollossalgebäude – ein’ Vers – und noch ein’ Vers gemacht:
Ich berichte – Also höret
die Geschichte – ungestöret
(im Gedichte) – nicht empöret!
aller Tage – wie’s so geht
aus der Lage – von früh bis spät
mit der Waage – bei uns hier
meiner Augen – (laut Papier)
Ob sie taugen? – mit Manier
Wird sich weisen – und Unbehagen
So gemessen! – lässt sich tragen
Nichts vergessen? – manche Last.
Nein! – Fast!
Das ist fein. – Aufgepasst!
(Muss so sein) – (Ohne Hast!)
Epos Nummer eins (’s ist was fein’s)
Wecken!
Der Schläfer:
(Weis in Schranken den Gedanken!
Zum Verrecken dieses Wecken!)
Willst mich necken?
Irgendwo?
Doch nicht so!! ooohhh – o!
Dieser Schrecken! – und dann recken.
Wecken!
Unerhört! – nie gehört – (doch dann…)
Aufgestört werden die Gedanken
Wieder ohne Schranken wandern sie und wanken, ranken, schwanken…
…wandern sie in der Früh’ – wieder fort…
Doch das eine Wort: Wecken!
Weis in Schranken den Gedanken:
Zum Verrecken dieses Wecken!
15 Kinder! Keine Sünder, wenn sie schlafen.
In dem Hafen ihrer Träume wachsen Wunderbäume.
15 Knaben soll man haben in der Früh’.
Wecke sie!
„Guten Morgen!“
Dieses Wort schallt bald …fort – hier und dort:
5 mal in der Runde in der 6ten Morgenstunde.
„Aufstehen! …und die Bäume ihrer Träume brechen um –
bumm! (zu dumm)
„Aufstehen!“
(Darauf gibt es keinen Reim; denn auf diesen Leim
muss zum Schluss ein jeder – oder… entweder draufgehen!
…und auf alle Fälle mein Geselle auf der Stelle und mit Schnelle: denn wie eine Welle folgt zum 2ten Mal der Ruf
(Wer ihm diese Stimme schuf?
„Aufstehen!“
…ihm? …wem? – na, dem Herrn Familienleiter!
Wie’ n Gefreiter, ja so schreit er: „Aufstehen!“
Wieder der Schläfer:
Faulheit lass los! – Her mit der Hos’!
Her mit dem Hemd! – äh, Quatsch! – noch gepennt!
Nur noch ein Stück, noch einmal zurück… in den Traum
…auf den Baum – in den Hafen – und dann schlafen.
„Jetzt aber raus!“
Brand und Braus!
Ei, der Daus!
Schreck und Graus – der sieht aus:
…und dann schreit er, wie ’n Gefreiter – wer?
Na, der Herr Familienleiter!
Waschen
Nein! Nicht nur naschen und erhaschen etwas Wasser!
Immer nasser, immer blasser wird die Haut.
brrrr…ihm graut!
Und so kalt wird es bald. – Man wird alt!
Waschen?
Nicht zu viel! Der Sex-Appeal geht durch ’s Siel
durch das Gewasche.
Das ist die Masche: Einmal ran an den Kran.
Spiegelblick! – und zurück.
so, das reicht. (Wasser weicht die Poren auf)
Waschen? – pfeif’ ich drauf!
Zähne putzen soll was nutzen,
soll was nutzen.
Doch für mich gilt das nicht.
Ich bin froh – doch auch so!
In die Haare – iii, bewahre – nicht Pomade, das wär’ schade!
In die Haare kommt ein Kamm!
Mein lieber Mann, gar nicht schlecht!
(Hab ich recht?)
Sooo – hinten rüber, so mein Lieber!
…und dann schreit er schon mal wieder!
Meine Lider! – meine Ohren“ – meine Poren!
Hör’ ich nicht – Strich!
„Milchflaschen“ schreit einer – und keiner hat eine,
hat keine, keine kleine , keine große Flasche in der Tasche –
in seinem –Schrank – auf der Fensterbank – und nirgendwo
…’s ist nun mal so!
„Milchflaschen“ schreit er – und so weiter – und so weiter
Wer? – Der Herr Familienleiter? – oh, du Gescheiter!
„Milchflaschen“
15 Mann sind aufgestanden, 15 Mann sind noch vorhanden,
sind gewaschen, das ist wahr,
haben wohl gekämmtes Haar – und ein blitzblank’ Gesicht
sagt ein herrliches Gedicht! – nicht?
Nicht wahr? – aber klar!
Fegen sollst du und dich bücken.
Deinen Rücken sollst du krümmen,
dich besinnen, wo, woher ach so sehr, immer mehr…
kommt der Dreck. Ach, du Schreck, noch nicht weg!
Wischen sollst du auf den Tischen,
auf den Schränken, unter Bänken,
in den Nischen, auf dem Boden und auch oben
und auch unten an den bunten Leisten.
In den meisten Ecken – will verstecken sich der Dreck.
Ach du Schreck, noch nicht weg!
…und noch mal – welche Qual:
fegen, wischen, putzen! Nur nicht stutzen
und auch Mittel. Mach drei Drittel – mach es ganz
und der Glanz in dem Heim ist dann dein.
Oh, wie fein!
Energie! verwende sie! spät und früh!
und der Preis für den Fleiß, wie man weiß
wenn man heiß ist von dem Tun:
Man darf ruh’n.
Denkste!
denn zum Ende , flink, behände müssen melden
alle Helden ab – die Geschäfte!
Das kost’ t Kräfte
mein lieber Mann… und dann?
Dann kommt er! Wer? Na, der Familienleiter!
„Und?“ – „Mann, bist du wund?
…und sein Gefreiter – oder auch Mitstreiter!
und dann schreit er:
„Ist noch nicht gut!“ – Man kommt in Wut!
In den Ecken Dreck verdecken?
Zum Verrecken! (oh, Verzeihung! Welch’ Entweihung)
Da sind Flecken in den Ecken zu entfernen.
Musst du lernen! So. – wo? – da! ach so! – ja!
Hat man dann Mann für Mann abgemeldet,
folgt der Kummer mit der Nummer!
An dem Brett, oh, wie nett eine 4 schrieb er hier.
Wer? - Na, der Familienleiter oder sein Gefreiter
dort ’ne 2 – Schummelei!
Da ’ne 1. Ist das Heinz?
Nein, der will immer mehr als wir.
Drum die 4 hier bei mir.
Doch, es läutet! Das Bedeutet fertig machen alle Sachen – alle Mann. Es folgt dann – Frühstück – früh am Morgen.
Macht euch keine Sorgen:
Sieben ist die Uhr; weiter geht die Tour:
Hände falten und sich setzen.
Drauf das folgende Ergötzen:
Suppe, Milch? – Ja, du Knilch.
Sei doch helle. eine Kelle „bitte“
weitergeben in der Mitte!
Brot und Käse. Rümpf die Näse nicht! – blasses Milchgesicht!
Iss die Suppe! – Spiel nicht! – Spiel nicht schnuppe
und egal; denn das Mahl stärkt die Glieder wieder.
Marmelade – oh, wie schade
gibt’s nicht nach. – „Ich werd’ schwach!“
Gibt’s nicht mehr! Quel malheur!
Aber: gelben Käse! – Bitte, sei nicht böse!
„Mach’ nicht so’ n Gesicht! – Lass die Hände doch am Ende
von dem Tisch! …und dann wisch dir den Mund!
Oh, wie bunt sind die Manschetten…
Möchte wetten… jeden Preis… waren weiß!
Weiß wie Reis – weiß wie Schnee? – Nee!
Beim gemeinsamen Essen
„Sitz gerade! – Mach Parade mit dem Rücken!
Muss man schicken einen Stock unter deinen Rock?
Deine Hände sprechen Bände – bis zum Knöchel!
Kein Geröchel!“
Und so weiter… und so weiter… manchmal munter,
manchmal heiter redet er… Wer?
Na, der Familienleiter:
Erst gegessen – dann erzählt. Schon vergessen?
und gequält hört man’s wieder „Alte Lieder“ – alte Leier!
Und die Ton kennt man schon.
Abgeräumt! – Nicht gesäumt!
Auf die Tischtücher die Liederbücher!
Wir singen, wir hören – wir beten (nicht stören!)
Dieser Epos von Gerhard Jeromin beschreibt weiterhin den gesamten Tageslauf in einer Jungenfamilie bis zur Nachtruhe. Vor dem inneren Auge des Zeitzeugen laufen wieder die alten Bilder ab. Hier sei zunächst Schluss mit der Reimerei.
Arbeit für die Schule
Freizeit – austoben