Читать книгу Forschungsreisen in früheren Jahrhunderten - Band 124 in der maritimen gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski - Jürgen Ruszkowski - Страница 6
Marco Molo‘s Vater und Onkel
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Der Weg nach Cathay
Die Brüder Nicolo und Maffeo Polo hatten sich im Jahre 1260 nach einem längeren Aufenthalt in Konstantinopel auf die Halbinsel Krim begeben. Sie wollten dort ihre Faktorei in Soldaja aufsuchen und neue Handelsbeziehungen anknüpfen. Zu diesem Zweck reisten sie in das Gebiet der unteren Wolga, das schon unter tatarischer Oberherrschaft stand. Sie machten dort gute Geschäfte und blieben etwa ein Jahr lang. Dann aber hinderten kriegerische Verwicklungen sie an der Heimkehr und drängten sie immer weiter nach Osten bis Buchara.
Eines Tages erschien hier eine Gesandtschaft, die der tatarische Herrscher von Persien an den Oberherrn aller Tataren-Khane, Kublai Khan, geschickt hatte.
Der Gesandte, der zum ersten Male „Lateiner“ zu Gesicht bekam, erzählte ihnen, dass sie unter seinem Schutz die Reise nach Cathay (d. i. China) in voller Sicherheit zurücklegen könnten und dass man sie am Hofe des Groß-Khans höchst ehrenvoll aufnehmen würde. Da ihnen ohnehin die Rückkehr in die Heimat auf unabsehbare Zeit verwehrt war, beschlossen die Brüder Polo, das Angebot anzunehmen. Wohl war der Weg weit und beschwerlich, aber unter dem Schutz der tatarischen Gesandtschaft kamen sie nach einer Reisezeit von einem Jahr wohlbehalten am Hofe des Groß-Khans an.
Der mongolische Herrscher Kublai Khan – ein Enkel Dschingis Khans
Kublai Khan empfing sie mit freundlicher Herablassung. Er erkundigte sich nach allen Herrschern des Abendlandes, nach der Größe ihrer Länder, der Art ihrer Rechtspflege und Kriegführung. Vor allem aber wollte er immer wieder vom Papst hören, von der christlichen Religion und der römischen Kirche. Da die beiden Polos welterfahrene Männer waren, zudem durch jahrelangen Umgang mit Tataren deren Sprache vollkommen beherrschten, war es ihnen leicht, die Wissbegierde des Herrschers zu stillen.
Als der Groß-Khan sie in zahlreichen Unterredungen gründlich ausgeforscht und alles, was er über das Abendland wissen wollte, erfahren hatte, beschloss er, sie als seine Gesandten nach Rom zu schicken. Er gab ihnen ein in tatarischer Sprache abgefasstes persönliches Schreiben an das Oberhaupt der Christenheit mit, worin er bat, der Papst möge ihm hundert Priester senden. Sie sollten vor allem die Kunst des Diskutierens beherrschen und in der Lage sein, vor Buddhisten und anderen Leuten mit überzeugenden Argumenten klarzulegen, dass die Lehre Christi die beste sei, alle anderen Religionen dagegen falsch und nichtig. Wenn sie das beweisen könnten, dann würde er selbst, der Groß-Khan, mit allen seinen Untertanen zum christlichen Glauben übertreten.
Über den Rückweg der Polos sind wir im Einzelnen nicht genauer unterrichtet. Wir wissen jedoch, dass sie trotz dieser bedeutenden Erleichterungen volle drei Jahre für die Heimreise gebraucht haben. Gewaltige Regenzeiten hinderten ihr Vorwärtskommen, reißende Ströme schwollen so an, dass sie lange Zeit unpassierbar waren, und im Winter mussten sie wegen mächtiger Schneefälle oft die Reise unterbrechen. – Sie erreichten schließlich das langersehnte Mittelmeer bei Acre in Palästina. Hier fühlten sie sich schon fast auf heimischem Boden, denn in dieser Stadt befand sich damals eine bedeutende venezianische Niederlassung. Nun erfuhren sie erst, dass inzwischen Papst Clemens IV. gestorben war. Sie berichteten dem in Acre amtierenden päpstlichen Legaten Theobald von Piacenza, woher sie kamen und welchen Auftragt sie auszuführen hatten. Der bestärkte sie in der Auffassung, dass ihre Mission für die ganze Christenheit von höchster Bedeutung sei. Er riet ihnen, zunächst in ihre Heimat zu reisen und dort die Wahl des neuen Papstes abzuwarten. Als sie in Venedig ankamen, fand Nicolo, dass seine Frau inzwischen gestorben, sein Sohn Marco aber, der im Jahre 1254 geboren war, zu einem stattlichen Knaben herangewachsen war. Er beschloss daher, ihn bei der Rückkehrt zum Hofe des Groß-Khans mit auf die Reise zu nehmen.
* * *
Ins Reich des Groß-Khans
Die Wahl eines Nachfolgers für Papst Clemens kam wegen anhaltender Uneinigkeit im Kardinalskollegium fast drei Jahre lang nicht zustande. Es war das längste päpstliche Interregnum, von dem man je gehört hatte. Nachdem zwei Jahre vergangen waren, meinten die Polos, dass sie Kublai Khan nicht länger ohne Nachricht lassen konnten. Sie beschlossen daher, auch ohne ihre eigentliche Mission erfüllt zu haben, erneut die Reise in das Tatarenreich anzutreten. Der siebzehnjährige Marco war jetzt mit ihnen. In Acre betrat er zum ersten Mal den Boden Asiens, nicht ahnend, dass er ihn nun fast ein Menschenalter lang nicht wieder verlassen sollte.Zunächst reisten die Polos nach Jerusalem, da Kublai Khan sie dringend gebeten hatte, ihm Öl aus der Lampe des Heiligen Grabes mitzubringen. In Acre gab der päpstliche Legat ihnen einen Brief an den Groß-Khan mit, in dem er bezeugte, dass die Brüder sich ehrlich bemüht hatten, ihren Auftrag beim Papst zu erfüllen, dass jedoch das neue Oberhaupt der christlichen Kirche noch immer nicht gewählt sei. Als sie auf ihrer Weiterreise in der Hafenstadt Theobald von Piacenza in Anatolien angekommen waren, wo damals die Karawanenstraßen aus Innerasien das Mittelmeer erreichten, da bekamen sie die Nachricht, dass eben ihr Freund, der Legat Theobald von Piacenza, zum Papst gewählt worden war. Zugleich erhielten sie ein Schreiben von ihm, worin er sie – jetzt im Namen des Heiligen Stuhles – aufforderte, noch einmal nach Acre zurückzukommen.So konnte der neue Papst ihnen doch noch seinen Segen für ihr Unternehmen erteilen. Zugleich gab er ihnen zwei italienische Mönche mit, die sich gerade in Palästina aufhielten und als gelehrte Männer und kenntnisreiche Theologen galten. Sie wurden feierlich mit besonderen Vollmachten ausgestattet, Priester und Bischöfe zu ernennen, auch alle sonstigen kirchlichen Funktionen auszuüben.Kaum waren sie aber mit den Polos von Layas aus ins Innere aufgebrochen, da erfuhren sie, dass der Sultan von Ägypten das armenische Land mit einem mächtigen Heer überfallen und auf weite Strecken verwüstet hatte. Darüber erschraken die beiden Mönche gewaltig, und für ihr Leben fürchtend beschlossen sie umzukehren. Sie übergaben den Polos die Briefe und Geschenke, die der Papst auch ihnen anvertraut hatte, stellten sich unter den Schutz des Meisters der Tempelherren und reisten mit diesem eilig zur Küste zurück.Die drei Polos begaben sich jetzt also ohne die vom Groß-Khan so dringend erbetenen geistlichen Begleiter auf jene denkwürdige Karawanenreise durch die weiten Landschaften Innerasiens; denkwürdig, weil zum ersten Male ein kluger und für alles Neue brennend interessierter Reisender, der junge Marco, die Fülle seiner Beobachtungen und Erkundungen sorgfältig sammelte und nach seiner Rückkehr ein Buch schrieb, das dem Abendland eine völlig neue Welt bildhaft lebendig machte.Die erste Etappe der Reise führte durch die Länder Armenien, Mesopotamien und Persien. Sie ziehen vorbei am Ararat, „einem großen und hohen Berg, auf dem, wie man sagt, die Arche Noah nach der Sintflut stehen geblieben ist.“ Er ist so gewaltig, dass man zwei Tagereisen braucht, um ihn am Fuße zu umgehen. Hinaufsteigen kann man nicht wegen der ungeheuren Menge des Schnees, der oben liegt und nie schmilzt, sondern nach jedem Schneefall noch zunimmt.Mesopotamien durchziehen sie von Nord nach Süd entlang dem Tigris. In Mossul begeistert sich Marco an den herrlichen Stoffen aus Gold und Seide, die dort gewebt werden und unter der Bezeichnung Musselin in alle Welt gehen. Bagdad ist die größte und prächtigste Stadt, die er bisher gesehen hat. Ein großer Strom – der Tigris – fließt mitten hindurch; auf ihm führen die Kaufleute ihre Waren in achtzehn Tagen bis zur Mündung in den Indischen Ozean. Und was für kostbare Waren gibt es hier! Golddurchwirkte Seidengewebe, noch schöner als die in Mossul, ferner Samt, Damast und Goldbrokate, in die Figuren von Vögeln kunstvoll hineingewebt sind. Bagdad ist überhaupt der Umschlagplatz für viele Kostbarkeiten der Welt. Alle Perlen, die von Indien nach Europa kommen, werden hier durchstochen und gefasst. Aber auch der Gelehrte kommt in dieser Stadt zu seinem Recht. Man kann hier ebenso das mohammedanische Gesetz studieren wie Physik, Astronomie und sogar Magie.Von Persien weiß Marco nicht viel Gutes zu berichten: „Es ist ein großes Land, das in alten Zeiten sehr berühmt und mächtig war. Aber jetzt haben die Tataren alles verwüstet und zerstört.“ Auch verknüpfen sich für ihn mit diesem Lande böse persönliche Erinnerungen. „Dort gibt es Banditen, die verstehen sich auf teuflische Zauberkünste, wodurch sie das Tageslicht verdunkeln können, so dass man kaum seinen Reisegefährten neben sich erkennt. Diese Dunkelheit können sie über eine Strecke von sieben Tagereisen erzeugen.“ Offenbar handelte es sich um eine Verdunkelung des Himmels durch Staub oder trockenen Nebel, worüber auch spätere Reisende aus diesen Gegenden berichten. „Marco wurde von diesen Banditen während einer solchen Verdunkelung gefangen genommen. Aber es gefiel Gott, dass er gerade noch davonkam und sich in eine benachbarte Ortschaft retten konnte. Er verlor dabei alle seine Begleiter bis auf sieben; die anderen wurden gefangen und teils als Sklaven verkauft, teils getötet.“ In der Hafenstadt Hormons hatten die Polos schwer unter der Hitze zu leiden. „Im Sommer weht dort oft ein so unerträglich heißer Wind, dass er jedermann töten würde, wenn die Leute nicht sofort bis an den Hals ins Wasser gehen würden. Dort bleiben sie, bis der Wind nachgelassen hat.“Von Hormos aus durchqueren die Reisenden ganz Persien von Süd nach Nord. Sie lernen dabei zum ersten Mal alle Beschwerden einer Wüstenreise kennen: „Wenn man von der Stadt Kerman aufgebrochen ist, hat man sieben Tagereisen weit einen höchst mühseligen Weg. Während der ersten drei Tage findet man fast gar kein Wasser. Das wenige, das man trifft, ist bitteres grünes Zeug, so salzig, dass kein Mensch es trinken kann. Wenn man auch nur einen Tropfen davon zu sich nimmt, bekommt man üblen Durchfall, wenigstens zehnmal hintereinander.“ – Kurz danach müssen sie noch einmal ein Gebiet von ganz ähnlicher Beschaffenheit durchqueren, die berüchtigte persische Salzwüste. Auch hier sind die wenigen Wasserstellen für Menschen ganz unbrauchbar. „Das vom Durst gepeinigte Vieh trinkt freilich das Wasser so, wie es in der Wüste vorkommt. Seine Herren machen es ihm so schmackhaft wie nur möglich, indem sie es mit Blumen mischen.* * *Auf der SeidenstraßeAuf der SeidenstraßeWir wissen nicht, was die Polos veranlasst hat, den weiten Umweg über Mesopotamien und Südpersien zu machen. Von Armenien aus wäre der direkte Weg nach der nordpersischen Provinz Khorassan am Südufer des Kaspisees viel kürzer gewesen. War es lediglich der Wunsch, diese Länder kennen zu lernen, von denen man sich märchenhafte Dinge erzählte? Haben sie unterwegs – wie aus einigen Andeutungen hervorzugehen scheint – gewinnreiche Geschäfte betrieben? Oder hatten sie ursprünglich gar die Absicht, wofür auch einige Anzeichen sprechen, von Hormos, dem Ausgangspunkt der persischen Schifffahrt nach Indien, die Reise nach dem fernen Osten zur See zu versuchen? Marco gibt uns in seinem Buch keine klare Auskunft darüber.Marco Polo – © Christoph GäblerDie Polos befanden sich jetzt in Khorassan auf der großen Karawanenstraße, die im Westen in Layas am Mittelmeer und in Trapezunt am Schwarzen Meer begann, den Kaspisee südlich umging und dann durch West- und Ost-Turkestan in nahezu gleich bleibender Richtung nach Osten führte. Die Luftlinie hat eine Länge von rund 7.500 Kilometern, die tatsächliche Wegstrecke mit allen Windungen beträgt 10.000 Kilometer, also ein Viertel des Erdumfangs! Es war die berühmte „Seidenstraße“ Asiens, auf der schon seit vielen Jahrhunderten Waren aus China in das Abendland gebracht wurden. Mit der Konsolidierung des Tatarenreiches unter den Nachfolgern von Dschingis Khan entwickelte sich der Verkehr auf diesem Landweg zu solcher Blüte, dass er dem Seehandel über Indien und Alexandrien erhebliche Konkurrenz machte.Ungewöhnlich enthusiastisch wird die sonst so sachliche Darstellung Marcos bei der Schilderung des Klimas in dem Bergland bei Badakshan (afghanische Provinz). Er kommt dabei – was in dem ganzen Buch nur selten geschieht – sogar einmal auf sich selbst zu sprechen, da er die Wirkung dieses heilkräftigen Klimas am eigenen Leibe verspürt hat. „Die Luft in diesen Höhen ist so rein“, berichtet Marco, „und der Aufenthalt dort so gesund, dass die Menschen, die in den dumpfen Städten der Täler und Ebenen unter bösem Fieber und allerlei Beschwerden leiden, rasch einmal zur Erholung in diese Berge gehen.“ Kaum sind sie zwei oder drei Tage dort, so bessern sie sich zusehends und werden wieder ganz gesund. Marco kann dies aus eigener Erfahrung bestätigen. Denn als er in die Gegend kam, war er schon etwa ein Jahr lang recht krank. Da riet man ihm, dieses Bergland aufzusuchen, und kaum war er dort, wurde er sofort gesund.Nicht immer folgten die Polos der großen Karawanenstraße. So zogen sie nach der Durchquerung West-Turkestans den Oberlauf des Amudarja (mündet in den Aralsee) – im Altertum Oxus genannt – aufwärts und erreichten die westliche Abdachung jenes mächtigen Gebirgsmassivs, in dem die Bergketten Zentralasiens wie in einem Knoten zusammenlaufen. Marco Polo gibt diesem gewaltigen Hochland bereits den Namen, den es noch heute führt: Pamir oder das Dach der Welt. Selbst die Pässe liegen hier in einer Höhe von fast 5.000 Metern, und der Gipfel Mustag-Ata, der „Vater der Eisberge“, gehört mit 7.800 Metern zu den höchsten Bergen der Erde. Hier entdeckte Marco Polo das berühmte Wildschaf, das später nach ihm „Ovis Poli“ genannt wurde, und hier machte er auch die Beobachtung, dass Wasser in großer Höhe schwerer als sonst zum Kochen zu bringen ist. „Wenn man weiter nach Nordosten reitet, kommt man auf ein gewaltiges Hochland. Da gibt es wilde Tiere in Menge. Unter anderem leben hier Wildschafe; die sind sehr groß, ihre Hörner sind gut sechs Handbreit lang. Aus diesen Hörnern machen die Hirten große Ess-Schüsseln. Marco erfuhr auch, dass Wölfe hier sehr häufig sind und viele dieser wilden Schafe töten. Daher kommen die Massen der Hörner und Knochen, die man überall sieht. Sie werden am Wege zu großen Haufen aufgeschichtet, damit die Reisenden auch im tiefen Schnee den Weg finden können. Dieses Hochland wird Pamir genannt; man braucht zwölf Tagereisen, um es zu überschreiten. Das ganze Gebiet ist so hoch und so kalt, dass man nicht einen einzigen Vogel trifft. Wegen der großen Kälte brennt das Feuer sehr schlecht und gibt nicht so viel Hitze wie gewöhnlich, so dass man hier nur schwer kochen kann.“Vom Pamir-Hochland bis zum Ziel ihrer Reise war es noch ein weiter Weg. Sie erreichen die große Karawanenstraße wieder bei Kaschgar und folgen ihr über die Kette der berühmten Städte Ost-Turkestans wie Yarkand und Khotan weiter nach Osten, das Tarimbecken mit der gefürchteten Wüste Takla-Makan im Süden streifend.Für Marco Polo, der vor Antritt seiner großen Reise wohl kaum über den engeren Umkreis seiner Vaterstadt hinausgekommen war, hat das Erlebnis der Wüstenlandschaft einen unwiderstehlichen Reiz. Sorgfältig sammelt er seine eigenen Erfahrungen und trägt alle Berichte zusammen, die ihm zu Ohren kommen. In der Nähe des Lop Nor, jenem seltsamen wandernden See mitten im Herzen Asiens, erlebt er mit seinen Begleitern noch einmal die bedrohliche Majestät der Wüste, die den Reisenden mit magischer Gewalt in ihren Bann zieht: „Eine höchst merkwürdige Sache wird von dieser Wüste berichtet. Wenn von einer Reisegesellschaft, die nachts unterwegs ist, ein Mann zurückbleibt oder einschläft und dann versucht, seine Leute wieder zu erreichen, so hört er Geisterstimmen, die ihn beim Namen rufen. Im Glauben, dass es seine Kameraden sind, wird er in die Irre geführt, so dass er die Karawane niemals wieder findet und elend zugrunde geht. Auch das Getrappel großer Reiterscharen hört ein verirrter Reisender manchmal abseits vom Wege. Das hält er dann für das Geräusch seiner Gefährten; er folgt dem Klang, und erst bei Tagesanbruch merkt er, dass er genarrt wurde. Daher ist es üblich, dass sich die Reisenden auf dieser Strecke dicht beisammen halten. Auch haben alle Tiere große Glocken um den Hals, damit sie sich nicht so leicht verirren können. Nur auf diese Weise kann man die Große Wüste durchqueren.“* * *Kublai Khan – der Herr der ErdeKublai Khan – der Herr der ErdeDschingis KhanDas Tatarenreich war entstanden aus der Vereinigung zahlreicher Stämme in der Mongolei unter dem so gewalttätigen wie genialen Herrscher Dschingis Khan. Diese junge Staatenbildung, die auf streng militärischer Grundlage beruhte, zeigte von Anfang an eine außerordentliche Expansionskraft. Noch zu Lebzeiten ihres Begründers wurde 1215 Peking erobert und Turkestan unterworfen. Die Russen, die sich dem Ansturm entgegenstellen wollten, wurden bei Mariupol am Asowschen Meer geschlagen. Erst die Schlacht bei Liegnitz verhinderte 1241 das weitere Vordringen der Tataren nach Europa.Kublai Khan, der Enkel Dschingis Khans, begründete dann die mongolische Dynastie Chinas und machte Peking zu seiner Residenz. Das Mongolenreich hatte damals eine ungeheure Ausdehnung. Es erstreckte sich von Sibirien bis Südchina und von Korea bis tief hinein nach Europa an die Grenzen Ungarns und Polens. Damit hatte es Anteil an drei grundverschiedenen großen Kulturkreisen: dem chinesischen, dem mohammedanischen und dem christlich-abendländischen.Der Groß-Khan hatte die Stadt Kemenfu nördlich der großen chinesischen Mauer am Rande der Mongolensteppe zu seiner Sommerresidenz gemacht. Dreieinhalb Jahre waren die Polos auf ihrer beschwerlichen Reise unterwegs gewesen, als sie sich dieser Stadt näherten. Durch den hervorragenden Nachrichtendienst seines Reiches hatte Kublai Khan die Kunde von ihrem Kommen schon lange vorher erhalten. Vierzig Tagereisen weit schickte er ihnen Boten zur Begrüßung entgegen und gab Befehl, dass ihnen an allen Orten, die sie noch durchreisen mussten, jede Bequemlichkeit zuteilwerde. – Kaum waren sie in der Residenzstadt angekommen, begaben sie sich sogleich zum Kaiserpalast. Dort fanden sie den Groß-Khan umgeben von vielen Würdenträgern. Sie erwiesen ihm die übliche Reverenz, den Kotau, indem sie auf die Knie fielen und sich bis zum Boden verneigten. Aber der Khan bat sie aufzustehen und begrüßte sie freundschaftlich.Er zeigte große Freude über ihre Ankunft und stellte viele Fragen nach dem Verlauf der Reise. Nun überreichten sie ihm die Schreiben und Geschenkte des Papstes und das Öl vom Heiligen Grabe, über alles war er hoch erfreut. Schließlich bemerkte er den jungen Marco und fragte, wer er sei. Nicolo antwortete, es sei sein Sohn und er habe den Wunsch, ein Diener und Lehnsmann Seiner Majestät zu werden. Da nahm der Groß-Khan ihn unter besonderen Schutz und ernannte ihn zu einem seiner Ehrenbegleiter. Zwischen dem damals schon sechzigjährigen Herrscher dieses Weltreiches und dem zwanzigjährigen Venezianer entspann sich jetzt eine wirkliche Freundschaft. Denn es war von Seiten Kublai Khans mehr als nur Interesse an einem klugen und begabten Höfling, wenn er den jungen Ausländer unter Nichtachtung des Hof-Zeremoniells und Übergehung zahlreicher anderer Anwärter zu seinem vertrauten Privatsekretär, Mitglied des Geheimen Staatsrats und Sonderbeauftragten in wichtigen Reichsangelegenheiten machte. Ebenso ist es bei Marco Polo offensichtlich nicht Byzantinismus, sondern Ausdruck seiner ehrlichen Überzeugung, wenn er den Groß-Khan nicht nur als den reichsten und mächtigsten Herrscher des Erdkreises schildert, sondern auch als den wahrhaft weisen und hervorragenden Menschen, dem kraft seiner Persönlichkeit das Recht zukommt, über ungezählte Millionen zu herrschen.Fast feierlich wird Marco, als er zum ersten Male von ihm spricht: „Nun komme ich zu dem Teil unseres Buches, in dem über die Größe und Herrlichkeit des jetzt regierenden Groß-Khans berichtet werden soll. Sein Name ist Kublai Khan. Khan ist sein Titel, der bedeutet ‚Herr über alle Herrscher‘ oder auch ‚Kaiser‘. Er hat gewisslich ein Recht auf diesen Titel, denn wie jedermann weiß, ist er nach Zahl der Menschen und Länder, die er beherrscht, wie auch durch seine Schätze der mächtigste Herrscher, der in der Welt lebt oder seit Adams Zeiten gelebt hat. Wenn man alle Christen der Welt mit ihren Kaisern und Königen zusammen nimmt und dann zu der gesamten Christenheit noch alle Sarazenen hinzufügt, so haben sie insgesamt noch nicht so viel Macht wie dieser einzige Kublai Khan.“Marco nahm begierig alles in sich auf, was er von den Gewohnheiten des Herrschers, den Sitten der Tataren und anderen Einwohnern des Reiches, den Verwaltungs- und Regierungsgeschäften in Erfahrung bringen konnte. In kurzer Zeit beherrschte er mehrere Sprachen, die am Hofe gesprochen wurden, vier davon auch schriftlich. – Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte er gemerkt, dass der Herrscher über die Berichte seiner Gesandten und Beauftragten, die aus den verschiedensten Teilen des Reiches oder den angrenzenden Ländern zurückkamen, oft sehr ärgerlich wurde. Er nannte sie Narren und Tölpel; sie verstünden immer nur von ihren trockenen Dienstgeschäften zu berichten, schienen aber nichts von den Merkwürdigkeiten und Gewohnheiten all der Völker und Menschen zu sehen, denen sie auf ihren Reisen begegnet waren. Für Marco, der einen stets wachen Instinkt, geradezu eine Witterung für solche Dinge hatte, war es ein leichtes, nach seiner ersten Reise in der gewünschten Weise zu berichten. Der Herrscher war darüber sehr erfreut und sagte ihm eine große Zukunft voraus.Siebzehn Jahre lang blieb Marco nun im Dienste des Groß-Khans. Meist war er auf Reisen in dessen Auftrag, manchmal auch in privaten Geschäften. Er gewann die Zuneigung, ja Liebe Kublai Khans immer mehr und wurde öfter mit höchst gewichtigen Missionen betraut. Wenn er in der Residenz war, behielt ihn der Khan stets in seiner engsten Umgebung; es konnte nicht ausbleiben, dass er dadurch Neid und Eifersucht zahlreicher Würdenträger am Hofe erregte. „So kam es“, schließt Marco das Kapitel, „dass Marco Polo mehr Länder der Welt zu sehen bekam als irgendein anderer Mensch.“ Über die äußere Erscheinung Kublai Khans macht Marco nur wenige Angaben. Die Charakterisierung menschlicher Individualitäten – sei es nun die eigene oder die von Fremden – ist nicht seine Stärke. „Der Groß-Khan ist gut gewachsen, von mittlerer Größe, mäßigem Leibesumfang und wohlgestaltet an allen Gliedern. Er hat eine helle Gesichtsfarbe, von leichtem Rot überzogen wie der liebliche Schein der Rose, was seinem Wesen viel Anmut verleiht. Seine Augen sind dunkel und klar, die Nase wohlgeformt.“Weit ausführlicher, viele Seiten seines Buches füllend, schildert Marco das Privatleben des Herrschers und das Leben am Hofe. Kublai Khan hatte vier legitime Frauen. Sie führten alle den Titel Kaiserin, jede hatte ihre eigene kostspielige Hofhaltung. Daneben hat er aber auch eine große Anzahl von Konkubinen. Der Tatarenstamm Ungrat ist bekannt für die Schönheit seiner Frauen. Jedes Jahr werden hier hundert der schönsten Mädchen ausgesucht. Zunächst übergibt man sie einigen älteren Damen im Kaiserpalast zur Betreuung. Die Mädchen müssen nun in den Räumen dieser Palastdamen schlafen; dabei wird festgestellt, ob sie einen reinen Atem haben, nicht schnarchen und gesund an allen Gliedern sind. Dann erst werden diejenigen, die alle Proben überstanden haben, zur Bedienung des Kaisers bestimmt. „Jeweils sechs von ihnen übernehmen den Dienst für drei Tage und drei Nächte. Sie warten ihm in seinen Privatgemächern auf, und wenn er zu Bett geht, stehen sie ihm jederzeit und in jeder Weise zur Verfügung.“Der Herrscher scheint sich jedoch keineswegs mit den Schönheiten dieses Stammes begnügt zu haben. Wie Marco an anderer Stelle berichtet, schickt er Beamte in verschiedene Provinzen, die bei der Auswahl der Mädchen eine regelrechte Schönheitskonkurrenz veranstalten. Die Beauftragten versammeln bei ihrer Ankunft alle Mädchen der Provinz um sich, und zwar in Anwesenheit von besonders für diesen Zweck bestimmten Taxatoren. „Die legen sehr sorgfältig die Punktzahl fest, die jedes Mädchen für sein Haar, die Gesichtsfarbe, Augenbrauen und Mund, die Lippen und das Verhältnis aller Glieder zueinander bekommt. Sie setzen die Gesamtwertung der einen mit sechzehn, anderer mit siebzehn, achtzehn oder zwanzig Punkten fest, jeweils entsprechend der Gesamtsumme ihrer Vorzüge oder Nachteile.“Die großen Feste am Hof des Kaisers werden von Marco mit nie ermüdender Ausführlichkeit geschildert. Die Tafel des Herrschers bei einer solchen Festlichkeit sieht so aus: Der Tisch des Groß-Khans ist ein gutes Stück über alle übrigen erhaben. Er selbst sitzt am Nordrand der Halle und blickt nach Süden. Links von ihm sitzen seine Gemahlinnen, rechts seine Söhne und Neffen und wer sonst königliches Blut hat, aber viel tiefer, so dass ihre Köpfe in einer Höhe mit des Kaisers Füßen sind. An noch tieferen Tischen sitzen dann die sonstigen Großen des Hofes. Alle Tische sind so aufgestellt, dass der Kaiser sie vom einen Ende der Halle bis zum anderen übersehen kann, so viele es auch sind.Mehrere hohe Hofbeamte bedienen den Groß-Khan bei Tisch. Sie haben Mund und Nase mit einer seidenen Serviette verbunden, damit ihr Atem nicht mit den Speisen und Getränken in Berührung kommen kann. Wenn der Herrscher trinken will, schlagen die Harfenspieler und andere Musikanten, die in großer Zahl zugegen sind, ihre Instrumente an. Auf dieses Zeichen fallen die Hofherren und alle sonstigen Anwesenden auf die Knie und machen eine tiefe Verbeugung. Dann erst trinkt der Kaiser. Das ganze Zeremoniell wird wiederholt, so oft er zum Becher greift.Die besondere Leidenschaft des Groß-Khans gilt der Jagd. Er hat dazu zahlreiche wilde Tiere wie Luchse, Leoparden und angeblich sogar Tiger dressieren lassen. Ferner besitzt er Tausende von Falken, Sperbern und Habichten, die zur Beize abgerichtet sind. Bei der Schilderung einer Jagdszene entschlüpft Marco die fast schüchtern vorgebrachte Bemerkung, dass der Hohe Herr erheblich an Gicht leidet. Der Kaiser sitzt oder liegt auf der Jagd in einem aus Holz geschnitzten zierlichen Pavillon, der manchmal auf dem Rücken von nur einem, mitunter aber auch auf vier zusammengeketteten Elefanten ruht. „Das Innere ist mit goldenem Tuch ausgeschlagen, die Außenseite ist mit Tigerfellen bedeckt. Diese bequeme Einrichtung ist aber für den Kaiser auf seinen Jagdzügen auch sehr nötig, denn er wird übel von der Gicht geplagt.“Die Frage der Stellung Kublai Khans zur Religion und besonders zum Christentum hat Marco Polo immer wieder beschäftigt. Einmal, so berichtet er, blieb der Kaiser in seiner Residenz Cambaluc bis zur Feier des christlichen Osterfestes.Es gab damals in seiner Umgebung schon eine beträchtliche Anzahl nestorianischer Christen. Aus Anlass dieses Festes befahl er ihnen, vor ihm zu erscheinen und das Evangelienbuch mitzubringen. Er ließ es feierlich mit Weihrauch beräuchern, küsste es ehrfürchtig und verlangte dasselbe von allen Großen seines Gefolges. „So macht er es immer bei unseren großen Feiertagen wie Ostern und Weihnachten“, erzählt Marco; das Gleiche tut er freilich auch bei den großen Festen der Mohammedaner, Juden und Buddhisten. Als man ihn nach dem Grunde fragte, antwortete er: „Es gibt vier große Propheten, die in aller Welt verehrt und angebetet werden. Die Christen betrachten Jesus Christus als ihren Gott, die Sarazenen Mohammed, die Juden Moses und die Heiden Sogomombarkhan (Buddha). Ich achte und verehre sie alle vier und bitte, dass derjenige, der in Wahrheit der Größte unter ihnen ist, mir beistehen möge.“ Aber der Groß-Khan ließ dabei wohl erkennen, meint Marco, dass er den christlichen Glauben für den wahren und besten hielt, denn er verlange nichts, – so sagte der Khan, – was nicht gut und heilig sei. Auch wollte der Kaiser auf keinen Fall erlauben, dass die Christen bei ihren Prozessionen das Kreuz vorantragen ließen, weil ein so großer und erhabener Mensch wie Jesus Christus daran gekreuzigt worden sei.Man hat oft gefragt, warum Kublai Khan bei so weitgehender religiöser Toleranz und deutlicher Zuneigung zum Christentum nicht selbst den christlichen Glauben angenommen hat. Marco ist der Ansicht, dass daran allein der Papst schuld sei. Hätte dieser damals bei der Ausreise der Polos die vom Kaiser erbetene Anzahl christlicher Missionare mitgeschickt, so würde der Herrscher mit seinen Untertanen zweifellos zum Christentum übergetreten sein, da er das Verlangen danach oft und deutlich gezeigt habe.Ein nüchterner Beobachter wird heute freilich zu der Überzeugung kommen, dass die religiöse Toleranz des Kaisers wie auch seine Einstellung zum Christentum im Wesentlichen eine politische Angelegenheit war. Wie die Menschen Gott verehren, ist ihm gleichgültig, solange sie nur dem Groß-Khan gehorsam sind. Das war schon die Religionspolitik seiner Vorfahren. Freilich scheint Kublai Khan der erste in dieser Herrscherreihe gewesen zu sein, dem die primitive Religion der Tataren nicht mehr genug war. Wahrscheinlich hielt er anfangs eine weitere Ausbreitung des Buddhismus in der tibetanischen Form für das geeignetste Mittel, um seine Völkerschaften stärker der Zivilisation zuzuführen. Später mag er dann auch ganz ehrlich zu der Überzeugung gekommen sein, dass diese Aufgabe ebenso gut oder besser vom Christentum durchgeführt werden könnte, denen Überlegenheit in vieler Beziehung er anerkannte. Seine Toleranz war nicht Gleichgültigkeit, aber sie entsprang wohl auch nicht einer tieferen religiösen Überzeugung. Sie war ein Stück seiner Politik.* * *Das Wunderland CathayDas Wunderland CathayMarco Polo kennt keinen einheitlichen geographischen oder politischen Begriff China, auch keinen zusammenfassenden Namen für die Chinesen. Wenn er den Namen Cathay gebraucht, so meint er damit das für ihn weitaus wichtigere Nordchina, während das Land südlich des Gelben Flusses Manzi genannt wurde. Wir wissen, dass Marco mindestens zweimal das riesige Reich durchquert hat. Die eine Reise führte ihn von der Hauptstadt Cambaluc – das ist das heutige Peking – tief ins Innere bis Szechuan, Jünnan, Tibet und Ober-Burma, die andere durch die Küstenprovinzen Nord- und Südchinas bis zum südchinesischen Meer. Dazu kommt eine nicht zu übersehende Zahl von kleineren Reisen in Cathay und Manzi, deren Verlauf im Einzelnen wir nur noch teilweise feststellen können. So konnte er sich mit Recht rühmen, besser als alle anderen hohen Beamten des Kaisers das wunderbare Reich der Mitte zu kennen, von dessen Existenz bisher nur ganz unklare Kunde bis nach Europa gedrungen war.Im Winter, von Dezember bis Februar, residiert der Groß-Khan in der Hauptstadt Cambaluc. Dort steht ein großer Palast; Marco nennt ihn eine Sehenswürdigkeit, wie es auf der Welt keine zweite gibt. Die Wände der großen Halle und der zahllosen Zimmer schmücken Drachen in vergoldetem Schnitzwerk, Figuren von Kriegern, Vögeln und allerlei Tieren sowie Darstellungen von Schlachten. Die Fensterscheiben sind durchsichtig wie Kristall.In der großen Halle, die für Gastmähler und Feste bestimmt ist, finden ohne Schwierigkeit sechstausend Personen Platz. Das hohe Dach leuchtet in den verschiedensten Farbtönen wie Zinnober und gelb, grün und blau. Die Falben sind mit einem kostbaren Lack aufgetragen; dadurch erhalten sie besondere Leuchtkraft und verleihen dem Palast, wenn man ihn von weitem sieht, einen schimmernden Glanz. – Der hintere Teil des Hauptpalastes umfasst große Gebäude mit vielen Zimmern, in denen der persönliche Besitz des Kaisers untergebracht ist. Hier liegen auch die Räume der Kaiserinnen und der Konkubinen sowie die privaten Gemächer des Herrschers, wo er in stiller Zurückgezogenheit, vor jeder Störung geschützt, seine Geschäfte erledigen kann.Zwischen der äußeren und der inneren Mauer, die den Palast umgeben, liegt ein Park, dessen Bäume köstliche Früchte tragen. In einem Tiergehege findet man weiße Hirsche und Damwild, Gazellen und Rehböcke, auch Eichhörnchen und Moschustiere. Die Wege sind gut gepflastert und etwas erhöht; so können sie niemals schmutzig werden, und das Regenwasser fließt sogleich von ihnen ab. – Nicht weit von dem Palast ist ein künstlicher Berg angelegt, gut hundert Schritte hoch und vollkommen mit Bäumen bepflanzt, die das ganze Jahr über grün bleiben und niemals ihre Blätter verlieren. Wenn der Kaiser erfährt, dass irgendwo ein besonders schöner oder seltener Baum wächst, lässt er ihn mit dem ganzen Wurzelballen ausgraben und durch seine Elefanten zu diesem Berg schaffen, der überall als der Grüne Berg bekannt ist, denn selbst der Erdboden ist noch mit grünem Mineralgestein bestreut, und oben auf dem Gipfelt steht ein zierlicher grüner Pavillon. Der Zusammenklang von Berg, Bäumen und Gebäude sowie die Abstimmung der Farben ist ganz wunderbar, sagt Marco, und jeder Beschauer ist entzückt.Die Residenzstadt Cambaluc ist die erste chinesische Großstadt, die Marco zu sehen bekommt. Kostbare Waren und seltene Dinge, überhaupt alles, was gut und teuer ist, findet man in keiner Stadt der Welt häufiger und besser als hier. Sie macht einen gewaltigen Eindruck auf ihn, und er wird nicht müde, sie aufs Genaueste zu schildern.Die Innenstadt ist ein vollkommenes Viereck von sechs Meilen Seitenlänge. Sie ist mit Erdwällen umgeben, die unten zehn Schritte breit und ebenso hoch sind. Breite Straßen durchziehen sie schnurgerade, so dass man trotz der großen Entfernung von einem Ende bis zum anderen sehen kann. Alle Grundstücke sind rechteckig und von hübschen Seitenstraßen begrenzt. Die Zahl der Häuser und erst recht die der Einwohner – erklärt Marco – ist so gewaltig, dass man es einfach nicht für möglich hält. Es gibt zwölf Stadttore, und vor jedem liegt eine besondere Vorstadt. Sie sind so ausgedehnt, dass in ihnen zusammen mehr Menschen leben als in der eigentlichen Innenstadt. In den Vorstädten befinden sich auch viele schöne Gasthöfe. Besucher aus dem Ausland müssen in dem jeweils für ihr Land bestimmten Gasthaus Wohnung nehmen; so ist der Fremdenpolizei die Arbeit sehr erleichtert.Von allen Merkwürdigkeiten, die Marco in Cathay zu sehen bekommt, beschäftigt ihn am meisten das Papiergeld, das dort schon seit Jahrhunderten in Gebrauch war. Der Groß-Khan ist wahrhaft im Besitz des Steines der Weisen, meint er, da er die Kunst versteht, auf solche Weise Geld zu machen.Zur Herstellung gebraucht man den feinen Bast, der sich zwischen der rauen Borke und dem eigentlichen Holz des Maulbeerbaumes befindet. Das daraus gewonnene Papier ist ganz schwarz. Es wird in Stücke von verschiedener Größe zerschnitten, meist quadratisch, zuweilen etwas länger als breit. Das kleinste gilt einen Pfennig, das nächstgrößere einen venezianischen Silbergroschen, und so geht es weiter bis zu Scheinen im Werte von zehn Goldbyzantinen. Auf jedes einzelne Stück schreiben mehrere Beamte, die besonders dazu angestellt sind, ihren Namen und drucken ihren Stempel darauf. Schließlich taucht der oberste Münzmeister das allein ihm anvertraute Siegel in Zinnober und drückt es auf das Papierstück. Damit ist der Geldschein gültig. Jeder, der einen solchen Schein nachzumachen versucht, wird mit dem Tode bestraft.Mit diesem Papiergeld werden alle Zahlungen für den Kaiser geleistet. Er verschafft ihm allgemeine Gültigkeit, soweit seine Macht reicht. Niemand wagt es – bei Gefahr für sein Leben – diese Scheine abzulehnen. Man kann darum mit ihnen alle Geldgeschäfte ebenso gut abwickeln, als ob es Münzen aus reinem Gold wären. Dabei sind sie so leicht, dass die Scheine im Wert von vielen Goldbyzantinen noch nicht einmal das Gewicht einer einzigen kleinen Goldmünze haben.Zur Aufrechterhaltung des Wertes dieser Papierwährung wird vom Khan eine strenge Außenhandelskontrolle durchgeführt. Kaufleute aus Indien und anderen fremden Ländern, die Gold und Silber, Edelsteine oder Perlen bringen, dürfen all dies nur unmittelbar an den Groß-Khan verkaufen, der dafür zwölf erfahrene Sachverständige hat. Die taxieren die verschiedenen Waren, und der Kaiser zahlt dann einen reichlichen Preis dafür in Papiergeld. Die fremden Kaufleute nehmen dies auch bereitwillig an, denn von niemand anderem würden sie so viel bekommen, und sie können mit den Scheinen nun im ganzen Reiche alles kaufen, was sie wollen. Wenn einer dieser Geldscheine beschädigt ist, – sie sind übrigens keineswegs besonders empfindlich – dann bringt sie der Besitzer zur Münze und bekommt dort gegen Zahlung eines Betrages von drei Prozent einen neuen Schein ausgehändigt.Ein großartig organisiertes Verkehrswesen verbindet die entlegensten Teile des Reiches miteinander und ermöglicht Reisegeschwindigkeiten über große Entfernungen, wie sie damals im Abendland kaum bekannt waren. An allen großen Hauptstraßen findet man in Abständen von etwa dreißig Meilen Rasthäuser mit vielen Zimmern und allen Bequemlichkeiten. Auf jeder dieser Stationen wird stets eine Anzahl Pferde in Bereitschaft gehalten, so dass die Kuriere des Kaisers ihre müden Tiere sofort durch frische ersetzen können. Zwischen diesen Rasthäusern gibt es in weit kürzeren Abständen kleinere Stationen, die sind für die Laufkuriere des Herrschers bestimmt. Diese Eilboten tragen einen mit Schellen besetzten Gürtel, damit man auf der nächsten Station ihr Kommen schon von weitem hören kann. Durch diese Schnell-Läufer erhält der Kaiser Neuigkeiten von einem hundert Tagereisen entfernten Ort in nur zehn Tagen, und oft geschieht es, dass in der Erntezeit Früchte, die am frühen Morgen in Cambaluc gepflückt wurden, schon am Abend des folgenden Tages an der Tafel des Groß-Khans in Ciandu gereicht werden, obwohl die Entfernung zwischen beiden Orten allgemein als zehn Tagereisen angegeben wird.Ein so leistungsfähiges Verkehrswesen erfordert in dem riesigen Reich naturgemäß den Aufwand von enormen Mitteln. Mehr als zehntausend Poststationen mit allen Einrichtungen sind zu unterhalten, auf denen insgesamt rund dreihunderttausend Pferde jederzeit zur Verfügung stehen. Die Menge der Menschen, die direkt oder mittelbar für das Verkehrswesen nötig sind, ist kaum abzuschätzen, und Marco grübelt lange darüber nach, woher diese ungeheuren Menschenmengen kommen, die der Staat für den Postdienst wie für alle anderen Verwaltungszweige braucht: „Wenn man fragt, wie es möglich ist, dass die Bevölkerung des Landes die genügende Menge Menschen für diesen Dienst stellen und ernähren kann, so ist zu erwidern, dass alle Götzendiener, aber auch die Sarazenen, je nach ihren Verhältnissen sechs, acht oder zehn Weiber haben, von denen sie viele Kinder bekommen, einige von ihnen wohl dreißig Söhne. Bei uns dagegen hat ein Mann nur eine Frau, und wenn sie unfruchtbar ist, muss er doch mit ihr sein Leben zubringen und ist dann des Glückes beraubt, eine Familie aufzuziehen. Daher kommt es, dass unsere Bevölkerung so viel geringer ist als die ihrige.“* * *Kinsay – die Stadt des HimmelsKinsay – die Stadt des HimmelsNirgends tritt uns das farbige Leben des Fernen Ostens eindringlicher entgegen als in den Schilderungen, die Marco Polo von dem Gewimmel der Schiffe auf den großen Strömen und dem ameisenhaften Getriebe in den zahllosen Städten Chinas gibt. Fast mehr noch als Cambaluc, die Hauptstadt von Cathay, begeistert ihn die Stadt Kinsay, heute Hang-Tschou, die damals eine der größten Städte der Welt war. Sie liegt südlich der Mündung des Jang-tse-kiang und war früher die Residenz der Herrscher von Südchina (Manzi), bis Kublai Khan das Land eroberte. Marco betont, dass er die Stadt oftmals besucht und alles Sehenswerte sorgsam notiert habe. Diese Aufzeichnungen benutzte er später bei der Schilderung der Stadt, übrigens eines der glänzendsten Kapitel des ganzen Buches.Kinsay, dessen Name nach Marco „Stadt des Himmels“ bedeuten soll, hat einen Umfang von hundert chinesischen Meilen. Es gibt darin etwa zwölftausend Brücken; viele davon sind so hoch, dass selbst große Schiffe mit ihren mächtigen Masten darunter durchfahren können. Die große Zahl ist begreiflich, wenn man sieht, dass fast die ganze Stadt — ähnlich wie Venedig — im Wasser steht, so dass zahllose Brücken nötig sind. Am Rande der Stadt liegt ein See, der hat etwa dreißig Meilen Umfang. An seinen Ufern findet man schöne Herrschaftssitze, auch viele buddhistische Klöster und Tempel. Die größte Sehenswürdigkeit ist ein prächtiger Palast, in dem der frühere König von Manzi Hof zu halten pflegte. Hier lebte er mit der Königin und tausend jungen Frauen, die zum Hofstaat gehörten. Oftmals besuchte er mit einigen dieser Frauen den See oder die herrlichen Gärten am Ufer, in denen er Gehege mit Antilopen, Hirschen, Hasen und anderen Jagdtieren hielt. Keine männliche Person außer dem König durfte bei diesen Lustpartien zugegen sein. Die Damen, die teils im Wagen fuhren, teils zu Pferde ritten, waren wohl geübt, mit Jagdhunden die Tiere in den Wildgehegen zu hetzen. Wenn sie ermüdet waren, zogen sie in den Hainen am Ufer ihre Kleider aus, sprangen ins Wasser und planschten ausgelassen darin herum; der König sah amüsiert zu. Aber dies Leben führte für ihn zu keinem guten Ende, wie Marco berichtet: „So brachte er seine Zeit hin unter den entnervenden Reizen seiner Frauen und in völliger Unkenntnis des Kriegshandwerks. Die Folge davon war, dass seine Weichlichkeit und seine Feigheit dem Groß-Khan erlaubten, ihn seiner glänzenden Herrschaft zu berauben und ihn schmachvoll vom Throne zu jagen.“Man zählt in der Stadt zehn große Marktplätze außer den zahllosen Geschäften. Dort versammeln sich dreimal in der Woche vierzig- bis fünfzigtausend Menschen, die am Markte teilnehmen und ihn mit allen möglichen Waren versehen. Da gibt es Überfluss an Wild jeder Art, Rehböcke, Hirsche, Hasen, Kaninchen, dazu Rebhühner, Fasane, Haselhühner, Schnepfen, Kapaune und eine unvorstellbare Menge von Enten und Gänsen; denn die sind am See so leicht zu erlegen, dass man für einen venezianischen Silbergroschen ein Paar Gänse und zwei Paar Enten kaufen kann. Vom Ozean, der fünfzehn Meilen entfernt ist, kommen täglich große Mengen frische Fische, desgleichen aus dem See. Wer die riesige Zufuhr von Fischen sieht, hält es für unmöglich, dass derartige Mengen verkauft werden können, und doch sind sie im Verlauf weniger Stunden abgesetzt. So groß ist die Zahl der Einwohner und besonders der Leute, die sich solchen Luxus leisten können, denn Fisch und Fleisch werden bei jeder Mahlzeit gegessen.In gewissen Straßen leben die öffentlichen Kurtisanen. Deren Zahl ist so groß, sagt Marco, dass er sie gar nicht anzugeben wagt. Sie zeigen sich stets prächtig gekleidet, sind stark parfümiert und wohnen in schön eingerichteten Häusern, umgeben von zahlreichen Dienerinnen. „Diese Frauenzimmer sind außerordentlich erfahren in allen Raffinements der Verführung. Fremde, die einmal ihre Reize genossen haben, werden davon geradezu verhext und so gefangen von ihren buhlerischen Künsten, dass sie den Eindruck nie vergessen können. In ihrer Heimat erzählen sie dann, sie seien in Kinsay tatsächlich in der Stadt des Himmels gewesen, und sie wünschen nichts sehnlicher, als so bald wie möglich wieder in dieses Paradies zurückzukehren.“Es sind jedoch keineswegs nur die großen Städte, die Marco Polo interessieren, überall auf seinen Reisen, ganz besonders auf der großen Expedition, die ihn bis in die Provinz Yünnan und sogar nach Tibet führte, findet er zahllose bemerkenswerte Dinge zu berichten.So haben die Einwohner von Zardandan in West-Yünnan die Gewohnheit, ihre Zähne mit einem goldenen Überzug zu versehen, der für jeden passend angefertigt wird. Die Männer pflegen ferner ihre Arme und Beine mit schwarzpunktierten Bändern und Streifen zu verzieren. Dazu binden sie fünf Nadeln zusammen und drücken sie ins Fleisch, bis das Blut herausquillt. Dann reiben sie in die punktierten Stellen schwarzen Farbstoff hinein, der nun nie mehr auszulöschen ist. Sie betrachten diese schwarzen Streifen als eleganten Schmuck und ein Zeichen von Vornehmheit, überhaupt geben sich die Männer in diesem Lande alle als feine Herren. Sie haben nichts anderes im Sinn als Reiten, Jagen und kriegerische Übungen. Die Frauen dagegen und die Sklaven müssen alle wirklichen Arbeiten verrichten.Noch einen anderen höchst eigentümlichen Brauch findet Marco bei den Leuten in der Provinz Zardandan: das Männerkindbett (Couvade). „Wenn dort eine Frau von einem Kind entbunden worden ist, wird der Säugling gewaschen und gewickelt, und dann geht die Mutter sogleich wieder ihrer gewohnten Arbeit im Haushalt nach. Der Mann dagegen legt sich mit dem Kinde ins Bett; das tut er vierzig Tage lang. In dieser Zeit besuchen ihn alle seine Freunde und Verwandten, um ihn zu beglückwünschen. Das macht man dort so, weil die Frau – wie sie sagen – mit der Geburt eine schwere Zeit hinter sich hat, so dass es nur gerecht sei, dass nun auch der Mann seinen Anteil am Leiden habe.“In Tibet schließlich lernt Marco absonderliche Gebräuche kennen, von denen er unbedingt berichten muss: „Die Leute in diesem Lande mögen kein Mädchen heiraten, das noch Jungfrau ist, sondern sie verlangen, dass es vorher Umgang mit anderen Männern gehabt hat. Das – so versichern sie – sei den Göttern wohlgefällig. Sobald eine Karawane mit Kaufleuten angekommen ist und die Zelte für die Nacht aufgeschlagen sind, kommen die Mütter mit ihren heiratsfähigen Töchtern an diesen Platz. Sie streiten untereinander um den Vorzug und bitten die Fremden, ihre Tochter zu nehmen und sich ihrer Gesellschaft zu erfreuen, solange sie in der Gegend sind. Natürlich werden die Mädchen gewählt, die sich durch ihre Schönheit auszeichnen, und die anderen gehen unzufrieden und ärgerlich nach Hause.“ Von dem Mann wird erwartet, dass er dem Mädchen, mit dem er sich vergnügt hat, einen Ring oder ein anderes kleines Geschenk zurücklässt, irgendetwas, das es später als Andenken an den Liebhaber zeigen kann, wenn es zum Heiraten kommt. Das Mädchen, das die meisten vorzeigen und damit beweisen kann, dass die Männer besonders hinter ihm her waren, wird vor allen anderen zur Heirat begehrt. Aber nach der Hochzeit halten die Männer ihre Frauen dort sehr streng und in Ehren, und sie betrachten es als eine große Schande, wenn ein Mann sich mit der Frau eines anderen abgibt.Das Reisebuch Marco Polos ist uns in einer großen Zahl von Manuskripten überliefert, die in manchen Einzelheiten voneinander abweichen. So bringt der italienische Text, der auf die noch zu Lebzeiten Marcos von dem Dominikanermönch Pipino von Bologna angefertigte lateinische Übersetzung zurückgeht, die obige Geschichte mit den Worten: „Eine schmähliche Gewohnheit, die nur aus der Verblendung des Götzendienstes hervorgehen konnte, herrscht unter dem Volke dieses Landstriches...“ Im Text des berühmten französischen Manuskriptes, das sich in der Pariser Nationalbibliothek befindet und das höchstwahrscheinlich dem wirklichen Diktat Marcos am nächsten steht, fehlen diese Eingangsworte. Dagegen findet sich hier am Ende der Geschickte die Bemerkung: „Damit habe ich alles über diese Heiratssitte berichtet. Es ist eine nette Geschichte, die zeigt, wie angenehm es sich für einen jungen Mann in diesem Lande reisen lässt.“ Wie ist dieser Widerspruch in der moralischen Beurteilung zu erklären? Wollte Marco Polo im Alter — als er selbst Vater von drei Töchtern war — von der frivolen Schlussbemerkung abrücken? Oder hielt es der fromme Pater Pipino für zweckmäßig, sich von dem Inhalt der Geschichte etwas zu distanzieren, indem er diese Sitte als den Ausfluss finstersten Heidentums hinstellte? Wir wissen es nicht. Die Frage ist mehr amüsant als gewichtig. Andere Abweichungen der Manuskripte sind freilich weit bedeutungsvoller, und es bedurfte streng methodischer philologischer Untersuchungen, um den Text herauszufinden, der vermutlich dem ursprünglichen Diktat am nächsten steht.Marco Polo war der erste Abendländer, der Kunde von der Existenz des japanischen Inselreiches erhalten hat. Er nennt es Zipangu. Nach seiner Beschreibung ist es eine sehr große Insel, die im Osten weit draußen im Ozean liegt, 1.500 Meilen vom Festland entfernt. Die Menschen dort sollen weiß, zivilisiert und wohlgestaltet, der Reichtum der Insel an Gold und Perlen ungeheuer sein.Da Marco sich lediglich auf chinesische Quellen von zweifelhaftem Wert stützen konnte, sind seine Nachrichten über Zipangu dürftig und farblos. Wichtig ist, dass er auf Grund dieser Informationen die Entfernung Japans vom Festland ungeheuer überschätzt hat, weil dadurch in Europa Jahrhunderte lang völlig falsche Vorstellungen über die Lage der Inseln im großen Ozean entstanden sind. Ausführlich schildert er die Bemühungen Kublai Khans, Japan zu erobern oder wenigstens tributpflichtig zu machen, wie es der Kaiser so gern bei den seinem Reiche benachbarten Ländern tat. Nach der Darstellung Marcos scheiterte der entscheidende Invasionsversuch an der Eifersucht der beiden rivalisierenden Armeeführer, denen der Khan die Oberleitung übertragen hatte. Dafür ließ der Kaiser dem einen den Kopf abschlagen, den anderen bestrafte er auf eine Weise, die auch sonst in China üblich war: Man wickelte ihm den Leib und beide Arme in eine frisch abgezogene Büffelhaut, die fest zugenäht wurde. Sobald diese trocknet, presst sie den Körper so grausam zusammen, dass der Gefangene sich nicht rühren und helfen kann und elendiglich umkommt.Dieser Bericht wie auch manche Bemerkung in den späteren Kapiteln des Buches werfen ein etwas anderes Licht auf die Person des Groß-Khans, als wir es bisher bei Marco fanden. Das Motiv für den völlig unprovozierten Angriff auf Japan gibt dieser unumwunden in dem schlichten Satz an: „Als der große Khan Kublai hörte, dass die Insel Zipangu so reich sei, dachte er daran, sie in seine Gewalt zu bringen und seinem Reiche einzuverleiben.“ Er war offensichtlich persönlicher Grausamkeiten ebenso fähig wie sein Ahne Dschingis Khan und in der Politik ebenso skrupellos, scheint also doch nicht ganz dem von Marco entworfenen Bild eines stets milden, gütigen und toleranten Herrschers zu entsprechen.* * *Der Weg zurückDer Weg zurückDie drei Venezianer waren nun schon ein halbes Menschenalter lang am Hofe des Groß-Khans. Sie hatten in dieser Zeit unendlich viel gesehen und erlebt, auch große Reichtümer gesammelt, und der Herrscher hatte sie stets in Ehren gehalten. Trotzdem wuchs von Jahr zu Jahr die Sehnsucht nach ihrem Vaterlande. Dieses Gefühl wurde zur Sorge, wenn sie an das Alter des Khans dachten. Er war jetzt ein Greis von fast achtzig Jahren. Sollte er vor ihrer Abreise sterben, so würden sie kaum die zahllosen Schwierigkeiten der Rückreise überwinden können. Ja, es war fraglich, ob man ihnen dann überhaupt erlauben würde, das Land zu verlassen.Nur bei Lebzeiten des Khans konnten sie also hoffen, ihre Heimat in Sicherheit zu erreichen. Nicolo Polo benutzte daher eines Tages die Gelegenheit, als er den Herrscher in besonders guter Laune fand. Er warf sich zu seinen Füßen und bat darum, dass ihm und den Seinen die Heimreise gestattet werden möge. Doch der Groß-Khan wurde höchst unwillig. Es sei Unsinn, meinte er, sich den Gefahren einer Reise auszusetzen, auf der sie leicht ihr Leben verlieren könnten. Strebten sie nach größerem Gewinn? Dann wollte er ihnen gern alle Reichtümer, die sie bereits erworben hatten, verdoppeln! Auch an äußeren Ehren wollte er ihnen verleihen, was sie nur wünschen könnten. Die Abreise aber müsse er verweigern, gerade um der Liebe willen, die er zu ihnen hege.Sie machten noch mehrere Versuche, den Khan umzustimmen, aber alles war vergeblich. Schließlich kam ihnen ein Zufall zu Hilfe, auf den sie kaum hatten hoffen können. Um diese Zeit war es, dass in Persien die Gemahlin des Königs Argon starb, die aus Cathay stammte. In ihrem Testament hatte sie den König beschworen, nur eine Frau aus ihrem eigenen Geschlecht zu wählen, wenn er sich wieder verheiraten wollte. Argon, der ein Großneffe Kublai Khans war, wollte dieser Bitte nachkommen und schickte darum drei Edelleute als Gesandte zu seinem Oheim mit der Bitte, man möge ihm eine Jungfrau aus dem Geschlecht der verstorbenen Königin zur Gemahlin geben. Der Groß-Khan selbst wählte eine junge Dame von siebzehn Jahren mit Namen Kogatin; sie war schön und wohlgebildet und gefiel den Gesandten außerordentlich.Nachdem ein zahlreiches Gefolge bestimmt war, das der künftigen Königin dienen sollte, wurden die Gesandten vom Kaiser huldvoll entlassen. Sie begaben sich mit der Prinzessin auf demselben Wege, den sie gekommen waren, wieder heimwärts. Schon waren sie acht Monate unterwegs, da wurde ihre Weiterreise durch kriegerische Verwicklungen gehemmt, die zwischen einigen tatarischen Fürsten Innerasien ausgebrochen waren. Sie mussten darum wieder an den Hof des Groß-Khans zurückkehren und berichteten dort von ihrem Misserfolg.Gerade um diese Zeit kam Marco Polo von einer See-Expedition aus Hinterindien zurück, die er im Auftrag des Herrschers mit einigen Schiffen unternommen hatte. Er erstattete dem Kaiser Bericht über seine Erlebnisse und betonte, dass solche Seereisen auch über weite Strecken leicht und sicher auszuführen seien. Dies kam den Gesandten zu Ohren, die ebenso wie die drei Venezianer die Rückkehr in ihre Heimat ersehnten. Zusammen mit der Prinzessin Kogatin erbaten sie sogleich eine neue Audienz beim Herrscher und bemühten sich, ihn zu überzeugen, dass auch für sie eine bequeme und sichere Reise nur auf dem Seeweg möglich sei. Dazu aber benötigten sie die seemännischen Erfahrungen Marco Polos. Der Khan solle daher gestatten, dass dieser sowie Nicolo und Maffeo die Gesandtschaft bis in die Länder des Königs Argon begleite.Auch jetzt zeigte sich der Khan zunächst höchst ungehalten über den Vorschlag, weil er die Polos durchaus nicht gehen lassen wollte. Aber schließlich gab er nach. Er ließ sie rufen und nahm ihnen das Versprechen ab, dass sie wieder nach Cathay zurückkehren würden, wenn sie erst einige Zeit in ihrer Heimat verbracht hätten. Zum Abschied schenkte er ihnen noch eine Menge von Rubinen und anderen wertvollen Edelsteinen; dann schifften sie sich zusammen mit der Prinzessin Kogatin und den drei persischen Gesandten ein. Die ganze Flotte bestand aus vierzehn Schiffen, die auf Befehl des Kaisers mit Vorräten für zwei Jahre versehen waren.Nach einer Seefahrt von drei Monaten erreichten Marco und seine Begleiter Java, das sie jedoch – wenn überhaupt – nur flüchtig besucht zu haben scheinen, um alsbald nach Sumatra weiterzufahren. Dort verhinderte der Monsun die Weiterreise, so dass sie fünf Monate auf der Insel bleiben mussten. „Da es nötig war, so lange Zeit zu verweilen, ließ Marco sich mit seiner Begleitung, die aus ungefähr zweitausend Personen bestand, an der Küste nieder. Um sich gegen die Feindseligkeiten der Wilden zu schützen, die einzeln Umherirrende ergreifen, schlachten und fressen, ließ er rings auf der Landseite einen großen und tiefen Graben ausstechen, der auf beiden Seiten in den Hafen auslief, wo die Schiffe lagen. An dem Graben ließ er mehrere Blockhäuser errichten. Durch diese Festungsanlage erhielt er die Reisegesellschaft während der fünf Monate ihres Aufenthaltes in vollkommener Sicherheit.“Viele der tropischen Pflanzen und Früchte sind ihm neu, und alles findet er erzählenswert. „Die Leute verstehen es übrigens, Wein aus einem gewissen Baum zu bereiten, der dort vorkommt. Wenn sie welchen brauchen, schneiden sie einen Ast ab und befestigen einen großen Topf an der Schnittstelle. Am nächsten Tag finden sie dann den Topf gefüllt. Dieser Wein ist ein ausgezeichnetes Getränk; man gewinnt sowohl roten wie weißen. Er ist von so heilsamer Wirkung, dass er gegen Wassersucht wie auch bei Lungen- und Leberleiden hilft. Auch wachsen hier indische Nüsse (Kokosnüsse), so groß wie ein Mannskopf. Sie enthalten eine Substanz, die süß und angenehm schmeckt und weiß wie Milch ist. Die Höhlung dieses Fleisches ist mit einer Flüssigkeit gefüllt. Die ist klar und kühl wie Wasser, dabei duftiger und schmackhafter als Wein oder irgendein anderes Getränk.“Sumatra liegt unter dem Äquator. Marco Polo war sich bewusst, dass er hier den südlichsten Punkt seiner Reise erreicht hatte: „Noch etwas sehr Bemerkenswertes muss ich berichten: Diese Insel liegt so weit im Süden, dass der Polarstern hier überhaupt nicht mehr zu sehen ist.“Auf die ausführliche Schilderung von Sumatra folgen in Marcos Buch kurze Bemerkungen über die Nikobaren und Andamanen; wir wissen aber nicht, ob er diese Inselgruppen im Indischen Ozean selbst besucht hat. Aber schon bei der Beschreibung der Insel Ceylon bekommt sein Bericht wieder die gewohnte Lebendigkeit und Farbe. Hier interessiert ihn vornehmlich zweierlei: Der Adams-Pik und die Perlenfischerei: „Auf dieser Insel gibt es einen hohen Berg, der hat wilde Schluchten und Abgründe, und sein Gipfel ist so zerrissen, dass man ihn nur besteigen kann mit Hilfe von eisernen Ketten, die an dem Felsen befestigt sind. Auf diesem Gipfel soll sich das Grab unseres Urvaters Adam befinden, so sagen die Sarazenen. Aber die Götzenanbeter sind der Meinung, dass das Grab den Leib Sagamoniborcans (Buddha) enthalte. Das war der erste Mensch, der die Götzen erfunden hat, und sie verehren ihn als einen Heiligen.“ Nun erzählt Marco die berühmte Geschichte, wie Gautama als junger Mann das Königreich seines Vaters verließ und allen weltlichen Genüssen entsagte, um sich ganz dem Studium der Religion und der Philosophie hinzugeben.Lustiger freilich ist es ihm, von der Perlenfischerei zu berichten, die in dem flachen Meer zwischen Ceylon und dem Festland betrieben wird: Die vielen Kaufleute, die sich daran beteiligen, bilden Genossenschaften. Jede von ihnen stellt eine große Anzahl von erfahrenen Perlentauchern gegen Lohn an. Von dem Gewinn müssen sie zunächst ein Zehntel dem König abliefern. Ein Zwanzigstel steht den Leuten zu, die die Fische bezaubern. Sie gehören zur Kaste der Brahmanen und verstehen es, durch Magie die großen Raubfische abzuhalten, die sonst den Perlentauchern bei ihrer Arbeit gefährlich werden. Weil nun die Taucher der einzelnen Genossenschaften nur bei Tage arbeiten, lösen die Brahmanen den Zauber am Abend, damit unehrliche Leute, die etwa nachts ohne Berechtigung tauchen und Muscheln stehlen wollen, durch die Furcht vor den raubgierigen Fischen abgehalten werden.An verschiedenen Punkten der Malabar-Küste lernt Marco Polo schließlich auch noch den Kulturkreis Indiens kennen. Wir wissen, er ist kein Gelehrter; tiefsinnige vergleichende Kulturbetrachtungen liegen ihm gar nicht, aber er erkennt doch, dass dies für ihn eine völlig neue Welt ist. Alles geht in seiner Erzählung bunt durcheinander: Es gibt da Fledermäuse so groß wie Geier, und Geier, die schwarz wie Raben sind. Er erzählt von Tempeln mit unglaublich vielen Göttern, männlichen und weiblichen, und von jungen Tempeltänzerinnen, die nackt – nur mit einem Tuch umgürtet – ihre Hymnen singen und tanzen. Er verschmäht es nicht, eine so nützliche Erfindung wie das Moskitonetz zu preisen; „solche Bequemlichkeiten genießen freilich nur Personen von Rang und Vermögen.“ Höchst merkwürdig findet er es, dass die Hindus den Ochsen wie einen Gott verehren und dass Witwen sich auf den Scheiterhaufen ihres verstorbenen Mannes stürzen, um mit ihm zu verbrennen. Und Sekten gibt es hier, deren Angehörige haben eigenartige Gewohnheiten: „Sie berauben keine Kreatur ihres Lebens, nicht einmal eine Fliege, einen Floh oder eine Laus; auch essen sie kein Tier, denn sie würden sonst Sünde begehen.“ Für den, der fast zwei Jahrzehnte lang in den ganz andersartigen Lebensformen Chinas zugebracht hat, ist das eine seltsam ferne Welt. Nicht alles, was Marco sieht, deutet er richtig, aber er sieht unglaublich viel und erzählt es munter und lebendig mit einem erstaunlichen Sinn für die Spannweite alles Menschlichen und ohne den Hochmut des Europäers, der später so viele Reisebeschreibungen schwer erträglich macht.Sechsundzwanzig Monate nach der Abfahrt von China langten die Polos mit ihrer Begleitung in der persischen Hafenstadt Hormos an, die ihnen schon von der Ausreise her bekannt war. Freilich erreichten keineswegs alle Mitreisenden das Ziel. Von der Schiffsbesatzung und den Passagieren fanden unterwegs rund sechshundert Personen den Tod, darunter zwei von den drei Gesandten, während von den Damen und Dienerinnen der Prinzessin nur eine gestorben war.Bei der Landung in Hormos erfuhren die Polos zu ihrer Bestürzung, dass der König Argon schon vor ihrer Abreise von China gestorben war. Für seinen noch sehr jungen Sohn führte der Bruder des verstorbenen Königs, Quiacatu, die Regentschaft. An diesen wandten sie sich und baten um Auskunft, was nun mit der Prinzessin Kogatin geschehen solle. Der Regent gab den Auftrag, die junge Dame dem Sohn Argons zuzuführen, der damals in der persischen Nordprovinz Khorassan unter der Vormundschaft eines Gouverneurs das Waffenhandwerk erlernte. So bekam Kogatin statt des alten Königs einen jungen Prinzen zum Gemahl. Marco vergisst nicht zu erwähnen, dass sie in Tränen ausbrach, als die Polos sich endgültig von ihr verabschiedeten, so innig hatte sie sich auf der langen Reise mit ihnen angefreundet.In der Residenz des Regenten Quiacatu, die wahrscheinlich in Täbris lag, ruhten sie sich neun Monate von den Strapazen der Seereise aus; dann machten sie sich endgültig auf den Heimweg. Unterwegs erreichte sie die Nachricht, dass Kublai Khan inzwischen gestorben war. Da wurde ihnen klar, dass sie die Heimfahrt gerade noch rechtzeitig angetreten hatten. „Endlich erreichten sie die Stadt Trapezunt, von wo sie nach Konstantinopel gingen, dann nach Negropont und zuletzt nach Venedig, an welchem Ort sie frisch und gesund im Jahre 1295 ankamen. Bei dieser Gelegenheit brachten sie Gott, der sie aus so viel Mühsalen und unzähligen Gefahren errettet und zum Ziele geführt hatte, ihren Dank dar.“* * *Im Kerker zu GenuaIm Kerker zu GenuaWir kennen die Szene, die sich bei der Heimkehr der Polos vor ihrem Palazzo in Venedig abspielte, und wir wissen, wie sie nach der Schilderung des Ramusio sich ihren Angehörigen und den maßgebenden Familien der Stadt bei einem prächtigen Festmahl zu erkennen gaben. Mag sein, dass der Erzähler diese Szene etwas im Stil einer Geschichte aus Tausendundeiner Nacht ausgeschmückt hat. Unwahrscheinlich ist sie keineswegs, denn sie passt vortrefflich zum Wesen dieses Mannes Marco, seiner Freude am bunten Getriebe des Lebens, den Kontrasten zwischen barbarischer Üppigkeit und bitterer Not, seiner Lust am Absonderlichen und Skurrilen.Vierundzwanzig Jahre waren die Polos fern von der Heimat gewesen, siebzehn davon in China, dreieinhalb auf der Ausreise und mehr als drei auf der Rückreise. Sie lebten nun in Venedig als reiche Kaufherren, berühmt wegen ihrer seltsamen Abenteuer und angesehen in Staat und Gesellschaft. Den beiden Alten, Nicolo und Maffeo, mag das genügt haben. Aber Marco war erst gut vierzig Jahre alt. Wie war ihm zumute, als der erste Jubel über die glückhafte Heimkehr vorüber war? Lernte auch er jenes seltsame Gefühlt kennen, unter dem fast alle Weltfahrer nach Vollendung ihrer großen Reise wie unter einer Berufskrankheit leiden: das Gefühl der Leere, des Unausgefülltseins, des Beiseitetretens, wenn sie sich nach Jahren aufregenden Erlebens wieder in die fest gefügten Lebensformen der Heimat einordnen sollen?Marco PoloWir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass er sich drei Jahre nach der Heimkehr nicht weigerte, das Kommando über eine der venezianischen Galeeren zu übernehmen, als die alte Rivalität Venedigs mit den Handelsrepubliken Genua und Pisa wieder einmal einen Höhepunkt erreichte.Im Jahre 1298 rüstete Genua zu einem großen Schlag gegen die venezianischen Besitzungen an der Küste von Dalmatien. Der Genueser Admiral Lamba Doria sammelte Anfang September eine Flotte von hundert Galeeren in den dalmatinischen Gewässern. Bei der Insel Curzola traf sie mit der etwa gleich starken der Venezianer zusammen. Es gelang den Genuesen, am Nachmittag des Kampftages im entscheidenden Augenblick eine für die Venezianer bisher noch nicht sichtbare Reserve von fünfzehn Galeeren in den Kampf zu werfen, und damit wurde das Treffen zu einem entscheidenden Sieg für Genua. Mit wenigen Ausnahmen wurden alle venezianischen Galeeren – einschließlich des Admirals-Flaggschiffs – vom Feinde genommen. Siebentausend Gefangene wurden, in Ketten gefesselt, unter dem Jubel der Bevölkerung in Genua eingebracht. Einer von ihnen war Marco Polo.Welch ironische Fügung des Schicksals: Der Mann, der ein Menschenalter lang allen Gefahren Asiens getrotzt hatte, muss jetzt das harte Los seiner Landsleute in den Kerkern von Genua teilen. Die Nachrichten über die Behandlung der Gefangenen gehen weit auseinander. Die Genuesen behaupten, sie sei den Umständen entsprechend durchaus anständig gewesen, während nach venezianischen Quellen die meisten der Siebentausend an Hunger gestorben sind. Marco Polo scheint im Laufe der Zeit gewisse Erleichterungen erfahren zu haben. Die Genuesen merkten bald, wen sie da gefangen hatten. Auch bei ihnen erregten seine Reiseschicksale begreiflicherweise lebhaftes Interesse, wohl nicht so sehr aus Mitleid als um der handelspolitischen Informationen willen, die für ihren Orienthandel bedeutsam werden konnten. Täglich bedrängten ihn im Gefängnis neugierige Besucher, bis zum Überdruss musste er ihre Fragen beantworten.Marcos Angehörige machten von Venedig aus auf verschiedenen Wegen den Versuch, ihn freizukaufen, aber alle ihre Bemühungen waren vergeblich. So verging ein Jahr und noch eines, ohne dass sich die geringste Aussicht auf Befreiung zeigte. Was ihm höchstwahrscheinlich bevorstand, konnte Marco an einer Schar von Gefangenen aus Pisa ersehen, die er im Gefängnis antraf. Sie waren der klägliche Rest von neuntausend Gefangenen, die im Jahre 1284, also vierzehn Jahre vor seiner eigenen Gefangennahme, in der Seeschlacht von Meloria den Genuesen in die Hände gefallen waren, ein Schlag, von dem sich Pisa nie wieder erholt hat. Es verlor damals die Blüte seiner jungen Mannschaft. Viele vornehme Pisanerinnen zogen in Scharen zu Fuß nach Genua, um ihre Männer oder Anverwandten wenigstens noch einmal zu sehen. „Und als sie dann an den Pforten der Gefängnisse nachforschten“, berichtet ein Zeitgenosse, „bekamen sie von den Wärtern die Antwort: Gestern sind dreißig von ihnen gestorben, heute waren es vierzig. Wir werfen sie alle ins Meer; und so geht es Tag für Tag.“In den drei Jahren nach der Rückkehr aus Asien bis zur Gefangennahme war Marco nicht daran gegangen, seine Reiseerlebnisse schriftlich aufzuzeichnen. Erst jetzt, nach diesem Schicksalsschlag, da er nicht wusste, ob er jemals lebendig dem Kerker entkommen würde, scheint ihm die Erkenntnis dafür aufgegangen zu sein, welchen Wert dieser einzigartige Schatz von Erfahrungen für die Mit- und Nachwelt haben musste. Es gelang ihm, aus dem Gefängnis einen Brief an seinen Vater in Venedig zu schicken und sich von dort seine Reisenotizen kommen zu lassen. In einem Mitgegangenen, dem literarisch gebildeten Rusticiano aus Pisa, fand er einen treuen Gehilfen, der nach seinem Diktat das umfangreiche Buch seiner Reiseerlebnisse niederschrieb.So ist das Werk entstanden, dem Marco Polo seinen Ruhm durch die Jahrhunderte verdankt. Denn es besteht durchaus Grund zu der Annahme, dass nicht nur alle seine Beobachtungen und Erkenntnisse im Einzelnen ohne diese Niederschrift im Gefängnis zu Genua niemals der Nachwelt erhalten worden wären, sondern überhaupt die Tatsache seiner Reisen, ja sogar seiner Existenz bis auf wenige ohne Zusammenhang mit diesem Buch nichts sagende Dokumente in einigen italienischen und chinesischen Archiven uns kaum überliefert worden wäre.Eine Wendung seines Schicksals konnte Marco jetzt nur noch erhoffen von der Beendigung des Kriegszustandes zwischen Genua und Venedig. Papst Bonifatius, der früher zwischen den beiden Republiken vermittelt hatte, scheint diesmal den Versuch für aussichtslos gehalten zu haben. Aber andere italienische Staaten, die an der Wiederherstellung des Friedens interessiert waren, schalteten sich ein, und schließlich trafen sich auf Veranlassung von Mailand Gesandte der beiden streitenden Parteien in dieser Stadt. Sie bereiteten einen Friedensvertrag vor, der im Mai 1299 unterzeichnet wurde und beide Seiten zur Entlassung der Gefangenen verpflichtete. Ende August dieses Jahres, genau vier Jahre nach seiner Gefangennahme, wurde Marco Polo mit seinen Schicksalsgefährten, soweit sie die Haft lebend überstanden hatten, aus dem Gefängnis entlassen und kehrte sogleich nach Venedig zurück.Über Marcos weitere Schicksale sind uns nur ganz wenige Nachrichten erhalten. Ob er bei der Rückkehr aus der Gefangenschaft seinen Vater noch am Leben angetroffen hat, ist ungewiss, doch steht fest, dass Nicolo Polo im August 1300 bereits gestorben war. Er hatte unmittelbar nach Marcos Gefangennahme noch einmal geheiratet, da er befürchtete, dass sein ganzer so mühsam erworbener Reichtum nun vielleicht keinem leiblichen Erben zufallen würde. Der gewünschte Erfolg blieb trotz seines Alters nicht aus: Im Verlaufe der vier Jahre, die Marco im Kerker saß, wurde Nicolo Polo Vater von drei weiteren Söhnen.Erst aus dem Jahre 1324, als Marco schon ein schwerkranker Mann war, ist uns wieder ein Dokument von ihm erhalten: sein Testament. Aus ihm erfahren wir, dass er bald nach seiner Rückkehr aus Genua geheiratet hat und Vater von drei Töchtern mit Namen Fantina, Bellela und Moreta wurde, von denen die beiden ersten im Jahre 1324 schon verheiratet waren. Bald danach starb er und wurde in der Kirche San Lorenzo beigesetzt. – Der Dominikaner Jacopo de Aqui, ein Zeitgenosse Marcos, berichtet in seiner Chronik: Als Marco Polo auf dem Sterbebett von seinen Freunden ermahnt wurde, die Teile seines Reisewerkes zu widerrufen, die unglaubwürdig seien, habe er diesen Rat unwillig zurückgewiesen und erklärt, dass er an keiner Stelle übertrieben, ja nicht einmal die Hälfte der von ihm wirklich beobachteten seltsamen Dinge erzählt habe.* * *Der Weltreisende und sein BuchDer Weltreisende und sein BuchMarco Polos erster Biograph, der Italiener Ramusio (geboren 1485 in Treviso, gestorben 1557), war ein Kind, als Columbus seine erste denkwürdige Fahrt nach Westindien ausführte; er lebte lange genug, um die Auswirkung dieses Ereignisses durch zwei Menschenalter verfolgen zu können. Es lag darum für ihn nahe, die Reisen der Polos mit dem Unternehmen des Columbus zu vergleichen. In der Vorrede zu seiner Ausgabe von Marcos Buch, die er in Venedig im Jahre 1553 schrieb, führt er aus: „Oft habe ich die Landreise unserer Venezianer mit der Seefahrt des genannten Signor Don Christopher verglichen und mich dabei gefragt, welche von beiden die bedeutendere sei. Wenn mich nun nicht ein patriotisches Vorurteil parteiisch macht, so glaube ich doch gute Gründe dafür zu haben, die Landreise über die Seefahrt zu stellen. Man bedenke nur, was für ein Mut dazu gehörte, ein so schwieriges Unternehmen zu beginnen und erfolgreich durchzuführen. Man denke an die unvorstellbare Länge des Reiseweges mit allen seinen Mühsalen, wobei es oft nötig war, die Nahrung für Menschen und Tiere nicht nur für Tage, sondern für mehrere Monate mitzuführen. Columbus dagegen hatte auf seiner Seereise den nötigen Proviant stets zur Hand, und auf einer Fahrt von nur dreißig bis vierzig Tagen ließ er sich vom Wind zum Ziel seiner Wünsche führen, während die Venezianer ein ganzes Jahr brauchten, um allein die großen Wüsten und gewaltigen Ströme zu durchqueren. Dass der Weg nach Cathay so viel schwieriger, weiter und gefährlicher war als die Fahrt in die Neue Welt, geht auch daraus hervor, dass kein Europäer es bisher gewagt hat, die Reise zu wiederholen, die von den Polos zweimal durchgeführt wurde. Dagegen haben schon im ersten Jahr, das der Entdeckung Westindiens folgte, viele Schiffe die Fahrt dorthin unternommen, und bis zum heutigen Tage finden sie zahllose Nachfolger. Tatsächlich sind diese Gebiete jetzt so gut bekannt und dem Handel erschlossen, dass selbst der Seeverkehr zwischen Italien, Spanien und England nicht größer ist.“Zweifellos wird dieser Vergleich, der nur die Schwierigkeiten der Reisetechnik berücksichtigt, der Tat des Columbus nicht gerecht. Er lässt völlig außeracht das Genie, mit dem der große Genuese das Unternehmen seines Lebens plante und durchführte; er sieht nicht die Energie, den Fanatismus und die Klugheit, mit denen Columbus alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumte. – Marco Polos Ruhm beruht weniger auf seinem Charakter oder besonderen Fähigkeiten als vielmehr der Romantik seiner persönlichen Schicksale, der geographischen wie menschlichen Weite seiner Erfahrungen, besonders aber auf der Tatsache, dass er über alles das ein faszinierendes Buch geschrieben hat, ein Buch zudem, das der Nachwelt eine ganze Reihe von Rätseln aufgegeben hat, die teils erst nach Jahrhunderten gelöst wurden, zum Teil aber auch heute noch nicht ganz geklärt sind.Das erste dieser Rätsel betrifft die Sprache, in der das Buch von Marco Polo ursprünglich niedergeschrieben wurde. Das Werk ist uns in einer großen Anzahl von Manuskripten erhalten. Der Engländer Henry Yule, der die Polo-Forschung mehr als andere gefördert hat und dem auch unsere Darstellung in vielen Einzelheiten zu Dank verpflichtet ist, konnte achtundsiebzig Manuskripte nachweisen, davon einundvierzig in Lateinisch, einundzwanzig in Italienisch, zehn in Französisch und vier in Deutsch. Ramusio nahm an, dass die lateinische Version die ursprüngliche sei. Später hielt man eines der italienischen Manuskripte in venezianischem Dialekt für den Originaltext. Erst im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts, als man mit den inzwischen entwickelten Methoden philologischer Textkritik der Frage nachging, stellte sich heraus, dass beide Auffassungen kaum zutreffen können. In sorgfältiger Kleinarbeit wurden vier wesentlich von einander verschiedene Texttypen ermittelt. Dabei zeigte es sich, dass die Manuskripte in einer der genannten Sprache keineswegs alle einem bestimmten Texttyp zugeordnet werden können. Vielmehr ergab sich, dass offenbar schon sehr frühzeitig ein wildes Hin- und Herübersetzen stattfand. So hatte Andreas Müller aus Greifenhagen, der im Jahre 1671 eine Ausgabe des Buches von Marco Polo veröffentlichte, das Pech, an ein Manuskript zu geraten, das bereits eine Übersetzung aus fünfter Hand war. Auch die französischen Ausgaben, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen, sind eine Rückübersetzung um mehrere Ecken: Französisch – Italienisch – Pipinos Latein – Portugiesisch? – Grynacus' Latein – Französisch! Alle diese Forschungen, die wir im Einzelnen nicht verfolgen können, führten zu dem höchst überraschenden Ergebnis, dass offensichtlich eines der Manuskripte in altfranzösischer Sprache das Original ist, das Marco Polo in Genua im Gefängnis diktiert hat, oder dass es doch von allen existierenden Manuskripten der Urfassung am nächsten steht. Es ist das französische Manuskript, das die Geographische Gesellschaft zu Paris im Jahre 1824 in einer sorgsamen Ausgabe veröffentlichte und das seitdem als der „Geographische Text“ bezeichnet wird.Dies verblüffende Ergebnis warf manche neue Fragen auf. Ist es denkbar, dass der Venezianer Marco Polo sich im Gefängnis dem Toskaner Rusticiano in seiner eigenen Muttersprache nicht verständlich machen konnte? Hat Marco sein Werk selbst in Französisch diktiert? Wenn ja, wann und wo kann er es gelernt haben? – Oder geht die französische Fassung des Urmanuskriptes allein auf eine Übersetzung durch Rusticiano zurück, der als literarisch gebildeter Mann diese Sprache nachweislich beherrschte? Wir haben keinen Anlass, die Ergebnisse der Philologen in Zweifel zu ziehen. Das Gefühl, dass hier noch immer eines der Rätsel um Marco Polo liegt, bleibt bestehen.Im Druck erschien Marcos Buch zum ersten Male in deutscher Sprache in Nürnberg im Jahre 1477, ein Nachdruck 1481 in Augsburg. Diese Ausgabe zeigt auf einem schönen Holzschnitt die Gestalt Marco Polos mit der Unterschrift:„Das ist der edel Ritter Marcho polo von Venedig der grost landtfarerder uns beschreibt die großen wunder der welt die er selber gesehenn hat von dem auffgang pis zu dem undergang der sunnender gleychen vor nicht meer gehort seyn.“Es erschienen Ausgaben in Lateinisch, im Venezianischen Dialekt, in Portugiesisch (1502) und in Spanisch (1520 und 1529). 1556 kam der erste Druck in französischer Sprache heraus.Durch die emsige Tätigkeit der Übersetzer im 14. und 15. Jahrhundert sind in viele Texte der Manuskripte und damit später auch der Drucke zahlreiche Fehler und Zusätze eingedrungen, die gewiss nicht allein auf sprachliche Missverständnisse zurückgehen, sondern oft auch Zeugnisse einer blühenden Fabulierkunst sind. Diese Zusätze in vielen Manuskripten waren es vor allem, die Marcos Buch gelegentlich den Ruf einbrachten, es sei nur eine erfundene Geschichte, ein „Roman um den Groß-Khan“ im Stile der zahlreichen Reiseromane des späten Mittelalters. Schon zu seinen Lebzeiten, als bereits mehrere Versionen im Umlauf waren, tauchte dieser Vorwurf auf, wie die oben nach Jacopo de Aqui berichtete Szene am Sterbebette Marcos zeigt.Die Kritik, die später mitunter an der Glaubwürdigkeit Marco Polos geübt worden ist, stützt sich auf die Tatsache, dass er eine Anzahl sehr charakteristischer Einzelheiten des chinesischen Lebens ganz mit Stillschweigen übergeht. So erzählt er nichts von der großen chinesischen Mauer, nichts von den Krüppelfüßen der Chinesinnen, nichts vom Teegenuss und der Buchdruckerkunst, alles Dinge, für die man bei seinem nimmermüden Interesse für Neues und Absonderliches besondere Aufmerksamkeit erwarten sollte. Nun hat freilich schon Alexander von Humboldt hierzu bemerkt, dass man solchen Beweisen „ex silentio“ kein allzu großes Gewicht beimessen dürfe: In den Archiven von Barcelona, sagt Humboldt, findet sich keinerlei Hinweis auf den triumphalen Einzug des Columbus in diese Stadt, bei Marco Polo keine Bemerkung über die chinesische Mauer und in den Archiven von Portugal nichts über die Reisen, die Amerigo Vespucci in portugiesischen Diensten ausführte.Wahrscheinlich erklären sich diese Auslassungen höchst einfach aus der Entstehungsgeschichte der ersten Niederschrift. Marco war kein Gelehrter, und Systematik lag ihm ganz und gar nicht. Wohl hatte er, wie wir wissen, bei seinem Diktat im Gefängnis einige Reisenotizen vor sich, aber gewiss kein lückenloses Tagebuch. Der Stil und die ganze Diktion des Werkes zeigen deutlich das gesprochene Wort: Er spricht von sich selbst gelegentlich in der ersten, meist aber in der dritten Person, erzählt manchmal nur in knappen Stichworten, dann wieder in behaglicher Breite, wiederholt sich und gebraucht anknüpfende rhetorische Wendungen. All das deutet hin auf ein lebendig und impulsiv vorgetragenes Diktat, bei dem wohl auch wichtige Einzelheiten einfach vergessen worden sind.Aber diese Einwände können seinen Ruhm nicht schmälern. Die erd- und völkerkundlichen Forschungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, insbesondere die Arbeiten von Ferdinand von Richthofen und Sven Hedin, haben die überzeugenden Beweise erbracht, dass Marco Polos Angaben zur Länder- und Völkerkunde der Gebiete, die er durchreiste, überhaupt nahezu alles, was er selbst beobachtet hat, in erstaunlicher Weise den zum größten Teil erst im Verlauf der letzten hundert Jahre nachprüfbaren Tatsachen entsprechen. Er war wirklich der König unter den Reisenden des Mittelalters. Als erster hat er den größten Erdteil, Asien, in seiner ganzen Weite von West nach Ost durchquert und sorgsam beschrieben, was er dort sah: Die Wüsten Persiens, die blumenreichen Hochebenen und die wilden Gebirgsschluchten von Badakshan, märchenhafte Städte der Seidenstraße, die Steppenländer der Mongolei und den Hof des Groß-Khans. Als erster zieht er den Schleier von China, schildert das Gewimmel seiner Menschen, die riesenhaften Städte, das Leben auf den großen Flüssen, die Reichtümer aller Art, die hier gewonnen werden oder aus anderen Ländern zusammenströmen. Er bringt die erste verlässliche Kunde von Tibet und Burma, erweitert entscheidend die dürftige Kenntnis, die man zu seiner Zeit in Europa vom Malayischen Archipel, Ceylon und Vorderindien hatte. Auch von dem, was er nicht selbst sah, sammelt er Berichte, – wobei natürlich die Verlässlichkeit dieser Kapitel mitunter fragwürdig ist, – so von Japan, über dessen Existenz man zum ersten Male durch ihn etwas hörte, von Abessinien, Sansibar und Madagaskar, ja sogar von Sibirien und dem nördlichen Eismeer.Es bedarf nicht des etwas missglückten Vergleiches mit Columbus, wie ihn Ramusio anstellte, um Marco Polo zu den Großen unter den Weltreisenden aller Jahrhunderte zu zählen. Aber eine eigenartige Verbindung besteht doch zwischen dem Venezianer und dem Genuesen, der zweihundert Jahre später lebte. Als Columbus seine Idee der Westfahrt nach Asien entwickelte, war Marcos Buch im Druck nur in deutscher Sprache erschienen. Auch haben wir keinen überzeugenden Beweis dafür, dass Columbus selbst eines der Manuskripte gelesen hat. Aber mittelbar, vor allem durch die Briefe des Florentiners Toscanelli, ging vieles von Marco Polos Weltbild in die Pläne des Columbus ein. So besteht kein Zweifel, dass es vor allem Marcos Berichte von der zauberhaften Pracht und dem Reichtum der Länder Asiens waren, die dem jungen Columbus den entscheidenden Anstoß gaben. Dabei zeigt sich wieder eine seltsame Verkettung der historischen Ereignisse: Der Genuese wurde zu seiner Tat, die das Gesicht der Welt von Grund auf gewandelt hat, angespornt von einem Venezianer, der selbst kummervolle Jahre im Kerker von Genua zugebracht hatte. Die jahrhundertealte Feindschaft der beiden rivalisierenden Handelsrepubliken des Mittelmeers erscheint in dieser seltsamen Verbindung ihrer berühmtesten Söhne gleichsam aufgehoben und neuen Zielen zugewandt, von denen beide nichts ahnten. – Und eine weitere Ironie der Geschichte: Das unerschütterliche Vertrauen des Columbus, dass sein Plan einer Westfahrt von Europa nach Asien nicht nur theoretisch möglich, sondern auch bei dem damaligen Stand der Seefahrt praktisch ohne große Schwierigkeiten durchführbar sei, beruhte auf einem großen Irrtum. Mit Toscanelli glaubte er, dass der Seeweg von Westeuropa bis Ostasien nur ein Drittel des Erdumfanges betrage. Tatsächlich sind es jedoch zwei Drittel. Dieser Irrtum, der sich übrigens auch schon bei antiken Autoren findet, wurde für die Zeitgenossen des Columbus zweifellos erhärtet durch die Schilderung, die Marco Polo gegeben hat. Zwar enthält sein Buch keine genauen Entfernungsangaben. Aber allein die Tatsache, dass er über drei Jahre unterwegs war, die große Zahl der Länder, die er durchqueren musste, und schließlich die irrtümliche Angabe, dass Japan, das märchenhafte Zipangu, noch 1.500 Meilen von der Ostküste Asiens entfernt liege, schien diese Auffassung zu bestätigen. Hätte Columbus seinen Plan mit der gleichen Energie verfolgt, wäre es ihm gelungen, Ferdinand und Isabella von Spanien für sein Unternehmen zu gewinnen, wenn sie die wirkliche Länge des Weges gekannt hätten? Es gibt einen schicksalhaften Irrtum, der fruchtbarer ist als eine lähmende Wahrheit; er stößt den Weltfahrer in unbekannte Fernen, aber er führt ihn schließlich auch zu neuen Ufern.So steht die Gestalt Marco Polos auch hinter der Tat des Columbus, der einer der großen Verwandler der Menschheitsgeschichte wurde. Das war Marco nicht. Aber er hat uns etwas hinterlassen, was der Genuese und die anderen Großen des Zeitalters der Entdeckungen nicht geben konnten oder wollten, wohl auch nicht geben durften, weil die nun mit ungeheurer Wucht anbrechende Epoche der nationalen Machtkämpfe auf lange Zeit die Geheimhaltung aller neuen Entdeckungen forderte: sein Buch. Ein Buch, das auch heute noch erstaunlich modern wirkt, denn aus ihm spricht in einer Zeit der strengen Scholastik schon durchaus der weltoffene Geist des Humanismus. Wie auf einem bunten persischen Teppich sich Farben und Formen zu zeitlosen, aber seltsam erregenden Gebilden durchdringen, so lässt dies Buch die funkelnde Fülle des Lebens in seinen tausenderlei Gestaltungen aufleuchten und hat den Ruhm Marco Polos durch die Jahrhunderte lebendig erhalten bis auf unsere Tage. |
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