Читать книгу Unbedingt - Van Gogh und Gauguin im Gelben Haus - Jürgen Volk - Страница 7

Selbstporträts

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Paul Gauguin lehnte sich in die Polster seines Sessels zurück. Die horrende Investition von 17 Francs, um im Speisewagen zu dinieren, hatte sich gelohnt. Theo van Gogh würde wohl auch dafür aufkommen müssen. Aber daran dachte Gauguin in diesem Moment nicht: er hatte eine Mission.

Es traf sich, dass sein Gegenüber am Tisch, zunächst misstrauisch seine Kleidung beäugend, doch zur Konversation bereit, und dazu ein offensichtlich wohlhabender Mann war. Monsieur de Mauriac, dem Namen nach alt-aristokratischer Abstammung, gab sich als kultivierter und kunstinteressierter Besitzer einer Großweberei in Lyon. Gauguin witterte auch bei ihm die übliche, dekadente und bourgeoise Sehnsucht nach Freiheit, Fremde und Abenteuer – die er sich natürlich zunutze machen wollte. Nur so ließ sich als Künstler leben: melke den Bourgeois.

Gauguin selbst machte sich nichts aus seiner äußerlichen Erscheinung. Er kleidete sich bewusst derb nach Seemannsart und erreichte dadurch im Allgemeinen auch die gewünschte Wirkung. Übrigens kam es stets auf die Worte an. Und als er seine ersten Sätze des Tischgesprächs in distinguiertem Französisch aussprach, horchte der Adlige auf. Er sollte ihm bald ins Netz gehen.

Man sprach über die komfortable Art zu Reisen, die das neue Zeitalter bot, wobei Monsieur de Mauriac, dem seine Vorliebe für gute Speisen an seiner Statur abzulesen war, immer wieder ansetzte, die Vorzüge der neuen Speisewagen zu loben. Trotz aller Offenheit und Beredsamkeit des alten Herrn verspürte Gauguin eine gewisse, verhaltene Distanz. Gewollt und natürlich zugleich, dezent, nicht provokativ. Doch genau das provozierte ihn, Eugène Henri Paul Gauguin. Es behagte ihm vor allen Dingen nicht, dass sein Gegenüber aristokratisch war. Nicht weil er ein übermäßiger Verfechter der republikanischen Idee war; im Gegenteil, seine bisherigen politischen Aktivitäten für den Geheimdienst der kommenden spanischen Republik hatten ihm und seinen Vorfahren bisher nur Nachteile gebracht. Es versetzte ihm jedoch stets einen schmerzlichen Stoß, wenn er daran erinnert wurde, wie jäh seine Jugend in Peru unterbrochen worden war, wie er und seine Mutter die reichen Verwandten verlassen mussten. War er nicht selbst adelig gewesen zu dieser Zeit? Sein Onkel galt in Lima und ganz Peru um vieles mächtiger als jeder Adelige Europas, ausgenommen Ostpreußen und Russland natürlich. Wie ein kleiner Prinz stolzierte er damals zwischen den bronzefarbenen Halbwilden durch die Boulevards und Gassen der Stadt. Von klein auf war ihm so die Aura der Unantastbarkeit, das dienstbeflissene Personal, das große Haus zur Gewohnheit geworden. Wäre er nicht aus diesem Haus vertrieben worden, sein Gegenüber würde ihn als ebenbürtig anerkennen müssen.

Üblicherweise legte er großen Wert darauf, die Menschen von seiner Familiengeschichte wissen zu lassen. Nur wie er dies bei Monsieur de Mauriac geschehen lassen sollte, ohne plump und unglaubwürdig zu erscheinen, wusste er noch nicht. Deshalb blieb er beim Thema und legte seinem Gegenüber weltmännisch dar, dass ihm diese Art dinierend zu reisen nicht ganz neu wäre, da er schon in England die Vorzüge dieser Erfindung genießen durfte. Obwohl Monsieur de Mauriacs Gesicht bar jeder Regung blieb, war Gauguin, der selbstverständlich noch nie in einem englischen Speisewagen gesessen hatte, davon überzeugt, einen Treffer gelandet zu haben. Er fühlte sich, wenn auch nicht überlegen, doch wieder ebenbürtig. Der Adelige erwiderte nach einer kurzen Pause, während der er das Gesicht Gauguins noch einmal aufmerksam und unverhohlen studierte, nicht ohne Süffisanz, dass zwar die Engländer womöglich als erste diese Erfindung im alten Europa einführten, aber gleichzeitig sei doch zu konstatieren, dass weder Amerikaner, noch Engländer, wenngleich sie auch die technische Vorarbeit leisteten, einen angemessenen Service bieten könnten, da ein Speisewagen erst zum Speisewagen würde, wenn darin französische Gerichte aufgetischt würden. Hier musste Gauguin lebhaft zustimmen und beide lachten einvernehmlich und lange, wobei sie sich wieder dem Essen zuwandten. In Wort und Tat – denn Monsieur de Mauriac schätzte die Themen Haute Cuisine und französischer Wein noch mehr als den technischen Fortschritt und die Eisenbahn, weshalb Gauguin beschloss, die vielversprechende Bekanntschaft vollends für sich zu gewinnen, indem er viel beipflichtete und de Mauriac den Großteil des Gesprächs führen ließ.

Nachdem das Diner beendet war und der Cognac, ein Rémy Martin, gereicht wurde – VSOP natürlich – beschloss Gauguin zur Sache zu kommen. Und so verfolgte er beharrlich seine Strategie: er war nicht mit der Türe ins Haus gefallen und hatte zuerst über Unverfängliches Konversation gehalten. Jetzt war es an der Zeit, sein Ansehen bei seinem Gegenüber wachsen zu lassen. Er begann ganz beiläufig von der Pariser Börse zu sprechen.

Monsieur de Mauriac zeigte sich begeistert, von der Beflissenheit und Kenntnis der Prinzipien des Marktes, die Monsieur Gauguin zutage legte, kam aber nicht umhin anzumerken, dass dieser von den neuesten Entwicklungen nicht unterrichtet war.

Somit war Gauguin am Ziel und konnte mit einer noch beiläufigeren Geste erklären, dass er seine Tätigkeit an der Börse – Monsieur Gustave Arosa, der Arosa, war seinerzeit sein Vormund – schon seit geraumer Zeit aufgegeben habe, um sich seiner wahren Profession zu widmen: der Malerei.

Jetzt war der kritische Punkt erreicht, eine unvermeidbare Klippe, die es zu umschiffen galt. Gauguin duckte sich innerlich kurz, und besann sich seiner eingeübten Erwiderungen für Gesprächssituationen wie diese. Doch anstatt der üblichen Reaktion, gemischt aus bürgerlichem Spott, selbstsicherer Herablassung und schierem Unglauben, überraschte der Industrie-Aristokrat Gauguin, denn er sagte nach einer kurzen Pause:

»Eines freien Mannes würdig.« Er nickte, wiederholte den Satz und begann umständlich zu diesem Schritt zu gratulieren.

Gauguin verstand nicht ganz, wähnte den älteren Herren kunstvernarrt, atmete auf, und fühlte sich sicher in den Hafen einfahren. »Eines freien Mannes würdig« – das war nach seinem Geschmack. Bevor er jedoch etwas erwidern konnte, verwies Monsieur de Mauriac auf die abgetragene Hosen und das grobe Hemd des Malers, und fragte, ob dieser, da schon in voller Montur, direkt in Lyon arbeiten wolle, oder ob er gedenke weiterzureisen. Gauguin überging, in Klugheit geübt, diese indirekte Einladung und begann stattdessen in knappen Sätzen von der Einladung, aufgrund der er in diesem Zug saß, zu sprechen: dass ihn ein holländischer Maler, der bereits geraume Zeit in Arles lebe und sich dort in einem Atelierhaus eingerichtet habe, schon mehrmals eingeladen habe; dass er diese Einladung jetzt erst wahrnehmen könne, obwohl er dadurch seine in letzter Zeit sehr fruchtbare Arbeit in der Bretagne unterbrechen musste. Nicht weil ihn, wie den Holländer, das Licht des Südens anziehe, sondern weil ihn dieser blind verehre und eingeladen habe, als Mentor in seinem Haus zu wohnen, zu malen und ihn zu lehren.

Monsieur de Mauriac nickte anerkennend mit dem Kopf und erwiderte nicht ohne Stolz, er selbst besitze eine umfangreiche Sammlung an Landschaftsmalerei, sei also in gewisser Weise ebenfalls ein Kenner, wenn auch eher vom Standpunkt des Betrachters aus, und frage sich, warum Monsieur Gauguin das Licht des Südens denn so verschmähe. Es gäbe doch Maler vom Format eines Monticelli oder des großen Delacroix, die sich das Licht des Südens zu Eigen gemacht hätten.

»Wenn Sie damit anfragen möchten, ob ich Kolorist sei, Monsieur«, antwortete Gauguin, vielleicht zu energisch, »so muss ich dies verneinen. Ebenso habe ich die Pleinairmalerei hinter mir gelassen. Worauf es mir ankommt, ist das Wahre, das Übersinnliche, das Reine und Abstrakte, in einem Wort, darzustellen, was unserer Zeit verloren ging. Hierzu habe ich eine Methode entwickelt, die ich vorerst die Primitivistische nennen möchte.«

Der Adelige neigte den Kopf leicht zur Seite und sein Blick verlor sich in einem Punkt links hinter Gauguin im Nichts, was wohl unterstreichen sollte, dass er den eben vernommenen Worten nachsinnen wolle. Mit einem Mal blickte de Mauriac seinem Gegenüber wieder mitten ins Gesicht und drückte zu seinem Bedauern sein Unverständnis aus, nicht ohne vorher mit Hilfe einiger theoretischer Exkurse zu unterstreichen, dass er in der Materie der Malerei doch sehr belesen sei, von Gauguins Malerei, zugegebenermaßen, dennoch nie etwas vernommen habe. Im Weiteren fand er auch, dass weder er noch seine Zeit etwas verloren hätten. Im Gegenteil, viel sei gewonnen worden.

»Es ist in der Tat auch schwer in Worte zu fassen, worum es uns in der Malerei geht«, setzte Gauguin erneut an: »Am besten ist in diesem Falle immer noch die Anschauung selbst. Leider reise ich ohne meine Werke. Ich habe sie aber bereits nach Arles verschickt. Wenn Sie es wünschen, sind Sie aufs Herzlichste in das Atelier meines Freundes eingeladen, dann wäre es mir nicht nur ein Vergnügen, sondern auch ein Leichtes, Ihnen meine Methode anhand der Werke zu erläutern.«

De Mauriac zögerte einen Moment und antwortete dann jovial, es ließe sich unter Umständen einrichten. Gauguin musste jetzt vorsichtig vorgehen, weshalb er beschloss, sich zurückzuhalten, um den Aristokraten wieder reden zu lassen. In Ermangelung eines Besseren, knüpfte er so an die ihm gezollte Bewunderung des Adeligen an und fragte, was es mit der vorherigen Aussage, die Malerei sei eines freien Mannes würdig, denn genau auf sich habe. Doch im Moment, da er die Frage stellte, streifte ihn die Ahnung, er hätte nach der Kunstsammlung des Adeligen fragen sollen.

»Monsieur Gauguin, Sie malen also nicht, da Sie finanziell unabhängig sind?« Diese Frage war offensichtlich nur rhetorischer Natur, denn ohne Pause fuhr Monsieur de Mauriac fort, es handele sich hierbei um eine alte Maxime, die bis auf die Römer und das alte Griechenland zurückginge, und die er als Adeliger noch heute verfechte: nicht jede Arbeit werde einem freien und edlen Mann gerecht, nur der Pöbel müsse von seiner Hände Arbeit leben. Der freie Mann hingegen ließe für sich arbeiten und verbringe seine Zeit in ziemendem Maße mit Politik, Studium und Wissenschaft. Jedoch, er wolle offenherzig sein, auch für ihn hätten sich die Zeiten geändert. Glücklicherweise dürfe er sagen, er gehöre nicht dem Teil des Adels an, der auf seinen Gütern sitzt und von Generation zu Generation mehr und mehr verarmt. Er habe die Zeichen der Zeit erkannt. Zwar habe er nicht so sehr die Muße, sich den freien oder schönen Künsten zu widmen, dafür aber müsse er auch nicht von seiner Hände Arbeit leben – seine Arbeiter und sein Kapital erledigten dies für ihn, denn die Unternehmungen gingen gut. »Aber Monsieur Gauguin …«, wandte er sich schlussendlich dem Maler zu: »Mit welchen der zeitgemäßen Künstler in Paris sind Sie zu vergleichen? Wo und mit wem stellen Sie aus?«

Gauguin wusste nun, er war erledigt. Eigentlich hätte sich de Mauriac die Finte sparen können, um direkt zu fragen, ob er von seiner Kunst leben könne. Einerlei, er und seine Freunde gehörten nun mal nicht zu den Malern des Grand Boulevard, wie van Gogh sich immer auszudrücken pflegte. Mit dem Versuch alle Kraft der Überzeugung hineinzulegen, setzte Gauguin an:

»Ich bin gerade auf der Suche nach meinem eigenen Stil und habe schon des Längeren nicht mehr ausgestellt.«

»Verstehe, Monsieur«, konstatierte de Mauriac kühl.

»Aber ich habe seinerzeit mit den Impressionisten im Salon des Indépendants ausgestellt. Auch darf ich mich als den Erfinder der Cloisonné-Technik bezeichnen, obwohl mir die Konkurrenz diese Idee streitig machen möchte. Dies war auch einer der Gründe, weshalb ich unlängst mit einem Malerfreund die von Neid zerfressenen Künstler in Paris hinter mir gelassen habe. Bis auf wenige Ausnahmen wie Seurat oder Signac waren sie mir größtenteils zuwider.« Nachdem der Aristokrat nicht zu erkennen gab, ob er die beiden immerhin schon bekannten Namen jemals vernommen hatte, fuhr Gauguin weiter fort, er habe sich mit seinem Malerfreund nach Panama eingeschifft. Dort habe er dann vieles Gutes zu Wege gebracht und einige Werke an einen holländischen Kunsthändler verkauft, der für die Galerie Goupil – Gauguin ließ auch diesen Namen kurz und ebenso erfolglos wirken – arbeitet. Von ihm werde er jetzt auch vertreten.

Auch wenn die letzte Behauptung etwas übertrieben war, machte sie keineswegs Eindruck auf Monsieur de Mauriac. Er hob die Hand, und während der Kellner die Rechnung brachte, blickte er nur kurz auf seine Uhr, beglich die Summe und erhob sich langsam. Ja, er habe von den so genannten Neoimpressionisten gelesen. Die ihm innewohnende Neugierde hatte ihn aber keineswegs die verheerenden Urteile von Zeitungen und Bekannten vergessen lassen. Es sei nun aber auch an der Zeit für ihn, in sein Abteil zurückzukehren, denn der Abend sei schon fortgeschritten und er habe noch einige Akten durchzusehen, bevor er in Lyon ankomme. Im Übrigen dürfe sich Gauguin als eingeladen betrachten, er danke für das kurzweilige Gespräch und wünsche einen schönen Aufenthalt in Arles.

Beide hatten sich nun erhoben und während ihm der Ältere die Hand reichte, bedankte sich Gauguin und ließ es auf einen letzten, fast schon verzweifelten Versuch ankommen, indem er betreffend des angesprochenen Atelierbesuchs nachhakte. De Mauriac dankte vielmals für die Einladung, wahrscheinlich werde aber die Zeit hierfür nicht reichen, denn er sei ja ein beschäftigter Mann und müsse – trotz aller Abstammung – sein Auskommen mit ehrlicher Arbeit verdienen. Gauguin überhörte die Betonung der Worte Abstammung und ehrlich, und, obwohl ihm der Alte schon den Rücken zugewendet hatte, rief er ihm nach:

»Für den Fall, dass Sie sich einmal auf der Durchreise befinden, liegt das Atelier in Arles unweit des Bahnhofes, Nummer 2, Place Lamartine.« Da drehte sich der Aristokrat nochmals um. Gauguin hoffte schon, er werde ihm seine Karte reichen, erntete unterdessen aber einen abschätzigen Blick. Sehr deutlich, ernst und nicht zu laut sagte de Mauriac, er wünsche, mit Dilettanten, Sozialisten und Anarchisten aus dem Pöbel, kurz mit dieser Unterschichtenmalerei, nichts zu tun haben zu müssen. Dann entfernte er sich.

* * *

Wütend durchschritt Gauguin die erste Klasse, die zweite Klasse und kam schlussendlich in seinem Wagon dritter Klasse an. Mühsam, aber wenig rücksichtsvoll, drückte er sich durchs überfüllte Abteil, riss seinen Seesack, mit dem er stets zu reisen pflegte, von seinem Platz und setzte sich. Er versuchte weniger heftig zu atmen, denn hier vermischten sich der Duft von billigem Lavendelwasser mit den Gerüchen ungewaschener Körper und noch nicht verzehrten Reiseproviants und stand schwer in der Luft.

Eingezwängt zwischen viel zu viele Menschen und den häufigen Stößen des schlecht gefederten Wagons ausgesetzt, war es unmöglich zu verhindern, sich an seinen Nachbarn zu stoßen. Es wurde hingenommen, ignoriert. Ihm gegenüber saß eine ausgedorrt wirkende Frau unbestimmten Alters, deren schwarzes Haar nach vorn übers Gesicht fiel. Ihr Kind hatte sich zwischen ihre Beine geklemmt und hieb zornesvoll und trotzig mit seinen roten Fäustchen auf ihren Schenkel ein. Sie schien es nicht zu bemerken und überließ den kleinen Furor sich selbst. Neben ihr saß ein Mann, der den Kopf gegen die roh gezimmerte Holzwand des Wagons gelehnt hatte und schlief oder zumindest zu schlafen vorgab. Gauguin konnte nicht erkennen, ob es sich bei dieser Reisegesellschaft um eine Familie handelte. Zerlumpt und müde wie der Rest der zusammengepferchten Gäste, bedauerte er sie dennoch, wurde sich aber zugleich bewusst, dass er in den Augen de Mauriacs mit ihnen gemein war.

Seltsamerweise fühlte er sich in Gegenwart eines Bourgeois ausgezeichnet durch seine Rolle als Künstler, auch wenn er dabei kaum jemals Aufmerksamkeit oder Respekt erfuhr. Die entgegengebrachte Verachtung wurde von ihm mit Stolz erwidert, in barer Münze zurückgezahlt und nicht selten fühlte er sich bestätigt. Ebenso, wenn auch unter anderen Vorzeichen, verhielt es sich mit seinen Künstlerkollegen.

In Gegenwart dieser gemeinen Menschen um ihn wollte sich kein Gefühl des Stolzes einstellen. Ohne die näheren Gründe und Ziele ihrer Reisen zu kennen, wusste er, jede Reise war ein Diktat der Notwendigkeit: der verstorbene Vater aus dem Provinznest, die Krankheit der Mutter, oder vielleicht auch erfreulicher, die Hochzeit des Bruders oder die Taufe einer Nichte – alle diese Gründe erlaubten, der Ausbeutung in den Fabriken und bürgerlichen Haushalten von Paris wenigstens für ein paar Tage zu entfliehen, auch wenn der letzte Sous für die lange und harte Fahrt in den Midi dafür ausgegeben werden musste. Wie in der Bretagne, so auch hier. Die Menschen kehrten für begrenzte Zeit zu ihren Wurzeln, zu ihren Familien, zu ihrem Wein, ihrem Käse und den typischen Gerichten ihrer Region zurück. Dorthin zurück, wo sie aufgewachsen waren, dorthin, wo sie sich immer noch zugehörig fühlten und wo sie am liebsten bleiben würden, reichte das Land oder das kleine Handwerk der Familie aus, um alle satt zu machen. Es war ihre Heimat. Paris konnte das nicht sein. Paris, mit seinen lauten Straßen, stinkenden Gassen und seinen raffinierten Vergnügungen zur Betäubung. Vergnügungen, inszeniert zur Zerstreuung der reichen, romantischen Bourgeoisie, deren mutigste Mitglieder sich abends in die Vororte wagten, um sich dort, an ausgewählten Orten unter die Menschen zu mischen, die sie tagsüber ausbeuteten.

Und er selbst? War er nicht auch aus Paris in die Bretagne geflüchtet? Musste nicht auch ein Maler der heutigen Zeit Bediensteter der Bourgeoisie sein, um zu überleben? Er kannte die Regeln des Marktes und wusste, er vertrieb auch nur ein besonderes Produkt, welches das Bedürfnis nach Vergnügung befriedigte. Sei’s drum, wenn sie ihn nur finanzierten. Sobald er davon leben konnte, war es ihm recht. Die Wahrheit verstehen würden sie ohnehin nicht, selbst dann nicht, wenn man sie in bunten Lettern auf die Leinwand pinseln würde. Paris, oder auch jede andere so genannte Metropole, war falsch. Er hatte es nicht nur um des billigeren Lebens willen geflohen. Der Moloch verdreckte und überdeckte die Wahrheit. Ja, vielleicht war dies der Unterschied zwischen ihm und den anderen Reisenden im Abteil: er suchte noch die Wahrheit, auch wenn keiner ihn verstehen würde. In diesem Punkt unterschied er sich. In diesem Punkt war er frei. Wenigstens in diesem, denn auch wenn er wie die anderen zur Reise gezwungen wurde, so wurde er von der Notwendigkeit nicht zu einem geliebten Ort zurückgeführt, sondern weg von diesem. Die Notwendigkeit zwang ihn, seine Freunde und Jünger in der Bretagne zurückzulassen, um wie ein Bettler von der Gunst dieses Holländers zu leben und dessen malenden Bruder zu hofieren.

Ein alter Mann trat Gauguin auf den Fuß, beinahe wäre er vollends ausgeglitten und auf ihn gefallen. Ohne weitere Entschuldigungen kämpfte sich der Alte ein Abteil weiter bis zu seinem Platz und ließ sich zwischen zwei andere Passagiere auf die hölzerne Bank fallen. Das eingeklemmte Kind schrie und schlug noch immer um sich. So hatte sich Gauguin die Reise nicht vorgestellt. Auf dem Weg in die Bretagne, spätestens im Zug nach Pont-Aven, fanden sich stets einige Seefahrer, Zecher oder Künstler, denen er Seemannsgarn vorspinnen konnte, die seinen Mut und seine Aufmerksamkeit herausforderten und die Stunden rasch vergehen ließen. Jetzt lagen bereits vier lange Stunden hinter ihm, mehr als sechs noch vor ihm.

Er rief sich das Gespräch mit de Mauriac wieder in Erinnerung, doch in dieser stickigen Luft, eingezwängt zwischen den Schultern seiner Nachbarn und dem unablässigen Rattern des Wagons ausgesetzt, schien es ihm beinahe unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. »Die Kunstsammlung!«, dachte er. Darauf hätte er eingehen sollen und nicht bereitwillig und dämlich in die Falle tappen. Die Chance war vergeben, dennoch konnte er sich, wie immer in solchen Situationen, nicht davon lösen. Ein Groll stieg in ihm hoch, dem er sich noch ein, zwei Viertelstunden hingab. Einen anderen Zeitvertreib gab es ohnehin nicht. An Lesen war bis Lyon überhaupt nicht zu denken, denn er hätte sich dicht unter die schwache, blasse Lampe stellen müssen, um die Buchstaben erkennen zu können. Bis auf seine Reiselektüre Les Misérables hatte er alle Bücher bei Bernard und Schuffenecker gelassen – und: wie sollte er im Angesicht der Wahrhaftigkeit dieses Elends über das Elend lesen? Im Übrigen war es gut, alle Bücher hinter sich zu lassen. Van Gogh würde neue Bücher, andere Bücher haben. Bücher und Gedanken, die ihm von Nutzen sein könnten. Der Holländer war eine wandelnde Bibliothek und seine Briefe waren Pamphlete. Vielleicht ließe sich davon profitieren, dachte er, vielleicht diktierte ihm die Notwendigkeit seinen Reiseweg doch mit ein wenig Nachsicht. Für die nächsten Monate, oder zumindest doch Wochen, musste er sich um das Geld keine Sorgen machen, denn er bezahlte Theo van Gogh für dessen Zuwendungen mit Werken. Konnte er darüber hinaus etwas verkaufen, so kam der Erlös allein ihm zugute. Mit etwas Glück blieb Arles nur eine Durchgangsstation! Natürlich hatte er hoch gepokert, die Brüder hingehalten und nun, gerade zu seiner höchsten Not, doch noch das Beste herausgeschlagen.

Vielleicht würde Theo einige seiner Werke verkaufen. Er schien etwas von seiner Arbeit zu verstehen. Ernsthaft, zurückhaltend wie er war, erweckte er einen Eindruck von Seriosität und Verlässlichkeit. Schwärmerisch oder enthusiastisch setzte er sich nicht für die neue Kunst ein, das musste auch gesagt werden. Aber gerade durch seinen Ernst verlieh er der Kunst, die er verkaufte, eine gewisse Würde. Ja, er war genau am richtigen Platz in der Galerie Goupil. Bei Vincent verhielt sich das anders. Was sein Bruder zu wenig an Feuer hatte, hatte Vincent zu viel. Kaum zu glauben, dass die beiden Brüder waren. Gauguin musste unvermittelt grinsen, als er sich Vincent in einer Galerie vorstellte: der Hitzkopf würde mit flammenden Worten die Kunst beschwören und gar nicht begreifen, dass seine Kunden rein gar nichts, niemals auch nur einen Hauch davon verstehen könnten. Vor seinem inneren Auge sah er Vincent eine dicke Bourgeoise so lange Ohrfeigen, bis ihr der Hut vom Kopf viel, um dann auf den herausgelösten Blumen herumzutrampeln. Oder er würde gar nichts sagen und seine Kunden schlichtweg ignorieren. So hatte ihn zumindest Toulouse-Lautrec geschildert. Woche um Woche war van Gogh zu dessen Jour fixe ins Atelier gekommen. Stets hatte er ein Gemälde mitgebracht und auf einem Stuhl in der Ecke aufgestellt. Dann war er den ganzen Abend in Gedanken versunken dagesessen, hatte am Ende des Abends sein Gemälde wieder eingepackt und mitgenommen. Aber das war nur Künstlertratsch. Er selbst hatte ihn ja, wenn auch nur fern der Gruppe, anders kennengelernt.

Gern erinnerte er sich an den Nachmittag, den er mit den Brüdern van Gogh in Theos Wohnung verbracht hatte. Er war gerade aus Martinique zurückgekehrt und die beiden kauften ihm eine Négresse ab. Zunächst war er empört, wie sie in seiner Gegenwart seine Werke auslegten, als wäre er gar nicht anwesend oder schon verloren. Nach einer Weile verstand er aber, wie unklug es wäre, die beiden Brüder in ihrem Philosophieren zu unterbrechen. Ganz in ihr Gespräch vertieft schien es, als hätten sie ihn vergessen und schmiedeten aus den Versatzstücken, die sie aus seiner Biographie und seinen Theorien kannten, eine Poetik oder ein System seiner Kunst, so schlüssig wie eine kantische Kritik – nur verständlicher. Vincent van Gogh dichtete Gauguins Werken einen Inhalt hinzu, der seine eigenen kühnsten Phantasien übertraf, und ohne genaueres über ihn zu wissen, verglich er ihn mit Romanfiguren, anderen Malern und wandte das so gewonnene Bild direkt auf den verblüfften Gauguin an, ohne ihm auch nur die Frage zu stellen, ob diese Vermutungen zutrafen. Theo unterbrach seinen Bruder, wenn dessen Spekulationen zu weit über die Stränge schlugen, Gauguin ließ es sich aber gerne gefallen und stimmte jedem literarischen Verweis lebhaft zu. So musste mit diesen Kritikern und Journalisten geredet werden. Wenn er eines in seiner Karriere als Händler gelernt hatte, dann, dass es nicht auf das Produkt, sondern auf den Verkäufer ankam. Ein jeder Maler war Produzent und Verkäufer zugleich und so ließ er die Brüder gerne in die Rolle der Verkäufer seiner Bilder schlüpfen, um dann etwas für seine eigene Strategie zu gewinnen. Ja, selbstverständlich hatten ihn seine Reisen und seine Vergangenheit in Lateinamerika gelehrt, einen unverstellten Blick auf die Natur zu werfen. Nein, er war bestimmt kein décadence. Und, gewiss, er war Pierre Lotis Schilderungen und Figuren sehr ähnlich – nur eben real. Auch er ging in die Bretagne, um dort das unberührte, ursprüngliche Leben der Landbevölkerung zu studieren und den Menschen der Großstadt mit seinen Gemälden diesen Eindruck zu vermitteln. Letzteres stimmte in der Tat mit seinen Absichten überein. Er hatte auf den Messen und in den Salons, ja selbst in den Warenhäusern, die naiven Bretagnegemälde mit ihren Bauern, Nonnen und Prozessionen im akademischen Stil gesehen und versucht, durch dieses Motiv und anhand seiner Technik das wiederzugeben, was der Welt so offensichtlich fehlte: Mythen, Visionen, Spiritualität – es war ein florierender Markt. Sicher, die Mehrheit der Menschen würde auch durch die jüngsten Errungenschaften arm bleiben. Dennoch wurden auch die Reichen, die sich irgendwann gezwungen sehen würden ihre Villen und Landsitze auszuschmücken, immer mehr. Es war ein guter Markt und es war sein erklärtes Ziel, der tonangebende Maler dieses Segments zu werden. Dass nun aber diese beiden kunstbeflissenen Männer, der eine Maler, der andere Galerist, ihn selbst als Propheten und Erleuchteten anpriesen, fand er einfach köstlich. Im Auge des Betrachters werden Produkt und Verkäufer wieder eins. Wer brauchte da noch einen verzopften Industrie-Aristokraten, wenn die Welt ihn erst einmal kennen würde? Er, Gauguin, Maler des Primitiven und Exotischen, würde Europa wiedergeben, was es verloren hatte. Das ursprünglich Ländliche gegen die verdorbene Stadt. Die gläubige Magd gegen den modernen Industriearbeiter. Das unberührte Exotische gegen die überkommene Zivilisation. Das waren Gegensätze, um ein Programm zu begründen. Und ein Programm brauchte er, denn er war nicht mehr der Jüngste.

Vincent van Gogh war naiv, ein Schwärmer und grenzenloser Romantiker, der aber dienlich sein konnte. Gauguin machte sich nichts vor, er hatte die schlechtere Hälfte der Brüder zugelost bekommen; aber auch das Schlechte führt manchmal zum Guten. Vincent war zwar weniger als die Hälfte wert ohne seinen Bruder, andererseits konnte er nur über Vincent an Theo gelangen, und der Weg zu diesem führte, wie alles in seinem Leben, über die Malerei. Dafür stand auch Vincent in Flammen. Für die Malerei allgemein, im Besonderen aber auch, und dessen war er sich voll bewusst, für ihn, Paul Gauguin. Dafür hatte er gesorgt. So naiv wie Vincent war, hatte Gauguin stets nur dessen Schwärmereien folgen, aus dessen Wortergüssen passendes herausdestillieren und ihm verklausuliert als seine eigenen Gedanken und Gefühle zurücksenden müssen, und schon war er gewonnen. Obwohl Vincent Holländer war und überdies mit einem schrecklichen Akzent sprach, gab er doch einen hervorragenden Schreiber ab. So gut, dass er manchmal Wortfiguren oder ganze Gedanken von Vincent übernahm und in Briefen an Bekannte wortwörtlich wiedergab. Auch Gauguin ihn dafür bewunderte, wusste er, dass es in der Malerei nicht auf Worte und Schwärmereien ankam, sondern auf Ökonomie und Können. Was Letzteres anging, so fehlte seinem künftigen Schützling fast alles, und wenn es auch aussichtslos war, würde er auf Wunsch der Brüder der Lehrer sein. Am Ende würde es sich bestimmt lohnen über Arles, sprich Vincent, nach Paris, sprich zu Theo, zu reisen, um endlich, nach all der Entbehrung, zu triumphieren. Über diesen Gedanken schlief Gauguin trotz der schweren, stakkatoartigen Stöße des Zuges, die durch die unkomfortablen, hölzernen Bänke noch verstärkt wurden, irgendwo auf dem Weg übers Flachland zwischen Massif central und Jura fest ein.

Ein heftiger Schlag gegen das Brustbein ließ Gauguins Herz aussetzen, und während er zu begreifen suchte, was geschehen war, stutze er vor dem jungen Mann, der auf seinem Schoß saß. Dieser trug eine rote Mütze auf seinem Kopf, schaute Gauguin an und wirkte nicht minder überrascht. »Wo ist mein Koffer, Monsieur?« Mit diesen Worten drang der Geruch billigen Weins mit solcher Heftigkeit in Gauguins Nase, dass er das Gesicht abwenden musste. »Ist die Kleine schüchtern?«, hörte und roch Gauguin ihn als nächstes sagen, gefolgt von schallendem Gelächter uniformierter Männer, die einen Halbkreis um die beiden gebildet hatten. Die Rotmütze fuhr ihm mit dem Handrücken liebkosend über die linke Wange. Gauguin stieß ihn mit solcher Wucht von sich weg, dass der Soldat seine Mütze verlor und gegen die aufschreiende Mutter und ihr Kind prallte. Polternd fiel er zu Boden und zog das Kind mit sich. Gauguin erhob sich, schob das schreiende Kind beiseite, packte den Mann vor der Brust am Revers und zog ihn zu sich nach oben, direkt vors Gesicht. Bevor er nur ein Wort zu dem Betrunkenen sagen konnte, ließ ihn ein Schlag auf den Mund zurücktaumeln. Während er das Blut auf seinen Lippen schmeckte, blickte er sich rasch um und machte genau drei weitere Soldaten um ihn herum aus. Einer der Männer, er trug einen Schnauzbart, stellte sich zwischen die beiden Kontrahenten: »Haben Sie nicht verstanden, worum Sie der Herr gebeten hat, Monsieur? Dieser Monsieur, mein ehrenwerter Freund und stolzer Zuave, sucht seinen Koffer.« Gauguin dachte kurz nach, kam aber zu dem Schluss, dass er gegen die vier nichts ausrichten konnte, weshalb er antwortete: »Ich weiß nicht, wo der Koffer Ihres Kameraden ist. Ich weiß nur eines: dass ich von ihm Rechenschaft fordere. Es ist eine Sache zwischen ihm und mir.«

»Schau an, die Süße will sich messen. Sébastien, die Süße will was von dir.«

Der jüngste der Soldaten, die Mütze wieder aufsetzend, hatte sich inzwischen einigermaßen gesammelt und wandte sich schwankend zu Gauguin: »Madame, mit Verlaub, ich habe den Eindruck, Ihr Bart ist mir doch etwas zu grob.« Die anderen Soldaten lachten wieder und klopften ihm auf die Schulter. Gauguin ließ die Augen im Winkel kreisen und rechnete sich seine Chancen im Kampf aus. Sie waren erschreckend gering. Er spannte kurz alle Muskeln seines Körpers, lehnte sich dann lässig gegen die Wagonwand und parierte: »Und bei Ihnen. Monsieur Sébastien, habe ich, mit Verlaub, den Eindruck, dass Ihre bisherigen Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht weniger von praktischer Natur waren, wenn Ihnen die Unterscheidung so schwerfällt.«

Gauguin hatte keine Lacher auf seiner Seite. Die Soldaten blickten jetzt gebannt auf Sébastien, dessen Kopf, als er bemerkte, in welche Situation er geraten war, den gleichen Farbton annahm wie seine Mütze. Er wusste, ebenso wie Gauguin, dass es kein Zurück mehr gab, denn die Entscheidung wurde ihnen von den erwartungsvollen Blicken der Kameraden genommen. Urplötzlich war der Rausch aus seinem Gesicht entschwunden und es war zu beobachten, wie die Maschinerie seines Verstandes wieder einzusetzen begann. Offensichtlich schien er nach wenigen Sekunden zu einer zufriedenstellenden Lösung des Problems gelangt zu sein, denn ein schiefes Grinsen ließ seine Mundwinkel kurz aufzucken, bevor sie wieder ernst und ruhig wurden und er seinerseits parierte: »Monsieur mögen sich ja auf die Empirie verstehen, aber die Ratio scheint Ihnen fremd zu sein, denn wenn Sie zählen könnten, würden Sie Ihren Mund nicht so weit aufmachen.«

Fluchtartig verließen nun einige der Fahrgäste den Ort des Geschehens, wobei sich manche auch zwischen den Kontrahenten nach draußen drängen mussten. Gauguin wurde dadurch in die Ecke des Abteils gedrückt, wo er sich schnell wieder gegen die Wand lehnte und dann betont entspannt sagte: »Ich denke, Monsieur, dafür brauche ich nur bis eins zählen. Und das zweimal. Eins gegen eins. Das wäre eines freien Mannes würdig, denken Sie nicht?«

Der junge Soldat wurde mit einem Mal ganz bleich. Gauguin setzte nach: »Wenn ich mich nicht täusche, Monsieur, kommen wir jeden Moment in Lyon an. Dort findet sich dann sicher ein stiller Fleck, an dem der Ehre genüge getan werden kann, denken Sie nicht auch?«

Gauguin erhielt keine Antwort. Sébastiens Kameraden zeigten ebenfalls keine Reaktion. Der Maler fühlte, er gewann Oberwasser und während er sich ein Stück aus seiner Ecke heraus bewegte, wandte er sich der Gruppe zu: »Na, Ihr Süßen, ist die Kleine ein wenig schüchtern?«

Während alle vier gleichzeitig auf ihn stürzten, griff Gauguin blitzschnell hinter seinen Seesack und zog seinen Degen hervor. Unvermittelt erstarrte die ganze Gruppe. Gauguin zog eine Pirouette durch die Luft, die direkt vor der Brust des schnauzbärtigen Soldaten endete. Mit einer schnellen Bewegung drückte er die Spitze des Degens leicht in die Uniform, und alle wichen einen Schritt zurück, wobei der Schnauzbärtige selbst zu seinem Degen griff, Gauguin aber schnell reagierte, die Spitze des seinigen an dessen Kehle führte und sagte: »Ich glaube, Messieurs, der Koffer Ihres Freundes befindet sich in einem anderen Wagon. Und da wir bald ankommen, wäre es wohl besser Sie würden ihn suchen, nicht wahr?«

Der Schnauzbärtige hob die Hände, ging einen Schritt zurück und gab mit einer Geste des Kopfes das Kommando zum Rückzug.

Gauguin wartete, bis die Soldaten den Wagon verlassen hatten, griff schnell nach seinem Seesack und begab sich zur nächsten Wagontüre. Die Leute, die sich schon erhoben hatten und sich um den Ausgang drängten, um der Rauferei aus dem Weg zu gehen, machten Platz und ließen ihn passieren. Gauguin grinste übers blutige Gesicht und fühlte sich lebendig. So stand er breitschultrig und einen halben Kopf kleiner als die anderen Männer zwischen den Reisenden. Den Seesack hielt er unachtsam mit der rechten Hand über die Schulter geworfen, die linke ruhte auf dem Knauf seines Degens.

Ein feiner Ascheregen ging auf Gauguin nieder, als er den Zug verließ und auf den Bahnsteig des Lyoner Bahnhofs trat. Unweit sah er Monsieur de Mauriac, der ihn offensichtlich nicht sehen wollte, aus dem Zug steigen. Einige altmodisch gepuderte Bedienstete schickten sich gerade an, sein Reisegepäck aufzunehmen. Wahrscheinlich wartete draußen schon eine achtfedrige Kalesche auf den gnädigen Herrn, im Inneren mit samtenen Wagenkissen ausgelegt. Natürlich würde auch ein Bärenfell nicht fehlen, das de Mauriac über die Knie gelegt würde, damit er in der ersten Kälte dieser Oktobernächte nicht friere, bis er direkt vor der Freitreppe seines Landsitzes, trotz nächtlicher Stunde, von seiner gesamten Dienerschaft empfangen werden würde. Gauguin fühlte sich schon bei diesen Gedanken erneut gedemütigt, und dass ihn de Mauriac weiterhin ignorierte, tat seiner erst wiedergewonnenen guten Laune erneut Abbruch. Als er an ihm vorübergegangen war, begann er in wildestem argot zu fluchen, so dass jeder Bourgeois zurückgeschreckt wäre und Victor Hugo begeistert die Feder gezückt hätte. Die verdammte Kunstsammlung! Danach hätte er fragen sollen. Ob er sie besichtigen und studieren dürfe, hätte er fragen sollen! Es wurde ihm schlecht, wenn er daran dachte, wie er sich vor diesem zum Bourgeois degenerierten Aristokraten verbogen hatte, wie vornehm er dahergeredet hatte. Er verspürte den Drang, die Sache zu klären, wie eben mit den Soldaten, doch er musste sich zurückhalten. De Mauriac war bestimmt einflussreich und Gauguin war dem Gefängnis schon einmal knapp entgangen. Er brauchte nicht erst Victor Hugo zu lesen, um zu wissen, was ihn erwarten würde. Also beschränkte er sich auf dem Weg zum anderen Bahnsteig darauf, sich freizufluchen. Von all den Begebenheiten im Zug, von all den Demütigungen der Vergangenheit und von aller Sehnsucht nach der Bretagne.

Wie es schien, wollten auch die Soldaten nach Arles, denn als sich Gauguin ans Fenster des zweiten Wagons gesetzt hatte, sah er vier rote Mützen am Fenster vorbeischweben. Glücklicherweise bemerkten sie ihn nicht und nahmen irgendwo im hinteren Teil des Zuges Platz. Sonst fanden sich nur noch wenige Fahrgäste im Nachtzug ein. Endlich Platz. Jetzt, wo die Möglichkeit gegeben war, einigermaßen ungestört zu schlafen, wollte sich kein Schlaf einstellen. Erst als Gauguin Les Misérables in den Händen hielt, sah er, dass diese noch immer zitterten. Er legte das Buch zur Seite und lehnte sich zurück. Ja, er hatte sich gut geschlagen. Klar, das Überraschungsmoment war auf seiner Seite gewesen, und ein zweites Mal würde ihm das nicht gelingen, weshalb er beschloss, den Soldaten in Arles aus dem Weg zu gehen. Denn da sie eingestiegen waren, bestätigte sich seine Vermutung: Die Soldaten gehörten der legendären Zuaveneinheit an, die in Arles stationiert war. Er hoffte inständig, es käme ihnen nicht erneut der Einfall, auf Koffersuche zu gehen.

Da war er noch nicht einmal angekommen und hatte schon Feinde in Arles! Aber wieso sollte es anders sein als sonst? Es schadet nicht, sich zu messen, denn wer erfolgreich ist, hat Feinde, wer ohne Erfolg ist, hat Freunde, dachte er grimmig. Eigentlich beginnt die Feindschaft schon dort, wo die Suche nach Erfolg beginnt. Gauguin wusste das und hatte nichts dagegen einzuwenden. Er würde noch am selben Tag einen Brief an Bernard nach Pont-Aven schreiben und von der Auseinandersetzung berichten. Bernard hatte seine Fechtkünste immer bewundert und dabei zugesehen, wenn er in der Bretagne Unterricht gab. Auch wenn er nicht mehr dort war, sollte man von ihm sprechen, auf dem Fechtboden, in der Pension und am Caféhaustisch.

Die Freunde fehlten ihm schon jetzt und van Gogh würde, soviel stand fest, nur einen kläglichen Ersatz darstellen. Gauguin hatte alles getan, um den Neid seiner Malerkollegen zu wecken, bevor er nach Arles fuhr, allein, er stellte sich nicht richtig bei ihnen ein. Sein Vermieter fragte ihn, was er denn in Arles wolle, einen Olivenhain kaufen? Und Bernhard, der dabeistand, hatte daraufhin gespottet, ob er künftig seine Gemälde in Olivenöl malen wolle. Das einzige, das Gauguin bis zur Abreise auf Anspielungen wie diese mantragleich immer wieder anführte, war die berühmt berüchtigte Schönheit der Arlésiennes, die in Liedern und Reiseberichten über den Midi besungen wurden und – derer er sich annehmen würde. Dieser Gedanke stimmte ihn auch jetzt wieder freundlicher. Eine Garnisonsstadt voller Soldaten und schöner Frauen, dazu Kost und Logis frei. Gauguin war noch immer nicht begeistert, aber für eine Weile würde es gehen. Er schlug Les Misérables auf und begann im müden Licht der dritten Klasse zu lesen.

Am Bahnhof in Arles angekommen, schlug es gerade halb fünf Uhr morgens. Zu früh, um zu van Gogh zu gehen. Gauguin hatte eisern und in aller Höflichkeit darauf bestanden, nicht abgeholt zu werden, um, wie es seine Gewohnheit war, Fühlung mit dem neuen Ort aufzunehmen. Leider musste er aufgrund der Soldaten den Bahnhof schneller verlassen als gewollt und bedauerte es nun ein wenig, sich nicht doch per Telegramm angemeldet zu haben. Andererseits wollte er den Bruder seines Gönners nicht aus dem Schlaf reißen. Er strich lustlos durch die Straßen unweit des Bahnhofs und entdeckte ein Nachtcafé. Es war das einzige Gebäude, aus dem noch Licht durch die Fenster drang, und so trat er ein.

Es war ein Nachtcafé, wie es viele in Paris gab und die scheinbar auch in der Provinz in Mode kamen. Ein Ort mit Musik, Wermut, illegaler, aber tolerierter Prostitution und je nach Wunsch ein wenig Gesellschaft oder Einsamkeit. Mit einem Wort, genau das, wonach ihm verlangte.

Nach dem Betreten war klar, das Café de la Gare stand den üblichen Nachtcafés in nichts nach. Es bestand aus einem einzigen Raum, dessen Wände über einer hellbraunen Holzvertäfelung in einem kräftigen Rot gehalten waren, während die Decke in einem dunklen Grün komplementär abstach. Von dort hingen große Lampen in den dichten Rauch herab und verbreiteten ein diffuses, schummriges Licht. Das Publikum bestand, wie erwartet, aus Nachtschwärmern aller Art: Trinkern und Betrunkenen sowie Dirnen und Freiern, die an abgelegenen Tischen beieinander saßen, flirteten und um den Preis feilschten. Musik, die eigentliche Attraktion dieser Lokalitäten, wurde nicht mehr gespielt.

Ganz passabel für ein Provinznest wie Arles, dachte Gauguin bei sich. Natürlich hatte er während seiner Matrosenlaufbahn ganz andere Etablissements kennen gelernt, auch fehlten der Charme und der Glanz, den Paris selbst noch in seinen verruchtesten und schmutzigsten Ecken besitzt. Aber es war schon etwas. Und so bestellte er, als ihn eine attraktive, ein wenig in die Jahre gekommene Dame, wahrscheinlich die Kuppelmutter des Cafés, nach der Bestellung fragte, einen Absinth, steckte sich eine Zigarette an und war zufrieden. Ihm schwante nichts Gutes, als die Kuppelmutter zusätzlich zu seinem Absinth noch einen älteren Mann mit an seinen Tisch brachte. Beide musterten ihn, während sie auf ihn zukamen und sprachen leise miteinander. Während sie servierte, sagte der Mann: »Ja, es ist der Freund«, worauf sich die Frau als Madame Ginoux vorstellte. Es stellte sich schnell heraus, dass van Gogh ihnen das Selbstporträt als Jean Valjean, das er einige Wochen vor seiner Abreise nach Arles geschickt, gezeigt hatte. Der Mann, Joseph Ginoux, wie Gauguin erfuhr, nachdem er ihm die Hand geschüttelt hatte, zeigte sich nicht sonderlich beeindruckt und verschwand, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wieder in einen Raum am Ende der Bar, der nur durch einen Vorhang abgetrennt war. Madame Ginoux hingegen erkundigte sich, ob Gauguin eine angenehme Reise gehabt hätte, und die beiden hielten ein wenig Konversation, bis sie an einen anderen Tisch gerufen wurde. Sie versprach noch, ihn später zu Vincents Haus zu führen, dann nahm sie wieder Bestellungen auf.

Gauguin lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Absinth. Dann hatte der Holländer also der halben Stadt sein Selbstporträt gezeigt! Er fand sich erstaunt, aber nicht verärgert. Im Gegenteil, es konnte von Nutzen sein. War Vincent van Gogh tatsächlich schon so vernarrt in ihn, dass er mit dem Selbstporträt seines ›Freundes‹ eine Prozession in den Straßen von Arles abhielt? Zwar hatte Gauguin alles Erdenkliche dafür getan, die brieflichen Beschreibungen seines Selbstporträts mit den Ideen, welche van Gogh regelmäßig per Post schickte, in Einklang zu bringen, um der Wirkung seiner Selbstdarstellung doch ein wenig an Härte zu nehmen. Denn genau besehen war das Selbstporträt eine drastische Antwort auf die überschwängliche Romantik van Goghs gewesen. Es war ein Schlag mit dem harten Knüppel der Realität. Die Worte der vorausgegangenen Briefe sollten den Schlag dann doch ein wenig abfedern, und eigentlich hätte es ihrer nicht bedurft, dachte Gauguin im Nachhinein, denn als er im Gegenzug das Selbstporträt van Goghs per Post erhalten hatte, bedauerte er mit besagtem Knüppel nicht zweimal draufgeschlagen zu haben. Dieser niederländische Schöngeist hatte sich im Dreiviertelprofil gemalt, wobei sich sein kurz geschorener Schädel scharf umrissen von einem monochromen, hellgrünen Hintergrund abhob. Er trug ein weißes, kragenloses Hemd, dessen oberstes Knopfloch von einem runden, grün-roten, und golden umrahmten Schließknopf zusammengehalten wurde. Darüber eine dunkelbraune, geschlossene Weste und einen goldbraunen, offenen Mantel. Sein penibel gestutzter Vollbart nahm die Farben des kurz geschorenen, bräunlichen Kopfhaares und des Mantels in einem hellen Goldrot wieder auf. Die goldbraunen Augen des asiatisierten Gesichts verloren sich dabei in einer unbestimmten Ferne. Vielleicht blickten sie in Richtung Japan, denn van Gogh fühlte sich seit seiner Ankunft in Arles vollends als Japaner. Die Entschlossenheit des holländisch-buddhistischen Mönches traf in ernstem Stolz auf das freudige Hellgrün des Hintergrunds und verlieh dem Selbstporträt dadurch eine kraftvolle, aber auch feinfühlige und demütige Zuversicht.

Van Gogh selbst schrieb in einem seiner langen Briefe, das Selbstporträt zeige ihn als japanischen Bonzen, einen buddhistischen Mönch, der in Einsamkeit und Meditation zum Leben stehe, denn er wolle nichts als ein Malermönch sein. Gauguin beschloss, den romantischen Mönch zu missionieren.

* * *

Vincent van Gogh hatte die Nacht über kaum geschlafen. Seine Pfeife rauchte ab vier Uhr morgens wieder und hatte seither kaum Gelegenheit, sich abzukühlen. Das Warten auf Gauguin würde also heute ein Ende finden. Immer wieder ging er durch das Haus und betrachtete das Gemäldeprogramm, mit dem er die Räume ausgestattet hatte. Wahrlich ein Gesamtkunstwerk. Sein einziger Zweck: die Ankunft Gauguins. In langen Briefen hatte er diesem das Programm erläutert. Von den Reproduktionen Monticellis und Delacroix, die er zur Inspiration in den Atelierräumen aufgehängt hatte, über die Möblierung, bis hin zum weihevollen Crescendo: vier Dichtergärten, begleitet von vier Sonnenblumengemälden, im Zimmer des Meisters Gauguin.

Der kam keinen Tag zu früh. Sechs Monate musste er auf ihn warten, aber er wusste diese Zeit zu nutzen und nun war im Gelben Haus alles bereit. Er war bereit. Wie er gerade am Tisch saß und die weiß Gott wievielte Pfeife rauchte. Die letzten Tage waren von Vorfreude durchdrungen, und in Arbeit getränkt gewesen. All seine Kraft und auch noch das letzte Geld wurden für die décoration von Gauguins Zimmer verwendet. 23 Tassen Kaffee, Brot auf Kredit und ein Beutel Tabak hatten ihn dabei am Leben gehalten.

Das Wetter musste so lange wie möglich genutzt werden. Das hatte ihn der Einbruch des letzten Winters gelehrt.

Also hatte er gearbeitet.

Bei Gott, ein Jahr hatte er geschuftet und jetzt würde er die Früchte dafür ernten. Was war er damals in Paris für ein Dilettant gewesen, als er Gauguin das letzte Mal gesehen hatte. »Damals in Paris« – und dabei lag gerade ein knappes Jahr zwischen dem heutigen Tag und seiner Flucht aus der Stadt. Hier in Arles hatte er nicht nur die Einsamkeit, sondern auch die Genesung gefunden. Ja, er war ein Wrack gewesen, als er Paris verlassen hatte. Die Betriebsamkeit der Metropole, mit ihren aufgeräumten Boulevards, ihren gottlosen Gassen und vereinsamten Kirchen war nicht der richtige Ort für die Aufgabe, die ihm als Künstler zu erfüllen aufgegeben war. Ja, er hatte eine Aufgabe, auch das hatte er nun erkannt. Und auch Gauguin würde das erkennen müssen. Ein Jahr hatte er malend in den Feldern um Arles gestanden. Jeden Tag brannte ihm die Sonne auf den Kopf und der Wind peitschte ihm ins Gesicht. Aber er hatte gelernt, die Hitze zu ertragen. Er hatte gelernt, die Leinwand im Boden zu verankern, auf dass der Mistral sie nicht mitriss. Und er hatte gelernt, die Farben des Südens zu sehen, obwohl es ihm beinahe die Augen ausbrannte. Drei Tage war er annähernd blind gewesen, denn täglich flammte die gleißende Sonne in seinen Augen und täglich vollendete er ein Gemälde. Kein Œuvre versteht sich, aber doch immerhin ein Gemälde; Etappen auf dem Weg zum Œuvre. Keiner kann heute mehr ein Œuvre schaffen, denn keiner hatte bisher die Aufgabe gelöst, die Émile Zola mit einem großen Fragezeichen stehen ließ. Dennoch, er war der Lösung ein Stück näher gerückt und Gauguin würde dies erkennen müssen. Ein Jahr unter der sengenden Sonne von Arles hatte ihm die Krankheit aus dem Kopf gebrannt.

Als er von Paris aufgebrochen war, war er ein Säufer gewesen, bei schlechter Konstitution und bedrängt von den Ideen anderer. Er hatte seine Kunst nicht mehr von den Einflüssen auf ihn trennen können. Hier konnte er meditieren und hatte dabei gewogen, gemessen und verworfen – oder behalten. Jetzt stand ein anderer Vincent van Gogh vor dieser Welt. Unter der Sonne von Arles wurde aus ihm ein Maler. Er malte nicht mehr nach der Natur, nein, er malte die Natur. Und er malte mit der Natur, denn der Mistral und die Sonne hatten ebenso Anteil an seinen Gemälden wie er selbst. Der Wind peitschte Sand auf die Leinwand und er dankte ihm für diesen Hilfsdienst. Die Sonne ließ die Farben schnell trocknen und er dankte ihr für dieses Drängen. Die Natur war hier keine gnädige Lehrerin. Aber hatte er Gnade erbeten? Nein. Heilung. Und die hatte er erfahren. Er als Künstler krankte mehr als alle anderen Menschen an dieser Zeit – und kann ein Kranker die Kranken heilen?

35 war er gewesen, als er Paris verlassen hatte, und Agostina hatte ihn eins verstehen lassen: entweder die Kunst oder die Liebe. Beides zusammen war unmöglich. Für Letzteres besaß er nicht genug Beständigkeit. Die Kunst wollte er zu diesem Zeitpunkt fast aufgeben, denn als Künstler stand er außerhalb der Welt. Die Menschen bekommen Kinder, der Künstler schafft Werke. Was aber, wenn seine Schöpfungen missraten? Es waren düstere Tage und erst das Licht des Südens stärkte ihn und seine Kunst wieder.

Vor wenigen Wochen war ihm dann aufgefallen, was ihm diese ganze rastlose Zeit über gefehlt hatte: ein Zuhause. Eines Abends hatte er sich die Mühe gemacht alle Stationen seines bisherigen Lebens aufzuschreiben: Groot-Zundert, Zevenbergen, Tilburg, Etten, Den Haag, London, Ramsgate, Isleworth, Dordrecht, Amsterdam, Brüssel, Borinage, Nuenen, Antwerpen, Paris und schlussendlich Arles.

Das konnte nicht gesund sein.

In Paris war er wie Daudets Tartarin gewesen: eine lächerliche Gestalt aus der Provinz. Mondänes Gehabe lag ihm nicht. Er war Maler. Punkt. Wer malt, und gerade wer das Leben malt, macht sich die Hände schmutzig, und Paris schränkte diese Existenz ein. Einmal verbot man ihm sogar auf den Straßen zu malen! Gleich zwei Polizisten, aufgeregte Passanten, ein Fuhrwerkskutscher und eine plärrende Concierge standen im Kreis um ihn und schrien über den Lärm des Boulevards hinweg auf ihn ein. Irgendwann gab er es auf, sich zu verteidigen, packte seine Sachen und ging. Das war der Tag, als er bei einem der Bouquinisten an der Seine auf Daudets Geschichten stieß. Jetzt fand er eine gewisse Ironie darin, dorthin gezogen zu sein, von wo aus Tartarin nach Paris aufgebrochen war.

Wieder einmal hatte er der Literatur viel zu verdanken, denn bevor er noch ankam, war er im Süden schon zu Hause gewesen. Daudets Romane, Félibriges-Gedichte und natürlich die Sonnenblume als Wahrzeichen des Südens, welche er schon in Paris zu malen begann, wiesen ihm den Weg. Le soleil bedeutet, so hatte er gelernt, anders als im niederländischen beides: poetisch gesprochen, die Sonnenblume, wörtlich die Sonne. Und die Sonne ist männlich. Ihm gefiel die Identität von Himmelskörper und Pflanze als Symbol seiner neuen Wahlheimat. Das andere Wort, le tournesol, sich nach Sonne drehend, bezog er sofort auf sich: auch er würde sich künftig nach der Sonne drehen, die Leben, Kraft, Licht und letztlich Wahrheit schenkte.

Gauguin war verrückt nach diesen Gemälden, denn sie erinnerten ihn an Lima, und er betrachtete sie als persönliches Geschenk des Schicksals und Einverständnisses. Als er zum ersten Mal eines der Gemälde sah, wurde ihm die Blume zum Zeichen ihrer Freundschaft. Weiter nördlich hatte Novalis die Blaue Blume nicht finden können, doch der Halbspanier Gauguin brachte sie im Geiste aus Lima mit und würde sie bald ganz Europa zum Geschenk machen.

Wenige Wochen später, auf der Fête du soleil im Palais de l’Industrie fiel dann der endgültige Entschluss, den Sonnenblumen entgegenzuziehen. Eine katastrophale Überschwemmung an der Rhône hatte schlimme Verwüstung hinterlassen und führte ihn zu guter Letzt dadurch nach Arles. Denn die Fête du soleil diente dem Zweck, Spenden für die Region zu sammeln. Während dieser Ausstellung wurde ihm der Süden im wahrsten Sinne des Wortes vor die Augen gestellt. Alles, was er durch Daudet und die Künstlergruppe der Félibriges kennengelernt, lebte plötzlich vor ihm auf, gewann an Existenz. Er kostete die regionalen Spezialitäten, bestaunte Nachbildungen von Windmühlen und anderen Gebäuden. Die Farandole und andere Tänze wurden von den berühmten und oft besungenen Arlésiennes, den Frauen von Arles, aufgeführt. In ihnen vereinigte sich, der Legende nach, alte römische Würde und griechische Schönheit mit der Hitze und dem Temperament des Südens. Danach befragt, würde er nicht leugnen, dass auch sie ihn in seinem Entschluss bestärkten.

Oftmals hatte er sich in der Vergangenheit wie ein Narr verhalten, hatte sich in einer kurzzeitigen Verblendung zu katastrophalen Entscheidungen hinreißen lassen. Das konnte er sich heute gelassen eingestehen. Seltsamerweise folgte dieses Mal jedoch keine Katastrophe, obwohl er sich von der einfachsten Art der Werbung blenden ließ, als er dankbar wie ein frommer Gläubiger die Inszenierung der Veranstalter in sein Traumkonstrukt verwandelte, das dann gefährlich seine Entscheidung trug. Immer wieder ging er hin, kehrte sogar einmal wieder um, als er schon durch den grauen Regen, die Seine entlang, nach Hause ging. Er kostete noch einmal von den Käsesorten, vom Wein und sah noch eine letzte Farandole an, wobei er immer wieder zum dramaturgischen Höhepunkt der gesamten Schau emporblickte: einer gigantischen, elektrischen Sonne, direkt unter dem Dach. Jetzt kannte er die wahre Sonne des Südens.

Damals sprach er mit keinem der Künstlerkollegen über seine innersten Beweggründe. Den Künstlern, was den Künstlern ist! Er sprach in ihrer Gegenwart nur vom Licht des Südens, von der Notwendigkeit, die Farbe zu erkunden und ihre Wirkungen bis zur Spitze zu treiben. So wie Eugène Delacroix und Adolphe Monticelli. Es wäre nicht klug gewesen – nicht zu diesem Zeitpunkt – von seiner Idee eines Ateliers des Südens zu sprechen, obwohl er schon seit Jahren den Traum einer Künstlergemeinschaft hegte. Die Pariser Maler waren alle Einzelkämpfer. Zwar gab es Allianzen und Zweckbündnisse, aber letzten Endes wollte jeder um jeden Preis am Markt reüssieren. Auch das hatte er erst lernen müssen: in dem, was sie taten, waren sie Kollegen, darüber hinaus Konkurrenten, egal, ob es um Käufer oder Ideen ging. So wurde er immer verschlossener und lernte, aus ihren Urteilen das wirklich Gesagte herauszuhören. Glücklicherweise gab es Ausnahmen. Dennoch, im Grunde waren sie alle gierig nach Erfolg und kaum am wirklichen Fortschreiten der Kunst und der Wahrheit interessiert. Ein wahres Schlachtfeld. Hatte nicht Pissarro von Gauguin behauptet, er male nur nach dem Markt? Gerade Gauguin. Und das obwohl sie schon zusammen ausgestellt hatten. Konkurrenzdenken. Sonst nichts. Hätten es die Pariser Maler nur einmal verstanden als Gemeinschaft aufzutreten, wer hätte die Revolution in der Kunst noch verhindern können? Man hätte in der Gemeinschaft nicht nur voneinander lernen oder die Werke vermarkten können. Gerade in der Gemeinschaft wäre das Überleben im teuren Paris einfacher gewesen. Und bei vielen ging es um das nackte Überleben. Würde es den Künstlern besser gehen, und das war seine feste Überzeugung, würde es der ganzen Gesellschaft besser gehen. Aber wer es geschafft hatte und in den Galerien am Grand Boulevard ausstellte, kümmerte sich nicht mehr um die Maler vom Petit Boulevard, wie sie von Tag zu Tage lebten. Man musste nur dieses Selbstporträt von Gauguin betrachten! Wie anders präsentierte sich da Toulouse-Lautrec. Dieser war eine der wenigen, wohltuenden Ausnahmen, und bezeichnenderweise hatte Lautrec keine Geldprobleme, obgleich auch er auf andere, vielleicht schlimmere Weise wieder ein Ausgegrenzter war. Die Huren waren nur ein schwacher Ersatz, man sah es ihm an. Vielleicht aus diesen, oder auch anderen Gründen, griff Toulouse genauso oft zum Absinth wie er selbst. Sie sprachen selten über Persönliches, dafür oft von den Japanern.

Beide hatten sie eine Vorliebe für die japanischen Holzschnitte entwickelt, die billig zu erstehen waren, und er ergänzte so en passant seine Sammlung englischer Stiche. »Die Japaner weisen den Weg«, hatte Lautrec oft gesagt. Was in dem fremden Land zur Dekadenz verkam, konnte zum Heilmittel gegen die Dekadenz des Westens werden. Der Süden sollte zu seinem Japan werden. Es schien, Toulouse verstand ihn, ohne dass er es ihm erklären musste.

In Arles war er dann plötzlich ohne Künstlerkameraden. Während der Zugfahrt fragte er sich dauernd, wann er endlich in seinem Japan ankommen würde. Albern. Am ersten Tag in Arles schneite es dann, doch die Enttäuschung hielt nicht lange vor. Gab es nicht auch in Japan Schnee?

Schnell begann er mit der Arbeit, fand aber zunächst weder Rhythmus noch Motiv. Er zeichnete viel und erkundete die Region, bis der Winter vorüber war. Zuerst fand er seinen Rhythmus, später auch seine Themen. Er wollte natürlich immer noch Menschen malen: Millet, oder auch Zola in Öl. Menschen, die noch in hunderten von Jahren das Allgemeinmenschliche zeigten und jeden für sich zu bewegen vermochten. Aber er kannte zu wenige Menschen in der neuen Stadt, und Modelle waren hier zu seiner Überraschung teurer als in Paris, weshalb er sich ganz der Landschaft und ihren Farben verschrieb. Die Zypressen sollten sein trait caractéristique werden. Olivenbäume überall. Ein einziger Garten Gethsemane.

Die Pariser Künstler vermisste er kaum, obwohl er sehr einsam war. Dann gewöhnte er sich an die Einsamkeit. Eigentlich erst als ihm bewusst wurde, Gauguin komme wirklich, registrierte er, dass er über ein Jahr beinahe ohne menschliche Ansprache zugebracht hatte. Zwar hatte er Milliet, den Zuavensoldaten, der ihm auch von Zeit zu Zeit Modell stand. Doch mit ihm konnte er genauso wenig über Kunst reden wie mit Madame Ginoux im Café de la Gare, dem Briefträger Roulin oder den Huren im Bordell.

In dieser Abgeschiedenheit, notwendig und gut, war er dennoch nicht allein, denn er verbrachte seine Abende umgeben von den Stimmen der alten Meister und seinen Büchern, mit Bildern aus der Erinnerung, Bildern aus seiner Graphiksammlung, einem ganzen Museum in seinem Kopf. Und natürlich waren da Theos Briefe. Er selbst schrieb seinem Bruder, der in Paris natürlich weniger Muße fand, mehrmals am Tag.

Es tat gut, nicht von Ausstellung zu Ausstellung, von Galerie zu Galerie zu hetzen, ohne das soeben Gesehene überhaupt verdaut zu haben. In Arles gab es nur ein Museum, und das war miserabel. Dafür war die ganze Stadt ein einziges Museum, die Bewohner gleichzeitig Bewahrer und Besucher und dadurch alles andere als offen für neue Ideen. Ihm gefiel der Gedanke, in einem Museum zu wohnen und dort als einziger neue Kunst zu schaffen. So wählte er sich sein Zuhause, wobei es noch lange dauern sollte, bis er endlich in seinem Haus einzog.

Im Februarschnee war er angekommen und der Winter währe in diesem Jahr ungewöhnlich lange an, ließ er sich sagen. Fast bis zum April sollte es dauern, bis der Frühling kam. Genauso lange wohnte er in der Pension Carrel. Ohne Ortskenntnisse hatte er sich im erstbesten Hotel eingemietet, was, wie sich herausstellen sollte, ein Fehler gewesen war. Während dreier Monate zahlte er über 120 Francs für ein Zimmer, das kaum Platz für ihn und seine Gemälde bot. Das Essen war ungenießbar und der Wein das reinste Gift. Ihm lagen solche praktischen Dinge nicht und anstatt sich nach einer billigeren und besseren Wohnung umzusehen, zahlte er und litt, bis der Wirt im April einen Aufschlag verlangte, denn mit seinen Gemälden auf dem Gang nähme er mehr Raum ein als andere Gäste. Zwar immer noch ungeschickt, aber voller Wut widmete er sich von da an den praktischen Dingen und zog vor Gericht. Immerhin sprang ein Vergleich dabei heraus.

Er zog zu Monsieur und Madame Ginoux ins Café de la Gare, zahlte weniger, aß besser und konnte sogar noch das Haus an der Place Lamartine für nur 15 Francs im Monat anmieten. Der Postbote Roulin hatte für ihn verhandelt und den Preis ordentlich gedrückt. Dennoch musste er bis September warten, dann war es so weit und er konnte die erste Nacht in seinem Atelier des Südens verbringen. Bis dahin zögerten die Reparaturen den Einzug hinaus und er wollte Theo nicht noch mehr beanspruchen, als er es ohnehin schon tat.

Es fehlte zunächst an allem. Keine Möbel. Keine Heizung. Keine Toilette. Kein Licht. Er beschnitt seine Lebensmittelausgaben gefährlich und richtete sich nach und nach ein. Es war ein schönes Haus. Klein. Vier Zimmer. Unten zwei rot geflieste Räume und in der ersten Etage zwei Zimmer, die er als Wohn- und Schlafzimmer nutzen wollte. Die beiden unteren Räume sollten als Küche und Atelier dienen.

Er ließ die Mauern weiß tünchen, wodurch der rote Steinboden noch mehr zur Geltung kam. Sonst waren Ateliers stets mit Teppichen und Tapeten ausgestattet. Das lenkte nur ab und verwies auf eine Vergangenheit die längst tot war. Alle wahren Künstler sollten weiße Wände haben, denn diese standen täglich für einen neuen Anfang. Er hängte lediglich ein paar Reproduktionen ins Atelier. Da das Haus in Richtung Süden auf den Platz wies, war es gerade im Atelier besonders sonnig und hell.

Das war von nun an sein Haus: Nummer 2, Place Lamartine. Stolz schrieb er die Adresse als Absender auf seine Briefe und füllte diese mit Zeichnungen der Räume. Von außen war das Haus, wie der gesamte Platz, gelb gehalten. Buttergelb und frisch gestrichen.

Die Nachbarn beäugten ihn zu Beginn misstrauisch, ließen ihn aber nach kurzer Zeit ungestört seiner Wege gehen. Spätestens seit seinem Mietstreit mit der Pension war er Stadtgespräch geworden, wobei sein Gegner, in gewisser Weise auch als Künstler zu bezeichnen, es nicht versäumt hatte, der Öffentlichkeit ein entsprechendes Bild von ihm zu schenken. Diese wenig inspirierte Komposition bestand aus den üblichen Vorurteilen gegen Künstler und Zugereiste, reüssierte dennoch schnell und kam wohl dem Geschmack der Stadt sehr entgegen. Alles in allem schienen ihn die Leute in Arles nicht zu mögen, was ihn nicht im Geringsten störte. Auch wenn er so tat, als würde er nichts mitbekommen, wusste er, dass man ihn hinter seinem Rücken fou rouge nannte, den verrückten Roten. Und es stimmte. Zwischen diesen mediterranen Menschen war er eine kuriose Gestalt. Das rote Haar und die noch rötere Haut, wenn er wieder einmal ohne Hut vom Malen zurückkam, und durch die Stadt ging, die von Gemälde zu Gemälde mehr sein zu Hause wurde. Er war angekommen. Und hatte ein Haus. Alt genug dafür war er.

* * *

Van Gogh legte die Pfeife auf den Tisch und erhob sich. Alles war bereit. Er ging ins Atelier und begutachtete mit der Lampe in der Hand die Reproduktionen an den Wänden. Mit ihnen vor den Augen konnte die Arbeit nur gelingen. Der Lichtschein fiel auf japanische Farbholzschnitte, Stiche von Daumier und Reproduktionen nach Gemälden von Géricault, Millet und Meissonier. Wie Musen waren sie im Raum anwesend, um den blinden Dichter bei der Hand zu nehmen, still darauf wartend, angerufen zu werden. Auf ihre Hilfe konnte man hoffen, denn sie kündeten bereits von der neuen Kunst.

Auf dem Weg durch die Küche warf er einen Blick auf die ausladenden Möbel, die Stühle und den Tisch. Wie das Bett und die Möbel in seinem Schlafzimmer waren sie aus rohem Holz geschreinert. Das Haus eines Künstlermönches. Unprätentiös, aber mit Charakter.

Das vierte Zimmer hob sich vom Programm des Klosters ab. Natürlich war es das Schlafzimmer des Abtes. Für Gauguin hatte er weder Kosten noch Mühen gescheut. Er geriet in Hochstimmung, als er das Zimmer betrat.

Im Raum befand sich eine ganze Serie von Gemälden. Eigens für diese Serie hatte er schlichte Holzrahmen anfertigen lassen, die sich mit der Möblierung ergänzten. Der erwünschte Gesamteindruck: Eleganz und Komfort. Ein Bett aus edlem Nussbaum, darüber blaue Bettwäsche. Drei Stühle, ein Waschtisch und eine matt gehaltene Nussbaumkommode ergänzten das Mobiliar. Darüber prangte sein Programm:

Vier Sonnenblumenstudien in leichter Variation harmonierten mit vier Darstellungen, die er als Serie zusammengefasst Garten des Dichters nannte. In langen Briefpassagen hatte er Theo den tieferen Sinn erläutert: Wie sich zur Zeit der Renaissance Boccaccio und Petrarca in der Provence unweit von Arles kennengelernt hatten. Wie der wenige Jahre ältere Petrarca Boccaccio dazu ermutigte, das Dekameron zu beenden. Gauguin und er waren der Petrarca und der Boccaccio der Gegenwart. Wie die Dichter bauten sie auf das Alte, um das radikal Neue zu schaffen. Mit Gauguin würde er hier im Süden die Wiedergeburt der Malerei einläuten, so wie Petrarca und Boccaccio damals die Wiedergeburt der Dichtung einläuteten. Farben statt Wörter. Gierten nicht die Dichter, wie sie selbst bekannten – nach Farben? Die Wörter sind abgenutzt. Die neuen Farben, die modernen Farben kommen mit der neuen Malerei. Frisch aus der Tube.

Der Garten war so vieles. Gauguin sollte nicht nur das gemalte Manifest sehen, der Garten sollte ihm jeden Abend als Ort der Muße, als Ort Epikurs und des forschenden Denkens und vor allem als Ort des kultivierten Wachsens und Gedeihens, abgegrenzt von der groben Natur, bewusst werden. Es war das feierlichste Motiv das er fand, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Und diesen magisch aus der Geschichte herauf beschworenen Ort gab es wirklich, denn er malte nichts anderes als den jardin public am Rhôneufer, hier in dieser verwunschenen Stadt Arles!

Das vierte und letzte Gemälde der Serie hatte er gerade noch rechtzeitig fertiggestellt, weshalb im ganzen Raum der vertraute Geruch frischer Ölfarben hing. Van Gogh trat direkt davor:

Ein Liebespaar geht inmitten von Grün, Hand in Hand, versunken ins Gespräch, unter einem großen Nadelbaum einen ausladenden Kiesweg entlang. Der Mann in einer blassblauen, fast grünlichen Hose und einer dunkelblauen Jacke gekleidet, trägt einen gelben Hut und wendet sich gerade mit einer leichten Drehbewegung des Kopfes seiner Geliebten zu, deren Kleid und Hut sich im Schatten des Baumes nicht zwischen Blau und Schwarz entscheiden können. Nur diese Frau vernahm das Gedicht, das während dieses Spaziergangs erklang. Dieses Gemälde fand er, wenn auch etwas gewagt, das Beste der Serie.

Als er sich dabei ertappte, wie er in einem Brief an Theo vom ›künstlerischen Damenzimmer‹ für den Meister Gauguin sprach, da dieser doch so große Stücke auf die Männlichkeit hielt, glaubte er zunächst, damit zu sehr über die Stränge geschlagen zu haben. Andererseits sprach Gauguin auch hin und wieder von seiner verletzlichen, künstlerischen, reinen und empfindsamen Seite, weshalb besagte Stelle letztlich nicht gestrichen, sondern unterstrichen wurde.

Es wäre unnötig gewesen, dem Abt und Meister Gauguin diese letzten Bezüge per Brief mitzuteilen; waren die Künstlergemeinschaft und das Malerkloster doch Programm und würden ihm unmittelbar von allen Wänden ins Auge springen, wenn er erst ankäme. Van Gogh war gespannt, ob Gauguin die Originalität seines Gesellenstückes erkennen würde, jetzt da er sich weiterentwickelt hatte und sich, von fremden Einflüssen gereinigt, auf dem Weg zum Œuvre befand.

Mehrere Minuten stand er so. Die Begeisterung strömte in sanften Wogen durch seinen ganzen Körper. Es war eine ruhige, gelassene Begeisterung, nicht die Ekstase, die ihn befiel, wenn er arbeitete. Dann war er außer sich und es gab nur noch seine Hand, die Farben und den Wind, ihn nicht mehr. Jetzt war es anders. Er war ruhig. Am richtigen Ort. Ganz bei sich und dennoch begeistert.

Das Gefühl hielt noch an, während er die Treppe wieder herunterstieg. Auf der Mitte hätte er fast noch einmal kehrt gemacht, um diese Zufriedenheit voll auszuschöpfen. Er wusste, sie würde nicht lange währen. Die Kunst vermochte ihn empfinden lassen, was in jüngeren Jahren nach dem Gottesdienst, dem Abendmahl, einer Predigt in ihm klang. So wollte er damals als Prediger auch die Herzen seiner Gemeinde klingen lassen. Damit war er gescheitert. Vielleicht wollte Gott ihn damals scheitern lassen, damit er nun mithilfe vibrierender Farben die Seelen der Menschen erklingen lasse: eine Predigt verhallt in der Kirche, hallt vielleicht noch ein wenig im Herzen nach. Gemälde bleiben.

So ertappte er sich wieder beim Grübeln und die Begeisterung war unvermittelt einfältiger Zufriedenheit gewichen, einem profanen Glück, das kurzerhand, und unbeständig wie es war, vollends vom einsetzenden Fluss der Gedanken erdrückt wurde. Gegen Grübeln hilft nur eins: Betäubung. So kehrte er zurück an den Tisch, reinigte die Pfeife und begann, sie zu stopfen.

Nachdem er sich etwas Absinth eingegossen und mit Zuckerwasser verdünnt hatte, besah er zum vielleicht hundertsten Mal in dieser Nacht das Selbstporträt Gauguins, welches auf dem Stuhl gegenüber platziert war. Würde er es nicht besser wissen, wäre das Gemälde als persönlicher Angriff zu werten. Solche Krämereien hatte er sich jedoch in Paris abgewöhnt, denn sie führten in der Regel zu nichts als Streit. In solchen Dingen, so musste er feststellen, war seinem Urteilsvermögen nicht zu trauen. Also nahm er es, wie man Kunst nehmen sollte: ernst.

Gauguin präsentierte sich vor einer ockerfarbenen Wand, auf der aneinandergereihte Blumendekore aus zarten blau- und rosafarbenen Blüten auf grünen und roten Blättern verliefen. In die rechte obere Ecke war eine Porträtskizze von ihrem gemeinsamen Malerfreund Émile Bernard gemalt, als wäre sie an die Wand geklebt worden.

Vornübergebeugt platzierte sich Gauguin mit düsterem Gesicht links unten im Gemälde. Seine verwachsenen und zusammengezogenen Augenbrauen dominierten den ersten Eindruck. Erst dann wurde man der zusammengekniffenen Augen mit ihrem schrägen, unangenehmen Blick, gewahr. Zwischen ihnen stak ein scharf abstechender, rötlicher und nach links geknickter Nasenrücken hervor, der den Eindruck eines schlecht verheilten Bruchs erweckte. Die Wangenknochen waren tief eingefallen und seine sonst so vollen, fleischigen Lippen hatte Gauguin so zusammen gepresst, dass sie dünnen Strichen glichen. Sie schienen zu beben und mit ihnen der nur nachlässig gezwirbelte, schwarze Schnurrbart. Gauguins ganzes Gesicht drückte inmitten dieses zarten Blumendekors nur eines aus: Gewalt und Brutalität, genährt von Verzweiflung.

Van Gogh wurde und wurde nicht schlau daraus. Das war nicht der Maler der lebensvollen Négresses. Da war keine Heiterkeit, kein Fleisch, nur Melancholie und Ernst. Ein anderer, um so vieles verzweifelterer Ernst als auf seinem eigenen Selbstporträt als buddhistischer Mönch. So durfte Gauguin nicht weitermachen, oder er würde sich vollends aufreiben. Kopfschüttelnd griff van Gogh noch einmal zu dem Brief, den Gauguin ihm, noch bevor das Gemälde eingetroffen war, geschickt hatte:

1. Oktober 1888

Mein lieber Vincent,

Ich verspüre das Bedürfnis, Ihnen zu erklären, was ich tun wollte, nicht, weil Sie nicht in der Lage wären, es von selbst zu verstehen, sondern weil ich befürchte, dass es mir in meinem Werk nicht gelungen ist. – Die Maske, das Gesicht eines Banditen, schlecht gekleidet und so kraftvoll und gewaltig wie Jean Valjean, der seine Noblesse und seinen Sanftmut im Inneren verborgen hält. Das Blut, hitzig über das Gesicht flutend und die Farbtöne, gleich der Glut einer Schmiede, die die Augen umfangen, verweisen auf die flammend-wogende Lava, die unsere Malerseele verschlingt. Die Linienführung um Augen und Nase, erinnert an die Blumen auf Perserteppichen, gibt kurz gefasst das Zentrale einer abstrakten und symbolischen Kunst wieder. – Der mädchenzimmerhafte Hintergrund mit seinen kindlichen Blumen belegt unsere künstlerische Unschuld. – Und dieser Jean Valjean, den die Gesellschaft unterdrückt, für gesetzlos erklärt, mit all seiner Liebe, mit all seiner Kraft, ist er nicht das Ebenbild eines impressionistischen Malers unserer Tage? Und indem ich ihm meine Gesichtszüge verleihe, haben Sie mein Selbstporträt ebenso sehr wie ein Porträt unser aller, arme Opfer der Gesellschaft, die wir sind, und an welcher wir uns dafür rächen, dass wir Gutes tun

Der Ihre,

P Go *

Hier gab es entschieden Diskussionsbedarf. Ein zeitgenössischer Maler, das hatte van Gogh in Arles gelernt, durfte nicht verzweifelt sein. Es lag auf der Hand, er würde ihm zunächst helfen müssen, bevor er von seinem Meister und Malerpoeten lernen durfte. Gauguin musste erst vollständig wiederhergestellt werden. Offensichtlich hatte ihm der Norden beileibe nicht gut getan und die wenigen Sonnentage vor Wintereinbruch wollten gut genutzt werden, damit die Sonne auch Gauguin alles an Dekadenz, Krankheit und Pessimismus aus der Seele brennen würde.

Van Gogh legte den Brief zurück auf den beachtlichen Stapel mit Gauguins Briefen, die er mittlerweile alle auswendig kannte. Geschlagene sechs Monate lang häuften sich die Berichte aus der Bretagne auf seinem Küchentisch, voll von Wut und Jammer über Krankheit und Geldnot. Manchmal schwächlich, manchmal fiebrig, klang Gauguin von Brief zu Brief verzweifelter. Hinter den oft widersprüchlichen Berichten ahnte van Gogh, wie das ohnehin schon zerrüttete Gemüt Gauguins dem eng gezogenen Belagerungsring seiner Leiden nicht länger standhalten würde.

Van Gogh nahm den Stapel zur Hand. Ähnlich den Farben auf der Palette, hatte er mittlerweile zu jeder der Befindlichkeiten dieses Briefwechsels eine eigenständige Nuance parat:

Ein trauriges Blau, in das sich immer mehr Schwarz mischte, je länger und je öfter Gauguin seine Abreise nach Arles hinauszögerte. Es war nicht zu verstehen: Theo und er boten ihm in seiner Situation doch die beste Zuflucht und die Übernahme aller Schulden.

Rückblickend, das war nun klar, hatte Gauguin geschickt mit Theo und ihm verhandelt. Die Korrespondenz deckte das Kalkül im Handeln des ach so feinfühligen Malerpoeten auf. Unnötige Krämerei? Mehr Schwarz, das ganz sicher. Ständig nur Krankheit, Einsamkeit, schlechtes Wetter und ständige Geldsorgen, die die Abreise angeblich verzögerten und dennoch verhandelte er: noch dunkler.

Mit der bestehenden Vereinbarung konnten sie dank Theos Geschick dennoch gut leben. Gauguins Bilder würden sicher an Wert gewinnen und ab jetzt würde jede Woche eines in den Besitz der Familie van Gogh übergehen. Ein gutes Geschäft für beide Seiten. Besonders für Theo. Er war stolz, auch einmal etwas für seinen Bruder tun zu können.

Noch immer stieg Wut in ihm auf, wenn er die letzten Briefe las. Nicht nur, dass die Herren Kollegen in der Bretagne begannen religiöse Darstellungen zu malen, und seltsamerweise, was eigentlich sein Metier war, allesamt eine spirituelle Wende vollzogen, nein, auch seinen Vorschlag einer Künstlergemeinschaft wie die Barbizon, einer Bruderschaft, die einem höheren Zweck diente, beantwortete Gauguin, da es sich um eine gute Idee handle, die allerdings ein wenig modifiziert werden müsse, mit dem Vorschlag einer – Kapitalgesellschaft! Aus Vincents Genossenschaft wurde kurzerhand eine Spekulationsgesellschaft: pechschwarz, dann gallegelbgrünrot.

Er fühlte sich zu diesem Zeitpunkt verraten und hatte Gauguin schon völlig abgeschrieben. Angewidert legte er den betreffenden Brief aus der Hand und griff zum letzten der Briefe. Aus dem Blauen heraus kündigte Gauguin seine Abreise aus der Bretagne an – gelb –, und er hatte sich sofort an die décoration für die Ankunft des Meisters gemacht. Froh war er, sich zurückgehalten zu haben, denn hätte er seinen Vermutungen und seiner Wut freien Lauf gelassen, Gauguin hätte sich von ihm abgewandt. Der Geduldige kann warten. Und wird belohnt.

Er grollte auch nicht mehr, höchstens gegen sich selbst: Wie hatte es ihm entgehen können, dass Gauguin so krank war? Und dazu arm. Armut macht die meisten Menschen seltsam, es braucht Talent dazu. Er besaß dieses Talent. Und dessen Kehrseite, in der so genannten Gesellschaft nie etwas erreichen zu können. Das störte ihn schon lange nicht mehr. Offensichtlich war hingegen, dass Gauguin dieses Talent nicht besaß und deshalb litt.

Er war arm und krank. Also im doppelten Sinne ein Unglücklicher, ein Elender, stolz und stur, dem geholfen werden musste – und konnte. Krank und bescheiden wie er war, wünschte er nicht vom Bahnhof abgeholt zu werden, wollte alleine zum Gelben Haus finden. Es hätte ihm ausgeredet werden sollen, aber die Hauptsache war, er kam. Jean Valjean war aus seinem Steinbruch freigekommen, jetzt musste gut auf ihn Acht gegeben werden, dann würde ein edles, zartes Wesen wieder am Grunde seiner Seele Wurzeln schlagen.

Van Gogh beobachtete, wie das Licht zwischen den Luken der Fensterläden in die Küche kroch. Er wollte sich einen Kaffee machen. Ein Stück Brot suchen. Seine Toilette verrichten. Da wurde ihm klar, dass es wirklich geschah! Heute, vielleicht auch erst morgen, würde Paul Gauguin zu ihm nach Arles kommen! Er hasste es, sich in Geduld üben zu müssen. Vor Reisen, vor wichtigen Treffen, eigentlich vor allem. War es so weit, war er stets die Ruhe selbst. Alle Sorgen waren dann verflogen und es ließ sich etwas tun oder sagen, sei die Situation auch noch so unangenehm.

Das Schlimmste war immer gewesen, auf den Vater warten zu müssen. Die härteste Kritik erwartete er stets für Dinge, die der Vater gar nicht bemerkt hatte. Und gab es Kritik, war es nie so schlimm, wie gedacht. Im Warten liegt die Gefahr des Mannes der Tat. Deshalb malte er. Aber was sollte er bis Gauguins Ankunft tun? Er würde nicht im Freien malen können, sondern musste im Haus bleiben, um die Ankunft nicht zu versäumen. Zeichnen konnte er, vorher aber doch lieber noch ein wenig schlafen, um ausgeruht zu sein. Er sah sich in der Küche um, dann ging er die Stiege hinauf in die Schlafzimmer, um sich zu vergewissern, ob er auch wirklich nichts vergessen hatte. Auf dem Weg nach unten lächelte er über sich und seine Nervosität. Er wartete auf einen Freund. Nicht auf den Vater. Er brauchte Ruhe, das war alles. Ruhe und Schlaf. Und eine Pfeife. Es klopfte an der Tür.

Van Gogh schrak auf. Nein, das konnte nicht sein! Frühestens heute Nachmittag, hatte Gauguin geschrieben. Es war doch erst der dreiundzwanzigste! Schnell wollte er noch einmal die Treppe hinauf, als es erneut klopfte. Er macht kehrt und während er auf die Türe zuging, begann er über sich zu lachen. Roulin! Es war bestimmt der Postmann, der vor seiner Tour nochmal nach ihm schaute. Der gute Roulin war bestimmt verwundert gewesen, warum er ihn nicht im Nachtcafé angetroffen hatte. Dort saßen sie fast jeden Morgen. Roulin nahm seinen Café au lait, um seine Familie nicht zu wecken. So trank der Postbeamte seinen ersten Kaffee und er seinen letzten Absinth. Oft war er nur dank der Hilfe des Postboten nach Hause gekommen. Und das, ohne Porto bezahlen zu müssen. Van Gogh öffnete die Tür. Dann den Mund. Es dauerte eine Weile, bis er etwas zu sagen vermochte.

»Paul! Sie kommen früher an, als ich dachte.«

»Ich kann auch später noch einmal kommen.«

Van Gogh löste sich aus seiner Starre, lachte laut auf, sprang die Stufe zu Gauguin hinab und umarmte ihn mit solcher Kraft, dass dieser einiges an Zeit und seinerseits an Kraft brauchte, bis er sich befreit hatte. Nun standen sie sich gegenüber.

»Glücklicherweise war ich wach, Paul, sonst hätte ich Ihr Klopfen nicht gehört. Sie treffen mich völlig unvorbereitet an. Ich hatte den Fahrplan studiert und nicht vor heute Nachmittag mit Ihnen gerechnet. Sind Sie doch früher aufgebrochen?«

»Eigentlich hatte ich auch mit drei Tagen Fahrt gerechnet. Aber alle Anschlüsse waren pünktlich, die Lokomotiven alle gefüllt, unter Dampf und mit Kohlen bestückt. Warum also Zeit zwischen Hier und Dort verschwenden, ein Hotel bezahlen, das keine Erholung, dafür alle wissenschaftlich bekannten Formen der Krankheit bietet und noch einige der unbekannten? Davon habe ich auf meinen Reisen wahrlich genug gesehen … Voilà, ich wollte so schnell als möglich ankommen, nachdem ich Sie so lange warten ließ. Bernard lässt Sie übrigens wärmstens grüßen. Wir wollen sehen, ob er auch kommen wird.«

»Das sind ja großartige Nachrichten! Sie sehen übrigens gut aus, Paul, und Sie werden merken, die Sonne hier wird dazu beitragen, dass Sie sich bald wieder wie der Alte fühlen. Habe ich es nicht geschrieben? Selbst der Gedanke an den Süden stärkt die Seele, wie ich sehe. Aber lassen Sie uns nicht so zwischen Tür und Angel stehen. Kommen Sie, ich werde Ihnen alles zeigen.«

»Sagen Sie, Vincent, sind meine Werke schon eingetroffen?«

»Ja, ich habe sie sofort ins Atelier gebracht. Und nicht geöffnet. Wie es Ihr Wunsch war. Aber kommen Sie, geben Sie mir Ihr Gepäck und folgen Sie mir. Ich zeige Ihnen alles.«

Gauguin folgte im Abstand weniger Schritte, spähte ins Atelier und schaute sich auf dem Weg die Treppe hinauf die Wände an. Das ganze Haus roch nach Ölfarben, Terpentin und etwas, das er nicht ganz erfassen konnte. Sie gingen durch van Goghs Schlafzimmer und kamen in einen Raum, den er schon aus den Briefen und Zeichnungen kannte. Das war nun sein Schlafzimmer für – wer weiß wie lange. Er war zum Umfallen müde. Van Gogh stand da und sagte nichts, also schaute er sich in seinem neuen Zimmer um. Er war gespannt, die Möbel und die Sonnenblumen bei Tageslicht zu sehen. Das Zimmer gefiel ihm. Van Gogh hatte in seinen Briefen weder unter- noch übertrieben. Beides war ja stets möglich bei ihm. Sein Gastgeber schwieg noch immer. Es war wie bei der Jour fixe Toulouse-Lautrecs. Er musste die ganze Nacht durchgearbeitet haben, denn die dunklen Ränder unter seinen Augen korrespondierten mit einem Streifen Zeichenkohle auf der Stirn. Auf den Wangen und in Haaren und Bartstoppeln hatten sich kleine Klumpen getrockneter Farben gesammelt, lediglich seine bunt gefleckte Kleidung unterschied sich nicht von der anderer Maler. Van Gogh schien ebenfalls todmüde und reagierte zuerst nicht, weshalb Gauguin ihn ein zweites Mal fragte: »Vincent, haben Sie heute Morgen schon Kaffee aufgebrüht? Ich könnte wirklich einen vertragen.«

»Natürlich, Paul, wie unaufmerksam von mir. Sie müssen sich allerdings ein wenig gedulden. Ich war noch beim Absinth, aber ich werde gleich welchen aufsetzten. Kaffee ist so ziemlich das einzige, das bei mir nie ausgeht. Wollen Sie sich in der Zwischenzeit ein wenig frisch machen? Kommen Sie einfach in die Küche, wenn Sie so weit sind.«

Als Gauguin die Treppe hinabstieg, roch es bereits nach Feuer und frischem Kaffee. Er mochte es anzukommen. Eben noch wollte er sich gleich aufs Bett werfen, jetzt hatte er Lust darauf, die Stadt beim Erwachen zu beobachten. Endlich keine Eile mehr. Kein Gemälde, das es vor der Abreise zu beenden galt, keine letzte Verabschiedung … Er beschloss, sich erst einmal eine Woche Zeit zu nehmen, um die Stadt kennenzulernen. Ein wenig zeichnen vielleicht. Dann erst würde er langsam daran denken, die Farben zu mischen.

Van Gogh nahm gerade den Kaffee vom Feuer. Gauguin sah am Tisch gegenüber sein Selbstporträt auf einem Stuhl stehen. Schnell nahm er es beiseite und lehnte es umgedreht gegen die Küchenwand. Dann räumte er, so gut es ging, den Küchentisch frei, nahm Platz und sah sich um. Dabei begann er wahllos einige Zeitungsartikel, die vor ihm lagen, zu falten und in eine blaue Blechkiste zu sortieren. Lustlos hörte er nach einer kurzen Weile wieder damit auf, und griff nach seinem Tabak. Offensichtlich hatte van Gogh wirklich nicht vor heute Nachmittag mit ihm gerechnet. Farbtuben, Geschirr, Pinsel, Bücher, Terpentin-, Wein- und Absinthflaschen sammelten sich auf kniehohen Zeitungsstapeln und fast allen Möbeln. Dazwischen flogen ausgeschnittene Zeitungsartikel, Skizzen und Zeichnungen durch die Unordnung und wucherten die unlängst erst getünchten Wände hoch. Es sah nach Arbeit aus, bevor die Zeit der Ruhe tatsächlich losgehen würde. Eigentlich hatte er keine Lust aufzuräumen, hatte viel mehr Lust, alleine durch die Stadt zu schlendern. Aber da war es wieder: verdammte Höflichkeit, oder wie immer man es nennen wollte. War er immer noch so wenig frei? Und überhaupt, wenn jemand so etwas verstehen konnte, dann doch van Gogh. Er würde also alleine in die Stadt vorgehen, bis sein Gastgeber mit seinem Haus so weit war. Vielleicht war es ihm auch lieber, wenn er alleine aufräumen konnte, ihm selbst, wäre er Gastgeber, ginge es zumindest so – er war definitiv übernächtigt.

Van Gogh goss Kaffee ein und stolperte dabei über einen Rahmen auf dem Boden, was ihn aber nicht sonderlich zu stören schien. »Wie kann ein einzelner Mensch solche Unordnung stiften?«, dachte sich Gauguin, verkniff sich aber einen Kommentar. Er trank vom Kaffee, der ihm wohltat, nahm einen Zug von seiner Zigarette und sann vor sich hin, bis van Gogh ihn aus seinen Gedanken riss:

»Ich weiß nicht, Paul, wie sollen wir es heute machen? Haben Sie Ihre Ausrüstung dabei oder wollen Sie sich für den Anfang alles von mir borgen? Wir könnten natürlich auch zum örtlichen Händler, aber dadurch würden wir nur den ganzen Vormittag verlieren. Außerdem hat er nichts Vernünftiges auf Lager. Alles muss man bei ihm bestellen! Meistens aus Paris. Erinnern Sie sich an die Zeichenkohle, von der ich Ihnen etwas geschickt habe? Glauben Sie, er wäre im Stande gewesen, sie innerhalb von drei Wochen – «

»Moment, Moment! Langsam, mein lieber Vincent. Habe ich richtig gehört? Ausrüstung? Vormittag? Sie wollen heute noch malen?«

»Ja, aber natürlich, Paul. Je schneller Sie sich einleben desto besser. Der Sommer ist fast vorüber. Wir müssen die restliche Zeit gut nutzen. Bald kommt der Winter. Aber Sie haben recht. Vielleicht sollten Sie zuerst ein wenig schlafen und wir könnten heute Nachmittag noch kurz in den Park gehen. Er hält einige schöne Motive bereit. Dann könnten Sie mir auch eine Liste machen, von allem, was Sie brauchen. Ich gehe dann für Sie zum Händler. Bekannt machen kann ich Sie ja zu einem späteren Zeitpunkt.«

»Vincent! Warten Sie doch einen Augenblick. Ich werde heute sicher nicht mehr malen. Und morgen auch nicht. Die ganze Woche nicht. Immer, und das meint aus-nahms-los, nehme ich mir mindestens eine Woche, um ein neues Land, eine neue Stadt, was auch immer, kennenzulernen, um mich zu akklimatisieren. Das habe ich auch hier vor. Ich werde zeichnen und warten. Die Motive kommen dann von selbst. Im Übrigen ist für mich Sommer oder Winter egal. Ich male im Atelier. Gibt es hier eigentlich keinen Herbst?«

Van Gogh hatte die ganze Zeit an seiner Pfeife hantiert und sie umständlich gestopft. Jetzt brach das Streichholz ab, als er sie anstecken wollte. Beim zweiten Versuch gelang es und er lehnte sich zurück, nahm einige Züge und blickte dabei auf die Tischplatte.

»Paul, wie können Sie in den Süden kommen und dann im Atelier malen wollen? Was sind Sie nur für ein Künstler?« Gauguin umgriff die Tischplatte mit beiden Händen und spannte die Schultern, während er sich über den Tisch beugte. Bevor er den Mund öffnen konnte, fuhr van Gogh fort: »Aber Sie haben natürlich recht. Sie sind gerade erst angekommen, waren fast drei Tage unterwegs, haben die letzte Nacht kaum geschlafen …«

»… haben einiges an Absinth getrunken«, fiel ihm Gauguin ins Wort.

»So wie ich. Aber wo habe ich meinen Kopf! Haben Sie denn Hunger, Paul? Ich habe noch Suppe von gestern.«

Gauguin war wieder entspannt, kippte auf dem Stuhl und fasste sich an den Bauch. »Warum nicht? Suppe und Kaffee vertreiben die grüne Fee. Diesmal hat sie mich richtig erwischt. Was schenken die denn da drüben aus, im Café de la Gare

»Keine Ahnung, aber ich denke, es ist Arles und nicht der Absinth. Die Wirkung wird extrem verstärkt.«

»Normalerweise wirkt es sich nur auf mein Sehen aus, aber seit meiner Ankunft hier wohl auch auf den Geruchssinn. Teufelszeug. Riechen Sie das nicht auch? Oder ist das ebenfalls Arles?«

»Ich rieche nichts.«

»Sie sind ja schon eine Weile hier. Und Sie trinken das Zeug schon länger.«

»Nein, auch als ich angekommen bin, ist mir nichts aufgefallen. Allerdings war es auch Winter und es lag Schnee. Seltsam. Vielleicht habe ich das Aufkommen des Geruches verpasst. Paul! Vielleicht riechen Sie gerade den Sommer des Südens. Sie riechen den wahren Süden. Ein Privileg, das ich nicht erleben durfte!«

»Mein lieber Vincent, wenn der Sommer hier so riecht, dann packe ich gleich wieder meinen Seesack … Warten Sie …« Gauguin stand auf: »Es ist Ihre Suppe!«

Beide stürzten zum Kamin. Gauguin hob den Deckel und verzog das Gesicht.

»Ich rieche noch immer nichts. Ist sie denn angebrannt?«, fragte van Gogh.

»Vincent, auch wenn das Gebräu hier verbrannt wäre, würde es nicht schlimmer riechen. Und schmecken, nehme ich an. Haben Sie da Terpentin rein gekippt oder mal eben mit dem Pinsel umgerührt? Falls nicht, sollten Sie das unbedingt tun. Dadurch würde es gesünder!« Gauguin begann schallend zu lachen: »Ich nehme an, es handelt sich hierbei nicht um eine holländische Spezialität …«

Als van Gogh sich abwenden wollte, hielt ihn Gauguin an der Schulter, zog ihn zu sich und umarmte ihn. »Jetzt seien Sie nicht wütend, mein Freund! Aber die Küche übernehme in Zukunft ich. Ich bin nämlich ein ganz passabler Koch! So kann man aber auch nicht kochen. Über dem Feuer. Wir brauchen da einen Gaskocher.«

Dabei öffnete er das Fenster, nahm den Topf vom Feuer und kippte die Suppe in den Garten. Van Gogh starrte ihn an, wollte etwas sagen, hielt sich allerdings sichtlich zurück. Dann sagte er doch: »Wir haben ja noch den Kaffee.« Aber Gauguin hörte ihm schon nicht mehr zu. Er hatte eine weitere Zigarette gerollt. Als er van Gogh immer noch fassungslos am Fenster stehen sah, platzte er, noch während er den Rauch inhalierte, heraus: »Waren das eben etwa Ihre Rosen? Vincent, was ist nur los mit Ihnen? Wir sollten ein wenig rausgehen, meinen Sie nicht auch? Ich habe Lust die Stadt beim Wachwerden zu beobachten. Aber vorher müssen wir dieses Chaos beseitigen.« Gauguin beschrieb mit einer Geste, von den Tellerstapeln über die Bilderrahmen und Gemälde am Boden, bis zu den Malutensilien auf dem Tisch, einen Halbkreis in der Küche, wobei er ausrief: »Vincent, wie können Sie so leben? Ich hätte wirklich ein wenig später kommen sollen, dann wäre mir dieser Anblick erspart worden. Das ist eine Küche, kein Atelier. Wie können Sie hier kochen?«

»Ich koche nie. Meistens esse ich im Restaurant oder nur ein Stück Brot. Essen ist nicht so wichtig. Kaffee und Tabak schon.«

»Dann wird für Kaffee gesorgt. Und Croissants. Kommen Sie! Gehen wir in die Stadt.«

»Da gibt es ein Problem, Paul. Mein Geld ist für diesen Monat aus. Die Suppe –«

»Herrje, Vincent! Ich glaube, ich komme zur höchsten Not und genau richtig. Zum Glück hat mir Theo etwas Geld geschickt … Sie sehen auch ein wenig kränklich aus. Aber keine Sorge, das kriegen wir alles hin. Auf in die Stadt!«

Unbedingt - Van Gogh und Gauguin im Gelben Haus

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