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Kapitel 1

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»Und vergiss nie, die wahre Liebe, die eine Frau dir schenken kann, wird nicht die sein, nach der du suchst, sondern die, von der du nicht wusstest, dass du nach ihr gesucht hast.«

Das war der letzte Ratschlag, den Bruno von seinem Vater bekam, drei Tage vor seinem fünfzehnten Geburtstag, als er hoffte, ihn nie mehr im Leben zu sehen. Nachdem er ein paar Sekunden darüber nachgedacht hatte, antwortete der Junge kaum hörbar: »Schon klar.«

Bruno war ein schweigsamer und spröder Junge, der sich hinter einer früh ausgebildeten strategischen Schüchternheit versteckte. Seine Eltern, Amador und Ruth, hatten sich getrennt, als er neun Jahre alt war. Kennengelernt hatten sie sich Mitte der Siebzigerjahre in einer Hippiekommune auf Ibiza, er war fünfunddreißig, Ruth zweiunddreißig, also beide schon des längeren erwachsen, und es war Liebe auf den ersten Blick, entstanden im Strudel der Veränderungen und Ungewissheiten, die das Land um diese Zeit durchlebte. Amador Cano Raciocinio war in Mugía, einem Städtchen in La Coruña, geboren und wuchs in Barcelona auf, wohin seine Eltern Anfang der Vierzigerjahre umsiedelten. Als Ex-Zögling eines Priesterseminars und ehemals fliegender Händler von Matratzen und Schokoriegeln brüstete er sich in der Kommune mit Einführungskursen an der Universität Berkeley, gab Yoga- und Musikunterricht und spielte Klarinette. Er hatte eine frische Farbe, war kussfreudig und schlagfertig, der Kollege, der bei fast allen gut ankommt, bis er versehentlich fast alle unglücklich macht. Ein Experte in pazifistischen Ritualen und hausgemachten Marmeladen, sahen die Frauen in seinen blauen Augen ein Aufblitzen von Wind und Freiheit, und er nährte dieses Trugbild. Ruth Vélez war eine dunkle, unpolierte Schönheit, eine diskrete, bescheidene Erscheinung mit sommersprossiger Haut und schmachtendem Blick, ein Blick, der erotische Inbrunst ausstrahlte, wovon sie nichts wusste. Gerade erst getrennt von einem Imbissbesitzer aus Santoña, kam sie nach Ibiza an der Hand eines Fotografen, der sie nach zwei Monaten verließ. Sie buk köstliche Schinkenkroketten, die sie billig verkaufte, und fertigte Rosen aus Wolle und prächtigen Blumenschmuck aus allerlei Stoffresten. Bruno war für Ruth, nicht aber für Amador, ein Wunschkind, er wurde in einem Blumenbett geboren, in dem sich echte und falsche Rosen vermengten, und gewiegt mit den Liedern von Pink Floyd, Riten einer Gegenkultur und dem Duft von Marihuana und hausgemachter Quittenpaste.

Im Herbst 1983 stellte sich Ruth, die in einer flüchtigen, mit Sex, Utopien und Rauch aufgeladenen Atmosphäre nach Orientierung suchte, die Frage nach der eigenen Zukunft und der ihres Sohnes. Sie hatte Amadors schamlose Untreue satt, auch seine kleinen, krummen Geschäfte, die ständig Anlass zu Aufregung und Streit gaben, und schlug, um in Ruhe überlegen zu können, eine zeitweilige Trennung vor. Sie wollte ein paar Monate mit dem Kind nach Barcelona. Silvia Fisas, eine von der Kommune ernüchterte Freundin, hatte dort in der Altstadt gerade ein Geschäft mit Ibiza-Mode eröffnet und bot ihr eine Stelle als Verkäuferin an. Amador hatte nichts dagegen, bat sie aber, die Abreise um eine Woche zu verschieben. Er versprach, sich zu bessern. Zwei Tage später jedoch, an einem windigen, regnerischen Nachmittag, stieg er aufs Fahrrad, um zu einer Yogastunde zu fahren, und kam nicht wieder. Weder am nächsten Tag noch in der nächsten Woche. Daraufhin löste Ruth ihr kleines Geschäft auf, nahm das Kind und zog nach Barcelona.

Ein Jahr später bekam sie eine Postkarte aus Marrakesch, mit der Amador sie um Verzeihung bat, seine baldige Ankunft in Barcelona ankündigte und seinen Wunsch nach Versöhnung. Er tauchte jedoch erst fünf Jahre später auf der Durchreise nach Nepal wieder auf; dort sollte er sich in den Bergen von Mustang mit einer Krimi-Autorin aus Mallorca treffen, der er in einer Kommune in Teneriffa Gesangs- und Klarinettenstunden gegeben hatte. Es war Anfang Juni, und er erklärte, er wohne schon seit einem Monat in einer billigen Pension im Ribera-Viertel, wo er eine mexikanische Ranchera-Sängerin in tantrischem Yoga unterrichte. Sein Kopf war kahlgeschoren, er trug die safrangelbe Tunika eines tibetischen Mönchs, auf dem Rücken einen khakifarbenen Rucksack und auf der Brust einen mexikanischen Sombrero sowie seine Klarinette. Auf dem Rucksack stand mit Filzstift geschrieben FENG SHUI. Ruth sagte, sie sei bereit, ihm alles zu verzeihen, nur nicht, dass er sich seinem Sohn als Witzfigur präsentiere.

»Wie kannst du so was sagen?«, beklagte sich Amador. »Won’t back down, erinnerst du dich, wir weichen nicht zurück?«

»Aber du bist doch dein Leben lang ausgewichen!«

»Wenn du darauf anspielst, dass ich oft Mist gebaut habe, besonders bei dir, so gebe ich das zu und bitte um Verzeihung. Aber ich meine etwas anderes.«

»Aha. Etwas anderes.«

»Ich spreche von unseren Überzeugungen, unserem Verlangen …«

»Klar. Dieses Verlangen.«

»Aber ja. Ich sehne mich noch immer nach den fernen Gärten von Córdoba.«

»Aha. Córdoba.«

Sie blickte ihm nicht ins Gesicht. Sie lächelte unmerklich und sah auf ihre Nägel. Amador erinnerte sich: Wenn sie sich seine Entschuldigungen anhörte und dabei auf ihre Nägel sah, war das fast immer der Auftakt zum Vergeben, das sie ihm nicht verweigern konnte.

»We shall overcome, erinnerst du dich, Ruth?«, fügte er hinzu. »Es wird dich vielleicht interessieren, dass ich kein Gras mehr rauche, auch keine stinkenden Kippen, ich bin ein anderer Mensch, auf der Suche nach einem anderen Menschen. Oder umgekehrt. Weißt du, ich habe lange darüber nachgedacht und bin jetzt entschlossen, mich an ein Studium des Buddhismus zu machen.« Er schaute sie aus den Augenwinkeln an, taxierte ihre Gemütslage und fügte mit spöttischem Unterton hinzu: »Es ist mehr als bewiesen, dass der spirituelle Rückhalt des Westens nicht Spanien ist, wie wir das gerne hätten, und weder der Berg von Montserrat noch Barça sind der spirituelle Rückhalt Kataloniens, also, was das mit uns angeht …«

»Schon gut. Bleibst du zum Essen? Es gibt Makkaroni.«

Der unerwartete Besuch führte zu einer unangenehmen Situation. Bruno konnte nicht verstehen, dass seine Mutter diesen Mann empfing, als sei nichts gewesen. Nachdem er ihn förmlich, aber mit kaum verhohlener Schroffheit begrüßt hatte, war der Junge in seinem Zimmer verschwunden.

Sie wohnten im Hochparterre der Calle Congost Nummer 7 im Gràcia-Viertel, eine bescheidene Wohnung, von der Tante der Ex-Hippiefrau Silvia Fisas gemietet, in deren Geschäft Ruth weiterhin arbeitete und ihre Wollblumen verkaufte. Bruno sollte, nachdem er lustlos und mit wenig Nutzen eine öffentliche Schule im Viertel besucht hatte, demnächst als Lehrling in einer Konditorei an der Puerta del Sol beginnen, deren Besitzer mit einer von Ruths Kundinnen verheiratet war. Zunächst würde er als Laufbursche eingesetzt. Amador sagte, ihm wäre es lieber gewesen, wenn sein Sohn sich für die Klarinette statt für ein Schlaginstrument entschieden hätte – aus dem Zimmer war zu hören, wie Bruno eine Trommel bearbeitete –, aber eine h-Moll-Klarinette, so wie die seine, die ein außergewöhnliches Gehör und eine höhere Sensibilität erfordere. Er zeigte Ruth einen Papierflieger, den er, wie er sagte, kurz zuvor auf der Straße, gleich vor dem Haus, aufgesammelt hatte und als Glücksbringer nach Nepal mitnehmen wollte.

»Schau, was auf die Flügel gedruckt ist«, fuhr er fort. »Hier, lies. Schwarze Schokolade. Und hier, schau: Plätzchen und Kekse. Ein geheimer Code? Eine Losung? Nein, liebe Ruth, ein Omen, ein Zeichen des Schicksals. Die Zukunft wird süß. Im übrigen könnte ich schwören, dass mein Sohn dieses kleine Flugzeug gemacht hat, es ist zwar reichlich primitiv, sieht aber genau wie die aus, die ich für ihn gemacht habe, als er klein war, du weißt schon, damals auf unseren geliebten Stränden von Shangri La, erinnerst du dich? …«

»Hör auf, bitte«, murmelte sie. »Bitte.«

Sie versuchte die Trauer in den Augen hinter ihren dichten Ringellocken zu verbergen und spürte plötzlich eine Hitzewelle und ein Kitzeln an den Fußsohlen. Sie stand am Strand auf warmem Sand, hörte das gelassene Rauschen der Wellen, schob die Haare aus dem Gesicht, neigte mit einer melancholischen Mattigkeit des Halses den Kopf zur Seite und bot das Gesicht dem Seewind dar, als sie dann aber ihre nackten Füße auf den Esszimmerfliesen sah, drehte sie sich um und ging raschen Schritts zum Schlafzimmer, ließ Amador, den von gestern am Strand wie den von heute, mit dem Wort auf der Zunge stehen. Aus den glücklichen Tagen von Blüten und Honig waren ihr die lockige Haarpracht geblieben und die Angewohnheit, sich barfuß in der Wohnung zu bewegen. Auf dem Bett sitzend, zog sie sich mit einiger Hast ihre Stoffschuhe an.

Als sie zurück an den Esstisch kam, sagte Amador, ihre Haut sei immer noch so wunderbar und dufte so gut. Er sagte auch, sie möge Bruno doch bitte überreden, ihn nicht mehr zu siezen, und kündigte an, er wolle, bevor er aufbreche, alleine mit dem Jungen reden.

»Was zum Teufel hat er sich vorgenommen, dass er dermaßen die Trommel traktiert?«

»Nichts, nehme ich an. Er mag das.«

»Und warum nennt er mich Herr Raciocinio statt Papa?«

Ruths Blick fiel auf seine aschig schlaffen und schlechtrasierten Wangen.

»Er hat immer viel Respekt vor dir gehabt …«

»Wirklich? Die Sache ist verwickelter. Hast du ihm keine Manieren beigebracht? Wie ist er nur darauf gekommen?«

»Weiß ich nicht. Frag ihn doch. Er ist in seinem Zimmer.«

»Er wird mir zuhören müssen. Er wird fünfzehn. Ich bin immer noch sein Vater, immer noch Amador. Oder umgekehrt.«

Geübt darin, Süßholz zu raspeln, um Verantwortung aus dem Weg zu gehen oder sie anderen aufzuhalsen, lag in seiner bedürftigen Stimme etwas von einer arkadischen Sehnsucht, ein Raunen im Dunkeln, etwas, das Ruth, auch gegen ihren Willen, noch ansprach. Für Bruno hingegen bedeutete das alles nichts, es war nur das durchtriebene Gesülze eines Schmarotzers. Er erinnerte sich an den süßlichen Quittengeruch seiner Hände und an nicht viel mehr. Während er nun über Krishna belehrt wurde und über die geheimnisvollen Wechselfälle eines schweifenden Lebens auf der Suche nach dem Atman, dem leuchtenden Gebiet, wo die Seele wohnt, wie Herr Raciocinio präzisierte, während Bruno also dem reichlich öden Sermon zuhörte und linkisch an der Türschwelle stand, die Trommelschlägel aber wie zur Selbstverteidigung vors Gesicht hielt, die Augen halb geschlossen, wie in unbesiegbarer Schläfrigkeit befangen, verwandelte sich für ihn in einer knappen Minute der Mann, der behauptete, sein Vater zu sein, in einen durchgedrehten Landstreicher, einen Penner, einen Bauchredner, der Lügen und Schwindel verkaufte, in den lächerlichen Überlebenden eines Scheiterns oder einer seltsamen Unvereinbarkeit mit der Welt. Warum, verdammt noch mal, will er wissen, ob ich diesen Papierflieger, den er auf der Straße gefunden hat, gefaltet habe?

»Ich weiß nicht mal, wie die gemacht werden, Herr Raciocinio«, brachte er vor.

»Natürlich weißt du das, mein Sohn. Ich hab’s dir beigebracht.« Die in blauem Wasser schwimmenden Augen sahen ihn voller Zuneigung an. »Das sind Dinge, die man nie vergisst. Sie fliegen davon, werden aber nicht vergessen. Womöglich ist jeder Papierflieger, den du in die Luft wirfst, ein Traum, der das Fliegen lernt …«

Ich scheiße auf fliegende Träume, ich scheiße auf alles, was deiner Meinung nach fliegt, Herr Raciocinio, dachte er, während er sich mit den Trommelstöcken auf die Brust schlug und dabei wie zerstreut zur Zimmerdecke sah. Sein Vater nahm ihm lächelnd, ohne Schroffheit, die Stöcke ab, und dann, eine spontane Geste, die eher dem Kummer als einer zärtlichen Eingebung zu gehorchen schien, umfasste er Brunos Kopf mit beiden Händen.

»Fliegen, schweben, vielleicht auch träumen, das ist hier die Frage«, sagte er in einem hinterhältig trägen Ton. »Erinnerst du dich an das Lied? Auf dem Meer laufen die Hasen, durch den Wald die Sardinen … Das will nicht heißen, dass alles eitel Sonnenschein ist, das nicht. Aber immer in den Rückspiegel gucken, nicht wahr, man muss die Vergangenheit zu lesen wissen, will man in die Zukunft sehen. Und selbst wenn du sie nicht sehen kannst, mein Sohn, die Gärten kommen immer näher …«

Alles nur Scheiße, du Arschloch, sagte er sich und schloss die Augen. Was man nicht sieht, existiert nicht, und was ein beknackter Schwindler und Hungerleider träumt, existiert noch viel weniger, das ist reiner Humbug. Die scheinheiligen Hände, die auf seinem Kopf lagen, rochen jetzt nach angegorener Quittenpaste, ebenso die Stimme. Bruno sah sich plötzlich in einer Vergangenheit gefangen, für die er nur Unglauben und Widerwillen übrighatte, sah sich Erlebnissen ausgeliefert, von denen er nichts wissen wollte, während diese Stimme, der er auch nicht trauen konnte, aus einer unwirklichen Landschaft emportauchte und Szenen erstehen ließ, in denen sich Trug und Träumerei, Gelebtes und Eingebildetes vermischten. Gesang und Gitarren rund um die Lagerfeuer unten am Meer, in den Rauchfahnen tanzende Nachtfalter, Mädchen mit goldbraunen Schenkeln und Blumen im Haar. Das Hippiekind bekommt, auf einem Delphin reitend, Klarinettenstunden, es liegt in einem Boot voller Quitten oder rennt nackt über den Strand oder über einen Teppich aus Margeriten und Mohn, der sich vom Haus bis ans Meer erstreckt. Viel Trubel am fröhlichsten Geburtstag seiner Mutter, Kroketten und selbstgemachte Marmelade am kleinen Markt von Punta Arabí, und sie sitzt hinter dem Stand, allein, weinend. Psalmen und Meditationen, und sein Vater läuft nackt über den Strand, der lange Zopf windet sich vom Hinterkopf bis zur dunklen Kerbe im Gesäß. Das Arsenal geblümter Hemden trocknet auf der Wäscheleine von Arenas Blancas im Wind. Seine Hände bewegen sich auf der Klarinette wie zwei blonde behaarte Spinnen …

Jetzt, da er ihm erzählt, wie er seine Mutter auf einem Karussell verliebt gemacht hatte, sie auf einem Haifisch, er auf einer Sardine reitend, ist das Geschepper von Scherben zu hören, ein Teller oder eine Tasse, die auf dem Küchenboden zerschellt, und die matte Stimme von Ruth, als spräche sie mit sich selbst: »Alles Lüge.«

Ohne das lachende Gesicht zu verziehen, schaute er auf die Trommelstöcke in seiner Hand, als wisse er plötzlich nicht mehr, was er mit ihnen anfangen solle, und spitzte die Ohren, falls da noch weitere Kommentare kämen.

»Keine Sorge. Auf Ibiza fiel ihr immer irgendein Teller runter, weißt du noch?«

»Nein, Señor.«

»Jetzt nenn mich doch nicht Señor, verdammt. Ich sagte, dass deine Mutter nicht richtig zugreifen kann.«

»Aha.«

Es schmerzte Amador, dass Bruno ihn nicht ins Zimmer bat, dass er die Tür blockierte, er sich mit dem Rücken und einem Bein nachlässig an den Türrahmen lehnte, am meisten schmerzte ihn aber, dass der Junge ihm das Du verweigerte und ihn mit seinem zweiten Nachnamen ansprach, der so gespreizt und hochtrabend klang.

»Nun ja, mein Sohn, jetzt habe ich dir erzählt, wie es damals war.«

»Wirklich?«

»Absolut. Wort für Wort.«

»Aha.«

»Es ist dein Leben. Und es gibt keinen Grund, sich zu beklagen oder sich zu schämen. Ich sag’s ich dir.«

»Aha.«

»Und was ist dann mit dir los?«

»Na ja, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Nein, im Ernst. Es ist so … Ich weiß einfach nicht, wovon Sie da sprechen.«

Amador schnaufte, geduldig. Er war ein Hippieveteran, pragmatisch geworden und daran gewöhnt, Argwohn zu wecken.

»Aber Junge, wann kommst du auf den Boden der Tatsachen? Hat deine Mutter dir denn nicht von unserem gemeinsamen Leben dort auf der Insel erzählt?«

»Doch, ja, ein wenig. Aber das ist es nicht. Es ist nur …«, er zögerte einen Augenblick. »Sie müssen wissen, Herr Raciocinio, ich kann es einfach nicht glauben. Und was heißt das, was Sie da auf dem Rucksack stehen haben, FENG SHUI?«

»Das heißt Wasser und Wind, also die tellurischen Kräfte der Erdkugel.«

»Ach so. Also, ich meine das wirklich ernst, ich würde an all das gern glauben, aber schauen Sie …«

»Schau mal, Sohn, ich sag dir eins: Wer auf dieser Welt an nichts glaubt, ist auch nicht von seinen Ängsten befreit. Ich weiß nicht, ob es etwas nützt, an Gott oder den Teufel zu glauben, ich weiß aber, dass es Wasser und Wind aus irgendeinem Grund gibt …«

»Ja, aber alles, was Sie mir da erzählen, entschuldigen Sie, wenn ich das sage, aber … Ich kann es einfach nicht glauben. So ist das.«

»Du bist einfach zu früh groß geworden«, sagte Amador. »Wer weiß, was deine Mutter dir erzählt hat. Die Frauen sind ein Rätsel, weißt du? Vor allem diejenigen, die uns beschützen wollen. Bald wirst du ein Mann sein, also werde ich dir etwas über sie sagen. Vergiss nie … Hörst du mir zu?«

»Ja, Señor.«

Kurz darauf, als Ruth sie zum Essen rief, ging Amador mit seinem Rucksack und den Trommelstöcken ins Badezimmer und blieb dort länger als normal eingeschlossen. Bruno hörte, wie er sich mehrmals kräftig schneuzte. Dann gurgelte er sehr lange und in verschiedenen Tonlagen. Ruth schien nichts davon merken zu wollen. Dem Jungen fiel der niedergeschlagene Ausdruck seiner Mutter auf, und er fürchtete, sie könne jeden Augenblick losheulen. Er sagte, er wolle nicht mit Herrn Raciocinio am Tisch sitzen, ihm sei schwindlig und er müsse ins Bett, ging auch nicht auf ihre Bitten ein, sich doch wenigstens zu verabschieden. Er verzog sich in sein Zimmer und ließ die Tür offen, um zu hören, was am Esstisch gesprochen wurde.

Das Abendessen dominierte die Stimme seines Vaters, er verhedderte sich in langen Erklärungen über wirre Reiseprojekte, Epiphanien und neue Formen, sich den Lebensunterhalt anhand von Analogien, Spiegeln und Korrespondenzen zu verdienen, störrisch darauf beharrend, dass dies alles einen tantrischen Sinn haben müsse, bis er auf einmal gestand, er fühle sich doch inzwischen für einige Dinge zu alt, zu müde und verletzlich. Er sagte ihr, wenn er auf der Klarinette das Lied spiele, das sie so gern gemocht habe, sie wisse schon, jener rosa Kirschbaum, der in einem Winkel deines Gartens wuchs, müsse er immer an ihre Apfelbrüste denken. Dann gab es ein paar Minuten Schweigen, eine kaum hörbare Stimme durchbrach es mit Worten, die nach Trost klangen, dann scharrten Stuhlbeine über die Fliesen, wieder langes Schweigen – scheiße, die werden sich doch nicht küssen? –, das in einem Schluchzer gipfelte – von wem? –, und von da an war seine Stimme nicht mehr dieselbe.

»Du sollst wissen, Ruth, dass ich dir sehr dankbar für diesen Empfang bin. Ich habe nichts anderes von dir erwartet …« Noch ein Absacken der Stimme, nun blieb nichts mehr von dem arkadischen Klang. »Ich habe euch ein wenig enttäuscht, ich weiß. Ein Mann soll für seine Angelegenheiten Verantwortung übernehmen. Aber die Sache ist die, ich habe keine Angelegenheiten, habe sie nie gehabt, ich habe … Wege. Und meine Pilgerreise ist seltsam und leise, wie die der Spinnen; die machten dir damals, als wir zusammenlebten, so große Angst, erinnerst du dich? Ich weiß, wohin ich gehe, ich spüre das Pochen des Universums in meinen Schläfen. Diese neue Reise, zum Beispiel … Obgleich, man wird sehen, es dauert wohl noch eine Weile, bis ich mich aufmache, davor muss ich mich hier noch um einige Dinge kümmern. Es hat ja auch keine Eile, nun ja, ich weiß nicht, in Wahrheit ist ja noch nichts entschieden …« Noch ein Schluchzer, wieder nicht zuzuordnen, und er fügte hinzu: »Bitte, Ruth, es gibt keinen Grund zu klagen. Eigentlich ist alles noch etwas in der Schwebe. Gerade jetzt ist die Pension, in der ich wohne – von Freunden heiß empfohlen und in Wirklichkeit eine üble Absteige –, nun ja, auch noch im Umbau, und ich lass mich wahrlich nicht schnell aus der Ruhe bringen, aber es könnte irgendwas passieren, und ich steh morgen auf der Straße … Glaubst du, Ruth, du könntest … du könntest mich hier vorübergehend unterbringen? Nur ein, zwei Tage – oder drei, liebe Ruth?«

Wieder das Scharren der Stuhlbeine und ein langes Schweigen. Bruno spitzte die Ohren, wartete auf die Antwort seiner Mutter.

»Meinetwegen …«, begann sie, und dann nach einer Pause: »Aber ich fürchte, es geht nicht.«

»Warum nicht? Nur ein paar Tage …«

»Dein Sohn hat nicht vergessen, und er akzeptiert dich nicht. Hast du das denn nicht gemerkt?«

»Hmm. Der Junge ist etwas ungezogen, meinst du nicht?«

Schweigen.

»Er lügt aber nie«, murmelte Ruth.

»Er ist auf alles sauer. Und das ist schade. Das Leben ist zu kurz, um ständig sauer zu sein. Sag’s ihm.« Und in versöhnlicherem Ton: »Ich habe nie die Hand gegen ihn erhoben, das weißt du. In der Strandhütte hatten wir drei doch eine gute Zeit. Wenn du ans Karma glaubst, alles kommt wieder, alles wird wieder wie früher … Du hattest Angst vor Spinnen, weißt du noch? Sag mir eins, Ruth … Du warst dort glücklich, stimmt’s?«

Wieder Schweigen. Das Zischeln eines Siphons in einem Glas.

»Leidest du noch unter Arachnophobie, liebe Ruth?«

Die Antwort ließ etwas auf sich warten.

»Was ist das? Sicher etwas Unangenehmes.«

»Oh, nein, ein neues Wort.« Wieder eine Pause. »Du hattest immer Angst vor dem Neuen, nicht wahr, Ruth?«

Kurz darauf entschloss er sich zu gehen, aber davor sperrte er sich noch eine Weile im Bad ein. Er verabschiedete sich von seinem Sohn im Flur, durch die Tür, die Bruno geschlossen hatte und trotz Ruths inständigem Bitten nicht öffnete, man hörte nur ein dumpfes »Adiós«, als spreche der Junge unter einem Haufen Laken. Eine vorbildliche Gemütsfestigkeit vorspiegelnd, wies Amador Ruth an, nicht zu insistieren, und sie, in ein Meer des Zweifels getaucht, demütig, einmal mehr auf ihre Schwäche zurückgeworfen, begleitete ihn zum Ausgang, wo sie ihm ein blaues Halstuch mit weißen Tupfen um den Hals band, dann küsste sie ihn auf die Wange und öffnete ihm die Tür. Der unbeugsame Hippie verabschiedete sich ohne viele Worte, bewahrte mühsam die tolle Haltung seiner besten Jahre, Klarinette am Brustriemen und ein forciert unbeschadetes Lächeln im verwüsteten Gesicht, das verbrannt war von der Sonne der Niederlage.

Am nächsten Tag entdeckte Bruno im Badezimmer einen der Trommelschlägel. Der zweite tauchte nicht wieder auf. Nachdem einige Zeit vergangen war, blieb ihm von all dem, was sein Vater an jenem Abend getan und gesagt hatte, nur noch der verschwundene Trommelstock im Gedächtnis und jener unverhoffte Ratschlag, der gleichermaßen eine Entschuldigung und ein Rätsel zu enthalten schien, darüber, was man immer in den Frauen sucht und am Ende findet.

Gute Nachrichten auf Papierfliegern

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