Читать книгу Sophienlust Classic 42 – Familienroman - Judith Parker - Страница 3

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Am Morgen des ersten Schultages nach den Osterferien stand die Köchin Magda an dem großen Herd in der hellen Küche von Sophienlust und achtete darauf, dass die Milch für den Frühstückskakao der Kinder nicht überkochte.

Der alte Justus, ehemaliger Verwalter des Gutes, saß auf der Bank unter einem Fenster, dessen Flügel weit offen standen, sodass die milde Frühlingsluft ungehindert hereinströmen konnte. Sein Frühstück bestand aus einer großen Tasse Milchkaffee, zwei saftigen Scheiben von dem schmackhaften Bauernschinken und kräftigem Brot.

Magda wandte sich nach dem alten Mann um und musterte ihn nachdenklich. Justus war auch sonst nicht sehr gesprächig, aber so still wie an diesem Morgen war er nur dann, wenn ihn irgendein Problem beschäftigte. Jäh erinnerte sich die Köchin an die Zeit, als Justus und sie sich stets in den Haaren gelegen hatten. Jetzt vertrugen sie sich recht gut und besprachen vieles miteinander. Er, das Stubenmädchen Lena und sie hatten noch bei der alten Sophie von Wellentin gedient und treu zu ihr gehalten. Jetzt dienten sie mit der gleichen Ergebenheit Denise von Schoenecker und deren Sohn Dominik, dem Erben von Sophienlust.

»Justus, fehlt dir was?«, fragte Magda mitfühlend. »So schweigsam wie heute bist du selten. Plagt dich wieder einmal dein Zipperlein? Soll ich dir einen Tee kochen? Oje, jetzt wäre die Milch beinahe doch noch übergelaufen!«, rief sie und zog schnell den Topf vom Feuer.

»Das Zipperlein lässt mich gottlob im Augenblick in Ruhe, dank deines Tees, Magda.« Justus schob den Holzteller mit dem Schinken zurück und legte den ledernen Tabakbeutel vor sich hin. »Stört’s dich, wenn ich rauche?«, fragte er und zog bereits die Pfeife aus der Seitentasche seines Lodenrockes. Bedächtig klopfte er sie auf dem Tisch aus.

»Rauch nur, Justus, das Fenster ist ja offen. Also, was bewegt dich? Sprich nur«, forderte sie ihn auf und nahm das Geschirr aus dem Küchenschrank, um es für Lena und Schwester Gretli auf dem Tisch bereitzustellen.

»Ja, das ist so«, begann Justus in seiner etwas umständlichen Art. »Heute früh war ich im alten Gärtnerhaus.«

»Ja, und?« Erstaunt sah Magda ihn an. »Was hast du denn dort gemacht?«

»Ich hab’s mir mal angeschaut.«

»Es soll doch noch in diesem Jahr abgerissen werden, weil an dieser Stelle ein neues Gebäude erbaut werden soll.«

»Ich weiß, ich weiß.« Justus steckte die Pfeife in Brand und zog genießerisch daran, dann nahm er sie wieder aus dem Mund. »Ja, das ist nämlich so: Meine Schwester diente viele Jahre bei den alten Riedls, den Eltern des Schriftstellers Norbert Riedl.«

»Wer ist denn das?«

»Norbert Riedl ist ein bekannter Autor. Im Augenblick arbeitet er an einem großen Roman und will sich für einige Monate aufs Land zurückziehen, um dort ungestört sein Buch vollenden zu können. Aber er hat Familie. Eine Frau und drei Kinder. Das alles hat mir meine Schwester geschrieben.« Justus zog wieder an der Pfeife.

»Ach, jetzt verstehe ich dich!«, rief Magda und stemmte beide Hände an ihre rundlichen Hüften. »Du meinst, die Familie soll in das alte Gärtnerhaus ziehen?«

»Du bist eine kluge Frau. Ja, so ist es. Ich glaube, das Haus wäre für die Riedls gerade richtig. Es gibt darin sogar ein Kaminzimmer. Meinst du, dass ich mich mal an die gnädige Frau wenden soll?«, fragte er sinnend.

»Aber ja. Nur unsere liebe gnädige Frau kann in einer solchen Angelegenheit entscheiden. Aber sie hat ja ein Herz aus Gold. Bestimmt wird sie einverstanden sein, wo doch die Familie auch Kinder hat. Sind es kleine Kinder?«

»Genaues weiß ich da nicht. Aber ich glaube, meine Schwester erwähnte etwas von zwei Mädchen und einem Jungen. Also, dann werde ich mit der gnädigen Frau sprechen.«

»Und ob, Justus. Ich würde das gleich heute vormittag tun. Sie kommt nämlich vorbei. Wo nur Schwester Gretli und Lena stecken? Die Kinder müssen doch frühstücken, sonst kommen sie bereits am ersten Schultag zu spät. Ach, da seid ihr ja!«, rief Magda erleichtert, als die beiden erschienen. »Das Frühstück ist fertig.«

Schwester Gretli und Lena bemächtigten sich des Geschirrs und verließen wieder die Küche, während Magda den Kakao zubereitete.

Justus erhob sich. »Ich geh dann«, erklärte er und stapfte zur Tür. Als er die Stufen der Freitreppe hinunterstieg und dann die Richtung zu den Stallungen einschlug, kam Dominik angeradelt.

»Guten Morgen, Justus!«, rief der Junge fröhlich.

»Guten Morgen, junger Herr«, schmunzelte der alte Mann vergnügt. »Schon so früh hier?«

»Ja, Justus.« Dominik stieg vom Rad. »Ich fahre mit dem Schulbus ins Gymnasium. Vorher möchte ich noch mit den anderen Kindern frühstücken. Ich finde, am ersten Schultag kann man ruhig zweimal frühstücken.«

»Natürlich, junger Herr. Du willst ja auch noch wachsen.«

»Und ob. Obwohl ich schon einer der größten in meiner Klasse bin. Aber jetzt muss ich weiter.« Er nickte dem alten Mann freundlich zu und setzte seinen Weg fort.

Justus blickte ihm nach, dabei erinnerte er sich an den Tag, als er erfahren hatte, dass Sophienlust zu einem Kinderheim umgebaut werden sollte. Nicht nur er hatte sich dagegen gestellt. Heute jedoch konnte er sich das Herrenhaus ohne die Kinder kaum mehr vorstellen. Mit ihnen war neues Leben nach Sophienlust gekommen, mit ihnen war auch er noch einmal jung geworden.

»Ja, so ist es«, murmelte er und ging weiter.

*

Indessen saßen die Kinder am Frühstückstisch und sprachen über den ersten Schultag. Malu half der Kinderschwester beim Einschenken des Kakaos. Schnell waren die Körbchen mit den frischen Semmeln geleert. Die Kinder ließen es sich schmecken.

Pünktchen blickte immer wieder zur Tür. Wo Nick nur bleibt, fragte sie sich. Als er endlich erschien, atmete sie wie befreit auf. Seitdem sie auch ins Gymnasium ging, waren für sie die Fahrten mit dem Schulbus das allerschönste vom ganzen Tag, weil sie dann neben Nick sitzen durfte.

»Guten Morgen!«, rief Nick fröhlich und setzte sich an seinen Platz.

»Guten Morgen!«, riefen auch die anderen.

»Ich dachte schon, du kämst nicht«, sagte Pünktchen.

»Wie findest du mein neues Kleid?«, fragte sie schelmisch.

»Ist das neu?«

»Aber ja, Tante Isi hat es doch gestern für mich gekauft.«

»Was Mutti aussucht, ist immer hübsch«, erklärte der Junge. Mädchenkleider interessierten ihn kaum, aber da er Pünktchen nicht kränken wollte, fügte er hinzu: »Ja, du siehst hübsch darin aus. Das Grün passt gut zu deinem rotblonden Haar und deinen veilchenblauen Augen. Aber ich glaube, du hast noch mehr Sommersprossen bekommen«, neckte er sie, weil er wusste, dass er mit dieser Bemerkung einen wunden Punkt bei ihr berührte.

»Das ist nicht wahr!«, rief sie da auch schon empört. »Nicht wahr, Isabel, du hast doch auch gesagt, dass meine Sommersprossen allmählich verschwinden.« Hilfe suchend blickte sie ihr Gegenüber an.

»Ja, Nick, Pünktchen hat bestimmt weniger Sommersprossen als früher«, versicherte das dunkelhaarige Mädchen mit den ernsten Augen.

»Na ja, ich kann mich ja auch geirrt haben.« Nick grinste.

Die Schwestern Angelika und Vicky kicherten. Sie fanden es immer sehr lustig, wenn Pünktchen und Nick sich zankten.

»Nick, lass Pünktchen in Ruhe«, bat die bereits sechzehnjährige und dementsprechend vernünftige Malu.

»Ich ärgere mich ja schon nicht mehr!«, rief da Pünktchen und lachte schon wieder übers ganze Gesicht.

»Misch dich lieber nicht ein«, riet Isabel. »Das führt zu nichts.«

»Ich weiß.« Malu blickte auf ihre Armbanduhr.

Da rief auch schon Frau Rennert von der Tür her: »Beeilt euch, Kinder. Die Busse warten schon im Hof.«

Die Kinder standen auf und holten ihre Schulmappen. Fünf Minuten später verließen die beiden roten VW-Busse den Gutshof, um die Kinder in die Dorfschule und zum Gymnasium zu bringen.

Frau Rennert stand noch ein Weilchen unter der Tür, um den beiden Wagen nachzublicken. Als sie sich umdrehte, um ins Haus zu gehen, hörte sie ein Auto. Es war der Wagen von Denise von Schoenecker. Frau Rennert wartete auf die junge, bildhübsche und schwarzhaarige Besitzerin von Sophienlust.

Nach der Begrüßung begaben sich die beiden Damen ins Büro, um die wichtigsten Tagesfragen zu erörtern.

»Wie still es ist«, stellte Frau Rennert plötzlich fest.

»Ja, so ist es. Man empfindet die Stille besonders stark am ersten Schultag«, erwiderte Denise. »Frau Rennert, ich fahre nachher in die Stadt. Würden Sie bitte so freundlich sein, mir eine Aufstellung von den Sachen zu machen, die ich besorgen muss? Ich möchte in etwa einer halben Stunde abfahren.« Sie erhob sich vom Schreibtisch. »Ich gehe inzwischen zu den Ställen. Nick erzählte mir gestern ganz begeistert von dem neugeborenen Ponyfohlen. Ich möchte es mir gern anschauen.«

»Das Fohlen ist wirklich bildhübsch«, sagte Frau Rennert, »und die ganze Freude der Kinder.«

Denise lächelte und stieg wenig später die Stufen der Freitreppe hinunter. Tief atmete sie die klare Luft ein. Was für ein herrlicher Tag, dachte sie und blickte sich mit leuchtenden Augen um.

Da kamen die Spanielhunde Bim und Bam und Malus Wolfsspitz Murkel angelaufen. Mit freudigem Gebell begrüßten sie Denise, die Mühe hatte, die stürmischen Hunde abzuwehren.

»Bim, Bam!«, rief sie lachend. »Ihr macht mich ja ganz schmutzig. Murkel, pfui, jetzt ist mein Rock tatsächlich schmutzig geworden von deinen dicken Pfoten.« Sie versuchte den Fleck abzuklopfen.

»Bim! Bam! Murkel!« Justus rief die Hunde, die ihm aufs Wort folgten. »Sie sind halt heute außer Rand und Band«, entschuldigte sich der alte Mann. »Guten Morgen, gnädige Frau«, sagte er dann, froh darüber, dass sich für ihn eine so schnelle Gelegenheit ergab, mit Denise von Schoenecker über die Riedls zu sprechen. »Da wär noch was«, begann er und drehte seine Mütze verlegen in den Händen.

»Ja?« Denise sah ihn freundlich an.

Justus brachte sein Anliegen vor.

»Das Gärtnerhaus?«, fragte Denise. »Ja, eigentlich sollte es in diesem Sommer abgerissen werden. Aber damit könnte man auch noch ein Jahr warten«, überlegte sie laut. »Norbert Riedl? Ja, ich habe schon etwas von ihm gelesen. Drei Kinder hat er?«

»Ja, gnädige Frau, zwei Mädel und einen Jungen.«

»Also gut, Justus, schreiben Sie an Ihre Schwester. Aber warten Sie noch damit, bis ich mit meinem Mann gesprochen habe. Die Riedls möchten sich dann bitte an mich wenden.«

»Vielen Dank, gnädige Frau. Also dann warte ich halt noch, bis Sie mit dem gnädigen Herrn gesprochen haben.«

»Kommen Sie bitte in einer halben Stunde zu mir ins Büro. Dann kann ich Ihnen endgültigen Bescheid geben. Aber nun würde ich gern unser jüngstes Fohlen bewundern.«

»Es ist ganz allerliebst. Die Kinder wollen es Othello taufen.«

Denise lachte. »Über den Namen werden wir noch sprechen.«

Denise blieb ein Weilchen bei dem Fohlen und seiner Mutter Judy, dann kehrte sie ins Haus zurück, um Alexander anzurufen.

»Denise, was gibt’s?«, fragte er mit seiner klangvollen warmen Stimme.

»Alexander, es handelt sich um das Gärtnerhaus.« Sie erzählte ihm von der Bitte des ehemaligen Verwalters.

»Natürlich habe ich nichts dagegen, dass die Riedls eine Zeit lang im Gärtnerhaus wohnen. Weißt du, ich fände es schade, das Haus abzureißen. Als ich es vorige Woche mit einem Herrn von der Baufirma noch einmal besichtigt habe, war ich ganz begeistert von den Räumlichkeiten. Sogar ein Kaminzimmer gibt es dort.«

»Ich weiß, Alexander. Nicks Urgroßvater hat den Kamin einbauen lassen, weil der damalige Gärtner besondere Achtung bei ihm genoss und ihn darum gebeten hatte. Du weißt doch, dass ich das Tagebuch der Sophie von Wellentin mit großer Begeisterung gelesen habe. Sie hat so anschaulich geschrieben, dass man glaubt, einen spannenden Roman zu lesen. Gegen Mittag bin ich wieder bei dir, ich muss noch in die Kreisstadt.«

»Und ich ins Dorf. Auf Wiedersehen, mein Liebes. Fahr vorsichtig!«

»Das tue ich doch immer.« Denise legte lächelnd auf. Sie war in ihren Mann noch genauso verliebt wie am ersten Tag ihrer so glücklich gewordenen Ehe.

Manchmal glaubte sie, ein blutjunges Mädchen zu sein. Eine lächerliche Empfindung, sagte sie sich, aber trotzdem war es so. Dabei waren ihre beiden Stiefkinder Sascha und Andrea fast erwachsen und Nick bereits vierzehn Jahre alt. Der kleine Henrik war allerdings erst sechs.

Es klopfte, und Justus betrat das Büro mit erwartungsvollen Augen.

»Es geht in Ordnung, Justus«, sagte Denise. »Die Riedls können das Haus für einige Monate mieten.«

»Dann werde ich noch heute schreiben, gnädige Frau. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«

»Ist schon gut, Justus. Sie wissen ja, dass ich jedem helfe, wenn es in meiner Macht liegt.«

Justus verabschiedete sich. Als er ging, erschien Frau Rennert mit der verlangten Liste. Wenig später fuhr Denise los.

Zwei Stunden später war sie wieder zurück und lieferte die Einkäufe ab. Da ihr noch ein wenig Zeit blieb, entschloss sie sich, auf einen Sprung zum Gärtnerhaus zu gehen, um es zu besichtigen. Carola Rennert, die Schwiegertochter von Frau Rennert, begleitete sie.

»Tante Isi, ich freue mich, dass das Gärtnerhaus in diesem Jahr noch nicht abgerissen wird.«

»Nachdem ihr alle so begeistert von dem alten Bau seid, werde ich mir die Geschichte noch einmal durch den Kopf gehen lassen.« Denise sah die junge Frau an. »Warst du denn schon mal drinnen?«

»Und ob!« Carola lächelte verschmitzt. »Vor vielen Jahren. Weißt du, schon damals war Nick sehr pfiffig. Er hatte herausbekommen, dass man durch eines der Kellerfenster leicht in das Haus eindringen konnte. Natürlich haben wir das weidlich ausgenützt«, bekannte sie fröhlich.

»Nick war schon immer ein rechter Schlingel«, stellte Denise mit mütterlichem Stolz fest.

Das Gärtnerhaus befand sich hinter den Wirtschaftsgebäuden, dicht an der alten Parkmauer. Ein kleiner, jetzt völlig vernachlässigter Garten umgab es. Die Gartentür war ebenso reparaturbedürftig wie der Zaun. Efeu rankte sich an den Hauswänden hoch.

Denise stieg die wenigen Stufen zum Eingang hinauf und schloss die Haustür auf. »Bitte, Carola, öffne doch die Fensterläden hier unten«, bat sie. »Ich werde das oben besorgen. Das Haus muss gelüftet werden.«

Carola befolgte die Bitte, während Denise nach oben stieg.

»Tante Isi!«, rief Carola nach einer Weile von unten. »Schau mal, was ich da gefunden habe.«

»Was denn?«

»Eine Puppe! Ich kann mich entsinnen, dass einmal ein Mädchen, das in Sophienlust war, ich glaube, es war die Susi, verzweifelt nach seiner Puppe gesucht hat. Sie hatte sie mit ins Gärtnerhaus genommen und dann hier liegen gelassen.«

Denise kam wieder die Treppe herunter. »Ja, nun erinnere ich mich auch. Damals habe ich dem Kind ein neues Püppchen geschenkt.«

»Ich nehme die Puppe mit. Nicht wahr, ich darf sie doch behalten? Weißt du, ich habe oft sentimentale Anwandlungen und denke viel an die Zeit, als ich als schüchternes Mädchen zu euch kam. Damals fing ich erst wirklich zu leben an und begriff, dass es nicht nur Böses auf der Welt gab.«

Gerührt betrachtete Denise das hübsche Gesicht der jungen Frau, die wie so viele Menschen auf Sophienlust ein wirkliches Glück gefunden hatte. »Natürlich darfst du sie behalten«, sagte sie weich. »Ich glaube, wenn man das Haus renovieren lässt, wird es sehr wohnlich werden. Auch liegt es sehr abgelegen, sodass Norbert Riedl in Ruhe hier arbeiten kann. Aber vielleicht gefällt ihm das Haus nicht«, meinte sie.

»Warum nicht, Tante Isi?«, fragte Carola.

»Na, wir werden es ja sehen. Aber nun muss ich auf dem schnellsten Weg nach Schoeneich fahren. Martha bringt das Essen immer pünktlich auf den Tisch.«

Carola lachte und brachte Denise noch bis zu ihrem Wagen, dann eilte sie ins Haus zurück, um ihrer Schwiegermutter beim Tischdecken behilflich zu sein. Denn jeden Moment konnten die Kinder aus der Schule zurückkommen.

*

Als Dominik später erfuhr, dass das Gärtnerhaus an einen Schriftsteller und dessen Familie vermietet werden sollte, war er begeistert. »Mutti, ich finde das klasse!«, rief er. »Norbert Riedl ist ein sehr bekannter Schriftsteller. Mensch, dass er hier wohnen soll, ist …«

»Klasse!«, rief Sascha vergnügt, der ausnahmsweise zu Hause war. Er studierte bereits in Heidelberg.

»Hör auf.« Nick blickte seinen älteren Bruder ärgerlich an.

»Sind die Kinder nett?«, fragte Andrea.

»Ich hoffe es.« Denise öffnete die Tür zum Speisezimmer in Schoeneich, wo bereits der Abendbrottisch gedeckt war. »Nick, du hast uns noch gar nichts von deinem ersten Schultag erzählt.«

»Was gibt es da schon zu erzählen. Ich wäre froh, wenn ich nie mehr in die Schule zu gehen brauchte. Ich kann es gar nicht erwarten, endlich erwachsen zu sein.«

»Mein Sohn, später wirst du anders denken«, erklärte Alexander von Schoenecker und setzte sich. »Die Schulzeit ist bekanntlich die schönste Zeit im Leben.«

»Das nehme ich dir nicht ab, Vati.« Nick zog seine Serviette aus dem silbernen Ring und entfaltete sie. »Die Schule ist doch nicht besser als ein Gefängnis. Während draußen das schönste Wetter ist, muss man in einem Klassenzimmer herumsitzen und sein Gehirn anstrengen.«

Während des Essens bot dann die Familie Riedl einen interessanten Gesprächsstoff.

»Ich werde morgen versuchen, ein Buch von ihm zu bekommen«, erklärte Nick.

»Und ich werde es von der ersten bis zu letzten Seite auch lesen. Schließlich muss man ja mitreden können.«

»Wahrscheinlich wird Norbert Riedl ganz zurückgezogen leben, denn er zieht sich ja in die Einsamkeit zurück, um in Ruhe schreiben zu können.« Denise amüsierte sich im Stillen über Nick, dessen Begeisterung über den Einzug der Riedls ins Gärtnerhaus typisch für ihn war. Vermutlich erwartete er sich wieder einmal etwas Besonderes davon, eine sensationelle Begebenheit, die seine sowieso schon blühende Fantasie noch mehr anregte.

»Er soll ganz toll aussehen«, bemerkte Andrea schwärmerisch.

»Woher weißt du denn das schon wieder?«, wunderte sich Sascha.

»Ich weiß es halt«, trumpfte Andrea auf. »In der Schule reden wir halt über berühmte Männer.«

»Vielleicht freut ihr euch alle zu früh«, schränkte Alexander ein. »Noch ist die Sache nicht perfekt. Wenn die Riedls erfahren, dass das Haus renoviert werden muss, werden sie vielleicht kein Interesse mehr daran haben.«

»Das wäre gemein!«, empörte sich Nick. »Wo ich mich doch schon so sehr auf die Familie freue.«

»Ich auch!«, rief Henrik, der bis dahin auffallend still gewesen war.

»Geh, was verstehst du denn schon davon, du kleiner Dreikäsehoch!«, neckte Dominik ihn.

»Ich bin kein Dreikäsehoch!« Henrik warf seinem älteren Bruder einen kriegerischen Blick zu.

»Hört zu streiten auf«, lachte Denise. »Henrik, für dich wird’s Zeit, ins Bett zu gehen.«

»Und ich will mir noch den Western im Fernsehen anschauen«, erklärte Nick. »Darf ich aufstehen, Mutti?«

»Ja, Nick.«

»Ich schaue mir den Film auch an.« Andrea erhob sich ebenfalls und folgte Nick in die Halle.

*

Bereits eine Woche später stand fest, dass die Riedls das Gärtnerhaus mieten würden. Einige Tage nach diesem Bescheid kam Norbert Riedl selbst nach Sophienlust, um das Haus zu besichtigen. Zufällig war auch ­Denise gerade da. Sie begrüßte den unerwarteten Gast überaus liebenswürdig.

»Verzeihen Sie meinen formlosen Überfall«, entschuldigte sich der Schriftsteller mit seinem charmantesten Lächeln. »Leider kann ich nie im Voraus sagen, wann ich mich frei machen kann.«

»In Sophienlust ist immer jemand da«, erwiderte Denise freundlich. Norbert Riedl gefiel ihr auf den ersten Blick.

Er war ein auffallend gut aussehender Mann mit dunklen Haaren und braunen Augen. Seine breiten Schultern schienen sein Jackett zu sprengen.

»Ursprünglich wollte meine Frau mitkommen, aber unsere Jüngste hat eine fiebrige Erkältung. Meine Frau wollte das kranke Kind natürlich nicht allein lassen.«

Norbert Riedls Bewunderung für Denises Schönheit war offensichtlich. Dass die Besitzerin von Sophienlust noch so jung und bildschön war, war für ihn eine angenehme Überraschung.

Denise entgingen die bewundernden Blicke des Schriftstellers nicht, doch sie wusste nicht, ob sie sich darüber ärgern oder sich geschmeichelt fühlen sollte. Seine Frau hat bestimmt kein einfaches Leben mit ihm, ging es ihr unwillkürlich durch den Sinn. Würde Alexander eine andere Frau auf diese Weise anschauen, würde ich selbst keine ruhige Minute haben, sobald er einmal verreist. Aber Alexander gehört gottlob nicht zu diesen Schwerenötern, dachte sie erleichtert und sagte: »Ich werde Ihnen jetzt das Haus zeigen. Aber es ist in einem ziemlich schlechten Zustand und muss renoviert werden. Ich schrieb es Ihnen schon.«

»Für die Unkosten komme ich selbstredend auf«, erklärte der Schriftsteller, und Denise widersprach ihm nicht.

Als sie das Herrenhaus verließen, fuhr der Schulbus, der aus der Kreis-stadt kam, in den Gutshof ein. Nick erblickte sofort den weißen chromblitzenden Mercedes und brachte ihn mit dem Schriftsteller in Verbindung. »Ich glaube, er ist da!«, rief er und stieg schnell aus dem Bus.

»Tante Ma!«, rief er etwas später. »Ist Norbert Riedl da?«

»Erraten, Nick.«

»Wo ist er denn?«

»Mit deiner Mutter zum Gärtnerhaus gegangen.«

Nick stürmte schon wieder aus dem Haus.

Denise hörte Schritte hinter sich und erblickte ihren Sohn.

»Mutti, da bin ich!«

»Schon von der Schule zurück? Herr Riedl, das ist mein Sohn Dominik«, stellte sie den Jungen dem Schriftsteller vor.

»Fein, dass Sie das Gärtnerhaus mieten«, erklärte Nick und erwiderte den Händedruck Norbert Riedls fest. Dabei dachte er: Der sieht wirklich toll aus. Andrea hat recht.

Denise musste innerlich lächeln. Nick war doch manchmal unberechenbar. Er war tatsächlich ein Hans Dampf in allen Gassen und schaffte es immer wieder, gerade im richtigen Augenblick da zu sein. Andererseits war sie jedoch auch froh über seine Anwesenheit. Das Alleinsein mit dem Schriftsteller, der ihr deutlich zeigte, wie gut sie ihm gefiel, verwirrte sie ein wenig, worüber sie sich ärgerte.

Norbert Riedl war entzückt von dem Haus. Er wollte in einem Monat einziehen. Denise versprach, sich um die nötigen Handwerker zu kümmern.

Als Norbert Riedl Sophienlust wieder verließ, blickte Dominik dem Wagen glücklich nach. »Mutti«, sagte er »das ist wirklich ein toller Mann.«

Denise blieb ihm darauf die Antwort schuldig.

*

Wenige Tage danach bevölkerten die Handwerker das Gärtnerhaus. Für die Kinder war das äußerst aufregend. Sobald sie ihre Schulaufgaben gemacht hatten, liefen sie zu dem Haus, um den Handwerkern bei ihrer Arbeit zuzuschauen.

»Es wird wunderschön«, stellte Pünktchen eines Nachmittags fest. »Weißt du schon, wie die Kinder heißen?«, fragte sie Nick.

»Nein, Pünktchen. Ich habe mich zwar großartig mit Norbert Riedl unterhalten, aber leider habe ich vergessen, ihn nach den Kindern zu fragen.«

»Aber ich weiß es«, mischte sich Malu ein. »Tante Isi hat es mir gesagt. Der Junge heißt Holger und ist zehn Jahre alt. Das eine Mädchen ist sieben und heißt Sabine, ja, und die jüngste ist sechs und heißt Gabriele.«

»Komisch, dass Mutti mir das nicht erzählt hat«, kränkte sich Dominik. Er konnte es nicht leiden, wenn eines der Kinder mehr wusste als er.

»Dann sind die Mädchen sogar jünger als ich«, freute sich Vicky.

»Wir müssen ins Haus zurück!«, rief Pünktchen. »In wenigen Minuten gibt es Abendessen.«

»Ja, Pünktchen hat recht«, erklärte Isabel, die einmal ein Kinderstar gewesen war und später wohl eine große Sängerin werden würde, nach einem Blick auf ihre Armbanduhr.

Die Kinder liefen über die Wiese und betraten wenig später das Herrenhaus, wo sie bereits von Frau Rennert erwartet wurden.

»Schnell! Wascht euch die Hände!«, rief sie und klatschte in die Hände.

»Wir beeilen uns!«, rief Nick vergnügt, der wegen der Renovierung des Hauses für die Riedls häufiger als sonst in Sophienlust übernachtete, damit ihm auch ja nichts entging.

Wie immer verschlangen die Kinder mit Heißhunger ihr Abendessen.

»Wisst ihr was«, wandte Nick sich an Malu, Pünktchen und Isabel, als sie den Speisesaal verließen, »schauen wir doch auf einen Sprung bei der Huber-Mutter hinein. Vielleicht kann sie uns etwas über die Riedls sagen.«

»Neulich meinte Magda, dass der Geist der Huber-Mutter nicht mehr ganz so klar ist wie früher«, gab Malu zu bedenken.

»Da irrt sich Magda«, erwiderte Nick kopfschüttelnd. »Ihr Geist ist noch so klar wie ein frischer Quell. Jedenfalls sagte das Doktor Wolfram.«

»Aber im Frühjahr leidet sie sehr unter Gicht und hat oft schreckliche Schmerzen«, meinte Pünktchen. »Auch kann sie dann kaum mehr ihre Finger bewegen.«

»Sie braucht doch nicht die Finger zu bewegen, wenn sie prophezeien soll.« Dominik wollte sich durchaus nicht davon abbringen lassen, mit der Huber-Mutter zu reden. Aber Frau Rennert machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie begegnete den Kindern auf dem Weg durch den langen Korridor zum Zimmer der Huber-Mutter.

»Wohin wollt ihr denn?«, fragte sie freundlich.

»Zur Huber-Mutter.«

»Das ist unmöglich, Nick«, entgegnete Frau Rennert. »Doktor Wolfram war heute Nachmittag bei ihr und hat ihr eine Spritze gegen ihre Schmerzen gegeben. Die Huber-Mutter schläft schon.«

»Schade!« Nick schnitt eine Grimasse. »Gut, dann werde ich noch nach Schoeneich zurückradeln«, erklärte er plötzlich.

»Nick, das darfst du nicht.« Frau Rennert schüttelte den Kopf. »Schau doch hinaus. Es ist bereits stockfinster.«

»Was hat das schon zu sagen, Tante Ma«, entgegnete er großspurig. »Ich bin doch kein kleines Kind mehr, das sich vor dem schwarzen Mann fürchtet.«

»Nick, ich kann es dir nicht erlauben«, erklärte Frau Rennert energisch. »Sollte dir etwas passieren, wird mich deine Mutter zur Verantwortung ziehen.«

»Was soll denn schon geschehen«, maulte der Junge, weil ihm heute alles quer ging.

»In der letzten Zeit treibt sich in unserer Gegend ein Landstreicher herum. Lena hat ihn gesehen und behauptet, er sähe zum Fürchten aus.«

»Ist das wahr?« Pünktchen bekam große ängstliche Augen. »Ist er ein Verbrecher? Oder gar ein Mörder?«, fügte sie hinzu und blickte furchtsam zum Fenster.

»Na ja, dann bleibe ich halt hier«, gab Dominik endlich nach. »Aber gefürchtet hätte ich mich bestimmt nicht. Pünktchen, nun lach wieder«, wandte er sich an seine kleine Freundin, der man die Angst deutlich ansah. »Wenn ich hier in Sophienlust bin, wird dir bestimmt nichts passieren. Aus diesem Verbrecher mache ich Kleinholz. Schaut meine Muskeln an.« Er krempelte den Hemdsärmel hoch und zeigte seinen angespannten Bizeps.

Frau Rennert lachte, während Pünktchen in Bewunderung total erstarrte.

*

Als die Riedls eintrafen, stand der Flieder bereits in voller Blüte. Sein süßer Duft und der des Weißdorns erfüllten die Luft, und die Kastanienbäume hatten ihre Kerzen aufgesteckt.

Zur Freude der Kinder von Sophienlust zogen die Riedls an dem schulfreien Samstag des Monats ein, sodass sie dabei sein konnten, als zuerst der weiße Mercedes mit der Familie und dann der Möbelwagen vor der Gartentür hielten.

Auch Denise war zur Stelle, um den Mietern des Gärtnerhauses die Schlüssel zu überreichen. Die Kinder hielten sich noch im Hintergrund und beobachteten von Weitem, wie zuerst Norbert Riedel und seine Frau ausstiegen und dann die drei Kinder.

»Wie niedlich die Mädchen sind«, begeisterte sich Malu und wünschte sich, dass die beiden oft bei ihnen im Kinderheim weilen würden.

»Der Junge macht einen affigen Eindruck«, konstatierte Dominik.

»Findest du?« Pünktchen richtete ihren Blick auf den dunkelhaarigen Jungen, der zu ihnen herübersah. »Er ist doch sehr hübsch.«

»Das hat doch damit nichts zu tun«, belehrte Nick sie. »Vielleicht ist er affig, weil er so hübsch ist. Sicherlich bildet er sich etwas darauf ein. Na ja, das werde ich ihm schon austreiben.«

»Dazu wirst du kaum Gelegenheit haben, Nick«, warf Isabel ein. »Schließlich wohnt er nicht bei uns im Heim, sondern bei seinen Eltern.«

»Und wenn schon. Die Kinder werden sich doch mit uns anfreunden und oft bei uns sein. Herr Riedl wird froh sein, wenn er Ruhe zum Schreiben hat.«

Auch Denise machte sich so ihre Gedanken über die Riedls. Sie fand Frau Viola Riedl ganz reizend. Mit ihrem kastanienbraunen Haar, dem herzförmigen Gesicht und den großen blaugrünen Augen wirkte sie sehr apart. Dass sie trotzdem im Schatten ihres Mannes lebte, war für Denise nicht schwer zu erkennen.

Die beiden kleinen Mädchen waren allerliebst. Die ältere hatte die gleiche Haarfarbe wie ihre Mutter, während ihre jüngere Schwester rotblond war. Beide hatten blaue Augen und glichen einander sehr.

Denise musterte nun den Jungen. Er war dunkelhaarig wie sein Vater und hatte braune Augen. Während seine Schwestern fröhliche Kinder zu sein schienen, machte er eher einen unfreundlichen Eindruck. Trotzig und in sichtlicher Abwehr war seine Unterlippe vorgeschoben, und seine Augen zeigten einen abschätzenden kritischen Ausdruck, der für einen Jungen in seinem Alter ziemlich ungewöhnlich war. Dass seine Eltern es nicht ganz einfach mit ihm hatten, war leicht zu erraten.

»Ich hoffe, Sie werden sich hier wohlfühlen«, sagte Denise nach der Begrüßung und der allgemeinen Vorstellung. »Das Haus ist gestern fertig geworden.«

»Wunderbar!«, rief Norbert Riedl voller Begeisterung, dabei umfing sein Blick Denises schlanke Gestalt. »Sie müssen ausgezeichnete Beziehungen zu den Handwerkern haben, gnädige Frau. Wenn ich daran denke, was für Aufregungen es uns in der Stadt kostet, auch nur einen Handwerker zu bekommen, grenzt das hier fast an ein Wunder.« Er lachte und fuhr dann fort: »Ich schaue mich mal nach einem geeigneten Arbeitsraum für mich um. Vielleicht wäre eine der Dachkammern dafür geeignet. Viola, da kommt der alte Justus.«

Justus betrat die Diele. Er begrüßte Herrn und Frau Riedl und teilte ihnen mit, dass in ungefähr einer halben Stunde zwei Frauen aus dem Dorf kommen würden, um beim Einzug behilflich zu sein.

»Das ist herrlich!«, rief Norbert Riedl erleichtert. »Auf diese Weise kann ich mich auf der Stelle an die Schreibmaschine setzen. Ausgerechnet heute ist mein Kopf voll von guten Einfällen. Viola, nicht wahr, du wirst auch ohne mich fertig?«

»Aber ja, Norbert.« Viola nickte ihm lächelnd zu.

»Sie sehen, gnädige Frau, Viola ist einmalig. Genau die richtige Frau für einen verrückten Schriftsteller wie mich.« Nach dieser scherzhaften Bemerkung lief Norbert Riedl die Treppe hinauf.

»Ich finde das Haus einfach wundervoll«, schwärmte Viola. »Ich hatte es mir nicht so hübsch vorgestellt. Oh, da ist ja auch das Kaminzimmer, von dem mein Mann mir erzählt hat.«

»Buchenscheite liegen draußen im Holzschuppen«, sagte Denise.

»Da bin ich aber glücklich. Norbert ist ein unverbesserlicher Romantiker. Sicherlich wird er jeden Abend Feuer machen«, lachte Viola und blickte sich nach ihren Kindern um, die in der Diele standen und sich leise unterhielten. »Frau von Schoenecker, ich hätte eine große Bitte an Sie«, sagte sie. »Ich würde meine drei Rangen gern am Tag bei Ihnen im Kinderheim unterbringen. Mein Mann braucht bei seiner Arbeit unbedingte Ruhe. Kinder sind nun mal lebhaft.«

»Aber ja, Frau Riedl, die Kinder dürfen sich im Heim aufhalten«, antwortete Denise lebhaft. »Unsere Kinder können es kaum mehr erwarten, sie kennenzulernen.«

»Da bin ich wirklich froh.« Viola atmete erleichtert auf. »Bini, Gaby, Holger, kommt mal her!«, rief sie dann.

Die drei Kinder gehorchten sofort. Erwartungsvoll sahen die beiden Mädchen ihre Mutter an, während der Junge mit tief gesenktem Kopf nur dastand.

»Frau von Schoenecker war so liebenswürdig zu erlauben, dass ihr tagsüber im Kinderheim sein dürft. Selbstverständlich kommen wir für die Unkosten auf«, wandte sich Viola wieder an Denise.

»Darüber werden wir uns schon einig werden.« Denise nickte der jungen Frau zu und beschäftigte sich dann mit den Kindern, die sogleich Zutrauen zu ihr fassten. Holger allerdings blieb nach wie vor zurückhaltend. Nur die kleinen Mädchen wollten die Kinder von Sophienlust sofort kennenlernen.

»Aber ja!«, erklärte sich Denise einverstanden. »Ich heiße Tante Isi.«

»Tante Isi klingt lieb«, stellte Gabriele fest.

»Müssen wir auch in die Schule gehen?«, fragte die siebenjährige Sabine.

»Ich glaube schon«, entgegnete Denise lächelnd. »Gaby, gehst du denn auch schon in die Schule?«

»Nein, Tante Isi, erst im Herbst. Aber ich kann schon bis zehn zählen und Buchstaben schreiben«, fügte die Kleine stolz hinzu.

»Ich bleibe heute bei meiner Mutti«, erklärte Holger ernst und trat neben seine Mutter. »Sie braucht bestimmt Hilfe. Überhaupt habe ich keine Lust, in einem Heim zu sein.« Er blitzte Denise feindselig an. »Nicht wahr, Mutti, ich brauche doch nicht zu gehen. Ich werde auch ganz still sein und Vati nicht stören.«

»Wir werden es sehen, mein Junge.« Viola lächelte ihren Sohn an. Sie kannte ihn zur Genüge und wusste, dass man bei ihm mit Gewalt nicht viel erreichen konnte. »Vermutlich wird es hier bald wieder langweilig werden.«

»Niemals, Mutti. Der große schwarzhaarige Junge hat mich vorhin so komisch angesehen.« Holger warf einen Blick aus dem Fenster auf die Kinder, die nun näher gekommen waren und offensichtlich warteten. »Der da mit dem hellblauen Hemd«, fügte er hinzu.

»Aber das ist doch Nick, mein Sohn«, lachte Denise. »Nick hat ein Herz aus Gold und bestimmt nicht die Absicht, dich zu kränken, Holger.«

»Mag schon sein«, gab der Junge zögernd zu. »Aber ich will in kein Kinderheim.«

»Ist schon gut, Holger, sei nicht ungezogen«, ermahnte ihn Viola, leicht beschämt über seinen Starrsinn.

»Lassen Sie ihn nur, Frau Riedl. Eines Tages wird Holger Lust bekommen, mit den anderen Kindern zusammen zu sein.«

»Viola!« Norbert Riedl kam die Treppe herunter. »Ich habe ein Arbeitszimmer für mich ausgesucht. Das Dachzimmer neben dem Speicher ist wunderbar geeignet. Von dort hat man einen herrlichen Ausblick auf die Hügel. Ich hole jetzt meine Schreibmaschine aus dem Wagen und werde bei dieser Gelegenheit gleich den Leuten von der Spedition sagen, dass sie meinen Schreibtisch und den Sessel zuerst hinauftragen sollen.« Er lächelte den Damen zu und verließ das Haus.

Im gleichen Augenblick erschienen zwei kräftige junge Mädchen. »Justus hat uns herbestellt«, erklärte die eine.

»Fein, dass Sie da sind!« Viola strahlte. »Ich werde mich nur schnell umziehen, dann können wir mit der Arbeit beginnen.«

»Ich habe deinen Koffer aus dem Wagen mitgebracht.« Norbert Riedl war zurückgekommen.

»Vielen Dank, Lieber.« Die junge Frau sah ihn glücklich an. Ein wunderschöner Sommer liegt vor uns, dachte sie. Ein Sommer, in dem Norbert mir endlich einmal ganz allein gehören wird.

»Kommt, Kinder!«, rief Denise Gaby und Bini zu. »Wir gehen jetzt zum Herrenhaus hinüber. Holger, willst du nicht doch mitkommen?«

»Nein.« Der Junge blickte sie finster an.

Denise nahm die beiden kleinen Mädchen an die Hand. Sabine und Gabriele folgten ihr willig. Als die Kinder von Sophienlust angelaufen kamen, und die beiden begrüßten, lachten sie übers ganze Gesicht.

»Ich heiße Sabine. Aber alle nennen mich Bini«, stellte sich das ältere Mädchen vor und reichte allen Kindern die Hand.

»Und ich bin die Gaby«, sagte das kleinere Mädchen lächelnd und begrüßte die anderen ohne Scheu.

»Wollt ihr erst einmal die Fohlen und Pferde sehen? Könnt ihr reiten?« Dominik versuchte, das Vertrauen der beiden zu gewinnen.

»O ja, gern!« Sabine war sofort einverstanden. »Vati hat uns schon erzählt, dass es in Sophienlust viele Tiere gibt. Habt ihr wirklich einen Papagei, der sprechen kann?« Fragend blickte sie Nick an.

»Wir haben sogar zwei. Der eine heißt Habakuk und gehört nach Sophienlust und der andere, Lora, wohnt in Schoeneich. Das ist das Gut meines Vatis. Doch ich erzähle euch das alles später.«

Malu fasste nach der Hand der kleinen Gaby, die ihr ausnehmend gut gefiel. Die Kleine lächelte sie vertrauensselig an.

»Dann fahre ich nach Schoeneich«, erklärte Denise.

»Ich komme am Nachmittag noch einmal vorbei. Nick, sicherlich bleibst du hier?«

»Ja, Mutti. Wo ist denn der Junge?«

»Er hilft seiner Mutti beim Einziehen. Nick, Malu, passt gut auf Bini und Gaby auf. Und setzt sie nicht gleich am ersten Tag in den Sattel.«

»Nein, Mutti«, versprach Dominik enttäuscht, weil er genau das vorgehabt hatte.

Sabine und Gabriele waren so begeistert von allem, dass sie kaum an ihre Eltern dachten. Sie bestaunten die Ponys und kreischten vor Vergnügen, als Habakuk schon bald ihre Namen nachplapperte. Sie waren entzückt von dem Meerschweinchen Micky, das Vicky ihnen voller Stolz zeigte, und setzten sich dann hungrig mit an den langen Tisch, um sich das Mittagessen schmecken zu lassen.

Nach dem Essen liefen die Kinder in den Park und vergnügten sich ein Weilchen an dem Springbrunnen, der vor zwei Tagen wieder in Betrieb gesetzt worden war. Danach hielten sie sich in der Laube auf. Malu erzählte den Kindern ein Märchen. Nick langweilte sich dabei und lief zum Gärtnerhaus. Er war sehr neugierig auf Holger und brannte darauf, dessen Bekanntschaft zu machen.

Die Leute von der Spedition trugen gerade die letzten Möbel ins Haus. Justus saß auf der Bank vor dem Haus und rauchte Pfeife.

»Hallo, Justus!«, rief Nick ihm zu. »Hast du auch geholfen?

»Und ob, junger Herr. Aber jetzt braucht man meine Hilfe nicht mehr. Alles, was nun kommt, ist Frauensache.«

»Sind sie nett?« Dominik deutete auf das Haus.

»Ja, junger Herr.«

»Ob ich mal reingehen darf?«

»Warum nicht, junger Herr. Frau Riedl ist eine liebe Dame. Sie hat mich schon nach dir gefragt.«

»Weiß sie denn, dass ich der Erbe von Sophienlust bin?«, fragte Dominik gespannt.

»Ich glaub schon. Geh nur rein.«

Dominik überlegte nicht lange, sondern trat ins Haus. Er hörte eine helle Jungenstimme, dann die einer Frau. Plötzlich stand Holger vor ihm und sah ihn unfreundlich an. »Wer bist du denn?«, fragte er kurz.

»Dominik von Wellentin-Schoenecker. Und du?« Dominik ärgerte sich über den anmaßenden Ton dieses Jungen so sehr, dass seine Stimme nicht minder unfreundlich klang als die Holgers.

»Holger Riedl.«

»Ich wollte deinen Eltern guten Tag sagen.«

»Mein Vater ist für niemanden zu sprechen. Und meine Mutter …«

»Hallo, Nick!«, rief da Viola Riedl von oben. »Komm doch näher.« Dabei bedachte sie ihren Sohn mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Guten Tag, Frau Riedl.« Nick lief die Treppe hinauf und reichte der netten Dame die Hand. »Ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie auch alles haben«, sagte er dann, um seinen Besuch zu begründen.

»Das ist lieb von dir, Nick.« Viola lächelte ihm zu. »Sicherlich möchtest du dir das Haus anschauen, um zu sehen, wie es nun mit den Möbeln aussieht.«

»Ja, das möchte ich gern.« Dominik fühlte sich stark hingezogen zu Frau Riedl. Die ganze Familie gefiel ihm sehr, ausgenommen Holger, dem er aber noch zeigen würde, dass man einen Dominik von Wellentin-Schoenecker nicht ungestraft kränkte.

Holger blieb mit auf dem Rücken verschränkten Armen trotzig in der Diele stehen, als seine Mutter diesem seiner Ansicht nach grässlichen Jungen die Zimmer zeigte. Sie tut ja ganz so, als sei dieser Junge etwas Besonderes, dachte er wütend.

Dominik zeigte helle Begeisterung bei der Besichtigung des Hauses. Was man doch alles aus einem alten Bau machen konnte, dachte er. Besonders gefiel ihm der Wohnraum mit dem offenen Kamin, über dem jetzt ein hübsches Landschaftsbild hing. Davor stand eine goldgelbe Couch, auf der hellgrüne Kissen zwanglos verteilt waren.

»Es fehlt noch einiges«, erklärte Viola, die sich über das Interesse des Jungen freute. Wie verständig er doch schon für sein Alter war! Wenn Holger mit vierzehn Jahren genauso sein sollte, würde sie zufrieden sein. Aber vermutlich würde er nach wie vor schwierig bleiben. Viola unterdrückte einen Seufzer.

Denise erschien. Auch sie staunte über die geschmackvolle Anordnung der Einrichtung. »Dabei hatten wir das Haus abreißen wollen«, sagte sie aus ihren Gedanken heraus.

»Das wäre schade gewesen. Vielleicht könnten wir auch im nächsten Jahr wieder herkommen?«, fragte Viola impulsiv.

»Natürlich.« Denise betrat Holgers Zimmer, in das der Junge sich zurückgezogen hatte. Er machte ein bitterböses Gesicht wegen der Störung.

Dominik presste die Lippen zusammen, damit ihm kein unbedachtes Wort entschlüpfte.

Viola schloss wieder die Tür. »Holger ist oft recht schwierig«, bemerkte sie seufzend. »Ich weiß manchmal nicht mehr, wie ich mit ihm fertigwerden soll. Mein Mann hat zu wenig Zeit für den Jungen.«

»Hier in Sophienlust wird er sich schon ändern«, bemerkte Dominik überzeugt. »Jedes noch so schwierige Kind ist bei uns anders geworden.«

»Das wäre fein, obwohl ich nicht recht daran glaube.«

»Ich danke Ihnen, Frau Riedl, dass Sie uns das Haus gezeigt haben. Sollten Sie noch irgendetwas fürs Abendessen benötigen, brauchen Sie nur zu Magda zu gehen. Magda ist unsere Köchin.« Denise verabschiedete sich freundlich und verließ mit ihrem Sohn das Haus.

»Holger ist widerlich«, machte Nick seinem Herzen Luft. »Du wirst sehen, dass ich ihm bestimmt eines Tages eine Ohrfeige geben werde.«

»Aber, Nick, das kannst du doch nicht!«, ermahnte Denise ihn.

»Wenn er irgendetwas anstellt, was gemein ist, darf ich es doch.«

»Aber er wird nichts anstellen, Nick.«

»Wir werden es ja sehen. Bestimmt gibt es Schwierigkeiten mit ihm. Er scheint völlig aus der Art geschlagen zu sein. Seine beiden Schwestern sind so lieb, er aber …« Nick seufzte. »Nicht ärgern, Mutti, aber du kennst mich ja. Ich habe nun mal das Herz auf der Zunge und sage, was ich denke.«

»Ist schon gut, Nick. Kommst du heute mit nach Schoeneich?«

»Ja, Mutti, heute Abend komme ich mit.«

»Dann fahren wir am besten jetzt gleich nach Hause«, schlug Denise vor.

*

Sabine und Gabriele kehrten mit roten Wangen und leuchtenden Augen gegen Abend ins Gärtnerhaus zurück und konnten nicht genug erzählen von den Herrlichkeiten in dem Kinderheim.

Holger hörte seinen Schwestern mit einem mürrischen Gesicht zu. Er fühlte sich zurückgesetzt und ungerecht behandelt. Dass seine Mutter ihm Vorhaltungen wegen seines angeblich schlechten Benehmens diesem eingebildeten Dominik gegenüber gemacht hatte, kränkte ihn so sehr, dass ihm die Freude an allem vergangen war.

»Holger, bitte, rufe doch deinen Vater. Das Abendessen ist fertig.« Viola nickte ihrem Sohn aufmunternd zu, dann blickte sie sich mit einem glücklichen Lächeln in der Küche um.

Die schlimmste Arbeit hatte sie hinter sich. Morgen würden die beiden Frauen aus dem Dorf noch einmal kommen, um ihr beim Aufhängen der Vorhänge und anderen Arbeiten behilflich zu sein.

»Bini, Gaby, habt ihr euch schon die Hände gewaschen?«, fragte sie die beiden kleinen Mädchen, die mit seligen Augen auf der Fensterbank saßen und nicht genug von diesem Tag erzählen konnten.

»Ja, Mutti, im Kinderheim. Alle Kinder dort müssen sich vor dem Essen die Hände waschen«, sagte Gabriele und wiegte ihre rothaarige Puppe in den Armen. »Morgen nehmen wir unsere Puppenkinder mit, Mutti.«

»Ja, Mutti, wir dürfen unsere Puppen mitbringen«, erklärte Sabine glücklich. »Pünktchen, das ist das Mädchen mit den vielen lustigen Sommersprossen, hat eine schwarzhaarige Puppe, die fast genauso aussieht wie meine Sybille.«

Holger erschien wieder. »Vati kommt gleich«, erklärte er unfreundlich. »Ich will wieder nach Hause.«

»Geh, Holger, was ist denn in dich gefahren?« Viola schüttelte den Kopf. »Du konntest es doch zuerst gar nicht erwarten, für einige Monate aufs Land zu ziehen. Und jetzt?« Sie schüttelte den Kopf.

»Ich mag den schwarzhaarigen großen Jungen nicht.«

»Nick!«, rief Sabine. »Oh, ich mag ihn sehr. Wenn Pünktchen ihn nicht schon heiraten wollte, würde ich ihn bestimmt heiraten.«

»Du bist eine dumme Gans!« Holger kannte sich nicht mehr vor Wut.

»Und du bist …« Sabine ging auf ihren Bruder los.

»Was ist denn hier los!«, rief Norbert Riedl ärgerlich. »Müsst ihr euch denn immer zanken? Holger, du bist doch der Älteste und solltest vernünftiger sein.«

»Immer ich«, maulte der Junge und lief beleidigt davon.

»Lass ihn nur, Norbert«, bat Viola. »Er hat wieder einmal seine schwierige Zeit. Dabei hat er mir heute so rührend geholfen.«

»Ich werde ihn mir mal bei Gelegenheit vornehmen. Was gibt’s denn zu essen?« Norbert Riedl schnupperte wie ein Hund und sagte dann: »Ich hab’s, Viola. Es gibt Bratkartoffeln mit Speck und Eiern.«

»Erraten, Norbert. Du, schau mal in den Wohnraum. Er ist bis auf die Vorhänge fertig. Wie gefällt er dir?« Voller Stolz öffnete sie die Tür.

»Das hast du wunderschön gemacht. Darum rede ich dir ja auch niemals hinein. Weißt du was, Viola, wir entzünden heute Abend das Holz im Kamin. Dazu trinken wir eine Flasche Wein.«

»Dürfen wir auch aufbleiben?«, fragte Sabine, die ihren Eltern gefolgt war.

»Was denkt ihr euch denn?« Norbert sah seine beiden Töchter an. »Ihr geht sofort nach dem Abendessen ins Bett. Schließlich seid ihr noch klein.

So, und nun habe ich einen Mordshunger, Viola. Können wir essen?«

Sophienlust Classic 42 – Familienroman

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