Читать книгу Wir halten die Stille nicht aus - Jules Mitzy - Страница 3
ОглавлениеWir halten die Stille nicht aus
Wir sind Kinder der Technik, des WiFi und der schnurlosen Telefone. Wir kommunizieren lieber über Whatsapp als persönlich und egal, ob Tag oder Nacht ist, einer unserer vielen Facebook-Freunde hat immer Zeit. Wir bedienen Pads und Phones nicht mehr per Tastendruck, sondern über den Touchscreen. Keyboards sind out, das weiß doch jedes kleine Kind. Wir schießen hundert Selfies, hashtaggen alles, was uns über den Weg hüpft und zählen die gesammelten Likes wie andere das Kleingeld an der Kasse.
Wenn wir ausgehen und uns mit Freunden treffen, heißt das, dass wir im Grunde mit all unseren Freunden weggehen, denn wir geben an, wo wir sind, verlinken, mit wem wir unterwegs sind und lassen lieber die Welt an unserem Leben teilhaben als unser direktes Gegenüber.
Wir lachen und weinen mit kleinen, gelben Smileyfaces. Wir fotografieren alles und jeden. Ziel ist es, der Erste, Lustigste, Interessanteste, Hübscheste […] und vor allem meist Ge’Like’te zu sein.
Wir fühlen uns einsam und wissen nichts mit uns anzufangen, wenn wir alleine sind. Wieso ist das so? Haben wir vergessen, wer wir sind, wo unsere Stärken liegen und wie wir an Ideen kommen? Und wenn man es genau nimmt, sind wir eigentlich wirklich ganz alleine, wenn das Handy trotzdem noch dabei ist?
Kein Empfang, keine Ahnung, was so abgeht! Kein Anschluss an die Gesellschaft. Ausgegrenzt. Aus der Mode. Nicht up to date. Unwissend.
Wir trinken am meisten und bereuen am Wenigsten. Wir stellen alles online. Wir schreiben Dinge, die wir nie sagen würden. Wir leben zweimal. Wir leben echt und interaktiv. Manche von uns leben nur noch interaktiv. Wir lassen uns öffentlich über das News Feed trösten, beschweren uns, streiten, beschimpfen einander, aber wenn auf der Straße jemand laut seine Meinung loslässt, ist das asozial. So etwas macht man heute nicht mehr. Das kann man ja in einer persönlichen Nachricht klären, nicht auf offener Straße. Das geht die Öffentlichkeit schließlich nichts an.
Die Öffentlichkeit? Wer oder was genau ist das eigentlich? Ist Facebook öffentlich oder geschlossen? Existiert es im realen Leben und ist unser Leben überhaupt noch real? Übertreiben wir es und wenn ja in welche Richtung? Mit der Nachlässigkeit im echten Leben oder dem Hang zum Extremum in der interaktiven Welt?
Wir überprüfen uns gegenseitig, werden wütend ohne Grund, weil unsere Freunde die Nachricht gelesen haben, aber nicht antworten. Wir stalken einander, aber nur interaktiv. Wir wollen wissen, wer der neue heiße Kerl an der Uni ist oder die nette Bedienung im Café nebenan. Wir bekommen Handynummern ohne zu fragen. Wir händigen unsere Daten freiwillig aus, warum also rumheulen, wenn ein paar Datenträger verloren gehen oder illegal verkauft werden? Facebook hat doch sicher eine Kopie.
Wir tätowieren unsere Gesichter, aber wir leben den Moment. We only live once! Das ist unser Motto. Also tun wir alles, was Spaß macht und dabei ist es ganz egal, ob es peinlich ist, wir es später bereuen oder nicht.
Wir gehen Beziehungen ein und unsere Freunde können dazu kommentieren, was sie davon halten. Wir führen auch Rosenkriege vor allen anderen, aber das ist ja nur auf Facebook. Facebook ist ja schließlich privat und geschlossen oder etwa doch nicht?
Wir ändern unsere Namen, weil wir nicht wollen, dass (potentielle) Arbeitgeber oder Menschen, die wir nicht mögen, uns finden. Wieso machen wir das eigentlich? Ist doch egal, was wir in der interaktiven Welt tun und lassen. Ist ja nicht das reale Leben. Im realen Leben sind wir entweder ordentlich und langweilig oder crazy und übertrieben und das auch nur, um die Bilder davon anschließend posten zu können, damit unser virtuelles Ich nicht so langweilig ist wie unser reales.
Ja, wir sind richtig gut darin, uns eine, zwei oder drei weitere Identitäten aufzubauen. Wenn also jemand ein Cyber-Verbrechen begeht, sollte die Polizei dann nicht lieber nach der interaktiven Persönlichkeit suchen, wenn diese offensichtlich gefährlicher ist als die reale Version?
Fragen über Fragen.
Was würden wir eigentlich machen, wenn plötzlich der Strom ausfiele? Wir verzweifeln ja schon, wenn wir eine Minute mal kein Internetempfang haben. Ich meine, wer verständigt sich heute noch gerne per SMS? Aber ganz ohne Telefon und Internet?
Wahrscheinlich würden wir uns wie die Affen benehmen. Wir würden einen Stift falsch herum in die Hand nehmen und uns fragen, wozu dieser da wäre. Ganz zu schweigen davon, was wir mit dem Papier machen würden. Und da die Mehrheit wahrscheinlich sowieso schon vergessen hat, wie man (grammatikfehlerfrei) einen Brief schreibt, denn die Autokorrektur funktioniert da eben nicht, fiele diese Option wohl weg.
Blieben noch Rauchzeichen übrig. Nun, angenommen der Strom würde im Winter ausfallen, könnten wir somit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ein Feuer müssten wir wohl sowieso machen, weil es ohne zu kalt wäre. Dann könnten wir dies ja auch zur Kommunikation nutzen.
Aber sicher wird das sowieso nie passieren, also wieso jetzt schon über mögliche Folgen nachdenken, wenn der Ernstfall noch nicht einmal eingetreten ist? Ja, das ist doch bereits unsere Einstellung. Vergessen wir das Briefe schreiben und die Rauchzeichen und setzen uns wieder vor den Bildschirm.
Es hat ja auch etwas Gutes, dieses Internet. Mittlerweile haben wir alle Freunde auf der ganzen Welt, sind aufgeklärter und kommen auch an so ziemlich alles, selbst wenn es in Timbuktu hergestellt wird. Wir planen unser Leben mit einem kleinen Smartphone, das schlauer ist als wir. Aber wehe, der Akku ist mal leer. Na dann (wortwörtlich) gute Nacht.
Wenn wir unterwegs sind, hören wir Musik, die durch Kabel in unsere Ohren fliest, wenn wir nicht sogar schon ein kabelloses Headset besitzen. Wir lachen, weil einer unserer Freunde uns ein lustiges Foto geschickt hat und nicht, weil das Telefongespräch unseres Sitznachbarn in der Bahn so interessant ist.
Wir erfahren die Nachrichten schneller, als sie gedruckt werden. Genauso verbreiten wir auch welche. Egal ob wahr oder erfunden, was wir posten, geht schneller um die Welt als eine Bombendrohung von Al Qaida das Weiße Haus erschüttern kann.
Wir wollen das Beste, Schönste, Größte, Tollste, Ausgefallenste in unserem Leben erreichen, aber wir verschwenden Zeit damit, anderen zuzuschauen, wie sie es machen.
Dabei meinen wir, dass wir Zeit sparen, denn heute können wir uns mit Freunden verabreden, ohne uns vom Sofa herunter zu bewegen. Treffen auf Skype um drei, dann um fünf ein Gruppenchat auf Facebook und wenn es nebenher noch reinpasst, etwas Smalltalk auf Whatsapp. Wir lieben die Bequemlichkeit und sind trotzdem im Stress, weil uns ein weiteres Gehirn und ein paar mehr Hände fehlen, um all die elektronischen Gegenstände zu bedienen, die in unser Leben involviert sind.
Wir wären verloren ohne Google Maps. Wir würden unsere Klausuren nicht bestehen ohne die reguläre Suchfunktion derselben Maschine. Wir wären zu Tode gelangweilt auf langen Fahrten ohne die kleinen bunten Apps und Spielchen und elektronischen Bücher und Musikbibliotheken.
Ja, Dinge haben andere Formen angenommen. Früher haben wir mit der Familie Spieleabende veranstaltet und saßen alle um einen Tisch mit einem Brettspiel in der Mitte. Heute vernetzen wir uns online und kennen den Großteil unserer Mitspieler nicht einmal persönlich. Bücher sind flach, man kann sie nicht mehr blättern und sie leuchten im Dunkeln. Ein Discman, was ist das? Nie von gehört.
Wir erzählen keine Witze mehr, wir lachen über peinliche Bilder anderer.
Wir rauchen Weed, nehmen Tabletten, von deren Inhaltsstoffen wir nicht mal gehört haben, wollen immer noch schlank sein, obwohl wir schon magersüchtig sind, weil irgendwer es auch gemacht hat und das von so vielen geliked wurde, dass es ja cool sein muss.
Wir brauchen mehr, immer mehr. Unser Adrenalin muss besser, flüssiger und schneller fließen als das der anderen.
Wir bearbeiten unsere Fotos, bis wir gar nicht mehr wie wir selbst aussehen. Wir checken unsere Smartphones nach neuen Nachrichten, Infos, Statusmeldungen anderer und danach, wie viele unseren eigenen Status mögen. Wir schauen nicht, wohin wir gehen, weil wir auf der virtuellen Karte verfolgen, wo unsere Freunde gerade unterwegs sind.
Wir sind immer kurz angebunden in der realen Welt, obwohl wir in der virtuellen immer an der Strippe hängen. Wir kennen Nachrichtenabkürzungen aus aller Herren Länder, aber nicht den Text unserer eigenen Nationalhymne.
Wir betreiben Online Banking, Online Shopping, Online Dating. Wir führen ein Online Leben, ganz egal ob das reale dabei etwas aus der Bahn gerät oder nicht.
Wir brauchen Empfang, Anschluss und regelmäßige Updates. Wir nutzen lieber entworfene Vorlagen als dass wir uns die Mühe machen, uns hinzusetzen und selbst einmal kreativ zu werden. Wir wollen individuell sein, einzigartig, besser, schöner, toller als der Rest, aber wir machen alle das gleiche: posten, herumrennen für das nächste Foto, tausendmal fakelächeln bis ein perfektes Bild dabei ist, posten, warten auf die Reaktionen anderer.
Wenn wir nicht genug Bilder hochgeladen haben, sind wir niemand. Wir müssen crazy sein, immer und überall. Wir klettern die Laterne hoch, weil es lustig ist, hängen die Schuhe des Klassennerds über die Stromleitung, weil es noch lustiger ist, stellen uns in lebensgefährliche Nähe an den Abgrund, weil es geil und beneidenswert ist, geben Geld aus für Sachen, die wir eigentlich nie machen würden, von denen wir aber wissen, dass andere diese toll finden und sicher blass werden vor Neid, wenn sie sehen, dass wir sie gemacht haben.
Wir sind genervt, wenn das Internet nicht geht oder wir das Ladekabel daheim vergessen haben und der Bekannte kein IPhone hat, wie altmodisch.
Ja, alle, die nicht so sind wie wir, sind altmodisch. Wer bitte ist heute noch nicht bei Facbook, Skype, Twitter, Instagram und Co? Wir treffen uns nicht mehr auf dem Spielplatz nach der Schule. Wir treffen uns im Internet. Wir winken uns über den Bildschirm. Es gibt auch kein richtiges Hallo und auf Wiedersehen mehr, wir sind ja sowieso immer und überall erreichbar.
Und wenn einmal doch nicht, ja dann verzweifeln wir, denn wir halten die Stille nicht aus.