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Zweites Kapitel – Auge in Auge

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Zehn Mi­nu­ten spä­ter ver­ließ ein leich­tes Boot, eine Gig, die Sa­co­le­ve und führ­te nach dem Fuß des Mo­los ohne jede Beglei­tung und ohne Waf­fen den Mann, vor dem die Vi­ty­li­ner so schnell den Rück­zug an­ge­tre­ten hat­ten.

Es war der Ka­pi­tän der »Ka­rys­ta« – so nann­te sich das klei­ne Fahr­zeug, wel­ches eben im Ha­fen vor An­ker ge­gan­gen war.

Un­ter der di­cken See­manns­müt­ze zeig­te die­ser nur mit­tel­große Mann eine hohe stol­ze Stirn und in den grau­sa­men Au­gen einen höchst ent­schlos­se­nen Blick. Über sei­ne Ober­lip­pe lief der Kle­ph­te-Schnurr­bart waa­ge­recht nicht in Spit­zen, son­dern in star­ken Haar­bü­scheln aus. Sei­ne Brust war breit, sei­ne Glie­der mus­ku­lös. In Lo­cken fie­len ihm die schwar­zen Haa­re auf die Schul­tern. Wenn er fünf­und­drei­ßig Jah­re über­schrit­ten hat­te, konn­te das nur um we­ni­ge Mo­na­te sein. Aber sein durch Son­ne und Wind ge­bräun­ter Teint, die Här­te sei­ner Züge und eine Fal­te auf der Stirn, die wie eine Fur­che ver­tieft er­schi­en, in der kein gu­ter Sa­men kei­men konn­te, ließ ihn ent­schie­den äl­ter er­schei­nen, als er in der Tat war.

Was die Klei­dung an­geht, die er eben trug, so be­stand die­se we­der aus der Wes­te, noch dem Brust­latz oder der Fu­sta­nel­la des Pa­li­ka­ren. Der Kaftan, die Ka­pu­ze von brau­ner Far­be, wel­che we­nig her­vor­tre­tend ge­stickt war, die grün­li­chen Bein­klei­der mit den wei­ten Fal­ten, wel­che sich in hohe Stie­fel ver­lo­ren, er­in­ner­ten weit eher an die Tracht ei­nes See­man­nes aus den Bar­ba­res­ken­staa­ten.

Den­noch war Ni­ko­las Star­kos wirk­lich von Ge­burt ein Grie­che und ein Ein­ge­bo­re­ner des Ha­fens von Vi­ty­lo. Hier hat­te er sei­ne ers­ten Ju­gend­jah­re ver­bracht. Als Kind und als Jüng­ling hat­te er zwi­schen die­sen Fels­ge­bil­den den An­blick des Mee­res lie­ben ge­lernt. Auf die­sen Ge­wäs­sern war er, eine Beu­te des Win­des und der Strö­mun­gen, so viel um­her­ge­fah­ren. Hier gab es kei­ne Ein­buch­tun­gen, de­ren Was­ser­tie­fe und Lan­dungs­plät­ze er nicht ge­kannt hät­te; kein Riff, kei­nen Grund, kei­nen Un­ter­was­ser­fel­sen, des­sen Lage ihm ver­bor­gen ge­blie­ben wäre; kei­ne Win­dung des Kanals, wel­che er selbst ohne Lot­sen und ohne Kom­pass nicht hät­te in Si­cher­heit be­fah­ren kön­nen. Das er­klärt denn auch leicht, warum er trotz der falschen Si­gna­le sei­ner Lands­leu­te die Sa­co­le­ve im­mer hat­te mit ru­hi­ger Hand lei­ten kön­nen. Da­ne­ben wuss­te er, wie we­nig den Vi­ty­li­nern Ver­trau­en zu schen­ken war. Er hat­te sie schon gar zu oft in Tä­tig­keit ge­se­hen. Und im Grun­de miss­bil­lig­te er viel­leicht nicht ein­mal ihre räu­be­ri­schen Ge­wohn­hei­ten, we­nigs­tens so­bald er per­sön­lich ge­si­chert war, nicht da­von zu lei­den.

Doch wenn Ni­co­las Star­kos sei­ne Leu­te kann­te, so war er nicht min­der bei ih­nen be­kannt. Nach dem Tod sei­nes Va­ters, der un­ter den tau­sen­den von Op­fern fiel, wel­che die Grau­sam­keit der Tür­ken hin­schlach­te­te, lechz­te sei­ne von Ra­che er­füll­te Mut­ter nur nach der Stun­de, wo sie sich bei der ers­ten Er­he­bung ge­gen das tür­ki­sche Joch auf­leh­nen konn­te. Er selbst hat­te Ma­gne mit acht­zehn Jah­ren ver­las­sen, um zur See zu ge­hen, wo­bei er vor­züg­lich im Archi­pel um­her­fuhr, und sich da­bei nicht al­lein zum vor­treff­li­chen See­mann, son­dern auch in dem Hand­werk des Räu­bers aus­bil­de­te.

Nie­mand hät­te wohl zu sa­gen ver­mocht, an Bord wie vie­ler Schif­fe er seit­dem ge­dient, wel­che Fli­bus­tier- oder See­räu­ber­füh­rer ihn un­ter ih­rem Be­fehl ge­habt, un­ter wel­cher Flag­ge er zu­erst ge­kämpft, wie viel Blut sei­ne Hand schon ver­gos­sen, Blut der Fein­de Grie­chen­lands eben­so wie sol­ches sei­ner Ver­tei­di­ger – das­sel­be, wel­ches auch in sei­nen Adern roll­te. Wie­der­holt hat­te man ihn schon in ver­schie­de­nen Hä­fen des Bu­sens von Co­ron ge­se­hen. Man­che sei­ner Lands­leu­te hät­ten wohl ver­schie­de­ne Groß­ta­ten von ihm be­rich­ten kön­nen, wenn er sich mit ih­nen ver­bün­det hat­te, Han­dels­schif­fe zu über­fal­len und zu ver­nich­ten, um die rei­che Beu­te mit ih­nen zu tei­len. Den­noch um­gab den Na­men Ni­co­las Star­kos ein ge­wis­ses Ge­heim­nis. Je­den­falls war er aber in den Pro­vin­zen von Ma­gne so be­kannt, dass sich alle vor sei­nem Na­men ver­neig­ten.

Da­mit er­klär­te sich auch der Empfang, den die­ser Mann bei den Be­woh­nern von Vi­ty­lo fand, eben­so der Um­stand, dass schon sei­ne An­we­sen­heit ge­nüg­te, alle auf die ge­plan­te Plün­de­rung ver­zich­ten zu las­sen, so­bald sie nur er­kannt hat­ten, wer die Sa­co­le­ve be­feh­lig­te.

So­bald der Ka­pi­tän der »Ka­rys­ta« ein we­nig hin­ter dem Quai den Ha­fen be­tre­ten hat­te, bil­de­ten die zu sei­nem Empfang her­bei­ge­lau­fe­nen Män­ner und Frau­en ehr­er­bie­tig eine Ket­te, um ihn hin­durch­zu­las­sen. Als er ans Land stieg, wur­de kein Aus­ruf laut. Es schi­en, als ob Ni­co­las Star­kos hier einen hin­rei­chen­den Ein­fluss aus­üb­te, um an­de­ren schon durch sein Er­schei­nen Ruhe zu ge­bie­ten. Die Leu­te war­te­ten, bis er spre­chen wür­de, und wenn das – wie wahr­schein­lich – nicht der Fall war, hät­te sich ge­wiss nie­mand er­laubt, ein Wort an ihn zu rich­ten.

Nach­dem Ni­co­las Star­kos sei­nen Ma­tro­sen der Gig be­foh­len, an Bord zu­rück­zu­keh­ren, be­gab er sich nach dem Win­kel, den der Quai im Hin­ter­grund des Ha­fens bil­de­te. Kaum hat­te er aber zwan­zig Schrit­te in die­ser Rich­tung ge­tan, als er plötz­lich ste­hen­blieb. Dann wand­te er sich an den al­ten See­mann, der ihm nach­folg­te, als er­war­te er von ihm noch ir­gend­wel­che Be­feh­le.

»Goz­zo«, be­gann er, »ich wer­de noch zehn kräf­ti­ge Bur­schen brau­chen, um mei­ne Be­sat­zung zu ver­voll­stän­di­gen.«

»Du wirst sie ha­ben, Ni­co­las Star­kos«, ant­wor­te­te Goz­zo.

Hät­te der Ka­pi­tän der »Ka­rys­ta« hun­dert zur Aus­wahl un­ter der see­fah­ren­den Be­völ­ke­rung des Or­tes ver­langt, so wür­de er die­se auch ge­fun­den ha­ben. Und die­se hun­dert Mann wür­den, ohne zu for­schen, wo­hin sie ge­führt wür­den, wozu sie be­stimmt sei­en, für wes­sen Rech­nung sie fah­ren oder kämp­fen soll­ten, ih­rem Lands­mann ge­folgt sein, be­reit, sein Los zu tei­len, da sie recht gut wuss­ten, dass ih­nen auf die eine oder die an­de­re Wei­se dar­aus zu­letzt Vor­teil ent­sprin­gen müs­se.

»Jene zehn Mann«, fuhr der Ka­pi­tän der »Ka­rys­ta« fort, müs­sen bin­nen ei­ner Stun­de an Bord sein.

»Sie wer­den da sein«, ver­si­cher­te Goz­zo.

Ni­co­las Star­kos deu­te­te ihm durch eine Hand­be­we­gung an, dass er sei­ne Beglei­tung nicht wei­ter wün­sche, ging längs des Quais, der sich an den Molo an­schloss, wei­ter und ver­schwand in ei­ner der en­gen, am Ha­fen mün­den­den Stra­ßen.

Der alte Goz­zo kehr­te, sei­nem Wil­len ge­hor­chend, zu den Ge­fähr­ten zu­rück und ging so­fort dar­an, die zehn Bur­schen aus­zu­wäh­len, wel­che die Mann­schaft der Sa­co­le­ve zu ver­meh­ren be­stimmt wa­ren.

In­zwi­schen klomm Ni­co­las Star­kos im­mer hö­her den Ab­hang des stei­len Ufers em­por, auf dem der Fle­cken Vi­ty­lo er­baut ist. Hier oben hör­te man wei­ter nichts als das Ge­bell der wil­den Hun­de, wel­che den Rei­sen­den oft nicht we­ni­ger ge­fähr­lich sind als die Scha­ka­le und Wöl­fe, Hun­de mit ge­wal­ti­gem Ge­biss und dem brei­ten Ge­sicht der Dog­ge, die vor kei­nem Stock zu­rück­wei­chen. Mit lang­sa­mem Schla­ge der lan­gen Flü­gel flat­ter­ten noch ei­ni­ge Seemö­wen um­her, wel­che ihre Schlupf­win­kel am Strand auf­such­ten. Bald hat­te Ni­co­las Star­kos die letz­ten Häu­ser von Vi­ty­lo hin­ter sich ge­las­sen. Er schlug jetzt den be­schwer­li­chen Fuß­pfad ein, der um die Akro­po­lis von Ke­ra­pha her­um­führt. Nach­her kam er an den Rui­nen ei­ner Be­fes­ti­gung vor­über, wel­che hier zu je­ner Zeit von Vil­le-Har­douin an­ge­legt wor­den war, als die Kreuz­fah­rer ver­schie­de­ne Punk­te des Pe­lo­pon­nes be­setzt hiel­ten, und dann um­schritt er noch den Fuß ei­ni­ger al­ter Tür­me, die sich noch jetzt hier auf dem Fel­se­nu­fer er­he­ben. Bei die­sen blieb er ste­hen und wen­de­te sich zu ei­nem Rück­blick um.

Am Ho­ri­zont, jen­seits des Kap Gal­lo, neig­te sich der zu­neh­men­de Mond sei­nem Un­ter­gang im Io­ni­schen Meer zu. Da und dort flamm­ten ei­ni­ge Ster­ne durch die zer­ris­se­nen Wol­ken, wel­che der fri­sche Abend­wind über den Him­mel jag­te. Wenn die­ser ein­mal nachließ, herrsch­te To­ten­stil­le rings um die Zi­ta­del­le. Zwei oder drei kaum sicht­ba­re klei­ne Fahr­zeu­ge durch­furch­ten das Was­ser im Golf, nä­her­ten sich Co­ron oder wen­de­ten sich Kala­ma­ta zu. Ohne die La­ter­nen, wel­che an ih­rer Mast­spit­ze leuch­te­ten, hät­te man die­sel­ben viel­leicht kaum er­ken­nen kön­nen. An an­de­ren Punk­ten der Küs­te brann­ten sie­ben bis acht Feu­er, wel­che sich im Meer zit­ternd wie­der­spie­gel­ten. Wa­ren dies Licht von Fi­scher­fahr­zeu­gen oder sol­che in Woh­nun­gen am Strand? Das hät­te man schwer­lich un­ter­schei­den kön­nen.

Ni­co­las Star­kos ließ den schon an die Dun­kel­heit ge­wohn­ten Blick über die un­ge­heu­re Flä­che schwei­fen. Das Auge des See­manns hat oft eine un­be­greif­li­che Schär­fe und ge­stat­tet ihm da noch et­was zu un­ter­schei­den, wo an­de­re gar nichts se­hen wür­den. Im jet­zi­gen Au­gen­blick schi­en es aber nicht, als ob die Au­ßen­welt den Ka­pi­tän der »Ka­rys­ta«, der ja in sei­nem Le­ben so vie­les ge­se­hen hat­te, be­son­ders in­ter­es­sie­ren könn­te. Er saug­te die Luft der Hei­mat, gleich­sam den Atem des Lan­des, fast un­be­wusst ein. So stand er un­be­weg­lich, nach­sin­nend mit ge­kreuz­ten Ar­men da und hielt auch den Kopf, von dem jetzt die Ka­pu­ze zu­rück­ge­schla­gen war, still, als wär er aus Stein ge­mei­ßelt.

So ver­ging etwa eine Vier­tel­stun­de. Im­mer hat­te Ni­co­las Star­kos den West­him­mel be­ob­ach­tet, den ein fer­ner Mee­res­ho­ri­zont be­grenz­te. Dann tat er ei­ni­ge Schrit­te wei­ter das Fel­se­nu­fer hin­auf. Es war nicht Zu­fall, dass er so zö­ger­te. Ihn er­füll­te ein ge­hei­mer Ge­dan­ke, und wer ihn ge­se­hen, hät­te viel­leicht ge­sagt, dass er noch zu er­ken­nen ver­mei­de, was er hier auf der An­hö­he hin­ter Vi­ty­lo ei­gent­lich auf­zu­su­chen ge­kom­men war.

Es gibt kaum einen öde­ren An­blick, als die­se Küs­te vom Kap Ma­ta­pan bis zum äu­ßers­ten Hin­ter­grund des Golfs. Hier wuch­sen we­der Oran­gen-, noch Zitro­nen­bäu­me, we­der wil­de Ro­sen, noch Lor­beer, kein Jas­min von Ar­go­lis, kei­ne Fei­gen, kei­ne Erd- oder Maul­beer­bäu­me, nichts was ge­wis­sen Ge­gen­den von Grie­chen­land den An­blick ei­ner so üp­pi­gen, rei­chen Land­schaft ver­leiht. Hier er­hob sich kei­ne grü­ne Ei­che, kei­ne Pla­ta­ne, kein Gra­nat­baum, der sich vom dunk­le­ren Hin­ter­grund der Zy­pres­sen und Ze­dern ab­hob. Über­all nur Fel­sen, wel­che jede Er­schüt­te­rung die­ser vul­ka­ni­schen Ge­bie­te leicht in das Was­ser des Gol­fes stür­zen konn­te. Über­all herrsch­te auf die­sem wil­den Bo­den von Ma­gne eine trost­lo­se Dür­re, so­dass die­ser nicht ein­mal sei­ne dünn ge­sä­te Be­völ­ke­rung zu er­näh­ren ver­moch­te. Kaum stan­den hier ein­zel­ne ver­küm­mer­te Pi­ni­en, wel­che halb ab­ge­stor­ben aus­sa­hen, weil man ih­nen das Harz ge­raubt, und de­ren Saft ver­siegt war, wie die tie­fen Ris­se der Stamm­rin­de zeig­ten. Da und dort ein ma­ge­rer Kak­tus mit schar­fen Sta­cheln, des­sen Blät­ter mehr klei­nen, halb ge­scho­re­nen Igeln gli­chen. Nir­gends end­lich fand sich, we­der an den ver­krüp­pel­ten Sträu­chern noch auf dem Bo­den, der mehr aus Kie­sel­stei­nen als aus nahr­haf­ter Erde be­stand, et­was, um die Zie­gen zu er­näh­ren, wel­che doch mit dem ärm­lichs­ten Fut­ter vor­lieb zu neh­men pfle­gen.

Nach­dem er zwan­zig Schrit­te vor­wärts ge­tan, blieb Ni­co­las Star­kos von Neu­em ste­hen. Dann wand­te er sich nach Nord­os­ten, da­hin, wo der ent­fern­te Gip­fel des Tay­ge­tos sei­ne Um­ris­se von dem min­der dunklen Grun­de des Him­mels ab­hob. Ein oder zwei Ster­ne, wel­che um die­se Zeit auf­gin­gen, schie­nen am Rand des Ho­ri­zon­tes, wie zwei leuch­ten­de Punk­te, auf dem­sel­ben zu la­gern.

Ni­co­las Star­kos war re­gungs­los ste­hen­ge­blie­ben. Er er­blick­te jetzt ein klei­nes, nied­ri­ges, aus Holz er­bau­tes Haus, das etwa fünf­zig Schrit­te von ihm in ei­ner Aus­buch­tung des Fels­ge­bir­ges ver­bor­gen lag.

Es war eine be­schei­de­ne Wohn­stät­te, ver­ein­zelt über dem Fle­cken lie­gend, zu der man nur auf stei­lem Fuß­we­ge ge­lang­te und wel­che we­ni­ge halb ent­laub­te Bäu­me, so­wie eine Dor­nen­he­cke um­ga­ben. Die­se Woh­nung er­schi­en auf den ers­ten Blick als schon lan­ge ver­ödet. Die He­cke war in schlech­tem Zu­stan­de, hier bu­schig ver­wach­sen, dort wie­der durch­bro­chen, und bil­de­te so einen sehr un­zu­rei­chen­den Schutz; Hun­de und Scha­ka­le, wel­che zu­wei­len die­se Ge­gend durch­streif­ten, hat­ten wie­der­holt die­sen ver­las­se­nen Win­kel des ma­nia­ti­schen Bo­dens ver­wüs­tet. Gro­be Kräu­ter und Busch­werk wa­ren das ein­zi­ge, was die Na­tur hier da und dort ver­streut hat­te, nach­dem die Hand des Men­schen sich nicht mehr zur Pfle­ge des Or­tes reg­te.

Wa­rum war der­sel­be aber so ver­las­sen? Nun, der Be­sit­zer die­ses Fleck­chens hat­te schon vor lan­gen Jah­ren die Au­gen ge­schlos­sen. Sei­ne Wit­we, An­dro­ni­ka Star­kos, ver­ließ spä­ter das Land, um sich je­nen to­des­mu­ti­gen Frau­en an­zu­schlie­ßen, wel­che sich im grie­chi­schen Un­ab­hän­gig­keits­krie­ge so rühm­lich her­vor­ta­ten. Da­her kam es auch, dass der Sohn, seit­dem er das Haus ver­las­sen, nie­mals wie­der den Fuß über die vä­ter­li­che Schwel­le ge­setzt hat­te.

Hier war Ni­co­las Star­kos ge­bo­ren, und hier ver­lie­fen die ers­ten Jah­re sei­ner Kind­heit. Sein Va­ter hat­te sich nach lan­gem eh­ren­vol­len Le­ben als See­mann nach die­ser Frei­statt zu­rück­ge­zo­gen, ver­mied aber gern jede Berüh­rung mit der Ein­woh­ner­schaft von Vi­ty­lo, de­ren wil­de Sit­ten ihm ein Gräu­el wa­ren. Et­was ge­bil­de­ter und mit mehr Ver­ständ­nis für die An­nehm­lich­kei­ten des Le­bens, hat­te er sich mit Weib und Kind hier eine freund­li­che Exis­tenz ge­grün­det. So leb­te er in die­sem Schlupf­win­kel ru­hig und un­be­ach­tet, bis er ei­nes Ta­ges, von auf­flam­men­dem Zorn über­mannt, sich der Be­drückung sei­tens der tür­ki­schen Be­hör­den wi­der­setz­te und sei­nen Wi­der­stand mit dem Le­ben be­zah­len muss­te. Den tür­ki­schen Agen­ten konn­te eben nie­mand ent­ge­hen, nicht ein­mal im ent­fern­tes­ten Win­kel der Halb­in­sel.

Als der Va­ter nicht mehr da war, sei­nen Sohn zu lei­ten, wur­de es der Mut­ter völ­lig un­mög­lich, ihn zu zü­geln. Ni­co­las Star­kos ent­wich aus dem Hau­se, um zur See zu ge­hen, und stell­te sei­ne ihm an­ge­bo­re­nen gu­ten An­la­gen zum See­mann der See­räu­be­rei und den Schur­ken, wel­che sie be­trie­ben, zur Ver­fü­gung.

Seit zehn Jah­ren hat­te nun der Sohn das Haus ver­las­sen; vor sechs Jah­ren war ihm sei­ne Mut­ter nach­ge­folgt. In der Um­ge­gend be­haup­te­te man je­doch, dass An­dro­ni­ka zu­wei­len hier an­we­send sei. Man hat­te sie we­nigs­tens zu be­mer­ken ge­glaubt, wenn auch nur in lan­gen Zwi­schen­räu­men und auf kur­ze Zeit, wäh­rend sie da­bei auch ver­mie­den hat­te, mit je­mand aus dem Ort zu­sam­men­zu­tref­fen.

Ni­co­las Star­kos hat­te, ob­gleich er im Ver­lauf sei­ner Fahr­ten schon ein oder zwei­mal nach Ma­gne zu­rück­ge­kehrt war, doch nie­mals Sehn­sucht emp­fun­den, die be­schei­de­ne Woh­nung auf dem Fel­sen auf­zu­su­chen. Nie such­te er von sei­ner Mut­ter zu er­fah­ren, ob sie noch dann und wann nach dem ver­las­se­nen Heim zu­rück­keh­re. Wäh­rend der furcht­ba­ren Kämp­fe, wel­che zu je­ner Zeit Grie­chen­land zer­fleisch­ten, hat­te er aber ge­wiss den Na­men An­dro­ni­ka ge­hört – einen Na­men, der ihn hät­te mit Ge­wis­sens­bis­sen er­fül­len müs­sen, wenn sein Ge­wis­sen nicht eben schon ver­här­tet oder ganz ab­ge­tö­tet ge­we­sen wäre.

Als Ni­co­las Star­kos aber heu­te in den Ha­fen von Vi­ty­lo an­ge­lau­fen war, ge­sch­ah das nicht al­lein mit der Ab­sicht, die Be­sat­zung der Sa­co­le­ve durch zehn Mann zu ver­stär­ken. Ein Wunsch – mehr als ein Wunsch – ein un­wi­der­steh­li­ches Ver­lan­gen, von dem er sich selbst kaum Rech­nung gab, hat­te ihn hier­her ge­trie­ben.

Er fühl­te das Be­dürf­nis, noch ein­mal, wahr­schein­lich zum letz­ten Male, das Va­ter­haus wie­der­zu­se­hen, noch ein­mal den Bo­den mit dem Fuß zu be­rüh­ren, auf dem er die ers­ten Schrit­te, noch ein­mal die Luft je­ner Mau­ern zu at­men, zwi­schen de­nen er den ers­ten Atem­zug ge­tan und wo er die ers­ten kind­li­chen Wor­te gel­allt hat­te. Des­halb al­lein klomm er hier den stei­len Pfad em­por, des­halb be­fand er sich zu die­ser Stun­de hier vor der Bar­rie­re der klei­nen Um­zäu­nung.

Hier über­fiel ihn ein merk­wür­di­ges Zö­gern. Es gibt ja kein so ver­här­te­tes Herz, das nicht lau­ter klopf­te, wenn in ihm lie­be Bil­der der Ver­gan­gen­heit er­wa­chen. Kei­ner wird ge­bo­ren, der an die Stel­le sei­ner Ge­burt, an die, wo ihn die Mut­ter ge­wiegt, nicht eine dau­ern­de An­häng­lich­keit emp­fän­de. Die Ner­ven kei­nes Ge­schöpfs kön­nen so für je­des Ge­fühl er­lah­men, dass sie nicht zit­ter­ten, wenn eine sol­che Erin­ne­rung sie er­re­gen.

Ganz eben­so ging es Ni­co­las Star­kos, als er vor der Schwel­le des ver­las­se­nen Hau­ses stand, das so düs­ter, so schwei­gend, so to­ten­still im In­ne­ren und im Äu­ße­ren vor ihm lag.

»Hin­ein! … Ja! … Hin­ein! …«

Das wa­ren die ers­ten Wor­te, wel­che Ni­co­las Star­kos wie­der sprach. Ei­gent­lich mur­mel­te er sie nur vor sich hin, als fürch­te er, ge­hört zu wer­den und ir­gend­ei­ne Er­schei­nung aus ver­gan­ge­ner Zeit wach­zu­ru­fen.

In die Um­zäu­nung zu ge­lan­gen, war ja ganz leicht, da die Tür zer­fal­len und Tei­le da­von auf dem Bo­den um­her­la­gen. Er hat­te nur die Tür zu öff­nen, einen Rie­gel zu­rück­zu­schie­ben.

Ni­co­las Star­kos trat ein. Er blieb vor dem Hau­se ste­hen, des­sen vom Re­gen halb ver­faul­te Lä­den nur noch schwach in den ver­ros­te­ten, zer­fres­se­nen An­geln hin­gen.

Da ließ eine Nacht­eu­le einen hei­se­ren Schrei er­tö­nen und flog schwer­fäl­lig aus dem Mas­tix­bu­sche auf, der sich vor der Schwel­le der Haus­tür aus­brei­te­te.

Noch im­mer zau­der­te Ni­co­las Star­kos, ob­wohl er ent­schlos­sen war, die Woh­nung in al­len Tei­len zu se­hen; es be­drück­te ihn je­doch ein un­be­hag­li­ches Ge­fühl über das, was in ihm vor­ging, als er jetzt doch et­was wie Ge­wis­sens­bis­se ver­spür­te. Er fühl­te sich be­wegt, doch auch fast ge­reizt. Es er­schi­en ihm, als ob das vä­ter­li­che Dach vor ihm ver­schwin­den kön­ne, wie ein Pro­test ge­gen ihn, wie ein letz­ter Fluch, der ihn traf.

Be­vor er sich in das Haus selbst be­gab, woll­te er um das­sel­be ganz her­um­ge­hen. Die Nacht war fins­ter. Nie­mand sah ihn und »er sah und er­kann­te sich fast selbst nicht«. Bei hel­lem Tage hät­te er sich wohl kaum hier­her ge­wagt. In tiefer Nacht fühl­te er sich mu­ti­ger, dem An­sturm sei­ner Erin­ne­run­gen zu trot­zen.

So ging er denn schlei­chen­den Schrit­tes, gleich ei­nem Ver­bre­cher, der sich die Ört­lich­keit an­sieht, an wel­cher er einen schwar­zen Plan zur Aus­füh­rung brin­gen will, längs der Au­ßen­wand hin, um die Ecken, wel­che zum Teil durch Moo­se ver­hüllt wa­ren, be­tas­te­te mit der Hand die lo­sen Stei­ne, um sich zu über­zeu­gen, ob in die­ser Lei­che von Haus doch viel­leicht noch et­was Le­ben woh­ne, und lausch­te dann, ob des­sen Herz noch schla­ge. Auf der Rück­sei­te sah al­les noch düs­te­rer aus. Die schrä­gen Strah­len des schon un­ter­ge­hen­den Mon­des konn­ten nicht hier­her drin­gen.

Lang­sam hat­te Ni­co­las Star­kos sei­ne Run­de ge­macht. Die fins­te­re Woh­nung be­wahr­te eine Art be­un­ru­hi­gen­des Schwei­gen. Man hät­te glau­ben kön­nen, sie läge un­ter dem Ban­ne ei­nes Zau­be­rers. Jetzt kehr­te er nach der West­sei­te der­sel­ben zu­rück und nä­her­te sich der Tür, um die­se auf­zu­sto­ßen, wenn sie nur durch einen Drücker ge­schlos­sen war, oder sie mit Ge­walt zu öff­nen, wenn ein al­tes Schloss an der­sel­ben sie noch fes­ter zu­hielt.

Da drang ihm aber das Blut zu den Au­gen. Er sah »rot«, wie man sagt, aber feu­er­rot. Das Haus, wel­ches er noch ein­mal be­su­chen woll­te, wag­te er jetzt nicht mehr zu be­tre­ten. Es war ihm, als müs­se sein Va­ter oder sei­ne Mut­ter mit aus­ge­streck­ten Ar­men auf der Schwel­le er­schei­nen und ihm flu­chen, ihm, dem ver­lo­re­nen Sohn, ihm, dem schlech­ten Bür­ger, dem Ver­rä­ter an sei­ner Fa­mi­lie, an sei­nem Va­ter­land.

Jetzt öff­ne­te sich wirk­lich lang­sam die Tür. Ein Weib er­schi­en auf der Schwel­le. Sie trug ma­nia­ti­sche Klei­dung, einen baum­wol­le­nen Rock mit schma­ler ro­ter Kan­te, ein Leib­chen von dunk­ler­er Far­be, das um die Tail­le zu­ge­schnürt war, und auf dem Kopf eine große bräun­li­che Hau­be, um­wun­den mit ei­nem Sei­den­tuch in grie­chi­schen Na­tio­nal­far­ben.

Die­se Frau hat­te ein sehr ener­gi­sches Ge­sicht mit großen schwar­zen Au­gen von fast wil­der Leb­haf­tig­keit, ge­bräun­ten Teint, gleich den Fi­scher­frau­en der Küs­te, dazu war sie groß von Ge­stalt und hielt sich, ob­wohl sie schon über sech­zig Jah­re zähl­te, stolz auf­recht. An­dro­ni­ka Star­kos war es. Mut­ter und Sohn, wel­che seit so lan­ger Zeit kör­per­lich und geis­tig ge­trennt ge­lebt hat­ten, stan­den sich jetzt Auge in Auge ge­gen­über.

Ni­co­las Star­kos hat­te doch kaum er­war­tet, hier sei­ner Mut­ter zu be­geg­nen. Die Er­schei­nung der­sel­ben flö­ßte ihm einen merk­wür­di­gen Schre­cken ein.

An­dro­ni­ka streck­te einen Arm ge­gen ih­ren Sohn aus, un­ter­sag­te ihm das Be­tre­ten des Hau­ses und rief mit ei­ner Stim­me, wel­che die Wor­te selbst noch grau­sa­mer er­schei­nen ließ: »Nie­mals wird Ni­co­las Star­kos wie­der den Fuß in das Haus sei­nes Va­ters set­zen! … Nie­mals!«

Er­schüt­tert durch die­se An­re­de, wich der Sohn ein we­nig zu­rück. Die, wel­che ihn un­ter dem Her­zen ge­tra­gen, trieb ihn jetzt von sich, wie man einen Ver­rä­ter ver­jagt. Noch ein­mal wag­te er einen Schritt vor­wärts. Eine Hand­be­we­gung – eine Dro­hung und Ver­wün­schung zu­gleich – hemm­te sei­nen Fuß.

Nicolas Starkos wandte sich nach rückwärts.

Ni­co­las Star­kos wand­te sich nach rück­wärts, ver­ließ die Um­zäu­nung, eil­te nach dem stei­len Weg, der zum Strand hin­ab­führ­te, und floh, was ihn die Füße tra­gen konn­ten, als ob eine un­sicht­ba­re Hand sich ihm auf die Schul­ter ge­legt hät­te, die ihn wei­ter­trieb.

Re­gungs­los auf der Schwel­le ih­res Hau­ses ste­hen­blei­bend, hat­te An­dro­ni­ka ihn im Dun­kel der Nacht ver­schwin­den se­hen.

Zehn Mi­nu­ten spä­ter war Ni­co­las Star­kos sei­ner so­weit wie­der Herr ge­wor­den, dass ihm nie­mand die vor­her­ge­gan­ge­ne Er­re­gung an­merk­te; so er­reich­te er den Ha­fen, pfiff Goz­zo her­bei und sprang in das leich­te Boot. Die von Goz­zo aus­ge­wähl­ten Män­ner be­fan­den sich schon an Bord der Sa­co­le­ve.

Ohne ein Wort zu spre­chen, be­stieg Ni­co­las Star­kos das Ver­deck der »Ka­rys­ta« und be­deu­te­te sei­nen Leu­ten durch ein Zei­chen, au­gen­blick­lich die An­ker zu lich­ten. Sein Be­fehl war schnell aus­ge­führt, da ja nur die zum His­sen be­reit­lie­gen­den Se­gel auf­ge­spannt zu wer­den brauch­ten. Der sich jetzt er­he­ben­de Land­wind er­leich­ter­te die Aus­fahrt aus dem Ha­fen.

Fünf Mi­nu­ten spä­ter glitt die »Ka­rys­ta« si­cher und still durch die enge Was­ser­stra­ße, ohne dass von den Leu­ten an Bord, noch von den Be­woh­nern Vi­ty­los ein Laut hör­bar ge­wor­den wäre.

Die Sa­co­le­ve hat­te in­des noch kaum eine Mei­le zu­rück­ge­legt, als ein röt­li­cher Flam­men­schein den Kamm des Fel­sen­stran­des er­leuch­te­te.

Die Hand der Mutter hatte dieses Feuer selbst angelegt.

Es war die Woh­nung der An­dro­ni­ka Star­kos, wel­che bis auf den Grund nie­der­brann­te. Die Hand der Mut­ter hat­te die­ses Feu­er selbst an­ge­legt. Sie woll­te nichts von der Stel­le üb­riglas­sen, an der einst ihr Sohn ge­bo­ren wor­den war.

Noch drei Mei­len weit hin konn­te der Ka­pi­tän die Au­gen nicht ab­wen­den von dem Feu­er, das auf dem Bo­den von Ma­gne em­por­lo­der­te, und er ver­folg­te es im Dunklen, bis der letz­te Schein des­sel­ben er­losch.

An­dro­ni­ka hat­te ge­sagt:

»Nie­mals wird Ni­co­las Star­kos den Fuß wie­der in das Haus sei­nes Va­ters set­zen! … Nie­mals!«

Der Archipel in Flammen

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