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6. Kapitel Herr d'Artagnan sucht seine Freunde
ОглавлениеZwei Stunden nach der Abreise des Hausherrn ritt ein Reiter vor. Blaisois erkannte ihn und rief: »Der Chevalier d'Artagnan! Geschwind, ihr andern, macht das Tor auf!« – Acht dienstfertige Burschen, über die nun Blaisois als Gebieter gesetzt war, eilten hinaus und ließen den Ankömmling herein. – »Wo ist der liebe Graf?« rief dieser, bereit, sich aus dem Sattel zu schwingen. – »Der gnädige Herr hat wirklich Unglück,« antwortete Blaisois, »der Herr Graf ist vor zwei Stunden weggeritten.« – »So warte ich,« antwortete d'Artagnan ruhig. – »Da könnten Sie lange warten, Herr Chevalier, denn es handelt sich um eine lange Reise, von der der Graf sobald nicht wiederkommen wird. Der Herr Graf hat das Haus meiner Obhut anvertraut, und das tut er nur, wenn er lange wegbleiben will. Als Reiseziel nannte er mir Paris.« – »Mehr brauche ich ja nicht zu wissen. Und zwei Stunden ist er voraus?« Mit diesen Worten saß der Chevalier schon wieder im Sattel. »Ist er allein?« – »Nein, zwei Männer, die ich nicht kenne, sind bei ihm, ein alter und ein junger, und dann noch Herr Grimaud. Doch einen Augenblick noch, gnädiger Herr!« setzte Blaisois hinzu und hielt das Pferd fest, »die Sache mit Paris ist nur ein Vorwand gewesen – ich weiß das genau –« – »Nun, zum Teufel, wo will er sonst hin?« – »Das ist's ja eben, Herr – ich habe keine Ahnung. Paris ist es nicht, denn Grimaud hat mir mal geschworen, wenn er je nach Paris gehe, für mich etwas an meine Frau mitzunehmen, von der ich getrennt lebe. Jetzt hätte er also ganz bestimmt dieses Versprechen ausgeführt, denn Grimaud denkt an seine Versprechen, das wissen Sie ja. Daran habe ich erkannt, daß es in Wahrheit nicht nach Paris geht.« – »Und wohin sonst, das kannst du mir auch nicht sagen?« rief d'Artagnan. »Nun, das fängt ja wieder gut an. Adieu!« Er riß sein Pferd herum und sprengte von dannen.
»Sollte Athos wirklich auf die Reise gegangen sein? Er hat den Teufel mit seiner ewigen Geheimniskrämerei! Vielleicht kann ich ihn für meine Zwecke doch nicht brauchen. Ein schlauer Kopf, ein andauernder Geist – das ist's, was ich brauche, und das finde ich nur in einem gewissen Pfarrhause zu Melun. Also auf, dorthin. Vier und einen halben Tag zu reiten. Doch das macht nichts, es ist ja schönes Wetter.« –Vier Tage später traf er denn auch in Melun ein. D'Artagnan pflegte unterwegs nie in geringfügigen Dingen um Auskunft zu fragen, und solange er sich nicht völlig verirrt hatte, verließ er sich stets auf seinen oft bewährten Scharfsinn und auf seine dreißigjährige Erfahrung. Er fand das Pfarrhaus sogleich, denn die Häuser erkannte er an ihrem Aeußern ebenso sicher wieder wie die Menschen. Aus dem Erdgeschoß erscholl ein Summen von Stimmen, als wenn Kinder das Alphabet buchstabierten, und eine tiefere Stimme schien ihre Fehler zu korrigieren. Diese Stimme erkannte d'Artagnan; er ritt heran, steckte den Kopf durch das Weinlaub am Fenster und rief: »Guten Tag, lieber Bazin!«
Ein kleiner dicker Mann mit breitem Gesicht und einer Tonsur auf dem Haupte, fuhr von seinem Platze in die Höhe, als wenn eine Nadel ihn gestochen hätte. »Sie hier?« rief er erstaunt, »Herr d'Artagnan?« – »Ja, ich bin's. Wo ist Aramis oder vielmehr Chevalier d'Herblay oder noch richtiger, der Herr Generalvikar?« – »Ihro Gnaden sind in ihrer Diözese,« antwortete Bazin.
»Was? Aramis hat eine Diözese.« – »Freilich! Warum sollte er keine haben?« – »Er ist also jetzt Bischof?« – »Na, gnädiger Herr, wissen Sie denn das nicht?« – »Wir Leute vom Degen wissen wohl, wenn jemand Marschall wird, aber wir fragen nicht danach, wer Bischof und wer Papst wird.« – »Still! still!« rief Bazin, »reden Sie nicht so vor den Kindern hier.«
Die Kinder hatten inzwischen Herrn d'Artagnan umringt und staunten sein Roß, sein Schwert und seine Sporen an. Bazin jagte sie mit Schlägen in die Schulstube zurück. – »Wo ist die Diözese deines Herrn?« rief der Haudegen. – »Monseigneur René ist Bischof von Vannes.« – »Wer hat ihm denn dazu verholfen?« – »Der Herr Oberintendant, unser Nachbar.« – »Was? Fouquet? Also steht sich Aramis gut mit ihm?« – »Er hat dort alle Sonntage gepredigt und ist später mit dem Herrn Oberintendanten immer auf die Jagd gegangen?« – »So, so! Und nun ist er in Vannes? Warum bist du nicht mit deinem Herrn gegangen? Wie lange ist er dort?« – »Seit einem Monat. Ich habe hier doch so viel zu tun. Da kann ich doch nicht weg.« – »Wie? Bist du denn gar Priester geworden?« – »Noch nicht. Da nun aber der gnädige Herr fort ist, wird's damit nicht mehr lange dauern,« antwortete Bazin, sich die Hände reibend.
»Laß mir was zum Abendbrot zurechtmachen, Bazin!« rief d'Artagnan, »und besorge meinen Gaul, wenngleich ihr hier wohl nicht mit Pferden umzugehen versteht.« – Bazin betrachtete das Pferd ziemlich geringschätzig. – »Der Herr Oberintendant,« antwortete er, »hat vier Pferde aus seinem Marstall hergeschickt, die alle mehr wert sind als Euers hier. Junge!« rief er einem seiner Schüler zu, »lauf und sag' der Köchin, sie solle ein kaltes Huhn herrichten.« – Diese Worte besänftigten den Soldaten wieder, der über die Beleidigung seines Rosses schon außer sich geraten wollte. »Sieh da!« sagte er, »wenn der Herr Oberintendant so viele Pferde hat, so hat er wohl auch Musketiere.« – »Jedenfalls hat er Geld genug, alle Musketiere des Königs zu unterhalten,« versetzte Bazin prahlerisch.
Da das Abendessen inzwischen fertiggemacht war, trat der Reitersmann in die Küche und ließ sich's gut schmecken. Während des Essens versuchte d'Artagnan, Bazin über alles mögliche auszufragen, aber er hatte damit wenig Glück. Bazin war auf seiner Hut und ließ die Neugierde seines Gastes unbefriedigt. Obwohl das Bett, das ihm angewiesen wurde, in seiner Art fast noch härter war, als das gebratene Huhn gewesen, so fürchtete sich d'Artagnan doch ebensowenig davor, sondern streckte sich behaglich aus und brauchte nicht mehr Zeit dazu einzuschlafen, als er zum Abnagen des letzten Hühnerknochens gebraucht hatte.
Am andern Morgen war d'Artagnan bei früher Stunde schon wieder unterwegs. Sein nächstes Ziel war Pierrefonds, wo er endlich einen Freund und eine volle Geldkiste zu finden hoffte. Er ritt an dem Schlosse des Herzogs Ludwig von Orléans vorbei – einer mittelalterlichen Burg mit dicken Mauern und hohen Türmen – und erblickte am Morgen des dritten Tages am Ufer eines großen Teichs und am Saume eines herrlichen Waldes das Schloß seines Freundes Porthos. Als er in den Wald hineingeritten war, sah er wenige Schritte vor sich einen großen Kasten, der sich auf zwei Rädern bewegte und von zwei Lakaien geschoben, von zweien gezogen wurde. Der unförmige Gegenstand, der sich darin befand, war zunächst nicht zu erkennen, dann glaubte d'Artagnan, es sei ein Faß, und dann, als er noch näher kam, ward ihm klar, daß es ein fabelhaft aufgedunsener Mensch war, der das ganze Innere ausfüllte. Und dieser Mensch war Mousqueton – Mousqueton mit weißen Haaren und rotem Gesicht.
»Wahrhaftig, das ist ja Mousqueton!« rief er aus. »Heda, Freund!« – »Was?« schrie der Dicke. »Herr d'Artagnan! Haltet an, Kerle! O, verehrter Herr! Ich kann Ihre Knie nicht umfassen, ich bin ein Krüppel geworden.« – »Das bringt das Alter mit sich, Freundchen.« – »Nein, ich hab's vom Herzeleid!« stöhnte Mousqueton. »Ach, meine Beine wollen mich nicht mehr tragen.« – »Du fütterst sie zu gut.« – »Jenun, ich habe für meinen Körper stets getan, was in meinen Kräften stand. Ich bin nie einseitig gewesen. Aber wie wird sich der gnädige Herr freuen, daß Sie mal wieder an ihn gedacht haben! Das muß ich ihm gleich schreiben.« – »Was? Schreiben? Also ist er nicht hier? Wo ist er denn? Weit weg oder in der Nähe?« – »Das weiß ich nicht,« antwortete Mousqueton.
»Potzblitz! welch ein Pech! Der Stubenhocker Porthos ist ausgeflogen!« rief d'Artagnan und schlug sich auf den Schenkel. – »Allerdings. Unser Herr pflegt selten auszugehen, aber wenn man von einem Freunde aufgescheucht wird –« – »Von wem denn?« – »Von Chevalier d'Herblay.« – »Was du sagst! Aramis hat Porthos aufgescheucht? Wie ging denn das zu?« – »Lassen Sie sich erzählen,« berichtete Mousqueton, »Herr d'Herblay hat an den gnädigen Herrn einen Brief geschrieben, der ihn ganz außer Rand und Band gebracht hat. Das war vor etwa acht Tagen. Er schlug förmlich um sich – na, und Sie wissen ja! Ueberhaupt jetzt! er ist auch nicht mehr so gut auf den Beinen, da hat sich alle Kraft in die Arme gezogen –« – »So daß er also noch jetzt einen Ochsen zu Boden schlagen kann, wie früher.« – »Ganz recht. Kaum hatte der gnädige Herr den Brief gelesen, so schrie er: ›Geschwind, meine Pferde! Meine Waffen!‹« – »Dann hat es sich wieder um ein Duell gehandelt,« meinte d'Artagnan. – »Mit nichten. Der Brief enthielt nur die Worte: ›Wenn Sie noch rechtzeitig vor der Tag- und Nachtgleiche eintreffen wollen, lieber Porthos, dann wird es nun Zeit, daß Sie sich auf den Weg machen.‹«
»Hm!« brummte d'Artagnan, »dann scheint es ja etwas sehr Dringliches gewesen zu sein. Ob er wohl noch rechtzeitig angekommen ist?« – »Das hoffe ich. Unser Herr ist ja kein Freund von Langsamkeit. ›Donnerwetter!‹ rief er, ›was ist das mit der Tag- und Nachtgleiche? Doch einerlei! Der Kerl muß gut zu Pferde sein, wenn er vor mir ankommen will!‹« – »So meinst du, Porthos sei noch zuerst angekommen?« – »Daran zweifle ich nicht. Bessere Rosse als mein Herr hat niemand.« Mousqueton ließ sich von den Lakaien weiterfahren, und d'Artagnan folgte ihm. Unterwegs stellte er noch viele Fragen, aber es war nichts weiter aus Mousqueton herauszuholen. D'Artagnan schlief in dieser Nacht in einem vortrefflichen Bette. Am andern Tage verließ er denn nun auch Pierrefonds, ohne dort seinen Zweck erreicht zu haben. Und jetzt wußte er nicht mehr, wohin er sich wenden sollte. Gesenkten Hauptes saß er zu Rosse. »Keine Freunde mehr – keine Zukunft mehr!« brummte er vor sich hin. »Alles vorbei! Das Alter kommt, die Jugend ist heidi. Der Tod streckt seine Hand nach mir aus.« Der Gaskogner bebte, so männlich er auch war. – »Ah bah!« rief er auf einmal, spornte sein Roß und schlug einen Galopp an. »Nach Paris!« – Schon am folgenden Tage kam er dort an. Seit er es verlassen, waren zehn Tage verstrichen.