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Erfolgreiche Erzählungen: Reality Check, Feedback und Frames

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Erzählen ist die universale Form, in der wir unsere Erfahrungen weitergeben. Wir erzählen am Lagerfeuer, am Kinderbett, am Stammtisch, am Handy, in Büros, Talkshows, Zeitungen, Theaterstücken, Filmen, Romanen, Reden, Predigten, Lehrbüchern, Parlamenten. Wir tauschen so Erfahrungen aus, dichten hinzu, lassen weg, verdichten zu Mustern. Darüber, wo wir herkommen, warum wir da sind, warum wir so sind, wie wir sind, was wir begehren, was wir witzig finden, was nicht, wie wir gut zusammenleben. Sinnstiftende Ideen über unser Zusammenleben übermitteln wir traditionell nicht säuberlich geordnet, sondern über Göttergeschichten, Heldengeschichten oder Schöpfungsgeschichten, schreibt der Literaturwissenschaftler und Erzähltheoretiker Eberhard Lämmert.17 Selbst die Konzeption des Menschseins an sich fußt »auf gemeinsamen Mythen und Geschichten unterschiedlicher Zeiten und Orte, Geschichten, die sowohl den Freunden als auch den Fremden erklären, was es bedeutet, ein Mensch und nicht etwas anderes zu sein«, wie die Philosophin Martha Nussbaum beschreibt.18 Aus diesen vielen kleinen Geschichten kann eine erfolgreiche Erzählung werden. Die Idee des American Dream, die biblische Geschichte vom Auszug aus Ägypten, die Geschichte der Befreiung von Sklaverei und Unterdrückung, die Geschichte vom Wiederaufbau nach dem Krieg, die Geschichte des friedfertigen Europa sind solche erfolgreichen Erzählungen. Der Kulturwissenschaftler und Erzähltheoretiker Albrecht Koschorke spricht in diesem Zusammenhang von »Erzählungen, die ein politisches Kollektiv zu stiften versuchen«19. In seinem Buch Hegel und wir (2015) beschreibt er, wie eine solche Erzählung entsteht und wann sie erfolgreich ist: Sie muss vor allem am Alltag der Menschen anknüpfen, sie »abholen«, also den Eindruck erwecken, sie beziehe sich auf gemeinsame Erfahrungen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Erfahrungen tatsächlich gemacht wurden, es reicht, wenn sie »spontan evident« erscheinen. Besonders erfolgreich wird eine solche sinnstiftend gemeinte Idee, wenn sie oft wiederholt wird, die Leute müssen sie immer wieder hören, eine »Feedback-Schleife« nennt Koschorke das. Vor allem wenn die Idee tatsächlich mit den Erfahrungen der Menschen übereinstimmt, kann sie verfangen. Viele Menschen erzählen sie sich dann weiter, eine »zirkuläre Dynamik der Selbstverstärkung« entsteht, und damit eine erfolgreiche Erzählung. Stimmt die Idee eher nicht mit dem Erleben der Menschen überein, ist das Wiederholen umso wichtiger. Besonders gut schlagen Erzählungen außerdem ein, wenn sie von Menschen aus möglichst verschiedenen Milieus oder von Autoritäten erzählt werden.

Die Sprach- und Kognitionswissenschaftlerin Elisabeth Wehling beschreibt in ihrem Buch Politisches Framing. Wie sich eine Nation ihr Denken einredet – und daraus Politik macht (2016), dass politische Ideen vor allem dann erfolgreich sind, wenn sie geeignete Bilder, Rahmungen, sogenannte »Frames«, hervorrufen, die die politischen Wertvorstellungen der Erzählenden widerspiegeln. Wer von bestimmten Besteuerungen gern weniger hätte, sollte in diesem Zusammenhang, wie viele es tun, von »Steuerlast« sprechen und den Frame von Last, Belastung, Schwere hervorrufen, die einem Individuum auferlegt sind.20 Wer die in Frage stehenden Besteuerungen richtig findet oder auch mehr davon will, sollte eher von »Steuerbeiträgen« sprechen und den Frame »zu etwas beitragen« hervorrufen, der den Gemeinschaftssinn stärkt, da wir nur in Gemeinschaften überhaupt »zu etwas beitragen« können (zum Buffet, zur Diskussion, zur Stimmung). Insbesondere weist Wehling darauf hin, dass politische Konzepte dann schlecht verfangen, wenn sie nur gegen etwas sind, anstatt eigene Frames hervorzurufen, »die eigene Weltsicht zu propagieren«. Denn laut Wehling vermag unser Gehirn es nicht, »nicht« oder »anti« zu denken. Wer also ein politisches Konzept der globalen Freizügigkeit will, es aber »no border« nennt, bestätigt – auch wenn von Gegenteiligem überzeugt – die Idee der Grenze. Wer ein politisches Konzept des wirtschaftlichen Maßhaltens, der Genügsamkeit und Bedürfnisbefriedigung befürwortet, sprachlich aber nur »gegen Wachstum« oder für »Post-Wachstum« ist, stärkt – ob er oder sie will oder nicht – den Frame »Wachstum«. Natürlich können auch Konzepte, die gegen etwas sind, Erfolg haben. Die Bewegung PEGIDA beispielsweise spricht sich gegen eine »Islamisierung« aus und brachte damit 2014 und 2015 Zehntausende Menschen auf die Straße. Mittlerweile versammeln sich Rechte aber vor allem unter Namen, die für etwas sind, in der »Alternative für Deutschland«, auf »Demos für alle« (statt gegen das Recht auf Ehe für Homosexuelle), als »Lebensschützer« (statt als »Abtreibungsgegner*innen«).

Das Besondere am Konzept der »Erzählung« im Gegensatz zum – im Zusammenhang mit sinnstiftenden Ideen für eine Gemeinschaft auch gebräuchlichen – Konzept der »Ideologie« ist, dass sich an einer Erzählung, am Erzählen, viele beteiligen können. Unter einer Ideologie hingegen verstehen wir heute meistens ein Ideensystem (eines Staates oder Unternehmens), die Ideologie wird meist zentral konzipiert, oft von Mächtigen (Erdoğan oder Zuckerberg). Auch Ideologien werden natürlich von vielen Menschen mitgetragen, auch Erzählungen stark von Machthabenden und Autoritäten geprägt, die Übergänge sind also fließend, in der Tendenz aber ist die Ideologie eher ein System und starr, die Erzählung eher wabernd und wandelbar.

Das Konzept der Erzählung erkennt also an, dass wir die Welt unterschiedlich wahrnehmen, einzelne Ereignisse oder Erlebnisse aufgrund unseres Erfahrungshorizonts verschieden erleben, und diesen Erlebnissen dann gemeinsam, indem wir auf bestimmte Weisen darüber sprechen, eine Form geben, sie festhalten, rahmen. Natürlich gibt es auch hier Hierarchien, insbesondere Medien, Prominente und Politik haben eine hohe faktische Reichweite und prägen, sofern sie als glaubwürdig gelten, den Diskurs stärker als andere Personen. Um aber glaubwürdig zu sein, müssen auch diese Autoritäten am alltäglichen Erfahren der Menschen ansetzen und ihre Thesen immer wieder mit denen rückkoppeln. Am Erzählen sind wir also alle beteiligt, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Wir alle können, indem wir erzählen – und das tun die meisten unter uns ohnehin die ganze Zeit –, Ereignissen und Erlebnissen einen neuen Rahmen geben und unserem Zusammenleben einen bestimmten Sinn verleihen.

Aber wurde nicht längst das Ende der Ideologien und großen Erzählungen ausgerufen? 1992 meinte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, es gebe nach der Auflösung der Sowjetunion keine Auseinandersetzung der Systeme mehr, der Sozialismus habe verloren, die freie Marktwirtschaft in Form der liberalen Demokratie gesiegt, wir seien am »Ende der Geschichte«. Für die westlichen Industrienationen und ihre Kinder hörte sich das schlüssig an, der Kapitalismus war so normal, dass gar kein großes Aufhebens um ihn gemacht wurde, ja, er war so sehr Normalzustand, dass viele gar kein Wort für ihn hatten. Stimmt aber die Erzählung vom Ende der Geschichte? Diese Frage wurde nicht gestellt. Denn ja, die westlichen kapitalistischen Demokratien hatten gesiegt, in diesem historischen Moment. Sie waren auch für viele Menschen besser als Diktaturen, besser als Stalin, kannten keine Gulags, keinen Staatsterror, und tatsächlich hatte sich die Sowjetunion aufgelöst. Hat damit die laut Fukuyama einzig verbleibende Gesellschaftsform, die liberale kapitalistische Demokratie, für immer gesiegt? Wer weiß? Wir werden wohl noch weitere politische Epochen auf diesem Planeten erleben, wenn wir ihn und uns besser behandeln als jetzt.

Der Konservative Fukuyama war nicht der Einzige, der entpolitisierende Thesen verbreitete. Schon ein gutes Jahrzehnt vor ihm hatte der Pariser Philosoph Jean-François Lyotard ein Ende der großen Erzählungen postuliert. Die Welt des 20. Jahrhunderts sei komplex, so auch das Wissen über sie, vor allem durch die Wissenschaften, die seit dem 19. Jahrhundert entstanden waren, schrieb er in Das postmoderne Wissen (1979). Wissenschaftliche Analysen aber waren für Lyotard ein Gebiet des Machtspiels: »Man kauft keine Gelehrten, Techniker und Apparate, um die Wahrheit zu erfahren, sondern um die Macht zu erweitern.« Die Menschen hätten deshalb zu Recht eine »Skepsis gegenüber den Metaerzählungen«.21 Es gäbe nur noch viele nebeneinanderbestehende kleine Geschichten, so Lyotard.

Können diese aber nicht trotzdem zu einer großen Erzählung beitragen? Gibt es wirklich keine großen Erzählungen mehr? Nehmen wir die kapitalistische Grunderzählung, in einer politischen und ökonomischen Ordnung des globalen Wettbewerbs könne es jeder zu einem guten Leben bringen. Diese Geschichte der Fahrstuhlgesellschaft ist nicht mehr glaubhaft, es besteht große Skepsis ihr gegenüber, insbesondere seit der erneuten Wirtschafts- und Finanzkrise. Tot aber ist sie nicht. Sie läuft auf vielen bedeutenden Kanälen, nicht nur in FDP-Interviews, auch in Medien, Sport, Werbung, Kultur: Wer sich genug bildet, kann in der Quizshow Millionär werden, wer genug Steve-Jobs-Biografien liest, schafft es out of the garage, wer mutig genug ist, dem verleiht Red Bull beim Extremsportevent Flügel, wer dem Bildungsministerium glaubt, schafft trotz PISA-Studien Aufstieg durch Bildung, wer genug an seinem Körper arbeitet, dem verleiht Heidi Klum Topmodel-Ruhm, und wer die richtigen Coaches befragt, kann sich für den Durchbruch zu Erfolg oder mindestens zu persönlichem Glück selbstoptimieren. Wie die kapitalistische Erzählung Alle fahren im Fahrstuhl mit nach oben heute in der neoliberalen Variante Alle fahren im Fahrstuhl mit nach oben, wenn sie nicht faul sind am Leben bleibt, beschreiben in den letzten Jahren viele: Markus Metz und Georg Seeßlen in Kapitalismus als Spektakel (2012), Patrick Schreiner in Unterwerfung als Freiheit – Leben im Neoliberalismus (2015), Sebastian Friedrich in Lexikon der Leistungsgesellschaft – Wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt (2016). Die kapitalistische Großerzählung vermag es immer wieder, sich flexibel anzupassen und attraktiv zu machen, Ausgegrenzte wie Frauen, Schwarze oder Homosexuelle teilweise zu integrieren und neue Andere zu etablieren. Wenn nötig, nimmt sie die Begehren sozialer Bewegungen auf und macht sie sich nutzbar. Der Neoliberalismus »verkehrt die Autonomie der Arbeit in ihre Flexibilisierung, die Befreiung der Sexualität in ihre Konsumierbarkeit, die Selbstbestimmung in Selbstoptimierung«, schreibt die Berliner Künstlerin und Autorin Bini Adamczak in ihrem Buch Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende (2017).22 Die kapitalistische Großerzählung ist trotz Skepsis ihr gegenüber existent. Sie mag herumgeistern wie ein Zombie, aber sie ist da. Stört es sie, dass die Welt komplex ist? Nein. Gerade die Komplexität wird gerne herangezogen, um andere Alternativen als »vereinfacht« und »naiv« abzutun. Mindestens diese eine große Erzählung existiert also in den westlichen Industrienationen weiter in Form von vielen kleinen Narrationen.

Kein Grund also, sich einreden zu lassen, Menschen könnten nicht beginnen, sich neue Geschichten zu erzählen, ihre Erfahrungen neu zu betrachten, neu zu bewerten, neu zu ordnen, neu zu rahmen, sie gemeinsam zu einer neuen Erzählung zu verdichten und so neue Ideen für ein gutes Zusammenleben zu entwickeln.

Nach einer solchen Erzählung rufen in den letzten Jahren viele: Die Publizistin Carolin Emcke forderte in ihrer Friedenspreisrede 2016 »eine andere Erzählung (…), eine, die offener ist, leiser auch, eine, in der jede und jeder relevant ist«. Der britische Journalist Paul Mason forderte in Die Große Regression 2017, der »Erzählung, mit der die extreme Rechte ihren Kampf führt, eine eigene entgegenzusetzen«. Auch einige Vertreter*innen linker Parteien verlangen eine »neue linke Erzählung«. Die Jusos wollten 2017 einen »neuen linken Gesellschaftsentwurf, der den Menschen eine Alternative zur bestehenden Ordnung bietet«. Im Umfeld der Linkspartei fordern schon länger, vor allem seit der Wirtschaftskrise, Parteimitglieder wie Katja Kipping, Dietmar Bartsch oder Klaus Lederer sowie der rot-rot-grüne Think Tank Institut Solidarische Moderne »eine neue linke Erzählung«. Und soziale Bewegungen stellen in den letzten Jahren die alte Erzählung »Jeder kann es in der freien globalisierten Welt schaffen« in Frage und verlangen nach neuen Entwürfen. Aktivist*innen des »Arabischen Frühlings« in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien, Marokko und Jordanien, »Indignados« in Spanien, die Platzbesetzer*innen von »Occupy« in den USA, Israel oder Deutschland und die »Aufrechten der Nacht« oder die »Gelbwesten« in Frankreich zeigten, dass sie anders leben wollen. Teilweise versuchten sie es praktisch, bauten Zelte, Gemeinschaftsküchen, frei zugängliche Bibliotheken, diskutierten und entschieden in Vollversammlungen. Sie scheiterten, aus verschiedenen Gründen. Weil potenziell Interessierte sie doch irgendwie zu akademisch fanden, oder Zelte zwar nett und niedlich, den Kapitalismus aber irgendwie besser. Weil die Beteiligten selbst die Plätze aufgaben, um wieder regelmäßig Geld zu verdienen, oder weil sie Orte besetzt hatten, wo sie niemanden störten. Und schließlich auch, weil Polizei und Militär sie dort, wo sie störten, von den Plätzen schubsten, sie verletzten, verhafteten.

Einen konkreten Entwurf einer anderen Welt, eine Erzählung, hatten die Empörten und Aufrechten nicht, sie brachten aber das Begehren danach zum Vorschein. Sie machten es wieder möglich, an Alternativen zu glauben, und setzten um, was linke Theoretiker*innen wie Mark Fisher verlangten: Die Linke müsse anfangen, »eine Zukunft zu planen und zu organisieren, an die sie selbst glaubt«.23 Einer solchen Zukunft möchte ich nachspüren. An Orten, wo bereits jetzt das Aufbegehren der Ausgeschlossenen für eine andere Ordnung sorgt, für eine neue Unordnung.

Tiefrot und radikal bunt

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