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Einführung
ОглавлениеIn meiner Kindheit, die ich im Londoner Norden verbrachte, war Antisemitismus kein Thema. Falls er doch einmal zur Sprache kam, dann eher als Scherz: Wenn mein Vater uns in unserem alten Ford Popular durch die Stadt fuhr, beschimpfte er die Ampeln, die eine nach der anderen rot wurden, gern als antisemitisch. Aber damit hatte es sich auch.
Die Großmutter meines Vaters, Caroline Ellern, die in Amsterdam Zuflucht vor dem Nationalsozialismus gesucht hatte, war von dort nach Westerbork und weiter nach Sobibor deportiert worden, wo sie 1943 ermordet wurde. Die meisten meiner Angehörigen mütterlicherseits waren ermordet worden. Trotzdem bezogen wir zehn oder fünfzehn Jahre später den Begriff Antisemitismus scherzhaft auf Ampeln. Falls sich im Großbritannien der 1950er und 1960er Jahre Juden von Antisemitismus bedroht fühlten, so bekamen wir das jedenfalls nicht mit. Die grauenhaften Bilder von den Konzentrations- und Vernichtungslagern, die unmittelbar nach dem Krieg in den Wochenschauen gezeigt worden waren, hatten Menschen mit antisemitischen Ansichten zum Umdenken oder wenigstens zum Schweigen gebracht.
Über den Holocaust wurde in meiner Kindheit kaum gesprochen. Ich wuchs mit Menschen auf, die mit deutschem Akzent sprachen, meine Mutter eingeschlossen (obwohl mir das erst viel später bewusst wurde, wenn ich ihre Nachrichten auf dem Anrufbeantworter abhörte). Neben meiner Mutter waren auch viele Cousinen und Cousins, Onkel, Tanten, Freundinnen und Freunde aus Hitler-Deutschland geflohen. Doch in England, in Großbritannien fühlten wir uns sicher. Wir waren stolz, Briten zu sein, stolz, Juden zu sein, und wir spürten keinerlei Bedrohung.
In der Schule, wo ein Drittel der Klasse jüdisch war, fingen die Lehrer an hohen jüdischen Feiertagen im Unterricht kein neues Thema an. Das hätte auch keinen Sinn gehabt, weil zu viele von uns fehlten. Für die gemeinsame Andacht, in der wir einmal in der Woche alle zusammen englische Kirchenlieder sangen – ich liebe sie noch heute –, suchten wir mit Bedacht Lieder aus, die für alle geeignet waren. Im Zweifel fragten die zuständigen Lehrerinnen unsere Eltern oder jüdische Kollegen um Rat. Man war sensibel, aufgeschlossen und tolerant: Uns bereitete unser Judentum nie Probleme.
Ich werde nie erfahren, inwieweit ich dieses Gefühl der Geborgenheit meinen Eltern zu verdanken hatte, die meine Cousinen und Cousins und mich vor den Geschehnissen der Vergangenheit abschirmten. Meine Mutter hatte keine Ausbildung machen können. Ende der 1950er und in den 1960er Jahren standen meine Eltern mit dem deutschen Staat in Verhandlungen über Wiedergutmachungszahlungen, ohne dass ich davon viel mitbekam. Meine Großeltern, die praktisch mit leeren Händen geflohen waren, bauten die Entschädigungsforderung für ihr Haus Anfang der 1960er Jahre zu einer fast schon zwanghaften Vollzeitbeschäftigung aus. Doch wir Kinder waren ahnungslos und geborgen. Wir konnten unser Judentum frei praktizieren, am Purimfest in der bunten Tracht auf die Straße gehen, zu Chanukka die Glitzerschuhe tragen. Wir zündeten die Chanukka-Kerzen an und stellten sie ins Fenster. Niemand hatte daran etwas auszusetzen.
Auch als mir viel später in meiner Studienzeit und danach Antisemitismus in eher kleinen Dosen begegnete – meist entsprang er reinem Unverstand –, als Rechtsextreme prominenten Juden beleidigende Postkarten schickten, empfanden wir das nicht als gravierend. Der Runnymede Trust, der sich für die Gleichstellung gesellschaftlicher Minderheiten einsetzt, beschloss 1994, als Probelauf für eine Studie zur damals viel schwerwiegender erscheinenden Islamophobie die Häufigkeit antisemitischer Vorfälle zu untersuchen. Wir, die Kommission, glaubten damals nicht, dass viel dabei herauskommen, das Ergebnis sonderlich beunruhigend ausfallen würde. Unser Bericht mit dem vorausschauenden Titel »A Very Light Sleeper« (Ein sehr leichter Schlaf) verzeichnete frühe Fälle von Holocaustleugnung und besagte beleidigende Briefe und Postkarten. Er schilderte einige recht unschöne Beispiele und bot Anlass zur Besorgnis, doch insgesamt war der Antisemitismus damals nicht so ernst zu nehmen wie das wachsende Phänomen der Islamophobie.2
Warum lohnt sich dann ein genauerer Blick? Die schlichte Antwort lautet: Weil sich die Lage verändert hat.
Dass Antisemitismus in Europa seit rund fünfzehn Jahren zunimmt und mancherorts mit Gewalt gegen Juden einhergeht, beunruhigt mich zutiefst. Auch antisemitische Verbalattacken häufen sich, und in manchen Kreisen sind mittlerweile Sprüche salonfähig, die früher als unerhört antisemitisch gegeißelt worden wären.
Im Jahr 2017 führten der Community Security Trust und das Institute for Jewish Policy Research in London eine gemeinsame Studie zum Antisemitismus im Vereinigten Königreich durch. Der Bericht bezifferte den sogenannten »harten Kern« von Antisemiten auf 5 Prozent der Bevölkerung, verwies jedoch auf einen Anteil von weiteren 25 Prozent, »die ein negatives Bild von Juden haben und ein oder zwei Ansichten vertreten, die Juden meist als antisemitisch einordnen würden. Dazu gehören traditionelle judenfeindliche Erzählmuster wie übermäßiger Einfluss, gespaltene Loyalität und unrechtmäßig erworbener Reichtum«.3 Die extreme Rechte ist nach wie vor die Bevölkerungsgruppe, in der die antisemitische Haltung am stärksten ausgeprägt ist, doch die extreme Linke zog, bedingt durch ihre numerische Überlegenheit und ihren neuen Einfluss auf die britische Politik, in Sachen antijüdischer Gesinnung mit den Reaktionären in etwa gleich. Diese Zahlen sind alarmierend. Zwar haben die genannten Gruppierungen durchaus Einfluss, doch das beunruhigendste Ergebnis der Studie ist, dass Antisemitismus – oder Hinweise darauf in Bevölkerungsgruppen, in denen er früher keine Rolle spielte – in der britischen Gesellschaft inzwischen recht weit verbreitet ist.
Wie der im Bergwerk singende Kanarienvogel möchte ich auf die aktuellen antisemitischen Tendenzen aufmerksam machen, nicht weil gewalttätige Übergriffe im Spiel wären – in Großbritannien ist das überwiegend nicht der Fall –, sondern weil unflätige Beschimpfungen leicht in Gewalt übergehen: in Gewalt gegen Menschen und in Gewalt gegen Gebäude, die auf die Entweihung des Heiligen, des Sakrosankten abzielt und Angst schüren soll. Ein klassisches Beispiel ist, da ich dieses Buch schreibe, der entsetzliche Mordanschlag auf die Pittsburgher Etz-Chaim-Synagoge an einem Sabbat, begangen von einem Mann, der Juden für die Zuwanderung von Muslimen in die USA verantwortlich machte und brüllte: »Alle Juden müssen sterben.«
Ich schreibe dieses Buch auch aus einem zweiten Grund: Bei vielen Menschen herrscht echte Ratlosigkeit, was unter Antisemitismus eigentlich zu verstehen ist, und besonders, ob Kritik am Staat Israel für sich genommen antisemitisch ist. Dabei gibt es eine wenn auch nicht perfekte, so doch allgemein anerkannte internationale Definition, die in der Öffentlichkeit allerdings nicht sonderlich bekannt ist. Deshalb lohnt es sich darzustellen, was Antisemitismus ist und was nicht, zumal große Teile der jüdischen Gemeinde in Großbritannien unter dem wachsenden Antisemitismus und der unruhigen Stimmung leiden und den, wie sie es sehen, Vertrauensbruch des Staates gegenüber seiner jüdischen Bevölkerung mit Sorge betrachten. Immerhin hatte sich diese jüdische Gemeinde lange Zeit glücklich geschätzt, willkommen zu sein, kann sie doch, anders als die Juden in weiten Teilen Kontinentaleuropas, stolz auf eine kontinuierliche, 350 Jahre währende Geschichte in diesem Lande zurückblicken.
Ich möchte darstellen, wie sich die Haltung zu Juden verändert hat. Das will ich tun, weil auch ich es verstehen will. Und verstehen will ich es, weil mich interessiert, wie sich diese Haltung nicht nur auf meine Generation auswirkt, sondern vor allem auf die nächste jüdische Generation und die übernächste. Welche Zukunft haben Jüdinnen und Juden in Großbritannien und in Europa, wenn verbale und körperliche Gewalt gegen Juden auf dem Vormarsch ist und gleichzeitig in ganz Europa rechtsextreme Nationalisten immer mehr Intoleranz, Antisemitismus und Islamophobie an den Tag legen? Und was bedeutet das, nicht nur für Juden, sondern für die Gesellschaft insgesamt?