Читать книгу Der Weg in den Himmel - Julie Burow - Страница 4
Zweites Kapitel.
ОглавлениеDas Meer war seit Wochen ruhig. Ein stattliches Schiff, in Bauart und Takelage als ein französischer Kauffahrer kenntlich, glitt vor dem Winde dahin. Die lustigen, schwarzbärtigen Matrosen hingen wie kletternde Affen im Segelwerk oder saßen plaudernd am Steuerruder.
Am Bugspriet stand ein schlanker, schöner Mann in der Kleidung eines Obristen der französischen Republik und sah durch ein Fernglas bald auf den wolkenlosen Himmel, bald auf das spiegelglatte Meer. Neben ihm lehnte ein blonder großer Mann mit den ernsten Zügen und dem kräftigen Bau des Nordländers.
Es war ein Lotse von Bornholm, Lars Anderson, von Geburt ein Schwede. Die Wetter aller Zonen hatten seiner hellen Stirn einen rötlich braunen Schimmer mitgeteilt und sein blondes Haar weiß gebleicht.
»Gibt es Walfische in der Ostsee?« fragte der Obrist Dufour Französisch den Lotsen, der schon seit geraumer Zeit auf einen Punkt hinstarrte, der sich mit den leichten Wellen gleichmäßig hob und senkte.
»Das ist kein Walfisch«, antwortete der in derselben Sprache, »aber geben Sie mir einmal Ihr Glas, Colonel, es ist besser als meines, ich halte das Ding da drüben für ein leeres Boot.«
Der Lotse fasste jetzt den schwimmenden Gegenstand, der sich offenbar dem Schiffe näherte, fest ins Auge und sagte dann in seiner Muttersprache:
»Das ist ein Boot und ein Mensch ist darin.« –
Capitain Macleen, ein Schotte und Führer des guten Schiffs l’aigle, von der Marseiller Reederei, kam jetzt auch hinzu und befahl eilig das Schiff so zu richten, dass es dem treibenden Boote sich nähere, und bald war der größte Teil der Mannschaft auf dem Deck versammelt und starrte neugierig und teilnehmend auf den Gegenstand, der sich mit jeder Minute mehr als ein Boot auswies, in dem ein schöner blondhaariger Knabe ausgestreckt und totenbleich, ein Bild der tiefsten Abspannung, am Boden lag. Einige tüchtige Matrosen waren in Boote gesprungen und hatten sich des treibenden Fahrzeuges bemächtigt. Das Kind in demselben war, wahrscheinlich aus Mangel an Nahrungsmitteln, ohnmächtig, aber sein Puls schlug noch, obgleich matt und schwach genug. Der Knabe konnte seiner Größe nach neun bis eilf Jahre alt sein. Lange goldene Locken ringelten sich um eine zarte Stirn, dunkle Wimpern kränzten das geschloss’ne Augenlid und auf dem feinen rosigen Kindermunde spielte ein engelhaftes Lächeln.
Die ganze Schiffsmannschaft sammelte sich auf dem Vordeck um den Geborgenen, den man auf eine Matratze gelegt hatte, vorsichtig flößte der junge Schiffsarzt, ein Deutscher, ihm ein wenig Tee und sodann etwas Brühe ein. Der Untersteuermann, ein Pole aus der Gegend von Krakau, der auch sehr gut russisch sprach, redete zuerst das Kind an, das sich rasch erholte, aber es verstand die Sprache nicht und vergebens bemühte sich der Schotte, der Schwede, der Deutsche und die anwesenden Franzosen sich dem Findling, für den alle sich interessierten, verständlich zu machen. Der Knabe sprach. Er sprach bald sogar sehr lebhaft. Seine feinen Wangen röteten sich während des Sprechens, seine Augen glänzten. Weich und mild wie Töne einer Äolsharfe klangen seine fliegenden Worte, die lebhafte Gestikulationen begleiteten, aber niemand verstand ihn. Man redete ihn in allen bekannten Sprachen Europas an, denn auch ein Baske war unter den Franzosen, und der Schotte sprach ziemlich geläufig italienisch, in keiner aber vermochte er zu antworten, und als er noch einige leichte Nahrungsmittel zu sich genommen, versank er, die Augen nach dem Himmel gerichtet, den die Abendröte mit Gold und Purpur malte, in einen sanften Schlaf.
Oberst Dufour stand lange neben dem schlummernden Kinde.–
Welch ein schönes Geschöpf, sagte er zu sich selbst, und welch’ eine seltsame Kleidung! Das Hemd von grober aber weißer Leinwand war auf den Schultern mit roten Blumen gestickt. Die Beinkleider, von einem festen, grauen Drell, die, weit und kurz nur bis an die Knie gehend, die tadellos geformte Wade des Knaben nackt ließen, waren ebenfalls mit Stickerei und blanken Knöpfen verziert, ein blauer, langer Kittel hatte neben ihm im Boote gelegen und die Füßchen des Kindes steckten in Bastschuhen vom feinsten Geflechte. Welch einem Geschlechte, welch einem Volke kann das junge, reizende Geschöpf angehören, das eine so wohlklingende Sprache spricht und eine so eigentümliche Tracht trägt? – Mag eine Mutter den Knaben beweinen? Ein Vater ängstlich nach dem Liebling ausschauen? Welch’ eine Verkettung von Umständen hat das Kind einsam aufs Meer geführt? Hat es sich unvorsichtig in ein unbefestigtes Boot gewagt? Ist vielleicht ein Verbrechen an ihm verübt worden? Der Gegenstand dieser verschiedenen Vermutungen schlief indes und träumte süß, denn er lächelte im Traum und alsdann drangen glänzende Tränentropfen unter seinen langen, seidenen Wimpern her vor, und endlich erwachte er mit einem lauten Jubelrufe.
Obrist Dufour stand noch neben seinem Lager und der Knabe sprang rasch von demselben empor, umklammerte die Knie des Offiziers, bedeckte seine Hände mit Küssen und gab, eifrig in seiner melodischen Sprache redend, alle Zeichen, dass er um etwas für ihn Hochwichtiges bitte. –
Dufour tätschelte liebevoll sein lockiges Blondhaar, hob ihn auf, küsste ihn sogar und sagte endlich zu den Umstehenden:
»Er bittet mich gewiss, mich seiner anzunehmen und ihn nicht zu verlassen, und bei meinem Degen, das will ich auch tun, ich will einen ordentlichen Soldaten aus dem Burschen machen, und er soll bei mir bleiben, bis er das geworden ist.«
Allerdings war diese Vermutung eine ganz irrige, aber sie bestimmte das Schicksal des Knaben, der eben niemand anderer war, als unser Bekannter, der kleine Litauer Juragis. Fest entschlossen in den Himmel zu gehen und den Vater zurückzuholen, hatte er in der Nacht, die jener Unterredung mit dem Pfarrer Ostermeier folgte, das kleine Boot des reichen Donaleitis von der Kette gelöst, sich in dasselbe gelegt und das kleine Segel gehisst, mit dem der Fischersohn sehr wohl umzugehen verstand. Ein frischer Landwind führte den schnell Entschlummernden noch während der Nacht auf das hohe Meer, und als der Morgen goldig am Himmel hinaufstieg, sah Juragis die Küste seiner Heimat nur wie einen gelblich grünen, dämmernden Streifen am östlichen Horizonte. Drei Tage waren unterdes verflossen, in denen der Knabe keine andere Nahrung zu sich genommen, als einige Bissen Brot, die er in die Tasche seines blauen Kittels gesteckt hatte. Es war dies ein Glück für ihn; das säuerliche Schwarzbrot, dem der litauische Bauer dadurch, dass er das Mehl mit kochendem Wasser anrührt, lange die frische Feuchtigkeit zu bewahren versteht, hatte ihn nicht nur als Nahrungsmittel am Leben erhalten, sondern ihn auch vor der brennenden Qual des Durstes geschützt. Stunde um Stunde verrann für den kleinen einsamen Schiffer in heißer Sehnsucht nach dem Pförtchen im Himmel, durch das Sonne und Mond hineinschlüpfen, aber die Ströme von Gold und rotem Flimmer blieben ihm immer gleich ferne, obgleich die Sonne vor seinen Augen zweimal schon abends hineintauchte und die rot und goldenen Wellen über ihr zusammenschlugen. –
Als der dritte Abend herabsank, da wähnte er der goldenen Pforte nahe, ganz nahe zu sein. Er fühlte, dass tausend goldene Funken um ihn tanzten, dass purpurne Ströme über ihm wegrieselten. Das große Zelt des Himmels, mit tausend goldenen Steinen gestickt, öffnete sich vor seinen geblendeten Kinderaugen und in dem Lichte, das ihm daraus entgegen strömte, sah er Blumen sich wiegen, größer als die Birke vor seiner väterlichen Hütte und auf ihren funkelnden Blättern hüpften Vögel umher, die ihn bei seinem Namen riefen mit den lieben Stimmen seiner Mutter und Schwester, und dazwischen sang einer das Lied von den drei Schwänen, und Juragis nickte ihm zu, denn das Lied klang noch viel schöner als seine Mutter es ihm abends zu singen pflegte, und es war nicht traurig, sondern der Sohn, der in den Krieg gezogen, kehrte heim auf seinem schönen Rappen, ein stolzer, stattlicher Offizier und schüttete der alten Mutter goldene Sterne in den Schoß und befestigte Blumen aus dem Himmelsgarten im Haare der Schwester und gab der Braut, die nur drei Wochen um ihn getrauert, Kleider von Himmelblau mit Abendrotsäumen daran, und Juragis war selbst der Heimkehrende und lag am Herzen seiner Mutter, und der Vater stand daneben und Margeita hatte Flügel wie ein Schwan und fächelte ihm damit Kühlung zu, und die Mutter reichte ihm Milch von ihrer Ziege, die er begierig trank, und dennoch ward’s plötzlich stille um ihn, nur ein leises Rauschen, wie von den Schwanenflügeln seiner Schwester, konnte er vernehmen, und ihm war unsäglich wohl, so wohl, wie noch nie in seinem Leben und er wusste ganz deutlich, dass er aus dem Himmel, wo er nun war, heimkehren und den Vater mitbringen würde.
Als er aus diesem Zustande – halb war er Schlaf, halb Ohnmacht – erwachte, sah er vor sich einen stattlichen, schönen Herrn in glänzenden Kleidern, der ihn mit freundlichen, liebevollen Augen ansah. Ob das wohl unser Herrgott ist? dachte Juragis einen Augenblick. Aber er besann sich bald. Es ist ein Mensch! Vielleicht ein vornehmer Schiffer – er hatte dergleichen in Kleipeda manchmal gesehen – und Du bist auf einem schönen, großen Schiffe, das lustig vorwärts segelt, gerade dem Himmel entgegen. Jetzt wird es nicht allzu lange dauern, und wir alle kommen an die goldene Pforte und ich werde hineinschlüpfen und meinen Vater herausholen. –
Aber wie denn zurück? Wo ist des Donaleitis kleines Boot? O weh! Zu Hause werden Dich alle Leute einen Dieb nennen, wenn Du das Boot nicht wiederbringst, das Dir nicht gehörte. Er warf sich dem vor ihm stehenden Herrn zu Füßen und bat beweglich, ihn bald in den Himmel zu bringen, dann aber ihm und seinem Vater, den er zurückholen wollte das Boot wiederzugeben und ihnen zu gestatten, zur Mutter heimzukehren. –
Niemand verstand ihn! Und endlich kam über den Ermüdeten von Neuem der Schlaf und als er erwachte, munter und gestärkt, sah er ein neues Abendrot den Himmel vergolden, aber es war ihm so fern als in der Heimat.