Читать книгу Ich hasse Menschen. Eine Abschweifung - Julius Fischer - Страница 6

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Der Mann mir gegenüber isst eine Möhre. Unfassbar laut. Unfassbar langsam.

Ich kann mich kaum auf etwas anderes konzentrieren. Nicht aufs Schreiben, auf die Landschaft nicht, auf nichts. Und dafür fährt man doch Zug, denke ich, in den Sitz gedrückt, dafür macht man das doch, dass man mal wieder rauskommt, zu sich kommt, auch wohin kommt, mit diesem Zug.

Ich war so glücklich vorhin, als ich im Zuge ‒ haha, im Zuge, ich hasse mich ‒ eines Umstieges vieler Mitreisender vom Großraumwagen in ein leeres Sechserabteil umziehen konnte. Das hat den Morgen erträglicher gemacht. Im Großraum ist die Idiotendichte höher. Es gibt immer jemanden, der seinen Koffer im Gang stehen lässt, sehr laut mit einem Geschäftspartner telefoniert (»Jäckel hier, noch mal wegen der Rohre …«) oder gerade heute Lust auf Mett, Fisch und Zwiebeln hat. Oder ein Kind ist.

Überhaupt ist jede Ansammlung von Leuten für mich kaum zu ertragen. Vor allem, wenn die Gemeinschaft ungewollt entsteht, auf dem Amt oder in einem Flugzeug.

In der Zwangsgemeinschaft treten die unangenehmsten Seiten der Leute erst richtig hervor.

Klar. Wenn der Nervige alleine ist, dann kann er ja niemanden nerven.

Der Laute ist ja nur laut für die anderen, nicht für sich.

Ein Nazi in einem Keller ohne Internet ist nur ein Nazi in einem Keller.

Und obwohl ich das weiß, denke ich oft: Warum eigentlich immer ich?

Immer komme ich in beschissene Situationen.

Wenn ich zu Hause am Schreibtisch sitze, um mich meiner Arbeit zu widmen, geht draußen auf dem Nachbargrundstück der Hausmeister mit dem Laubsauger auf die Jagd. Oder der Nachbar hämmert.

Hämmern.

Das passt doch gar nicht zum Spirit unserer Generation, dieser Fünfzehn-Sekunden-Aufmerksamkeits-Snapchat-Event-Einstellung. Warum tapezieren die Leute ihre Wohnungen nicht mit doppelseitigem Klebeband und werfen dann einfach alles an die Wand? Tesa Powerstrips können doch heutzutage einen ganzen Elefanten halten, das verspricht zumindest die Werbung, und Werbung stimmt, immer. Warum sollte denn jemand behaupten, sein Produkt wäre besser als alle anderen Produkte, wenn das gar nicht stimmen würde?

Nee, das wäre Quatsch. Ich glaube an Werbung, Weltfrieden und den Weihnachtsmann.

Immer ich.

Ich bin der, der immer dann im Zug sitzt, wenn er Verspätung hat. Das wird heute sicherlich auch noch passieren. Andersherum fahren die Bahnen interessanterweise gerade dann pünktlich, wenn ich zu spät komme. Natürlich nur dreißig Sekunden. Und natürlich nur deshalb, weil eine Oma im Kiosk ihren Wochenvorrat an Losen, Zeitungen, Zigaretten und Thrombosestrumpf-Sammelkarten mit Zehn-Cent-Münzen bezahlt hat.

Wenn ich beim Bürgeramt eine Nummer ziehe, gehen vier von fünf Mitarbeitern in die Mittagspause, egal zu welcher Uhrzeit. Ich bin das, was nach Bronze kommt, ein ewiger vierter Platz.

Warum ausgerechnet ich?

Natürlich bin ich immer der, bei dem gerade die Cheeseburger alle geworden sind ‒ auch wenn man das nicht sieht ‒, der beim Tischtennis-Rundlauf immer nur noch die eine Kelle ohne Griff bekommt, mit der ich mich dann nicht wehren kann gegen den obligatorischen Typen am Tisch, der die ganze Zeit schmettert, als gäbe es kein Morgen, und das Rauswerfen eines Gegners immer kommentiert mit: »That’s the game.«

Und natürlich verliebte ich mich am Anfang des Studiums (also die ersten vier Jahre) nur in Mädchen, die entweder vergeben waren oder Borderline hatten oder meine Anmachversuche einfach nicht mitbekamen. Zugegeben, die waren subtil.

Hier meine Top 3:

3. Zuhören.

2. Zu Hause auf ein Mädchen warten, das nicht weiß, wer ich bin.

1. Das Mädchen beim Tischtennis-Rundlauf raushauen und dabei rufen: »That’s the game. Siehst du, was passiert? Die Welt des Schmerzes. Siehst du, was passiert?«

Dass es sich dabei um eine witzig-ironische Filmreferenz handelte, konnte die jeweilige Frau in diesem Moment nicht begreifen, da sie damit beschäftigt war, den Tischtennisball wieder hochzuwürgen.

Womöglich werde ich seit meiner Geburt einem Test unterzogen, von dem ich nichts weiß.

Der mich vorbereitet auf eine große Aufgabe.

Irgendwann wird ein Götterbote vorbeikommen, mit Rauch und goldenen Schuhen, der wird ein Kindermikrofon haben, wo die Stimme immer so lustig blechern klingt, und er wird rufen: »Julius, wisse! Du bist der Auserwählte. Also einer der Auserwählten. Also wir hatten schon richtig krasse Typen: Prometheus, der hat den Menschen das Feuer gebracht, dann war da noch Dings, hier, Jesus, das war eher so ne Überzeugungskiste!«

Und ich werde ungeduldig antworten: »Und was zur Hölle soll ich machen? Oh, Tschuldigung, ich habe Hölle gesagt.«

»Kein Problem. Selbes Haus, andere Abteilung«, wird der Götterbote sagen. Aber ich werde nicht lockerlassen.

»Was zum Henker soll meine Heldenaufgabe sein? Ich kann doch nichts. Ich kann mich noch nicht mal darauf konzentrieren, einen Text zu schreiben, weil mein Nachbar die Wand mit seinem Hammer zerfickt, als wäre er der gottverdammte Thor.«

»Nee, dein Nachbar ist nicht Thor, Thor hat nen Bio-Bauernhof in der Uckermark. Er macht in Möhren. Er hat sogar eine eigene Züchtung entwickelt ‒ den orangen Hammer. Thor heißt übrigens auch anders. Er heißt eigentlich Thorben, aber das klang ihm nicht krass genug. Aber zu deiner Aufgabe: Du sollst überbringen den Menschen etwas Wichtiges. Ich werde es dir nun geben. Warte mal, was habe ich gerade dabei, ähm, Kippen, Feuerzeug, Portemonnaie, nee, da muss doch noch irgendwas … ah hier, ein abgelaufenes Fisherman’s Friend, Marke Exotic! Nun gehe und überbringe der Menschheit die freshe Botschaft.«

»Aber ich hasse Menschen!«, werde ich dem Götterboten mein Leid klagen. »Und welche Botschaft denn überhaupt?«

»Ja, irgendeine Botschaft, ist doch latte, was du den Leuten erzählst.«

»Aber ich erlebe immer nur so Quatsch, wie zum Beispiel, dass ausgerechnet dann, wenn ich am Flughafen auf Toilette sitze, die Toilette gewischt wird und ich mich nicht traue, die noch wischfeuchte Fläche mit Fußabdrücken zu verunstalten, weswegen ich ausgerufen werde und mit hochrotem Kopf und offenem Hosenstall im Flugzeug sitze, oder dass ausgerechnet ich mit meiner Gitarre auf dem Rücken von einem Junggesellenabschied angesprochen werde, ob der »Herr Musikus ein Lied für uns spielt«, zum Beispiel Cotton Eye Joe

»Siehste, das ist doch schon was.«

»Ich hasse meine Geschichten«, werde ich dem Boten sagen.

»That’s the game, Alter … game, Alter … game, Alter!«, wird der Bote entgegnen, während er rückwärts schwebend im Nichts verschwindet.

So wird es kommen, denke ich, im Zug sitzend, mir gegenüber Meister Lampe.

Ich warte darauf, dass er noch eine Möhre auspackt, verdammte Kacke, wie lange kann ein Mensch denn an so einem Stück kauen? Wozu haben wir denn den beschissenen Schluckreflex, sicherlich doch dafür, dass wir schlucken, du Fucker! Will ich ihm sagen, aber er kann ja nichts für meine Launen. Obwohl: doch. Er muss sterben oder zumindest dieses Abteil verlassen.

Man muss doch auf gemeine Gedanken kommen, wenn es einem die Menschen immer so schwer machen.

Und er kaut immer noch, ich kann mich nahezu in seinen Kiefer hineinversetzen, ich bin der Kiefer, oh wie ich kaue, nie hat ein anderer besser gekaut als ich. Hey, wie ich kaue.

Und tatsächlich! Da ist sie! Die zweite Möhre! Die er sich schön aufgehoben hat für einen Nachmittag zu zweit, nur er und ich im Sechserabteil.

Sicher, ich steigere mich rein. Wenn man mit seinen Gedanken zu lange allein gelassen wird und sich nicht äußert, wird man eben sonderbar, aber zumindest kommentiere ich nicht im Internet oder zünde Flüchtlingsheime an; ich will doch gar nichts, nur dass der Typ aufhört mit dieser auditiven Folter. Ich habe tatsächlich nichts dagegen, wenn ein Hund bellt oder der Wind heult, aber wenn Menschen Geräusche machen, dann zieht sich in mir alles zusammen. Am schlimmsten sind dabei die Geräusche, die der Kopf verursacht, in erster Linie Krankheitsgeräusche, Husten, schniefen, niesen, dann kauen, schreien, gähnen. Wenn ich irgendwann die Macht übernommen haben werde, was hoffentlich noch passiert, bevor ich völlig durchdrehe, wird es erkälteten Leuten nicht mehr gestattet sein, ihre Wohnung zu verlassen. Ich schließe mich da gerne ein, also in meine Wohnung, denn ich hasse mich selbst ebenso, wenn es aus mir schlotzt und schmaddert.

Des Weiteren wird es, wenn ich König bin – König Julius der Zarte –, eine Regelung über den Härtegrad von Speisen in öffentlichen Räumen geben, ebenso eine Geruchsprüfung. Vorbei die Zeit des Zwiebacks und des Döners, zieh von dannen, Golden Delicious, und willkommen, Joghurt. Allerdings nicht Trinkjoghurt, da muss man aufpassen. Es gibt nämlich auch genügend Leute, die unfassbar laut schlucken. Allen voran meine Mutter.

Wie zum Hohn klemmt mein Gegenüber die Möhre zwischen die Backenzähne und bricht auf diese Weise einen großen Brocken ab. Ich bin ja kein brutaler Typ, aber ich stelle mir vor, wie ich ihm diesen Brocken einfach so, aus der Kalten, ins Auge ramme, ohne Vorwarnung ‒ der Rächer der kautechnisch Geknechteten.

Aber ich bin zu rücksichtsvoll, ich wechsle beim Rauchen die Straßenseite, wenn mir ein Kind entgegenkommt, ich halte anderen die Tür auf mit zwei Kisten Wasser in den Händen, ich lasse zu Hause den Kater auf dem bequemen Stuhl sitzen. Was tust du, Möhrenmann? Dabei guckt er so unschuldig. Wie geht das? Wie kannst du nur so sein, Angelface?

Das alles versuche ich ihm durch Anschauen und DAS HIER AGGRESSIV IN DIE TASTATUR TIPPEN!!!111!!1 zu sagen.

Ich hasse ihn. Was heißt Hass. Ich bin ja nur ein bisschen aufbrausend. Wenn er bald aufhört … Da ist die dritte Möhre. In jedem Menschen steckt ein Arschloch. Ich komme aus Dresden, ich muss es wissen.

Ach, ich hasse Menschen.

In Dresden aufzuwachsen war nicht leicht. Es gab im Grunde genommen nur drei Möglichkeiten: Man wurde entweder Nazi oder drogenabhängig oder man zog weg.

Ich bin nach Leipzig gezogen und beobachtete das Treiben in meiner alten Heimatstadt aus sicherer Entfernung. Als ich 2004 damit begann, bei Poetry Slams aufzutreten, musste ich wieder dorthin zurück, denn in Dresden gab es einen großen Slam.

Meine alten Schulfreunde wunderten sich, als ich ihnen erzählte, dass ich vorbeikommen würde.

»Was machst du? Pottery Slam? Mit Ton oder was? Komm lieber mit off Party, nimm eene kleene Nase und ab geht’s.«

Ich hatte immer Angst vor Koks. Das macht einen so selbstverliebt. Ich auf Koks, das hätte wahrscheinlich so geklungen:

»Hier, hier, richtig geil, richtig geil, ich hab mir ein Gedicht ausgedacht, das ist das Beste, was je geschrieben wurde, ey, ohne Scheiß, Mann, Alter, willste hören?, hier zieh es dir rein, ist so richtig dick so, scheiß auf Heine, scheiß auf Goethe, Mann, boaaaaah, krass ist das geil, wenn das Gedicht ne Frau wäre, ich würde das einfach bumsen, so zack, ausziehen, reinstecken und bumsbumsbumsbumsbums …«

Nee, das wäre nix gewesen.

Poetry Slam reichte mir vollkommen. Man konnte Texte vorlesen und es gab Bier umsonst. Ein bisschen wie Arbeit, nur mit Fun.

Am Abend hieß es, die Teilnehmerliste des Slams wäre richtig voll, es wären sogar Leute aus Berlin da. Das überraschte mich nicht. Damals war eigentlich immer jemand aus Berlin da. Dass niemand aus Berlin da gewesen wäre, hätte mich genauso überrascht wie die Tatsache, dass der Typ mit den Dreadlocks nicht Philosophie studiert oder dass man auf Partys nicht Daniel Brühl getroffen hätte.

Es gab eine Zeit, da sah ich Daniel Brühl häufiger als meine Mutter.

Meine Mutter war an diesem Abend nicht im Publikum, denn sie stand meinem neuen Hobby mit Skepsis gegenüber. Zu Recht.

Poetry Slam war damals etwas ganz anderes als heute, wo man mit perfekt performter Poppoesie Millionen verdienen kann. Alles Amateure.

Neben den obligatorischen Berlinern waren immer ein, zwei verkniffene Literaturstudenten im Teilnehmerfeld, ein Mädchen mit Blumengedichten, dazu ein Rapper und mindestens ein crazy Guy. Meistens aber mehrere. Oh ja.

Ich muss lachen. Der Typ mir gegenüber mustert mich, als hätte ICH ihn gerade gestört. Ich muss ihm einen Namen geben, damit mich der Hass nicht übermannt. Ich nenne ihn Marcel. Ich kenne keinen einzigen netten Marcel. Ein Stück Möhre hängt an Marcels Lippe. Was für ein Vogel. Er wäre gut aufgehoben gewesen beim Poetry Slam mit seinem Lautgedicht: Das Kauen.

Die Freaks.

Wenn jemand auf die Bühne kam und sagte:

»Hallo, ich bin der Jörg, ich mach jetzt mal was ganz anderes, so Gedanken in loser Folge.

Pflastersteine,

Blut am Schuh,

der Mullah geht baden im Fluss der Chimäre.«

Dann war das genauso Slam wie Sven, dem nach fünfzehn Minuten lähmender Prosa auffiel, dass er das letzte Blatt seiner Geschichte im Backstage hatte liegen lassen, und der dann zwei Minuten brauchte, um es zu holen.

Dann war das genauso Slam wie Ralle, der auf die Bühne sprang und rief: »Hier, hier, richtig geil, richtig geil, ich hab mir ein Gedicht ausgedacht, das ist das Beste, was je geschrieben wurde, ey, ohne Scheiß, Mann, Alter, willste hören?, hier zieh es dir rein, ist so richtig dick so, scheiß auf Heine, scheiß auf Goethe …«

Dann war das genauso Slam wie Peggy, die sich ans Mikrofon stellte und mit kaum hörbarer Stimme sprach:

»Hallo, ich bin’s, de Päggy aus Zräsdn, ich mache das erste Mal mit bei so einem Po-ättry Slänn und ich habe ein paar Blumengedichte mitgebracht.«

Und das Publikum machte das mit.

In der Regel flogen die Freaks in der Vorrunde raus, es sei denn, es waren viele Philosophiestudenten unter den Zuschauern. Die fanden das irgendwie interessant.

In diesem Falle war es anders.

Das Finale bestand aus den einzig Normalen, aus Peggy und mir. Klar, wer da gewinnen würde.

Ich machte reflektierten Studentenshizzle, Kiffen mit Jesus und so Filmzitate, Peggy machte »Lyrik«.

»Rote Rosen, die mag ich ja so gerne,

da leuchten meine Augen wie Sterne.

Crysanthemen sind das Beste,

auf meinem Feste sind sie gern gesehene Gäste.«

Dann kam die Abstimmung, und was soll ich sagen? Sie gewann. Mit Gedichten wie aus dem Küchenkalender. Es war unglaublich. Man muss dazu sagen, dass sechsundzwanzig von den etwa fünfzig Zuschauern Peggys Freunde waren. Die natürlich beim Abstimmungsapplaus johlten, als hätte Peggy soeben ein Mittel gegen Krebs gefunden. Meine Freunde applaudierten und johlten nicht. Sie waren bei der Abstimmung auf der Toilette. Koksen.

Peggy aus Dresden, die Endgegnerin.

Was war das für eine Welt?

Wie sollte das weitergehen?

»Ich bin kurz davor, ein Mittel gegen Krebs zu finden, und die Arbeit an Ihrem Institut würde mir die fehlenden Ressourcen dafür bereitstellen. Deswegen möchte ich mich auf die Stelle bewerben, die ist doch noch frei, oder?«

»Ach, tut uns leid, wir haben schon jemand anderen. Peggy. Peggy aus Dresden.«

»Hey Mama, ich wollte mal fragen, was du dir zum Geburtstag wünschst.«

»Ach nichts, ich hab doch Peggy.«

»So, liebe Gemeinschaft des Ringes, irgendjemand muss das Teil ins Feuer des Schicksalsberges werfen. Da wäre Frodo aus dem Auenland. Es ist sein vorbestimmtes Schicksal. Oder wir nehmen Peggy. Ach komm, wir nehmen Peggy.«

Und alle: »Peggy, Peggy, Peggy!«

Ach, ich hasse Peg… Menschen.

Denke ich, während draußen die Landschaft vorüberzieht. Über den Rand meines Laptops beobachte ich den Möhrenmann, der den letzten Strunk seines Brunches zermalmt hat und nun schläft. Natürlich laut schnarchend. Hass. Dass man dem immer so ausgesetzt ist.

Eigentlich mag ich Reisen ja wirklich gerne. Selbst wenn ich, wie heute, nach Köln muss. Ich hasse Köln. Ich habe ein Gespräch bei einer Literaturagentur. Weil ich nett bin, habe ich zugesagt. Ich hasse mich. Aber sie bezahlen die Fahrt. Und anhören kann man sich den Scheiß ja mal.

Wenn ich recht überlege, mag ich am Reisen vor allem das Ankommen. Das Unterwegssein reizt mich kein bisschen. Selbst wenn meine Geschwister mit dabei sind. Mit meinen beiden Geschwistern verbindet mich einiges. Unsere Mutter zum Beispiel. Sie versucht, seit sie uns kennt, alle gleich zu behandeln. So hat zum Beispiel jedes ihrer Kinder einen eigenen Vater.

Eine weitere Idee meiner Mutter rankt sich um unser Erwachsenwerden. Sobald eines ihrer Kinder, mit mir angefangen, das vierzehnte Lebensjahr vollendet hatte, wurde eine Reise gemacht. 2015 war mein Bruder dran. Meine Mum wollte unbedingt nach New York, traute sich aber nicht alleine. Wegen der Verständigung.

Meine Mutter kann nicht so gut Englisch. Als Kind der Arbeiterklasse hatte sie in der Schule nur Russisch gelernt, Englisch kennt sie ausschließlich aus Tom-Waits-Songs und OmU-Arthouse-Filmen.

Meine Schwester und ich wiederum verfügen als Kinder des Serienzeitalters über etwas mehr Übung. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob mein Wortschatz mir in Situationen helfen würde, die nichts mit der Zombie-Apokalypse oder Drachen zu tun haben.

Das Schönste an einer Reise ist in meinen Augen der Umstand, dass man vorher sehr viel Stress mit dem Buchen und Organisieren hat, um währenddessen unfassbar entspannt zu sein.

Wer solch ein hehres Ziel verfolgt, sollte seine Übernachtung nicht über Airbnb buchen.

Am Tag vor unserer Abreise nach New York erreichte mich folgende Nachricht:

»Hi, hier ist Dana, können wir die Reservierung canceln? ich bin im Nahen Osten auf Abenteuerurlaub und habe es einfach vergessen! Tschuldi!«

Ich dachte sofort: Wie, Abenteuerurlaub im Nahen Osten? Mit nem Trump-Shirt durch das palästinensische Autonomiegebiet? Ruinen gucken in Rakka?

Hätte sie da nicht früher draufkommen können?

Ich wünschte ihr viel Spaß und begann damit, Dienstagnacht null Uhr gemeinsam mit meiner zukünftigen Frau eine Unterkunft für vier Leute in New York zu finden, da mein Anruf im Airbnb-Hauptquartier in den Staaten kein Ergebnis brachte, außer der Bitte, mich ein paar Tage zu gedulden.

Ich sagte: »Na klar, ist ja nicht so, als bräuchte ich was für fucking morgen!«

Aber offensichtlich war mein Englisch zu schlecht, um Ironie zu transportieren.

An diesem Punkt entschied ich, einfach scheißreich zu werden, um mir eines Tages überall eine Wohnung kaufen zu können. Und Airbnb. Um es abzuwickeln. Hat bis jetzt nicht geklappt. Sonst würde ich sicher auch nicht in diesem Zug sitzen, sondern in meinem Privat-ICE. Beziehungsweise würde ich gar nicht mehr verreisen, sondern alle würden zu mir kommen. Sogar der Urlaub.

Wir fanden ein Hostel. Es war nicht am Central Park wie die Privatwohnung, sondern in East Williamsburg. Hipster und sozialer Wohnungsbau. Und sicherlich würde ein Hubschrauber mit Suchscheinwerfer die Straße permanent nach Verbrechern absuchen.

Das Hostel war auch nicht die ganze Zeit frei. Für den Samstag würden wir uns noch etwas suchen müssen.

Für jemanden mit Angst vor Kontrollverlust wäre diese Situation sehr unangenehm.

Für mich war es die Hölle.

Apropos Angst vor Kontrollverlust: Der Flug war schrecklich.

Komischerweise kann ich bei kurzen Inlandsflügen immer sofort einschlafen. Aber sobald das Flugzeug die sichere Landmasse verlässt, bekomme ich Panik. Als ob das bei einem Absturz aus zehntausend Metern Höhe etwas ändern würde. Vielleicht ist es sogar die Angst davor, nicht zu sterben, sondern mit abgestorbenen Gliedmaßen im eiskalten Ozean zu treiben, wie Leo damals in Titanic. Ich hasse mein Gehirn. Ich redete mir ein, dass wir schon nicht abstürzen würden. Dinge werden wahr, wenn man sie oft genug sagt. Das hat schon Julia Engelmann gesungen. Half aber nix. Ich bestellte mir einen Grapefruitsaft und starrte ruhelos aus dem Fenster.

Mein kleiner Bruder konnte auch nicht schlafen. Er spielte fast durchgängig gegen andere Passagiere Poker auf seinem Bildschirm und zockte alle ab. Es war zwar nur Spielgeld, aber ich machte mir Sorgen, dass sich irgendwann Riots gegen den kleinen Glückspilz auf Platz 43G entwickeln würden.

Meine Schwester schlief. Sie kann immer schlafen. Klassisches Scheidungskind.

Meine Mutter guckte Coffee and Cigarettes. Wegen Tom Waits. Original mit Untertiteln. Englischen Untertiteln. Weswegen sie mich ständig fragte: »Was hat er gesagt?«

Eigentlich war sie also daran schuld, dass ich nicht zum Schlafen kam.

In New York angekommen mussten wir zur Passkontrolle. Mein Bruder hatte Angst, nicht durch den Finger-Scan zu kommen, weil sich aufgrund der Pubertät die Haut an seinen Daumen permanent schälte. Ein Schlangenjunges.

Der Beamte fragte: »What brings you to the United States?«

Meine Mutter fragte: »Was hat er gesagt?«

Ich sagte: »Family trip!« Und zu meiner Mutter: »Sie behalten dich erst mal hier.«

Sie lachte. Der Beamte lachte nicht. Sie lachte nicht mehr. Ich lachte.

Jetzt mussten wir nur noch zum Hostel kommen, hoffen, dass wir nicht mit zwanzig besoffenen Engländern einen Schlafsaal teilen müssten und eine Übernachtung für Samstag finden würden. Standard.

Die Leute auf der Mayflower hatten es auch nicht leicht. Damals gab es ja noch nicht mal eine U-Bahn. Oder WLAN.

Die U-Bahn-Fahrt war total spannend. Für meine Mutter. Ich wusste ja, wo wir rausmussten. Deswegen brauchte ich nicht auf die ohnehin unverständlichen Durchsagen zu achten. Sie wiederum saß ganz vorne auf ihrem Sitz und fragte ständig: »Was hat er gesagt?«

Im Hostel angekommen bekamen wir zwei Doppelzimmer, in denen es stark nach Benzin roch. Zumindest waren wir allein. Mal abgesehen von den Ratten.

Mein Bruder ging sofort pennen, da sich immer mehr Haut von seinem Körper ablöste, ein in unserer Familie untrügliches Zeichen für Müdigkeit. Schlangenfamilie.

Ich schaue vom Bildschirm auf. Mein Mitreisender wälzt sich im Schlaf hin und her, als ginge es um sein Leben. Zu viel Rohkost vor dem Schlafen ist nicht gut. Das gärt und bläht. Wie ich feststellen muss. Er furzt, als wäre er hier zu Hause.

Wie ich in unserer ersten Nacht in Amerika. Obwohl: Bei mir war es die Angst.

Am nächsten Tag waren wir super fresh. Mein Bruder war sogar noch fresher. Er hatte sich nachts einmal komplett gehäutet und strahlte rosig. Den Tag über liefen wir herum. Ich fand ein Hotel für Samstag. Es kostete inklusive der Gebühren fürs Telefonieren in etwa fünfhundertfünfzig Euro. Am Abend gingen mein Bruder und ich in die Kellerbar des Hostels, um uns eine Comedy-Show anzugucken. Ich dachte mir, da kommt das her, also jetzt nicht aus diesem Keller, aber aus Amerika, das wird man sich doch mal angucken dürfen. Zu Hause würde ich das unter keinen Umständen machen. Deutschland ist kein Comedy-Land. Zu einfach die Mechanismen. Sag den Leuten etwas, das sie schon wissen, und sie lachen.

Da gehe ich doch wirklich lieber zum Poetry Slam. Da wird zumindest ab und an mal betreten geschwiegen.

Die Moderatorin begrüßte die fünf Zuschauer, einen Australier, zwei Briten und uns, sowie die zehn Comedians mit einer der Situation angemessenen Begeisterung.

Dann forderte sie uns auf, unsere Herkunft zu nennen, ich outete meinen Bruder und mich als Deutsche, womit wir, denn das ist in der amerikanischen Comedy eben so üblich, die Nazis waren. Das alleine fand ich nicht schlimm, nur ein wenig billig, da jeder der folgenden Comedians sich darauf bezog.

Was mich erstaunte, waren zwei Dinge: Erstens wurde mein Bruder beim Versuch, an der Bar eine Cola zu erstehen, mit Edding markiert, damit er ja keinen Alkohol kaufte, zum anderen machte jeder der Auftretenden beim geringsten Sex-Gag in seinem Set eine Pause, um darauf hinzuweisen, dass sich ein Minderjähriger, wenn auch ein minderjähriger Nazi, im Publikum befände und dementsprechend der Gag entfallen müsse. Nicht, dass ich es schlimm finde, jemanden als Nazi zu bezeichnen, weiß Gott nicht, aber ich finde Nazis nun mal schlimmer als Witze über Geschlechtsorgane.

Das alles war natürlich Öl im Feuer meines eh schon vor sich hin pubertierenden Bruders, der dementsprechend in der Pause das Weite suchte. Nicht genug damit, dass er einen Geruch wie ein Elch verströmte, seine Stimme bei jeder Gelegenheit brach wie eine Birke im Sturm und das Leben selbst ihm jede Lust nahm, nun wurde er auch noch von schlechten amerikanischen Comedians fertiggemacht.

Auf die Frage, wo er denn sei, antwortete ich nach der Pause mit: »Er ist nach oben gegangen, um noch ein bisschen Völkermord zu begehen, oder was wir Deutschen eben so machen.«

Daraufhin wurde ich nicht mehr angesprochen.

Immer wenn es in Amerika lustig zugeht, zum Beispiel bei einem Comedy Roast, geht es unter die Gürtellinie. Ich habe selbst mal bei einem Roast mitgemacht. Das Ziel einer solchen Show ist es, sich gegenseitig möglichst eloquent fertigzumachen. Ich war vor allem der Dicke mit dem kleinen Penis, die anderen haben meine Beleidigungen meistens nicht verstanden, weil ihre Eltern Geschwister sind.

Ich glaube ja, der Möhrenmann hat gar keine Eltern. Er ist einfach irgendwann gewachsen. Eine immer größer werdende Wurzel, die irgendwann ein Gehirn entwickelte. Und nun seine Artgenossen verspeist, um sich mit Energie zu versorgen.

Carrot Cannibal, der neue Bösewicht im Marvel-Universum.

Einen Roast gab es ja auch bei der letzten US-Wahl.

Das habe ich nicht verstanden.

Was hatte das in einem Wahlkampf zu suchen? Sollte das die menschliche Seite der Kandidaten zeigen? Dass sie Witze übereinander machen?

Hat Trump überhaupt Humor?

Ich habe kein Problem mit Witzen, ich liebe gute Witze, aber was bringen die im Wettkampf um eines der wichtigsten Ämter der Welt?

»Hey, er hat den atomaren Erstschlag befohlen, aber hast du den Witz gehört, den er dabei gemacht hat?«

Ich habe Angst vor dieser Entwicklung. Dass Politiker jetzt auch noch witzig sein dürfen.

Da wird einem schon mal verziehen, dass man ein sexistisches, rassistisches Arschloch ist, das grundsätzlich nichts gegen den Schießbefehl hat.

Ich frage mich, wo das hinführt?

Diese Verrohung der Sprache, das Verschwimmen der Grenzen.

Klar kann der Witz ein Mittel sein, um Inhalte zu transportieren. Aber nicht, wenn er aus Image-Gründen eingesetzt wird. Dann doch lieber ein kleines Selfie aus dem Tierheim oder der Dritten Welt. Überlasst die Witze den Witzemachern. Das würde ich manchen Comedians auch gerne sagen.

Als ich zwei Tage später mit meiner gesamten Family auf Wunsch meiner Mutter in einen richtigen Comedy Club ging und wir gefragt wurden, ob wir uns in die erste Reihe setzen wollten oder davor Angst hätten, antwortete ich: »We’re not scared, we’re Germans.«

Woraufhin der Platzanweiser hart lachen musste. Und uns in die erste Reihe setzte.

Ach, ich hasse Menschen.

Die Tür wird aufgeschoben und der Schaffner betritt das Abteil.

Er deutet auf den immer noch schlafenden Möhrenmann und fragt: »Gehört der zu Ihnen?«

Allein die bloße Annahme treibt mir das Blut in den Kopf.

Wieso sollte so ein Mensch zu mir gehören? Was verbindet uns, mal abgesehen von der Tatsache, dass wir gemeinsam in einem Abteil sitzen?

Sicherlich keine übermäßige Leidenschaft für Rohkost.

Ob der zu mir gehört?!

Ich gehe doch auch nicht beim Arzt zu wildfremden Leuten hin und frage sie, ob sie zusammen da sind, weil sie beide niesen.

Also, ich spreche sowieso keine wildfremden Leute an, schon gar keine, die niesen. Ich hasse niesen. Und Menschen.

Verdammter Schaffner.

Ich schüttele den Kopf, unfähig, auch nur ein Wort herauszupressen.

Der Schaffner tippt den Schlafenden an.

»Fahrkarten bitte.«

Auch das ein unnützer Einwurf. Was würde ein Schaffner sonst von einem wollen? Hass.

Der »Träumende« wälzt sich auf seinem Sitz hin und her. Ich kann erkennen, dass er nur so tut, als würde er schlafen. Ich sehe deutlich, dass er die Augen einen Spalt weit geöffnet hat.

Wahrscheinlich hat er keine Fahrkarte. Klar.

Nicht, dass ich das schlimm fände. Aber die Vorstellung, dass sich darüber eine Diskussion entspinnt, lässt mich innerlich schreien.

»Das ist eine Kinderfahrkarte.«

»Ja, aber ich fahre doch ermäßigt. Ich bin doch Student. Und habe ganz schwere Allergie.«

»Das ist aber eine Kinderfahrkarte.«

»Tschuldigung, ich hatte nicht genügend Geld und mein Vater ist letzte Woche gestorben und jetzt fahre ich zu seiner Beerdigung, er hat ja niemanden außer mir.«

»Das ist trotzdem eine Kinderfahrkarte für die Parkeisenbahn in Dresden.«

»Ach, die gilt hier nicht?«

Unangenehm. Der Schaffner stößt den Möhrenmann immer wieder sanft mit dem Fahrkartenlesegerät an. Und dieser wälzt sich theatralisch von einer Seite auf die andere. Als würden beide das schon seit Jahren machen.

Das finde ich am schlimmsten. Wenn man Leuten offensichtlich anmerkt, dass sie lügen. Und sie zu stolz oder zu verzweifelt sind, das zuzugeben.

»Nein! Ich habe den Unfall nicht verursacht. Das war der andere.«

»Hier sind nur Sie, Ihr Auto und eine Straßenlaterne.«

»Die hat mich provoziert.«

Manchmal rutscht man aber ins Lügen auch so rein. Durch die Umstände. Das ist super unangenehm.

Ich war zu einer Preisverleihung geladen, musste kurzfristig einen Anzug kaufen und hatte dafür nur eine Stunde Zeit. Also bin ich in einen Herrenausstatter rein, die Verkäuferin war super genervt, was mich total einschüchterte. Aber zum Glück war mein Girl mit.

»Wir haben nicht so viel Zeit, der Anzug ist für morgen«, sagte sie nach ein paar Minuten und ging, um Accessoires zu besorgen.

Und so stand ich nun in diversen Anzügen vor dem Spiegel, hinter mir die strenge Verkäuferin.

»Das Sakko passt perfekt«, sagte ich irgendwann, worauf die Frau mit strengem Blick erwiderte: »Aber die Chose!«

Sie sprach mit leicht osteuropäischem Akzent.

»Ja, ich weiß. Ich habe komische Beine. Als würde ich auf zwei umgedrehten Pyramiden stehen. Kann ich nicht einfach eine andere Hose tragen? Die da drüben hat doch gepasst.«

Sie schnaubte.

»Wo denkense hin? Sie wollen doch ordentlich aussehen bei Ihrer Hochzeit.«

Ich stutzte.

Hatte meine Freundin behauptet, wir wären verlobt, damit die Verkäuferin sich ein bisschen beeilte? Crazy Move. Ich kann so was ja nicht. Ich kann auf dem Flohmarkt auch nicht feilschen. Aber ich sagte in diesem Moment einfach nichts dazu.

Da sich kein besserer Anzug fand, wurde die Hausschneiderin hinzugerufen.

»Kchönen Sie diese Chose weiten?«, fragte die Verkäuferin.

Die Schneiderin besah sich die Hose und nickte.

»Wann sollsn fertig sein? Montag?«

Die Verkäuferin seufzte und sagte: »Neinnein, es ist Notfall, der junge Cherr heiratet morgen.«

Mir wurde es doch ein bisschen unangenehm. Meine kleine Lüge, die streng genommen keine war, vor allem nicht meine, sondern nur ein Verschweigen der Wahrheit im richtigen Moment, schwoll immer weiter an.

»Wir können das auch so lassen, wirklich, kein Problem, dann atme ich eben weniger«, sagte ich und lächelte. Aber die Verkäuferin, sie hieß übrigens Frau Petrowitsch, flötete: »Neinnein, das wird schon gehen.«

Die Schneiderin watschelte davon.

»So, wenn ich Sie nun bitten dürfte zur Kasse?«, sagte Frau Petrowitsch und zeigte auf einen eleganten Tresen.

»Die Chose kchönnen Sie cheute Abend abcholen. Ich brauche nur Telefonnummer, um Bescheid zu sagen.«

Ich bezahlte mit Karte und gab ihr meine Nummer.

»Sagen Sie!«, hob die Verkäuferin an. »Wo cheiraten sie denn?«

Ich atmete tief ein. Dann erwiderte ich das Erste, was mir einfiel.

»In Frankfurt.«

»An der Oder? Wirklich? Da ich hab Verwandte.«

»Nein, in Frankfurt am Main, da kommt meine Freund…, äh Verlobte her.«

Und schon wieder gelogen. Warum?

Frau Petrowitsch winkte nun einem Mann, der auf der anderen Seite der Etage dekorativ entlangstolzierte.

»Das ist mein Chef, den wird das auch interessieren. Der kommt aus Frankfurt. Chef, Chef, der junge Mann hier cheiratet morgen. In Frankfurt! Und sechense, er kauft erst jetzt seinen Anzug.« Er kam zu uns, grinsend wie ein Immobilienmakler.

»Na Sie habbe ja de Ruh weg. Bei Ihre Frau sieht des sischer anners aus«, sagte der Chef und legte mir eine Hand auf die Schulter.

Der Chef sah mich an, während er unter der Theke nach etwas suchte.

»Erzählese doch ma en bissi, wo werd denn geheiradet?«

Und wieder musste ich mir etwas ausdenken.

»Na ja, das wird eine kleine Feier, ganz bescheiden, also wir sind im Standesamt …«

»Nord odä Midde?«

»Ja, Mitte. Oder, puh da bin ich überfragt. Nee, doch Mitte.«

»Dann saaachesse ma de Frau Tschechowski schöne Grüße, ge«, sagte der Chef, während er die Hülle und die Metallabdeckung einer Champagnerflasche entfernte. »Mit dä war ich uff de Schul.«

»Ach, das ist ja witzig, meine Verlobte auch.« Ich konnte nicht mehr aufhören.

»Nee, im Ennst? Aufem Gaggern?«, der Mann war aufgeregt.

»Ja.«

»Wie heißt die dann?«

Und wieder sagte ich das Erste, was mir einfiel: »Gogol. Leonie Gogol. Also bis morgen.«

Frau Petrowitsch rief: »Wie der russische Schriftsteller.«

»Ja genau, sie ist auch irgendwie mit ihm verwandt.« Ich musste raus aus dieser Situation. Es wurde immer schlimmer. Der Chef ging offensichtlich in seinem Kopf eine Liste durch. Ein guter Chef merkt sich alle Gesichter.

Der Korken knallte, Frau Petrowitsch quiekte und der Chef sagte: »Also e Leonie Gogol kenn ich net. Na ja, wollese en Schluck Sekt, so zur Feier des Tages?«

»Nein, danke, ich bin Alkoholiker«, sagte ich und wollte gehen.

»Ach werklisch?«, sagte der Chef. »In Therapie? Habbese e Grupp? Wenn ja, wo? Isch suche!«

»Ich hab ne Gruppe«, sagte ich, »lassen Sie uns doch Nummern tauschen. Ach was, noch besser, kommen Sie doch einfach morgen vorbei.«

Verdammt.

»Uhhh, da müsste ich halt noch nach Frankfodd«, sagte der Chef. »Aber danke für die Einladung.«

»Wir können Sie mitnehmen. Wir haben noch Platz in der Limousine.«

»Ei subber, isch bin übrigens de Maddin.«

»Und ich bin Christian Meyer«, sagte ich und gab dem Martin die Nummer von Christian Meyer, »aber mein Zweitname ist Martin.«

»Nein!«

»Doch!«

»Mein Zweitname ist Christian.«

»Nein!«

Frau Petrowitsch juchzte ob dieses unfassbaren »Zufalls«.

Sie wirkte so glücklich.

»Passen Sie auf, Martin, Frau Petrowitsch, meine Freundin ist schwanger, Sie beide sind die Ersten, die es erfahren. Wollen Sie, wollt ihr die Paten sein?«

In diesem Moment kam meine Freundin an den Verkaufstresen, wurde sofort von Frau Petrowitsch umarmt, der Tränen der Rührung in den Augen standen.

»Frau Gogol, oder darf ich schon sagen Meyer? Das wird der schönste Tag in Ihrem Leben! Selbst wenn es regnet. Bei meiner Chochzeit hat es geregnet. Es war schönste Tag in meinem Leben. Genießense es.«

Der Chef gab meiner Freundin die Hand. »Wir Frankfodder lasse nischts anbrenne, gell?«

Sie guckte mich an. Diesen Ausdruck kannte ich schon. Er verhieß nichts Gutes.

»Was denn für eine Hochzeit?«, fragte sie verwirrt.

Hä? Hatte sie nicht vorhin behauptet, wir würden heiraten, damit Frau Petrowitsch sich beeilte? Ich musste handeln, ehe alles aufflog.

Ich sagte: »Ja, es sollte eigentlich eine Überraschung werden!«

Dann kniete ich mich hin.

Mittlerweile ist der Möhrenmann aufgewacht. Er und der Schaffner diskutieren, ob ein Ticket für die Regionalbahn auch im ICE gelten würde. Sie haben unvereinbare Meinungen zu diesem Thema. Einer von beiden muss falschliegen. Und ich glaube, ich weiß wer.

Ist das nervig.

Ich hätte das Auto nehmen sollen.

Da ist man zumindest allein.

Obwohl das eigentlich auch nicht geht, wegen ökologischem Fußabdruck und so. Musste ja wen mitnehmen. Willst aber gleichzeitig deine Ruhe. Oder Hörbuch hören. Und dann fragen die die ganze Zeit, wer wer ist. Weil sie den Anfang der Geschichte nicht mitbekommen haben. Und dann musst du denen das erklären. Beim letzten Harry-Potter-Band. Und dann niesen die wahrscheinlich auch noch. Oder essen Möhre. Aaaah!

Ein weiteres Problem: Seit geraumer Zeit schreie ich im Auto. Ich hatte das immer für ein total übertriebenes Klischee gehalten, aber auf mich trifft es zu. Ich schreie alle an. Um mich abzureagieren. Natürlich nur, wenn ich alleine bin. Und natürlich nie ohne Grund. Es sind einfach alle außer mir Idioten.

Nur mein Weg ist der richtige. Vor allem der einzige. Wo müssen denn die anderen Leute überhaupt hin? Am Montag zwischen 16 und 18 Uhr? Alles Arschlöcher. Die entweder drängeln oder mich nicht durchlassen. Ich geb doch schon Lichthupe. Aaaah.

In New York bin ich auch Auto gefahren. Mit meiner Family. Ich habe kein einziges Mal geschrien. Ich habe mich noch nicht mal aufgeregt. Es ist ein anderer Stil. Wenn man dort an eine Kreuzung ohne Ampel kommt und da steht noch ein anderes Auto, dann guckt man sich an und stimmt sich ab, wer als Erstes fährt. In Deutschland undenkbar. Da würde jeder zuerst fahren. Vor allem ich.

Nur ja dem anderen nichts gönnen. Immer stur geradeaus.

Schon Rousseau sagte einst: Reise in ein anderes Land mit dem Zug, und du lernst es kennen, reise mit dem Auto und du lernst es hassen. Also nicht Jean-Jacques Rosseau, sondern Enrico Rousseau, ein sächsischer Philosoph.

Er ist eigentlich kein Philosoph. Er ist ein Typ, den ich noch aus Schulzeiten kenne. Eigentlich heißt er auch nicht Rousseau, sondern Rößner.

Weil er in der zehnten Klasse sitzen geblieben war, hatten wir uns aus den Augen verloren. Eines Tages traf ich ihn am Dresdner Hauptbahnhof wieder. Ich treffe sehr viele Leute an Bahnhöfen. Auf der einen Seite ist das sehr praktisch, weil ich mich so selten verabreden muss. Auf der anderen Seite ist das sehr traurig, weil es zeigt, dass ich neben dem Auftreten offenbar kein Leben habe.

Es muss so gegen 2004 gewesen sein, kurz nachdem ich angefangen hatte, meine Texte auf Bühnen vorzulesen.

Um mich herum am Dresdner Hauptbahnhof standen ganz viele nervige Fußballfans. Von Dynamo. Ist aber eigentlich auch egal welcher Verein, Fußballfans sind wie Wurzelbehandlungen. Immer unangenehm.

»Ey, Dschalljes, Dschalljes Fischer?«

Ich spürte eine schwere Hand auf meiner Schulter und drehte mich um. Vor mir hatte sich ein etwa zwei Meter großer Typ mit gelber Schminke im Gesicht und einem abgebrochenen Schneidezahn aufgebaut.

»Enni?«, fragte ich.

»Für dich immer noch Enriggo, Aldr!«

»Krass, was machst du denn hier?«

»Das könntsch dich ooch fragen.«

Ich umarmte ihn. Er schubste mich weg.

»Ey, ich bin keen Homo!«

»Schuldige, wie begrüßt du denn Leute, die du lange nicht gesehen hast?«

Er boxte mir an die Schulter. Sehr hart.

»Bist du immer noch Dynamo-Hooligan?«, fragte ich, während ich mir die schmerzende Stelle rieb.

»Ich bin Ultra! Das is was ganz anderes!«

»Wie isses denn heute ausgegangen?«

»Vier null verloren!«, entgegnete Enrico und schluchzte ein bisschen.

»Ach, und da prügelst du dich nicht?«

»Hab ich schon«, sagte er und deutete auf den abgebrochenen Schneidezahn. »Hier, ma was andres? Hast du zufällig Bier?«

Zufällig hatte ich Bier. Wenn ich mal Zeit habe, sollte ich darüber nachdenken, ob das ein gutes Zeichen ist.

»Danke, Aldr!«, sagte er und nahm einen Schluck. Dann stieß er ausgiebig auf. Seine Stimmung verbesserte sich schlagartig.

»Weeßte noch früher in der Pause, wo du immer gerülpst hast, Aldr?«, fragte er glucksend. »Zum Beispiel: ›Tschuldigung, dass ich immer rülpse?‹ Mach ma, kannste das noch? Mach ma, Dschalljes!«

»Nee, das ist mir unangenehm. Ich habe mich weiterentwickelt.«

»Wiesou?«

»Ich mache jetzt Lesungen.«

»Was machst du?«

»Ich lese lustige Texte vor. Mit Publikum.«

»Also Comedy?«

»Nee, na ja, also wie gesagt, ich lese vor.«

»Und deswegen kannst du ni rülpsen? Verstehschni! Was machst du denn bei den Lesungen?«

Ich überlegte.

»Na ja, also ich habe zum Beispiel ein kurzes Gedicht über Ironie. Ironie kennste?«

»Näj!«

»War das ironisch?«

»Näj!«

»Gut, also mein Gedicht über Ironie: Warum waschen manche Punks ihren Iro nie?«

Enrico guckte mich lange an.

»Also keene Comedy!«, sagte er schließlich.

»Haha.«

»Weeßt du eigentlich, dass ich dich früher immer verkloppen wollte?«

»Echt? Wieso?«

»Na ja, weeßschni? Du warst so een Klugscheißer. Das hat mich produziert …«

»Provoziert.«

»Siehste. Schonne wieder. Hass!«

»Und jetzt? Willste mich immer noch verkloppen?«

»Näj, ich hab mich weiterentwickelt.«

Ich muss lachen. Ich sollte Enrico mal wieder anrufen. Ein spitzer Finger pikt mir in die Schulter.

»Hallo! Hallo!«

Der Schaffner schaut mich an. Der Möhrenmann auch. Angst und Unverständnis in ihren hohlen Gesichtern. Haben die noch nie jemanden einfach so lachen sehen?

»Ihre Fahrkarte bitte.«

Fuck you, fuck you, fuck you, denke ich und sage: »Sehr gern.«

Auf einmal kommt der Zug zum Stehen. Sehr abrupt. Alles rumpelt umher, Koffer fliegen durchs Abteil. Mein Rechner fällt mir in den Schoß, der Möhrenmann, der in Fahrtrichtung sitzt, schlägt mit dem Kopf auf dem Tisch auf. Der Schaffner, dem der heftige Ruck nichts auszumachen scheint, wirft einen kurzen Blick auf uns, der sagen soll: »Ihr Unwürdigen, ihr Nichtse. Das ist ein Zug, hier wirken andere Kräfte als in euren jämmerlichen Leben. Mit dieser Körperbeherrschung solltet ihr nicht mal auf die Straße gehen, es könnte ein Blatt vom Baume wehen und euch in zwei Teile spalten.«

So zumindest interpretiere ich diesen Blick. Ich habe mir angewöhnt, davon auszugehen, dass die Leute immer nur das Schlechteste von einem denken.

Der Schaffner verlässt das Abteil, ohne meine Fahrkarte kontrolliert zu haben.

Mein Gegenüber und ich schaffen Ordnung, verstauen die Koffer und schweigen.

Als wir wieder sitzen, öffnet er seinen Rucksack und holt eine Tupperdose heraus. Ich rieche Graubrot und Leberwurst. Dazu Kohlrabi.

Ich schließe die Augen.

Ich denke mich einfach an einen schönen Ort. Hmmm, die Ostsee. Ich liebe die Ostsee. Auf jeden Fall mehr als die Nordsee.

Was ist das überhaupt für ein Meer? Das eigentlich nur die halbe Zeit da ist? Ohne Scheiß, als Scheidungskind habe ich genug Erfahrungen mit Vätern gesammelt, die nicht da waren. Wozu brauche ich dann ein Meer, was mir das immer wieder spiegelt? Im Gegensatz zu den Vätern kommt die Nordsee wenigstens zurück.

An der Ostsee war ich immer mit meiner Mutter. Morgens stiegen wir aufs Fahrrad, fuhren eine halbe Stunde durch den Wald und waren an einem perfekten Strand. Keine anderen Menschen, viel Holz zum Hüttebauen, manchmal sogar Bernsteine. Und mittags gab es immer Snacks. Zum Beispiel Kohlrabi.

Warum muss ich an Kohlrabi denken? Ich öffne die Augen. Der Typ macht mich fertig. Nicht nur der Mund, nein, das komplette Gesicht ist ausschließlich mit der Vertilgung des Kohlrabi beschäftigt.

Wie soll ich mich denn da an einen schönen Ort denken?

Ich habe einen Kumpel, der kann sich auch nur auf Dinge konzentrieren, die da sind, sprich: Ihm fehlt das Abstraktionsvermögen. Schwierig. Vor allem, wenn wir versuchen, zu arbeiten. Also wenn wir versuchen, einen Liedtext zu schreiben. Ich frage ihn dann meistens, worüber er gerne schreiben würde. Er sitzt mir gegenüber, nippt an einer Cola und sagt: »Ich weiß nicht, aber wie wäre es mit einem Lied über Limonade?«

Kaum auszumalen, was er in romantischen Momenten so tut. »Liebste, dein Haar ist so schön wie … dein Haar.«

Er ist eben ein Mensch, der sehr empfänglich für die Schwingungen seiner Umgebung ist.

So wie ich gerade. Ich bin schwach. Ich kann mir keinen anderen schönen Ort vorstellen als einen Zug. Ich kann einfach nicht. Und ich kann mir auch keinen anderen Zeitpunkt vorstellen als ebenjenen, in welchem ein Zug auf freier Strecke zum Halten gekommen ist. Ich hasse meine Gedanken.

Das letzte Mal, als ich länger so in der Gegend herumstand, war ich mit vier Freunden auf Tour. Lesetour. Mit Bassist. Boris the Beast. Außerdem anwesend waren Marc-Uwe und Maik. Der Einzige, der fehlte, war unser Kollege Sebastian, der bereits zwei Stunden vor uns in den Zug gestiegen war.

Er musste dafür seine Gründe gehabt haben, einer davon war sicherlich, dass wir spielen würden, und Sebastian hasst alle Spiele.

Bis auf Pokern und Verstecken. Verstecken kann ich ja noch verstehen, denn er ist sehr klein, aber beim Pokern ist er noch nicht mal gut. Obwohl: Bluffen kann er. Er behauptet zum Beispiel schon sehr lange, dass er Schriftsteller ist. Und nicht klein.

Ein anderer Grund war, dass er ein wichtiges Treffen hatte. Aber mit wem? Den anderen Zwergenfürsten?

So saßen also Maik, Marc-Uwe, Boris und ich im ICE auf einem Vierer und spielten die extended version des hochkomplexen Brettspiels Zwergenwald. Wir hatten gerade das Spielfeld aufgebaut, da stand Marc-Uwe nach einem Blick auf die Uhr auf und sagte: »Ich muss noch was essen. Sonst bekomme ich Migräne.«

»Migräne«, erwiderte ich, »ist ja in erster Linie Kopfsache!«

Boris lachte.

Maik schmierte sich unterdessen unentwegt mit Desinfektionsmittel ein.

»Ich hatte erst letzte Woche Magen-Darm«, sagte er.

Boris sagte: »Scheiße!«

Ich lachte. Maik fand das gar nicht witzig.

»Es ist gerade Grippewelle, hallo, wacht auf, Leute!«, sagte er und befeuchtete auch sein Gesicht und seine Zunge mit der antiseptischen Flüssigkeit.

»Kann ich auch was davon haben?«, fragte ich. »Ich habe totale Angst davor, mich mit Hypochondrie anzustecken.«

Ich sah aus dem Fenster und bemerkte, dass wir immer noch standen. Das hatte ich durch den etwa halbstündigen Aufbau des Spiels gar nicht mehr auf dem Schirm.

»Wie lange stehen wir schon?«, fragte ich besorgt.

»Seit wir losgefahren sind!«, antwortete Boris.

Dann schrieb ich Sebastian eine SMS, dass mit unserer Ankunft frühestens eine Stunde vor Showbeginn zu rechnen wäre.

»Oh nein!«, schrieb er zurück.

»Oh doch«, antwortete ich.

»Ich weiß gar nicht, was ich die ganze Zeit machen soll.«

»Wir schon!«, schrieb ich. Also eigentlich wollte ich »Wird schon« schreiben, aber meine Autokorrektur ist manchmal ein bisschen bitchy.

Marc-Uwe kam zurück, zufrieden kauend.

Wir begannen mit dem Game. Ziel des Spiels war es, unter dem Zwergenwald einen Dungeon zu erforschen. Dafür musste abwechselnd gewürfelt, geschnickschnackschnuckt und armgedrückt werden. Darüber hinaus gab es bei bestimmten Karten Richtungswechsel, andere Karten sorgten dafür, dass wir uns alle umsetzen mussten. Und immer wenn mindestens zwei Sechsen gewürfelt wurden, wurde das Spielbrett auf die andere Seite gedreht.

Oder wenn eine blaue Drei gewürfelt wurde. Oder ein Hackbraten. Ja, Hackbraten. Es war bekloppt.

Außerdem mussten wir uns Zwergennamen geben.

Maik hieß Maikrox Eisenfaust, Boris war Boris the Dwarf, ich wollte unter dem Namen Yulfred Steinspalter in die Annalen dieses Spiels eingehen und Marc-Uwes Zwergenname war Sebastian.

Wenn die Spielanleitung diskutiert werden musste, wurde es immer laut im Abteil. Die anderen Fahrgäste hatten es längst aufgegeben, sich aufzuregen, sie beteiligten sich vielmehr rege am Geschehen.

Einige aßen Kohlrabi … ich meine Popcorn. Popcorn! Verdammter Möhrenmann.

Das Spiel tobte hin und her. Ich verstand in der Regel nicht, warum was wie gemacht wurde, und machte einfach mit. Dann kam es zum Tumult.

Ich war dran mit Würfeln. Eine Sechs, vier Fünfen, eine Drei, ein Totenkopf, drei Hackbraten und den Elfenfürst.

Um mich herum gab es einen Aufschrei. Ein Schwall Popcorn regnete mir in den Schoß.

»Was ist passiert?«, wollte ich wissen.

Die Leute um uns herum stöhnten auf.

»Hast du das Spiel immer noch nicht verstanden?«, fragte Boris.

»Ist doch ganz einfach, steht doch in den Regeln!«, sagte Marc-Uwe und begann, die Spielanleitung abzurollen.

Er brauchte zwei Minuten, dann hatte er die richtige Stelle gefunden und zitierte: »Wenn vier Fünfen in Kombination mit drei Hackbraten und dem Elfenfürsten geworfen werden, muss der Spieler vier beliebige Ressourcen in den Vorrat zurücklegen, sich dafür zwei Gnadenmarker nehmen und zwei Plätze weiterrücken. Alle anderen Spieler ändern sowohl Rasse, Klasse als auch Geschlecht und müssen alle bisher errungenen Siegpunkte untereinander gerecht aufteilen, während gleichzeitig der Dämonennebel ausgelöst wird.«

»Was war noch mal der Dämonennebel?«, fragte ich.

»Das hatten wir doch vorhin!«, sagte das Mädchen hinter mir. »Ein Dämon aus Gas materialisiert sich im Dungeon und versucht, von dir Besitz zu ergreifen. Du kannst dies verhindern, indem du zwei deiner friedlichen Begleiter opferst, außer es handelt sich bei ihnen um die Katzenbabys, weil der Geist hat Allergie.«

»Aber wir sind doch gar nicht im Dungeon, wir sind doch im Wald, dachte ich.«

»Nein, Mann!«, rief nun das halbe Abteil. »Zeigt der blaue Würfel im Viererspiel eine Drei, muss umgehend der Spielplan gedreht werden.«

»Sorry! Ich hab vorhin nicht aufgepasst. Ich weiß zwar nicht genau, wann, weil dieses fucking Spiel so unfassbar komplex ist. Außerdem muss ich ja auch noch ständig mit Sebastian kommunizieren.«

»Stimmt, der ist ja im Kerker«, rief der Mann am Vierer neben uns.

»Nicht Marc-Uwe-Sebastian, der richtige Sebastian«, knurrte ich ungeduldig.

»Außerdem bin ich gar nicht mehr im Kerker«, sagte Marc-Uwe. »Ich hab doch im letzten Spielzug einen Schleudertroll beschworen.«

»Korrekt! Deswegen sitze ich ja auch jetzt hier«, sagte Maik von unter dem Tisch und fügte an: »Oh, wir haben vergessen, die Flasche zu drehen.«

»Aber gegen den Uhrzeigersinn!«, hörte ich die alte Frau sagen, die es sich bereits vor einer Weile in der Gepäckablage über uns bequem gemacht hatte, um einen besseren Überblick zu haben.

»Stimmt!«, gab Marc-Uwe ihr recht. »Ist aber egal, weil ich das Spiel jetzt eh beende.«

»Wie willst du das schaffen?«, fragte Boris. »Die Kuh ist tot und es gibt nur noch exakt drei Heiltränke.«

»Außerdem bin ich vorher dran«, drang Maiks dumpfe Stimme von unten herauf.

»Und einer der Hackbraten ist medium rare«, gab der Schaffner zu bedenken.

Ich schaute völlig verwirrt in die Runde, dann aufs Spielbrett, dann in die Regeln.

»Das denkt ihr euch doch alles aus!«, rief ich.

»Dürfen wir ja auch. Steht hier!«, sagte Marc-Uwe und zeigte auf Regel 103. Und es stimmte leider. In der Spielanleitung stand: »Alle dürfen Regeln erfinden, außer Julius Fischer.« What are the odds, Alter? Darüber wird dann im Zwergenrat abgestimmt. Der begann nun zu tagen. Alle diskutierten wild durcheinander. Dass der Zug mittlerweile wieder fuhr, fiel niemandem auf.

Nach ausgiebiger Entscheidungsfindung mussten Marc-Uwe und ich wieder auf Start, während Maik und Boris nun als siamesische Zwerglinge unterwegs waren.

»Darf ich jetzt wenigstens anfangen?«, schmollte ich.

»Nein! Ich bin dran!«, sagte eine hochgewachsene Frau, die plötzlich neben mir saß. Ich erschreckte mich zu Tode. In diesem Moment fuhren wir in den Hauptbahnhof Hamburg ein.

Alle sprangen panisch auf, das Spielfeld flog durch die Luft und es herrschte Tumult. Nicht viel anders als während des Spiels. Die Türen schlossen sich aber, ehe auch nur einer von uns den Zug verlassen konnte.

»Wer hat denn jetzt eigentlich gewonnen?«, fragte Maik.

»Keiner«, sagte Marc-Uwe. »Ist ein kooperatives Spiel.«

»Geil. Noch ne Runde?«, fragte Boris.

Ich schrieb Sebastian, dass er schon mal anfangen sollte mit der Lesung. Die Autokorrektur machte daraus: »Fuck you.«

Spät am Abend, nachdem die Lesung vorbei war, kamen wir am Auftrittsort an. Sebastian saß weinend auf einem Berg Textblätter. Also eigentlich waren es nur drei Blätter, aber Sebastian war ja klein.

»Und wie war die Lesung?«, fragte ich.

»Scheiße!«, sagte er und ergänzte: »Ich hasse euch so sehr wie …« Er sah sich um. »Wie diese drei Textblätter!«

Mein Mitreisender räuspert sich. Ich schaue ihn an. Mit einem Stück Kohlrabi zwischen den Fingern deutet er nach draußen. Da steht die Polizei.

Ich zucke zusammen. Ich weiß auch nicht, warum. Alleine die Anwesenheit der Polizei gibt mir das Gefühl, ich hätte irgendetwas verbrochen. Ich gehe im Kopf noch einmal alles durch. Klar, die Klauphase: Zwischen der siebten und neunten Klasse habe ich jeden Supermarkt bestohlen, der auf meinem Weg lag. Und meine Eltern. Alle sechs.

Dann die Sache mit dem Fahrscheinautomaten. Mit sechzehn hatten mein bester Freund und ich nach dem Genuss dreier Flaschen Wein am Elbufer auf dem Rückweg zuerst die Laternen der Eisenbahnbrücke mit Steinen aus dem Gleisbett ausgeworfen und anschließend in die Fahrscheinausgabe des Automaten gepinkelt. Der irgendwo ein Loch hatte. Weshalb uns die ganze Pisse auf die Schuhe gelaufen war. Nichtsdestotrotz mussten wir in den darauffolgenden Monaten immer kichern, wenn jemand an diesem Automaten eine Fahrkarte zog. Ich hasse Teenager.

Dann war da noch die Sache mit der Wirtschaftskriminalität.

Als aus meiner Studenten-WG mein PC-Tower, tatsächlich als einziger Gegenstand, entwendet wurde, vermutete ich Ideenraub und verständigte die Polizei, um mir den Sachwert des Gerätes von der Versicherung erstatten lassen zu können. Während der Spurensicherung deutete ich auf einen Stapel selbst gebrannter CDs, die der Dieb berührt haben musste, da sie zuvor auf dem PC-Tower gestanden hatten. Der Beamte betrachtete den Stapel kurz und fragte: »Hamse auch die Originale dazu?«

Hatte ich nicht. Und zack – wirtschaftskriminell. So schnell konnte es gehen.

Ich überlege. Was könnten sie mir diesmal anhaben? Mir fällt nichts ein. Vielleicht schaffe ich es irgendwie, den Möhrenmann verantwortlich zu machen. Damit sie ihn abführen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Also mich.

Meine letzte Begegnung mit der Polizei war auch eher so geht so.

Ich hatte mir zusammen mit meiner Frau ein neues Auto gekauft. Einen Hybrid. Unser alter Wagen, ein VW Lupo, zwanzig Jahre alt, hatte vor ein paar Monaten mitten auf der Kreuzung den Geist aufgegeben. Einfach so. Als hätte er den Skandal seiner Mutterfirma schon vorausgesehen und wollte da nicht mit reingezogen werden.

Der Lupo war auch eine Art Hybrid. Eigentlich zu klein für ein Auto, aber definitiv zu groß, um noch als Fahrrad durchzugehen. Eine Hutschachtel auf Rädern.

Hybrid-Wagen sind ja sonst eher so eine Art Öko-Transformers.

Und wie ein guter Transformer erledigt auch mein Hybrid bestimmte Dinge für mich. Also er befreit nicht die Menschheit von bösen Roboter-Zwittern aus dem Weltall, aber er kann ohne Hilfe rückwärts einparken. Kranker Scheiß.

Darüber hinaus ist er sehr, sehr leise. Im Lupo konnte man sich ab Tempo vierzig eigentlich nur noch über Handzeichen oder SMS verständigen. Mein neues Auto aber ist so leise, dass mir ständig Fußgänger unter die Räder kommen. Ich hasse Fußgänger. Und Radfahrer. Und andere Autofahrer.

Eine weitere Hybrid-Funktion unseres Wagens ist, dass er sehr teuer aussieht, obwohl er nur in etwa ein Drittel dessen kostet, was die Besitzer der Benze und Maseratae in meinem Viertel hinlegen. Da ist das Auto ganz anders als ich. Ich sehe wirklich nicht so aus, als würde ich in diese noble Gegend gehören. Da hat der Lupo eigentlich besser gepasst.

Weil mein Hybrid offensichtlich so aussieht, als wäre er ein Auto aus Gold, sehr schwarzem Gold zwar, aber eben doch Gold, brachen Unbekannte das Fahrerfenster auf.

Auf diesen Umstand machte mich am Morgen nach der Tat ein Polizist über die Gegensprechanlage aufmerksam.

Da ich soeben erwacht und nur mit einem Seidenslip bekleidet war, zog ich mich an und ging auf die Straße.

Dort warteten zwei Beamte. Als sie mich sahen, gingen sie sofort hinter meinem Auto in Deckung.

»Hände hoch!«, rief der Jüngere der beiden und dann noch: »Keine Dummheiten machen!«

Ich tat, wie mir geheißen. Der andere, ältere Polizist ging zum Streifenwagen und funkte an die Zentrale: »Ich glaube, wir haben ihn.«

Wie gesagt, ich sehe nicht so aus, als würde ich in meiner Gegend wohnen.

Als ich die beiden Heißsporne davon überzeugen konnte, dass es sich bei mir um mich handelte, waren sie enttäuscht, aber nicht entmutigt.

»Wir müssen jetzt erst mal Fingerabdrücke nehmen. Es wurden noch andere Autos aufgeknackt«, sagte der Jüngere streng.

Ich hasse Menschen. Eine Abschweifung

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