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Erstes Kapitel
ОглавлениеEs war in der bereits stark vorgeschrittenen Dämmerung eines warmen Frühlingsabends im Jahre 1397, als ein einsam daherkommender Mönch über die Neckarbrücke zu Heidelberg auf das Stadttor zuschritt. Seine hohe Gestalt war von der braunen Kutte verhüllt und die Kapuze so tief über das gebeugte Haupt gezogen, daß auch von seinem Gesichte nichts zu sehen war. Er hielt die Arme dicht an den Leib geschmiegt und die Hände davor gefaltet, und sein Gang hatte etwas Unsicheres, Schwankendes, als wenn er, dessen ungewohnt auf den Zehen schliche. Ob er auf Sandalen oder in Schuhen ging, war nicht zu erkennen, denn auch die Füße waren vom Gewande bedeckt.
Das Tor war noch offen, aber der Torwart trat just aus der Wachtstube, um es zu schließen, als der Mönch hindurchschritt. Der Wächter maß den Ankömmling mit einem mißtrauischen Blick und schien eben eine Frage an ihn richten zu wollen, als der Mönch die Rechte erhob und das Zeichen des Kreuzes über den andern machte. Aber die Bewegung fiel etwas ungeschickt, fast ungeschlacht aus; die Hand holte in den sich schneidenden Richtungen von oben nach unten und von rechts nach links so hoch und weit aus, als wollte sie den sündigen Laien statt mit dem heiligen Segenszeichen mit ein paar derben Schlägen bedenken, die glücklicherweise nicht dessen Scheitel und Wange trafen, sondern ohne Widerstand zu finden durch die Luft fuhren. Der Wächter unterdrückte seine Frage, und auch der Mönch blieb stumm und schritt eilig die Gasse entlang zur Stadt hinein. Ihm nachblickend schüttelte der Torwart das Haupt und brummte: »Der ehrwürdige Bruder scheint beim Segenerteilen eine recht kräftige Faust zu führen. Was mag er bei Nacht hier in der Stadt zu suchen haben? Denn ein Heidelberger Franziskaner war es nicht; hätte ihn doch fragen sollen!« Damit hatte der Mann die schweren Torflügel geschlossen und schob nun die eisernen Riegel vor. Dann warf er noch einen Blick zum Himmel empor auf die grauen, schnellziehenden Wolken und begab sich wieder in das Wachthäuschen.
In der engen, schon ziemlich dunklen Gasse war die Haltung und Bewegung des Mönches eine ganz andere als vorher beim Durchschreiten des Tores. Seine Gestalt reckte sich, er trug das Haupt hoch und gerade, bewegte die Arme frei an der Seite, und seine Schritte waren fest und weit. Nur wenige Menschen begegneten ihm, vor denen er es, zumal bei dem spärlichen Lichte, vielleicht nicht der Mühe wert hielt, klösterliche Demut zur Schau zu tragen.
Jetzt kam ihm mit lautem Scherzen und Lachen ein Trupp Studenten entgegen, die paarweise in kleinen Abständen voneinander gingen. Als der Mönch an dem ersten Paar vorüber kam, blieb einer der beiden Studenten stehen, wandte sich um und sagte zu dem andern: »Hast du's gehört, Mutz? der Glatzkopf hatte einen Schritt, als trüge er Sporen an den Sandalen.«
»Dummes Zeug! Sporen!« erwiderte sein Genosse, »wird wohl der Teufel gewesen sein, und du hast seinen Pferdehuf trappen hören.«
Lachend gingen sie weiter. Von den zuletzt kommenden Studenten, die zu vieren in einer Reihe schritten, stieß einer, ein großer, stämmiger Gesell, hart gegen den Franziskaner und lachte: »Holla, mi frater! hast du Schultern aus Eichenholz?«
Ein anderer aber fuhr den Mönch heftig an: »Aus dem Wege, Fledermaus! sonst klatsche ich dich an die Wand, daß du kleben bleibst!«
Mit fester, rauher Stimme, fast drohend entgegnete der Gestellte: »Pax vobiscum!« und setzte Raum gebend und weiterschreitend halblaut hinzu: »Oder ein Kreuzhageldonnerschlag soll euch in die Kniekehlen fahren!«
»Was will das Murmeltier?« riefen die Studenten; »kommt, laßt uns ihm die Kutte ausklopfen!«
Einen Augenblick schien es, als wollte der Mönch stehen bleiben und sich zu den Angreifern umwenden; doch er besann sich und machte sich eilends davon. Auch die Studenten gingen auf die besänftigende Aufforderung eines der Ihrigen lachend und spottend ihres Weges.
»Hätt' ich euch Grünschnäbel nur gleich draußen vor dem Tore!« knirschte der Verhüllte und ballte die Faust. An dem Kreuzungspunkt zweier Straßen blieb er unschlüssig stehen, bis eine Frau daher kam, die er mit seinem mildesten Tone frug: »Könnt Ihr mir nicht sagen, liebe Frau, wo der ehrsame, hochgelahrte Magister Doktor Christoph Wiederhold wohnt?«
»Recht gern, ehrwürdiger Vater!« erwiderte die Frau, »Ihr müßt hier fremd sein, denn den Doktor Wiederhold kennt jedes Kind in Heidelberg. Geht nur hier rechts die Gasse hinauf, da ist's das fünfte, sechste, nein, das siebente Haus. Der eiserne Türklopfer ist ein Hund mit drei Köpfen; Ihr könnt's mit der Hand fühlen, wenn Ihr's nicht mehr sehen könnt.«
»Dank Euch, liebe Frau!« sprach der Kuttenträger und schritt in die Gasse hinein, während die Frau noch eine Weile stehen blieb und ihm verwundert nachschaute, bis er im Dunkel verschwand. Das Zeichen des Kreuzes über der Dienstwilligen zu machen, hatte der ehrwürdige Bruder Franziskaner diesmal vergessen.
Bald fand er das gesuchte Haus und setzte den ihm bezeichneten Türklopfer in laut schallende Bewegung. Eine Magd öffnete und führte den friedlichen Gottesmann ohne Zögern und Bedenken die Treppe hinauf zu dem Hausherrn.
Der Herr Magister Doctor juris Christoph Wiederhold saß in seiner Studierstube an einem Tische, auf dem eine Öllampe brannte, über Schriften und Pergamente gebeugt und blickte ob des seltsamen Besuches in so später Stunde verwundert auf. Da mitten in dem niedrigen Gemache stand, beim matten Dämmerschein der Lampe fast gespenstisch anzuschauen, eine hohe, ganz vermummte Gestalt, die ohne ein Wort zu sprechen, zwei funkelnde Augen unter der Kapuze hervor fest auf ihn gerichtet hielt. Dem kleinen, schmächtigen Manne ward unheimlich zumut, und zaghaft klang seine Frage: »Womit kann ich Euch dienen, ehrwürdiger Bruder?«
»Wer Rat und Vertrauen heischt, soll auch Vertrauen entgegenbringen. Ich bin kein Mönch, wenn ich auch Grund und Ursach zu dem Wunsche habe, in den Straßen dieser Stadt für nichts anderes, als einen Mönch gehalten zu werden.« So sprach der Fremde mit tieftönender Stimme, schlug die Kapuze zurück und enthüllte dem nun noch mehr erstaunten Gelehrten ein ernstes, stolzblickendes Antlitz und ein hochgetragenes, bart- und haarumwalltes Haupt, das mit einer blinkenden Stahlhaube bedeckt war. »Ich komme, hochachtbarer Herr Magister,« fuhr er dann fort, »Euch um Euren gelehrten Rat in einer wichtigen Familienangelegenheit zu ersuchen.«
»Nehmt Platz, edler Herr!« erwiderte der Doktor und deutete auf einen zweiten Stuhl, der seinem eigenen Sitze gegenüber stand.
»Meinen Namen möcht' ich Euch verschweigen, denn er tut nichts zur Sache, und es ist fast nur eine Frage, die ich Euch vorzulegen habe, und um die sich alles dreht, was mir zu wissen not tut,« sagte der Unbekannte.
Der Doktor nickte und schaute, bequem in seinem hohen Stuhle sitzend, den Ellenbogen auf der Armlehne und das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, mit gespannter Aufmerksamkeit dem Sprechenden ins Antlitz, der sogleich fortfuhr: »Meine Frage ist diese: Gibt es ein Recht, ein Gesetz, wonach der Landesfürst einen Anspruch auf das Erbe, auf die Hinterlassenschaft an Hab und Gut eines losledigen, unverheirateten Mannes hat?«
»Hier steht es,« sagte er dann, mit dem Finger auf das Blatt zeigend.
»Ihr meint das jus misogamorum, das Recht der Hagestolze, das man eigentlich das Recht des Fürsten auf das Erbe der Hagestolze nennen sollte,« erwiderte ohne langes Besinnen der Gelehrte. »Allerdings, Herr, solch ein Recht gibt es, und ich kann Euch darüber alle Auskunft erteilen, die Ihr wünschen möget.« Darauf erhob er sich, kramte in einem Schranke unter seinen Schriften und fand bald ein Heft heraus, das er vor sich auf den Tisch legte, darin blätternd und suchend. »Hier steht es,« sagte er dann, mit dem Finger auf das Blatt zeigend: »misogamus amittit jus et potestatem testandi, ein Hagestolz verliert sein Erblassungsrecht und muß sein Gut der Obrigkeit des Ortes, wo er sein domicilium hat, überlassen, vermag also nicht durch ein testamentum oder anderen letzten Willen seine Güter weder an seine Blutsfreunde noch an andere Leute zu verordnen und zu vermachen.«
»Hm! hm!« stieß der Fremde hervor; »läßt sich daran nichts drehen und wenden?«
Der Doktor schüttelte den Kopf und sprach bald frei aus dem Gedächtnis, bald ablesend: »Was der defunctus verläßt, nimmt der fiscus hin, auch wenn ersterer sein Hab und Gut ganz oder teilweise bei Lebzeiten verkauft und das Geld an sich genommen hat. Denn so man erfahren kann, daß der bald sterbende Hagestolz in fraudem fisci von seinen Gütern oder Barschaften anderswohin verschafft, muß solches hinwiederum ad locum domicilii und wo er gehauset und verstorben, angeschafft werden. Indessen hat solche confiscatio gemeiniglich nicht statt in allen Gütern des Hagestolzen, sondern nur in seinen wohlgewonnenen Gütern, die er selber in seinem Stande, Nahrung, Getrieb und Arbeit erworben, ersparet und erübrigt hat, nicht aber in seinen Erb- oder Stammgütern, wie auch nicht in seinen Lehngütern.«
»Aha! das klingt schon besser!« sagte der Gast.
»Ja, so steht es geschrieben,« erwiderte der Doktor, »aber, edler Herr, das Recht wird verschieden ausgelegt und gehandhabt, und es ist hierzulande schon vorgekommen, daß auch das Erbgut eines verstorbenen Hagestolzen eingezogen worden ist. Sollte es Euch nebenbei ganz unbekannt sein, daß unser gnädigster Kurfürst, Pfalzgraf Ruprecht der Zweite, ein sehr starkes Begehren nach Landbesitz hat und deshalb per fas et nefas –«
»Das weiß ich vielleicht besser, als Ihr, achtbarer Herr Doktor!« unterbrach ihn der andere mit einem eigentümlichen Lächeln. »Was ist aber nun Euer Rat, um solche schmähliche confiscatio zu verhindern?«
»Wenn Euer Freund – oder seid Ihr es selbst?«
»Nein, mein Bruder ist es.«
»Wenn also Euer Bruder das Zeitliche segnet, will sagen, mit Tode abgeht, so beerbt ihn der fiscus; daran ist nichts zu ändern, edler Herr. Ist er schwer krank?«
»O bewahre! er steht, Gott sei Dank! auf zwei sehr gesunden Füßen.«
»Wie alt ist er denn schon?«
»Neunundvierzig Jahr.«
»Neunundvierzig erst? noch nicht fünfzig?« rief der Doktor lebhaft, »nun, dann ist ja noch nichts verloren und verdorben! Denn wisset, edler Herr, das Hagestolzenrecht gewinnt erst Kraft und Gültigkeit, wenn der Erblasser fünfzig Jahr drei Monat und zwei Tage alt ist.«
»Das ist mir auch gesagt worden, aber was hilft's?«
»Euer Bruder muß heiraten!«
»Heiraten!« lachte der Gast, »der und heiraten!«
»Ja, wenn er nach Überschreitung vorgemeldeter Altersgrenze als lediger Mann stirbt, so ist sein Hab und Gut rettungslos für Euch verloren. Er kann sich aber auch noch später beweiben, und wenn er sich dann auch keiner Nachkommenschaft mehr erfreuen sollte, so beerben ihn doch seine nächsten Blutsverwandten und nicht der Pfalzgraf.«
»Seid Ihr dessen sicher und gewiß?«
»Ohne allen Zweifel und Irrung!«
Der Fremde stand auf, machte nachdenklich in dem kleinen Gemach ein paar klirrende Schritte auf und ab, zog dann ein Ledersäckchen unter der Kutte hervor und legte zwei blanke Goldgulden auf den Tisch: »Ich sage Euch allen schuldigen Dank, Herr Doktor Christoph Wiederhold!« sprach er dann, »gehabt Euch wohl!« Und die Kapuze wieder über den Kopf ziehend, schritt er zur Tür hinaus, es gern zulassend, daß ihm der Magister mit der Lampe zur Treppe hinunter leuchtete und selber die Haustür aufschloß.
Mißmutig und so schnell es die fast völlige Dunkelheit erlaubte, eilte der Vermummte dem Tore zu und klopfte den Wächter heraus. Dieser kam mit den Schlüsseln aus seinem Stübchen und beleuchtete den Auslaßfordernden mit einer mattbrennenden Hornlaterne. »Ach, Ihr seid es, ehrwürdiger Bruder! Nun, habt Ihr Euer Geschäft in unserer guten Stadt zu Eurer Zufriedenheit zu Ende gebracht?« frug er in Erwartung eines guten Schließpfennigs mit unterwürfigem Tone, während er das Schlüsselloch der kleinen Nachtpforte suchte, die sich für Fußgänger in dem großen Torflügel öffnen ließ.
»Was schiert dich meine Zufriedenheit?« fuhr ihn der Mönch an, »ich bin nicht in der Laune, dir Rede zu stehen. Vorwärts! Tür auf! oder ein Kreuzhageldonnerschlag soll dir –«
»– in die Kniekehlen fahren!« fiel ihm der Wächter lachend ins Wort, indem er das Pförtchen aufsperrte. »Das Sprüchlein kenn' ich, Herr Bligger Landschad von Steinach!«
»Woher, du Schuft?«
»Von manchem Fuhrmann hab' ich's gelernt, dem Ihr die Fracht unterwegs ohne seinen Dank erleichtert habt, Herr Ritter!« entgegnete der Wächter trotzig.
»Dir geb' ich noch was zu!« sprach der also Gehöhnte, und der Wächter fühlte einen Faustschlag im Nacken, daß er taumelte, während der andere durch die Pforte ins Freie entwich.
Kaum aber war der Ritter auf der Brücke, auf die aus den zerreißenden Wolken etwas helleres Licht fiel, als er hinter sich den lauten Notruf des Wächters vernahm, den dieser auf seinem Horne blies. Er beschleunigte seine Schritte und streifte im Gehen die Mönchskutte ab, sie über den Arm hängend. Im Panzerhemd, das er trug, konnte er nun freier und rascher ausschreiten und tat dies auch, die linke Hand am Schwertgriff. Jetzt ließ er einen gellenden Pfiff auf dem Finger erschallen, worauf aus nicht zu großer Entfernung derselbe Ton als Antwort klang. Dann näherte sich schnell doppelter Hufschlag, und bald hielt ein gleichfalls gepanzerter und bewehrter Reiter vor ihm, der noch ein leeres Pferd am Zügel führte.
»Nun, wie steht's?« frug der Reiter.
»Er muß heiraten, anders kein Ausweg!« erwiderte Herr Bligger, während er sich in den Sattel schwang. »Aber jetzt vorwärts! Der Torwart hat mich erkannt und schlägt Lärm; wir werden sie bald hinter uns haben, und da kommt schon der Mond hervor.«
Die Reiter gaben ihren Rossen die Sporen und preschten die Straße stromaufwärts am Neckarufer dahin. –
Der Torwart hatte sich nicht geirrt und den scheinbaren Mönch bei seinem rechten Namen genannt, der in Heidelberg sehr wohl bekannt war, aber nicht sonderlich gut angeschrieben stand, was der Träger dieses Namens auch ganz genau wußte.
Die Herren von Steinach waren ein ritterliches Geschlecht, dessen Ursprung zwar, wie der so vieler Adelsgeschlechter, in Dunkel gehüllt war, von dem aber schon Urkunden aus der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts reden. Sie genossen eines weit verbreiteten Ansehens, erfreuten sich eines großen Besitzes und hatten vielfach Hofämter und hohe Kirchenwürden inne gehabt. Einer der ihrigen, auch ein Bligger von Steinach, war ein berühmter Minnesänger gewesen, der im ersten Viertel des dreizehnten Jahrhunderts blühte. Wahrscheinlich ihm zu Ehren führten die Nachkommen eine schwarze Harfe in goldenem Felde im Wappenschilde. Der Ruhm aber, den sich die Enkel erworben hatten, war etwas zweifelhafter und anrüchiger Natur, denn sie lebten zumeist aus dem Stegreif, und manches Schiff, das auf dem Neckar, mancher Frachtwagen, der auf der Landstraße von Heilbronn nach Heidelberg oder in umgekehrter Richtung fuhr, hatte ihre dreist zugreifende Hand fühlen müssen. Einer von ihnen, namens Ulrich, hatte das Räuberhandwerk so arg getrieben, daß ihm das Volk, weil er dem Lande so großen Schaden zufügte, den Schimpfnamen »Landschaden« beilegte und der Kaiser die Reichsacht über ihn verhängte. Vogelfrei, wie er nun war, nahm er an einem Kriegszuge gegen die Ungläubigen teil, schlug einem gefürchteten Anführer der Sarazenen das Haupt ab und brachte es dem Kaiser zur Sühne, so daß dieser ihn wieder zu Gnaden aufnahm und ihm erlaubte, einen gekrönten Sarazenenkopf als Helmzierde im Wappen zu führen. Den Namen Landschaden aber behielt er und sein Folgegeschlecht für alle Zeiten bei, und die tapferen Degen sorgten auch ferner durch ihr Tun und Treiben dafür, daß die Bedeutung dieses Namens nicht in Vergessenheit geriet.
Zurzeit lebten drei Brüder des Geschlechtes, Bligger, der älteste, Konrad, der jüngste, beide verheiratet und mit Kindern gesegnet, und, dem Alter nach in der Mitte zwischen diesen beiden, Hans, jener Hagestolz, um dessentwillen Bligger sich in die ihm feindlich gesinnte Stadt hinein gewagt hatte. Diese drei Brüder besaßen vier Burgen, die nahe beieinander über dem Städtchen Neckarsteinach auf den Bergen des rechten Flußufers standen. Bligger wohnte in der größten, der Mittelburg, die mit der kleinen Vorderburg durch eine Zugbrücke verbunden war; Konrad hauste auf der Hinterburg und Hans endlich auf Burg Schadeck, vom Volke auch das Schwalbennest genannt, weil sie hoch, frei und keck über dem Tale wie ein angeklebtes Nest an einem schroffen Felsen hing.
Dort lebten sie keineswegs einsam und abgeschieden, ohne ebenbürtige und gleichgesinnte Nachbarn; vielmehr waren innerhalb der nächsten vier oder fünf Meilen von Neckarsteinach stromaufwärts die bewaldeten Höhen zu beiden Seiten des vielgewundenen Tales mit stattlichen und von ritterlichen Geschlechtern bewohnten Burgen besetzt, wie sie in solcher Zahl auf so kleinem Raume nirgend anders, auch nicht am Rheine, zu finden waren. Neckarsteinach gegenüber lag auf hohem Kegel die Veste Dilsberg, der Sitz des kurpfälzischen Gaugrafen über den Kraich-, Enz- und Elsenzgau; dann folgten stromauf die Burgen Hirschhorn, Eberbach, Stolzeneck, Zwingenberg, Minneburg, Dauchstein, Hornberg, Horneck, Guttenberg und Ehrenberg, eine immer gewaltiger, als die andere, und jede mit Dörfern und Höfen und weiten Waldungen als Eigentum versehen oder als erbliches Lehen bedacht.
Die mächtigsten, reichsten, aber auch gefürchtetsten aller Burgherren des Neckartales waren die Landschaden von Steinach, und wenn sich Herr Bligger auch nur bei Nacht und als Mönch verkleidet in die Stadt Heidelberg hineinschlich, so war das immerhin schon ein sehr gewagtes Spiel für ihn, denn er hatte eine böse Rechnung bei ihr auf dem Kerbholz. Darum suchten jetzt die beiden Brüder möglichst rasch von dannen zu kommen und ritten in schlankem Trabe durch die vom Monde mehr und mehr erhellte Nacht heimwärts, ohne miteinander zu reden, ein jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Des verwegenen Ritters heimlicher Besuch in Heidelberg hatte aber folgende Veranlassung. Am gestrigen Tage hatte in Bliggers Abwesenheit ein Jude, der sich Isaak Zachäus von Ingolstadt nannte, in Begleitung seines Sohnes, eines hübschen, dunkeläugigen Jünglings, auf der Mittelburg vorgesprochen, sich als Arzt für Menschen und Vieh ausgegeben, gefragt, ob hier etwa die einen oder das andere seiner Kunst und seines vielerprobten Rates bedürftig seien, und sich schließlich erboten, den Burgbewohnern das Horoskop zu stellen, denn er sei auch in Astrologie und höherer Geometrie wohl bewandert und erfahren. Darauf war die Burgfrau mit Freuden eingegangen, und der Sterndeuter hatte sie nach Tag und Stunde der Geburt sämtlicher Familienglieder gefragt, um danach seine Berechnungen zu machen. Nun besaß Frau Katharina ein altes Gebetbuch der Mutter ihres Gemahls, in welche diese alle wichtigen Familienereignisse, also auch die Geburten ihrer Kinder, eigenhändig verzeichnet hatte. Das holte sie hervor und ging dem landfahrenden Weisen aus dem Morgenlande mit den nötigen Zeitangaben zur Hand. Dieser hatte darauf in einsamem Gemache bei guter Verpflegung den ganzen Tag geschrieben, gerechnet und allerlei seltsame Figuren gezeichnet, bis er der Burgfrau die Ergebnisse seiner Nachforschungen mitteilen konnte. Es war aber nicht viel dabei herausgekommen; lauter günstige oder nichtssagende Prophezeiungen für die Zukunft aller ihrer Angehörigen hatte der Hebräer der Burgfrau verkündigt, Prophezeiungen, nach denen sich weder ein ungewöhnliches Glück erhoffen, noch ein besonderes Unheil befürchten ließ. Nur über ihren Schwager Hans hatte er einen seltsam lautenden Ausspruch getan, denn er behauptete: »Junker Hans wird einmal sein Glück in einem Kloster finden.« Daraufhin hatte Frau Katharina den Wahrsager gründlich ausgelacht. Hans, der ritterlichste, lebenslustigste der drei Brüder, der am liebsten im Sattel oder beim Becher saß oder im Forste pirschte und von seinem Freunde, dem Abt des Benediktinerklosters Sinsheim und dessen Konventualen, die er oft tagelang besuchte, die erbaulichsten und abenteuerlichsten Geschichten erzählte, der, der gerade sollte selber einmal in ein Kloster gehen? unmöglich! ganz undenkbar! Aber Isaak Zachäus war ihren launigen Einwendungen gegenüber kühl und ernst bei seinem Ausspruch geblieben und hatte hinzugefügt: »Junker Hans ist neunundvierzig Jahr alt, und wenn er nicht binnen Jahr und Tag heiratet, so verfällt nach dem Recht der Hagestolze all sein Hab und Gut als Erbe Eurem gnädigsten Pfalzgrafen.«
Das hatte die Burgfrau stutzig gemacht; sie hatte von einem solchen Rechte noch niemals gehört, forschte näher danach und ließ es sich von dem Juden genau erklären. Kurz darauf war Herr Bligger nach Hause gekommen und war ebenso erstaunt über die unerhörte Neuigkeit wie seine treffliche Hausfrau.
Was wußten diese unerschrockenen, allezeit derb zufahrenden Ritter, Junker und Knappen vom Recht und von Rechtsgewohnheiten. Allenfalls kümmerten sie sich ein wenig um das Lehnsrecht, im übrigen aber ließen sie nur das Faustrecht gelten und schlichteten alle Händel mit dem Schwerte. Der Fall, daß einer ihrer Genossen als Junggeselle gestorben wäre, war im ganzen Bereiche ihrer Bekanntschaft seit Menschengedenken nicht vorgekommen, und so hatten sie keine Ahnung von einem sogenannten Recht der Hagestolze.
Herr Bligger beschloß indessen sofort, der Sache auf den Grund zu gehen und gleich am nächsten Tage einen Rechtsgelehrten der jungen Universität zu Heidelberg darüber zu befragen, den Sterndeuter aber samt dessen Knaben bis zu seiner Rückkehr auf der Burg festzuhalten. Seiner Hausfrau legte er strenges Stillschweigen, besonders Bruder Hans gegenüber, auf und weihte anderen Morgens nur seinen Bruder Konrad ein, in dessen Begleitung er den Ritt zur feindlichen Stadt unternahm. Nachdem ihm nun der Magister die Auslassungen des Juden in allen Punkten bestätigt hatte, ging ihm die Angelegenheit schwer im Kopfe herum. Er grübelte darüber während des ganzen Rittes, und Konrad wollte ihn darin jetzt nicht mit unzeitigen Fragen unterbrechen. Erst dicht vor dem Scheidewege zu ihren Burgen frug Bligger endlich den Bruder: »Woran hast du unterwegs gedacht, Konrad?«
»Natürlich an nichts anderes,« erwiderte Konrad, »als wie wir das fertig bringen sollen, Hans zu verheiraten.«
»Das war auch mein einziger Gedanke,« sagte Bligger, »aber ich komme damit zu keinem Ende. Meine Meinung ist, wir rufen unsere Freunde zusammen und beratschlagen, ob wir nicht gemeinschaftlich gegen dieses vermaledeite Hagestolzenrecht etwas ausrichten können.«
»Und Hans?«
»Hans ist bei seinen Freunden in Sinsheim und wird hoffentlich noch ein paar Tage ausbleiben; darum leidet die Sache keinen Aufschub, denn er darf nichts davon merken. Reite du morgen nach Hirschhorn und Eberbach und lade Otto und Schenk von Erbach zu einer Zusammenkunft übermorgen bei mir ein; ich werde Ernst mit demselben Auftrag nach Zwingenberg zu Engelhard und nach Stolzeneck zu Albrecht von Erlickheim schicken.«
»Gut! ich werde reiten,« sprach Konrad, »aber die Beratung wird auch zu keinem anderen Schlusse führen, als zu dem, den du von dem Heidelberger Doktor mitbrachtest: Hans muß heiraten!«
»Ja, aber sage nur wen?!« erwiderte Bligger. »Ich hielt in Gedanken schon Brautschau für ihn, aber vergeblich. Für unsere jungen Burgfräulein ringsum ist er zu alt; in Heilbronn oder Heidelberg darf er sich nicht blicken lassen, und dazu, daß er auf Werbung im Reiche herumtraben sollte, bringen wir ihn erst recht nicht. Nur Eine wüßte ich, die er sich nehmen könnte, wenn er wollte und wenn sie wollte; das wäre –«
»Juliane Rüdt von Kollenberg, die stolze Burgfrau der Minneburg,« fiel Konrad ein und brach in ein schallendes Gelächter aus, in das Bligger herzhaft einstimmte.
Sie schüttelten beide den Kopf und schwiegen wieder, bis sie sich trennen mußten und einander gute Nacht wünschten. Als Bligger schon ein kleines Stück bergauf seiner Burg zugeritten war, hörte er von fern noch einmal das laute Lachen seines Bruders Konrad, das durch die Stille der Nacht zu ihm herüber tönte, und da mußte er auch wieder lachen, daß es der Bruder hören konnte, und siehe da, zu gleicher Zeit wieherte sein Roß, weil es sich auf den Stall freute; aber es klang, als wenn auch der Hengst des Ritters lachen müßte über den Gedanken, daß Junker Hans einmal Frau Juliane Rüdt von Kollenberg auf der Minneburg heimführen sollte.