Читать книгу Mobile Röntgenstationen - Jurgis Kuncinas - Страница 5

1

Оглавление

Unermesslich ist der Hochmut des irdischen Verstandes, dabei sind die so genannten zivilisatorischen Errungenschaften, auf die wir so stolz sind – wem gegenüber eigentlich? –, zunächst nur dumme und reichlich unangenehme Zufälle. So, wie man im Wald auf einen Ast tritt und plötzlich begreift, dass es kein Ast ist, sondern die Schwanzspitze einer vor sich hin dösenden Schlange. Ja, manchmal ganz unbeabsichtigt, meist in Extremsituationen, verbinden sich in der Hirnrinde zwei kleine Drähte, und dem Menschen kommt zumindest für einen Augenblick der Gedanke, dass sämtliche Erfindungen die größte Hohlheit sind. Aber gleich denkt er wieder über deren Nutzen nach, so geht das schon lange und wird sich ewig fortsetzen. Dabei ist es ein wahres Glück, dass der Mensch nur einen sehr kleinen Teil seiner erahnten, sogar berechneten, intellektuellen Potenzen nutzt, ein Glück für ihn selbst, für wen sonst? Die Menschheit hätte innehalten und erst einmal durchatmen können, nachdem der Blitzableiter und das Wasserklosett erfunden worden waren, schon damals gab es nüchterne Stimmen, die sagten: Genug! Ernste Männer wie auch die Existenzialisten behaupteten, am glücklichsten auf Erden seien die Wilden und die sich heimlich ins Fäustchen lachenden Irren, aber es ging immer weiter. Der Mixer wurde erfunden, der Getränkeautomat, schließlich das Fließband, die schlimmste Erfindung aller Zeiten. Der Hochmut gewann wieder die Oberhand, so war es jedes Mal. Aus alberner Neugier erfand der Mensch den Taucheranzug, irgendein Morse schuf sein Alphabet, die Generäle entdeckten Täuschung und Tarnung, und als unerwartet Strahlen entdeckt wurden, genannt nach Wilhelm Conrad Röntgen, öffnete sich – er trägt hier die größte Schuld! – ein direkter Weg hin zum atomaren Schrecken. Unwichtig, dass es nicht gleich passierte. Unwichtig, dass der Mann das gar nicht gewollt hatte, alle sagen es. Unwichtig selbst, dass die Herren Erfinder anständige, ehrsame und gottesfürchtige Menschen waren. Vieles gibt es, was nicht mehr wichtig ist, selbst die Resultate, auf die seit Jahrhunderten zwei der dümmsten Kasten des Menschengeschlechts Zugriff haben: Militärs und Politiker. Dann kommen schon Geschäftsleute, Technologen, durchgedrehte Genies. Und erst danach die blinden Vollstrecker, auch sie sind Opfer. Und obwohl auch diese Reihenfolge völlig unwichtig ist – sie wird übrigens hartnäckig in Frage gestellt, und einige herausragende Persönlichkeiten werden unverdient in den Himmel gehoben! –, auf den Atom-Knopf drücken kann auch ein großer Humanist oder ein sentimentaler Akademiker, nichts ändert sich dadurch. Nein, vielleicht war schon der Blitzableiter zu viel. Gar nicht zu reden vom Wasserklosett. So sehe ich es vor mir: Einen Bauern, der auf offenem Feld kackt, erschlägt ein Ausfluss himmlischer Elektrizität, Amen. Man hätte sich mit dem Rad und dem Feuerstein begnügen sollen. Es wäre möglich gewesen, sich zu vermehren, Wege anzulegen ebenfalls. Du ratterst dahin, hältst an, entfachst ein Feuerchen, brätst dir einen Hirsch, bekreuzigst dich und ratterst wieder weiter und weiter. Mir reicht W. C. Röntgen. Es ist nicht an mir, ihn anzuklagen, das wäre allzu naiv. Jeder kluge Mensch würde, ohne die Stimme zu heben, erklären, wie viel Gutes er der Menschheit gebracht hat, uns Taugenichtsen, die wir in feuchten Kellerräumen vegetieren und billigen Tabak schmauchen, in Bergwerken, Fabriken, im Staub der Straßen husten, den Gestank von Asphalt und die Abgase von Autos einatmen. Er, Wilhelm Conrad, schaffte es, überraschend auch für ihn selbst, dass Begriffe wie Tuberkel, Kaverne, Schwindsucht unseren Ohren nicht mehr so düster und fatal klingen. Die Tuberkulose, einst eine schreckliche, fragiles Leben hinmähende Chimäre, wurde dank seiner Erfindung dramatischer, doch hoffnungsvoller Alltag. Zur Erinnerung: Ihr wirkliches Gesicht bekam die Schwindsucht erst, als sie sich im Röntgenogramm zu erkennen gab. 1896 entstand die erste Röntgenaufnahme: Die Heroen der Wissenschaft fotografierten damals ein totes Neugeborenes. Damit fing alles an! Und machen wir uns nichts vor, bis dahin hatte sich die zivilisierte Welt schön arrangiert mit der Schwindsucht und nicht mal den Versuch gemacht, ihr wirklich Paroli zu bieten. Das wäre doch albern gewesen. Wie viel frischen Wind trug sie unter das Dach der Künste! Giuseppe Verdi lässt sogar die reizende Violetta an Tuberkulose erkranken, die schön und traurig singt, dann noch mit Alfredo in Gesellschaft Champagner schlürft und liebend stirbt. Und Alfredo denkt nicht daran, sich mit einem Taschentuch oder einer sterilen Maske zu schützen. Zumindest auf der Bühne. Die Schwindsucht, das war die Schwester des Sensenmannes, die wahllos ihre Opfer niederstreckte, ohne sich um Titel, Verdienste, Rechtgläubigkeit oder Häresien zu scheren. Zu Zeiten Prinz Kazimirs gab es nicht so viel Rauch, Gase und hundert andere Übel der Jetztzeit, aber die Lungenseuche mähte auch ihn nieder. Und der lebte doch in einem Schloss, hatte zu essen und zu trinken und war vermutlich Nichtraucher. Poeten, Musikanten, Heerführer, hohe Adlige, Männer der Bildung und Wissenschaft – der Bazillus mochte sie alle gleichermaßen, richtete sich in ihren Körpern ein, entschlossen, nicht zu weichen, bis deren Besitzer ihren letzten Atemzug getan hatten. Damit die Schwindsucht nicht als Krankheit der Oberen erschien wie Podagra oder Migräne, befiel der Bazillus regelmäßig auch die unteren Schichten: Proletariat, Plebs, Handwerker, Bürger und Beamte. Einzig die Bauern schienen sich ihm zu entziehen, aber auch nicht alle. Andererseits: Wer wollte behaupten, dass zum Beispiel die Poeten ohne Ihre Majestät die Schwindsucht wären, was sie geworden sind? Jede Literaturgeschichte sollte den Tuberkulosekranken wenigstens einen stattlichen Band widmen. Den Litauern reichte eine solide wissenschaftliche Abhandlung. Die könnte man dann ausweiten und ergänzen. Ohne es selbst zu wollen, hat diese Krankheit Völker, Rassen und Klassen mehr vereint, als Naturkatastrophen oder auch Gleichheitslosungen es vermochten, sie war der beste Gleichmacher. Könnte sie selbst einige Worte über sich sagen, würde sie sicher verkünden: Ich bin eine, die hinterhältig ist und sich Zeit lässt. Ich bin eine Geißel, eine Unheilbringerin. Und eine Schande für euch, eine heilende Wunde. In der Epoche des Sozialismus – so etwas gab es! – wurde alles Elend, das die Tuberkulose brachte, mit dem größten Vergnügen dem faulenden und sterbenden Kapitalismus angelastet, klar, ein schöner Nährboden für Bazillen! Aber als sie sich auch in den Zeiten des reifen Sozialismus nicht verabschieden wollte, hörte man auf, laut über sie zu sprechen. Doch diese Krankheit ließ sich durch nichts beeindrucken und streckte unbekümmert weiter ihre langen Krallen aus. Ratlosigkeit breitete sich aus. Man konnte sie weder zum Tode verurteilen noch nach Sibirien verbannen, wo sie sicher an der Kälte krepiert wäre. Es war nicht möglich, sie raffiniert zu foltern oder einfach zu erschießen. So oft man auch anlegte, man schoss immer vorbei. Die Schwindsucht saß gleichsam nebenan, selbst in KGB-Zentralen und deren zahlreichen Filialen. Sie konnte man verhören bis zum Abwinken, auspeitschen, mit Schlaflosigkeit oder Hunger quälen. Alles umsonst! Man konnte ihr nicht einmal damit drohen, sie niemals ins Ausland zu lassen, diese Übeltäterin überschritt die Grenzen, wo und wann immer es ihr passte. Daher ehrten die Sowjets Röntgen, wenn auch mit einem Stirnrunzeln. Doch offiziell galt die Schwindsucht weiterhin als ein Erbe des Kapitalismus, genau wie Syphilis, Diphtherie, Messerstechereien, Opportunismus, Darmverstopfung und eine Menge anderer Unbill, die geeignet war, den Volkszorn zu mobilisieren. Liebend gern hätte man auch die Trunksucht dazugezählt, es sogar versucht, bis man es schließlich aufgab: Lassen wir das. Obwohl die Medizin jener Zeit auch verkündete, dass Branntwein die Tuberkulose kaum heile, das Gegenteil sei der Fall. Es war auch wirklich zum Verzweifeln: Der Faschismus war zerschlagen, die Überreste der Bourgeoisie im Lande beseitigt, und diese Krankheit ging noch immer ihrer schwarzen Arbeit nach. Und Blut hustete selbst der eine oder andere Parteisekretär. Dabei war es niemandem angenehm zu sehen, wenn ein Bestarbeiter, der eben noch eine feurige Rede gehalten hatte, auf einmal ein Taschentuch auseinander faltete und leise – andere hörten es umso mehr! – hineinhustete und Blut spuckte. Der wird’s nicht mehr lange machen, flüsterte man dann im Publikum. Geschlechtskranke, Homosexuelle und andere raffinierte Perverse überwand die Sowjetmacht auf einfache Weise, man steckte sie in Lager, isolierte sie von der geschlechtslosen Gesellschaft, schwang die Peitsche der Satire. Schwindsüchtige, klar, hätte man auch hinter Gitter bringen können, auf dass sie nicht husteten und Blut spuckten, wo es sich nicht ziemte. Aber das schien wenig sinnvoll, weil auch Parteimitglieder an Tbc erkrankten. Die Strategen des Kommunismus waren zum Umdenken gezwungen. Sie trieben nun diese Patienten in Prophylaktorien, diverse Institute, Spezialkliniken und Sanatorien, man verabreichte ihnen fettreichere Kost. Nach und nach verwandelte sich der sowjetische Schwindsüchtige geradezu in einen Privilegierten. Die Krankheit, so hörte man, habe er aus der Vergangenheit mitgebracht oder sich sogar als Folge des Kampfes mit dem Weltimperialismus zugezogen. Mochte er es sich also in seinen letzten Tagen gut gehen lassen, an der See oder sonst in einem Kiefernwald, mochte er den Pazifisten Remarque lesen oder besser noch Čechov, der im zaristischen Jalta Dienst tat, einem wahren Schwindsüchtigenparadies. Die Welt sah, die Sowjets standen dieser Krankheit nicht gleichgültig gegenüber. Sie taten, was in ihren Kräften stand, man konnte ihnen keine Vorwürfe machen. Währenddessen waren die Schwindsüchtigen selbst dabei, sich mit ihrem Unglück zu arrangieren. Sie erfreuten sich an kleinen Privilegien, indem sie sich etwa, ein wenig zu Kräften gekommen, nicht mehr mit Schnaps therapierten, sondern mit Kognak. Und nicht mehr Machorka rauchten, sondern Kazbek oder sogar Hercogovina-Flor, wie Väterchen Stalin. Abgelegene Sanatorien richteten für die hoffnungslosen Fälle komfortable kleine Häuser ein, wo die Moribunden, bevor sie ihre Reise ins Nichts antraten (der Himmel war verboten), es noch schafften, sich Schallplatten anzuhören, Akkordeonmusik zu lauschen, berauschende alkoholische Getränke zu verköstigen, um danach, die letzten Kräfte mobilisierend, mit einer Schicksalspartnerin ins Bett zu steigen.

Der Fortschritt auf diesem Gebiet war übrigens so augenscheinlich, dass bereits 1947 med. Felčeris[6] Zigmantas Strazdas unschwer eine Dissertation verteidigte mit dem Thema: Der Einfluss der Sowjetmacht und ihr Sieg im Kampf mit Tbc. Nachdem er seinen Doktortitel in der Tasche hatte, wurde ihm auch erlaubt, seinen Nachnamen zu ändern, seit 1948 wurde er schon überall Z. Erelis[7] genannt. Dieser Name findet sich, in eine Granitplatte eingemeißelt, auf dem Friedhof von Petrašiūnai, gestaltet in der unregelmäßigen Form eines rechten Lungenflügels. Die Schwindsucht mähte Erelis im Jahre 1950 nieder. Er starb im Herbst, einer heiteren Jahreszeit für alle von der Tuberkulose Geplagten, und wurde neben einem Volkskünstler der UdSSR begraben. Sehr zur Unzeit übrigens. Denn nachdem sich das Litauische Volk freiwillig der sowjetischen Völkerfamilie angeschlossen hatte, war ihm gerade erst das Recht gewährt worden, das düstere historische Kapitel, das die Schwindsucht schrieb, zu beenden. In sämtlichen Publikationen jener Jahre wurde sie als historisch abgetan beschrieben, als beinahe so etwas wie die mittelalterliche Pest, und dem vermeintlich letzten an Schwindsucht gestorbenen Patienten hatte man neben der Kaunasser Klinik ein nicht sehr künstlerisches, dafür wirklichkeitsnahes Denkmal gesetzt. Für die Figur saß sogar eine konkrete Person Modell: Ein Mann mittleren Alters, der dort mit einer offenen Kaverne lag, stellte sich dem Bildhauer, Stalinpreisträger der Stufe III, willig für ein Denkmal in Lebensgröße zur Verfügung. Das Elend war nur, dass der Kranke, ein Mann von kristallklarer Gesinnung, Organisator der kollektiven Landwirtschaft und Proletarier der dritten Generation, den Künstler überlebte. Die beiden Männer freundeten sich während der Dauer des Entstehungsprozesses dieses Kunstwerks heftig miteinander an, und weil man auch ähnliche Ansichten hatte, begann man im Klub des Sanatoriums, wo ein Studio eingerichtet wurde, Frauen anzulocken (Köchinnen, Krankenschwestern), hemmungslos zu saufen, und der Bildhauer wurde bald von einem Delirium tremens heimgesucht. Von einer schweren Depression geplagt, stürzte er zusammen mit einem Scherbenregen aus dem Fenster und hatte sich glücklich aus dem Leben befördert. Die Statue, ein wenig modifiziert, beendete sein Schüler. Sie war wesentlich beleibter ausgefallen, und auf dem Gesicht zeigte sich etwas wie ein Lächeln. Neben der Klinik aufgestellt, stand sie noch bis zum Herbst 1961. Bis eine Gipshand und die Nase abgefallen waren, die Streben des Metallgerüstes an einigen Stellen herausragten und die ästhetisch gestimmte Klinikleitung das Meisterwerk abtragen ließ. Keinerlei Proteste, keine Nachricht in den Zeitungen.

Zu dieser Zeit begriff es sogar die Regierung der UdSSR: Allein mit Enthusiasmus und den üblichen Hauruck-Aktionen war diese heimtückische Krankheit nicht zu besiegen. Also bekamen die Tuberkulösen noch mehr Privilegien, sogar in den Gefängnissen wurden ihnen etwas geräumigere Zellen zugewiesen, die als Krankenzimmer galten. Heutzutage, da die arme Schwindsucht längst verdrängt wurde von Seiner Majestät dem Krebs, von Herzkrankheiten und dem weltweit operierenden AIDS, hat jeder normale Mensch zumindest einige an Tuberkulose leidende Freunde oder Bekannte. Sie sind einsam. Gingen all ihrer früheren Privilegien verlustig. Verloren ihr Image. Es war noch gar nicht lange her, dass sich ein Patient dieser Art, nachdem er ausgeschlafen und ausgiebig gefrühstückt hatte, wieder ins ungemachte Nest legte, sich reckte und streckte, sich dann rumdrehte und wieder einschlief. Diese Zeiten waren ein für allemal vorbei. Ist doch unser Schwindsüchtiger heute isoliert, ungeliebt, mehr noch: Er wird leise verachtet. Da genießen Krebskranke oder Herzpatienten ein höheres Prestige, ganz zu schweigen von den Helden an der AIDS-Front. Röntgen hätten sich die Haare gesträubt: Weshalb, zum Teufel, hab ich mich angestrengt und Zeit vergeudet? Er möge sich beruhigen, sein Name ist in die Ewigkeit eingegangen. In Röntgen-Einheiten wird die elektromagnetische Hintergrund-Strahlung gemessen, die schon zu Zeiten Caligulas, Vytautas des Großen, Murawjows[8] und Vincas Kudirkas[9] existierte. Schön auch, wenn ein an einem Seeufer gemessener überhöhter Strahlenpegel öffentlich im Radio bekannt gegeben wird: Besser eine Ahnung zu haben von diesen Dingen als in Unwissenheit dahinzudämmern! Metalle wurden entdeckt, die nachts wie Johanniskäfer leuchteten, und die gestohlenen Behälter mit diesem Brennmaterial, die, sogar in der Erde vergraben, leise tickten – wie viele Röntgen kamen hier zusammen! Vielleicht zirpte das bereits zu Dschingis Khans Zeiten, wer weiß es? Aber hätten sich etwa die Kreuzritter um irgendeine Hintergrundstrahlung geschert, als sie ihre Katapulte auf dem Nemunas bis nach Kaunas heranschifften? Die Menschen hatten andere Sorgen. Zu essen und zu trinken zu haben war das Wichtigste, im Wald ein verirrtes Reh einzufangen oder ein Weibsbild, am Flussufer die stolpernden Lastpferde zu füttern und sich vor einem Hinterhalt der Heiden in Acht zu nehmen. Ähnliche Sorgen hatten auch Ritter, Handelsleute, Räuber und Wegelagerer, Heerführer, später Gendarme, Postkutscher, Mönche und einsame Wanderer. Jene Strahlung existierte, aber zu allen Zeiten gab es handgreiflicheres Unglück: Dürrekatastrophen, Ernteausfälle, Hochwasser und Seuchen, die das Vieh dezimierten. Und wo noch Feuersbrünste hinzukamen, Flucht vor Feinden, schmerzende Knochen, Impotenz, Beulen und später besagte Schwindsucht, da trocknete der Mensch allmählich ein, ein dürrer Strunk, bis schließlich ein Windstoß reichte, um den Stiel zu knicken. Dieses Ende ist jedoch so vielfältig, dass häufig niemand dieses leise Wegknicken bemerkt. In früheren Jahrhunderten – das ist wahr – gab es solche, die darauf aus waren, öffentlich zu sterben, nicht nur Russen, nein. Willig legte man den Kopf aufs Schafott oder steckte ihn in die Schlinge, damit es nur alle sahen! In Merkinė zum Beispiel. Dort gibt es einen Ort, wo das Sterbebett eines Königs zu besichtigen ist, direkt auf dem Platz gegenüber einer Kaschemme. Sollten alle sehen, wie die Großen dem Tod entgegensahen, so der letzte Wille des Mannes, der auch erfüllt wurde. Heute entschließt sich nur selten einer dazu, auch die Polizei würde es nicht erlauben. Sonst würden wir Betten dieser Art sicher auch auf Plätzen und bewegten Kreuzungen begegnen, obwohl meine Zeitgenossen Waggons, Zelte und durchsichtige Käfige bevorzugten. Sie erkrankten nicht an der Schwindsucht, wollten auch nicht öffentlich sterben, sie waren einfach Meister im Hungern. Vielleicht ist hier der Jude Franz Kafka ein wenig schuld, der einst seine Erzählung Der Hungerkünstler schrieb. Oder vielleicht auch nicht, erinnern wir uns an Franz von Assisi oder an einen, der noch schlimmer fastete, Bruder Klaus, ein Schweizer!

Aber kehren wir zu unserem Thema und zu den Schwindsüchtigen zurück. Noch einmal begeben wir uns in jene famosen Zeiten, als diese Kranken noch hoch geehrt wurden, verhätschelt und verwöhnt, nicht nur mit Penizillin, auch mit reichlich Obst und Früchten. Ist es auch nicht leicht, die Kaste der Schwindsüchtigen mit wenigen Worten zu beschreiben, einige ihrer charakterlichen Besonderheiten sind sowohl Poeten, Priestern als auch von Tbc befallenen Proletariern eigen. Ein von dieser Krankheit befallener Mensch ist für gewöhnlich äußerst reizbar, nervös, er hasst soziale Ungleichheit. Auch ist er bereit, sich rasch zu verlieben, wenn diese Liebe nur ohne Erwiderung bleibt. Dann kann so einer sich wirklich unglücklich fühlen, bis zu den Ohren ins eigene Elend eintauchen. Andererseits ist ein so geartetes Wesen auch empfindlich für das Unglück seiner Mitmenschen. So ein ausgetrockneter Wurm kann sich aufopfern, um in einem Fluss einen Dickwanst vor dem Ertrinken zu retten, aus einem brennenden Haus eine Alte oder einen Invaliden hinauszutragen. Sind doch die Tage jener Moribunden ohnehin gezählt. Außerdem neigen diese Leute dazu, umgehend alle möglichen Fragen zu diskutieren: vom Klimawechsel über die Politik bis hin zur Menstruation der Mücken. Der von der Tbc Heimgesuchte war damals häufig auch eine politisch engagierte Person. Die eifrigsten Propagandisten und Agitatoren des Kommunismus rekrutierten sich aus ihren Reihen. Schwindsüchtige vernichteten die gefährlichsten Bunker der Waldbrüder[10]. Das Wissen, dass das Ende nahe war, inspirierte, es fiel dann leichter, Heldentaten zu vollbringen. Schon fiebernd, verfassten die Poeten ihre besten Gedichte, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass nach vielen Jahren, wenn der letzte Tbc-Bazillus ihre sterblichen Hüllen verlassen haben würde, gesunde und satte Literaturologen, ohne die geringsten Gewissensbisse, ihre Tragödien zu unsterblichen Traktaten verarbeiten und sich damit Ruhm erwerben würden.

Auch das ist kein Geheimnis: Der fatale Bazillus stimulierte die Sexualität der auf diese Weise Verurteilten, der zugrunde gehende Organismus bündelte, in einem letzten Aufflackern, so viele Energien, dass er zuweilen wie eine Flamme loderte, und dann musste auch der größte Moralist und Puritaner eingestehen: Das kann man nicht verbieten! Und in der Tat, hier gibt es nichts zu verurteilen. Wo wenig Zeit bleibt, ist das Gefühl echt, heiß und schnell. Keine Zeit mehr, Intrigen zu spinnen, nach Herkunft und materieller Lage des Partners zu fragen, ästhetische Ansichten zu erkunden, noch weniger politische, obwohl es – klar – auch Ausnahmen gibt. Die Liebe der von der Schwindsucht Heimgesuchten ist rein, keusch und uneigennützig, eine Kompensation für alles Elend, das Gefühl schicksalhafter Verstrickung. Sie verstehen doch, dass die so genannten Gesunden sie nur beneiden, auch das tröstet. Man weiß, jede fatale Krankheit hat auch ihre Vorteile, zumindest bei uns. Diese naive und heuchlerische Gesellschaft, einige Spezialisten ausgenommen, schert sich überhaupt nicht, um ein Beispiel zu nennen, um das traurige Schicksal von Syphilitikern oder Alkoholikern, um ihr Elend, ihren Schmerz und ihren Selbsthass. Man ist fest davon überzeugt, dass alles nur Ausschweifung und Willenlosigkeit ist. Diese Unglücklichen werden ein wenig anders behandelt als die sich offen gebenden Schwindsüchtigen, nämlich mit Schadenfreude, kaum verhohlenem Hass und einem wohligen Seufzer, wenn so ein armer Kerl den Geist aufgegeben hat: Habe ich es nicht gesagt?! Währenddessen blieb den Schwindsüchtigen meist Gleichgültigkeit, ein vages Mitgefühl, dazu die zoologische Angst sich anzustecken. Man mied sie, wo es ging, suchte sich zu schützen, aber verehrte sie auch auf eigentümliche Weise. Wenigstens früher dominierte diese Einstellung. Jetzt trifft man sie immer seltener an.

Wenn damals irgendein Alkoholiker den Tag mit schrecklichem Gram beendete, einsam, sein Schicksal verfluchend, sich Branntwein oder Parfüm in die Kehle goss, empfing der Schwindsüchtige, wenn er sich nur bewegen konnte, den Tod wie den herannahenden Frühling, heiß liebend und ebenso heiß geliebt, umgeben von Verehrern (Künstlern, Geistlichen, Deputierten), stets mit Wünschen und Direktiven konfrontiert, auch an die Hinterbliebenen zu denken: Das war Pflicht eines jeden gebildeten Tuberkulose-Kranken. Staats- und Parteifunktionären wurde zuweilen diskret empfohlen sich zu erschießen, es erübrigt sich sicher zu erwähnen, von welchem Staat und welcher Partei hier die Rede ist. In der Nachkriegszeit, als überall Schüsse fielen, baten Erkrankte selbst darum, ihnen lebensgefährliche Aufgaben zu übertragen (Gründung von Kolchosen, Wahlen in abgelegenen Walddörfern), und hatten sie das geschafft, konnte der Abzug des Revolvers auch den Genossen treffen. So mancher Schwindsüchtige trat vor seinem Tod noch in die VKP ein, später in die KPdSU. Wieder gibt es da nichts zu verurteilen, der Mann dachte nicht nur an seinen Grabstein, sondern auch an seine Angehörigen und ihr künftiges Wohl, selbst das von Kindern und Kindeskindern, die irgendwann die Absicht haben würden zu studieren oder eine Dienstreise ins Ausland antreten wollen könnten. Die Biografie des Großvaters war da immer von Nutzen. Einer, der als Kommunist starb, war etwas mehr wert als einer, der während der deutschen Okkupation Dorfältester war oder zu Smetonas Zeiten Direktor einer Milchfabrik, Rechtsanwalt oder dergleichen. Gar nicht zu reden von einem Großvater, der im Wald umgekommen war!

In den Röntgenaufnahmen, die sich noch immer in den Archiven der Mediziner finden, spielen diese Dinge keine Rolle. Da finden sich nur Verschattungen, Flecken, Kavernen, diverse, oft Ungutes verheißende Markierungen, wobei es keine Rolle spielte, ob der Inhaber der Lunge ein KGB-Leutnant war oder, in der Nachkriegszeit, ein fanatischer Intelligenzler, der die halbe Klasse seiner Zöglinge in den Wald schickte. In dieser Eigenschaft ist die Wissenschaft bemüht, sich von der schmutzigen Politik abzugrenzen. Nur ist Objektivität auch in der Wissenschaft, auch in der ganz unschuldigen, wahnsinnig schwer zu erreichen. Ein Spezialist kann selbst die lateinische Grammatik ideologisieren. Und was bedeuten dann schon Geschichte, Geographie oder Physik? Doch obwohl die Bolschewisten zunächst alle Wissenschaft der Welt für Hirngespinste hielten, erdacht von Juden, Kosmopoliten und Freimaurern, schufen sie schon bald ihre Wissenschaft. Aber nein, die Landwirtschaft und die künstliche Besamung in den Ställen leitete weiterhin die Partei, die in ihre Reihen allmählich auch Juden, Kosmopoliten und Freimaurer aufnahm. Hat doch die Wissenschaft die seltsame Eigenschaft voranzuschreiten. So hat sie es immer gehalten, selbst im finsteren Mittelalter. Und auch zu Džugašvilis Zeiten. Sie ist auch darin einzigartig, dass man niemals weiß, was man von ihr zu erwarten hat und erhoffen kann. Immer erschreckt sie einen mit irgendwelchen Späßen, meist bösartigen. Wurde irgendetwas Wertvolles erfunden, erklärte sie selbst, oder es stellte sich eben heraus, dass jene großartige Erfindung äußerst negative, geradezu ekelhafte Seiten hat. Beispiele dafür gibt es, so viele man will. So war es zu allen Zeiten, selbst in der Antike und der bis heute unverdient verehrten Renaissance. Die unschuldigsten Dinge, Medikamente, Farben, Nägel, Konservierungsmittel, Gummiboote, gar nicht zu reden von garstigen Phänomenen der Chemiewissenschaft, wandeln sich, damals wie heute, in Krankheitsherde und Unwohlsein. Ich will gar nicht an synthetische Stoffe erinnern, an wachstumsstimulierende Präparate für Mensch und Tier, Doping und eine Menge anderer Dinge, deren Entdecker hoch geehrt wurden. Chemie ist überhaupt am schlimmsten: Als ich vernahm, dass die Amerikaner nachgewiesen haben, dass selbst alle unsere Gedanken, die erotischen eingeschlossen, hervorgerufen werden von einer – zweifellos hochkomplizierten – chemischen Reaktion in unserer ein wenig gefurchten Hirnrinde, da war ich ordentlich entsetzt und bemühte mich einen halben Tag lang, überhaupt nichts zu denken. Aber was hilft es, man denkt doch trotzdem! Das eben ist Chemie! Indem ich spüre, dass dieses mein Traktat dann auch ein chemisches ist, kann ich aufatmen und alles Elend – Lücken der Argumentation, Unebenheiten des Stils, Abschweifungen vom Thema, diese Rösselsprünge von der Tuberkulose zur Politik, von der Erotik zum Militärwesen usw. – ganz einfach der Chemie anlasten. Nicht Mendelejew natürlich und nicht den schlauköpfigen Amerikanern.

Röntgen war ein Deutscher, der Name ist übrigens recht selten. Klar, dass er auch kein Nazi war. Nie bekam man zu hören, er habe Wagner verehrt, wie Hitler oder Lenin. Ohne es selbst zu wissen, ebnete er den Weg, der zur Atomwaffe führte, er war der erste Physiker, der den Nobelpreis erhielt. Man höre: Nobel und Röntgen. Ein Schwede und ein Deutscher. Zwei Europäer. Der eine erfand das Dynamit, der andere entdeckte jene sonderbaren Strahlen. Der eine kannte den anderen nicht, beriet sich nicht mit ihm. Überhaupt, Schweden und Dynamit. Es will einem nicht in den Kopf. Dreihundert Jahre keinen Krieg geführt, und dann der Welt ein solches Spielzeug bescheren. Und was ist aus seiner Prämie geworden? Eine verspätete Reverenz.

Wilhelm Conrad Röntgen bekam den Nobelpreis. Ein Mensch mit einem tugendhaften Gesicht, ich habe ein Foto von ihm gesehen (keine Röntgenaufnahme). Unzweifelhaft ein Humanist. Und überhaupt: Wer beschuldigt heute die Chinesen, seinerzeit das Schießpulver erfunden zu haben? Jeder Gebildete aus dem Reich der Mitte wird sogleich entgegenhalten, man habe ja auch das Papier erfunden. Und was wäre ohne diese Erfindung selbst das beste WC wert? Nichts.

Die Litauer haben mit all diesen Dingen nichts zu tun, sie erkrankten nur zu allen Zeiten an der Schwindsucht. Klar, sie erkrankten auch an Masern, Windpocken, Scharlach, Angina, an der Pest und den richtigen Pocken, an Epilepsie, Depression, Grippe, an der Krätze und an Parodontose. Aber die Schwindsucht suchte sie besonders heim und kann sich bis heute nicht von ihnen trennen.

Doch was die schlimmen Erfindungen dieses Jahrhunderts betrifft, so haben die Litauer, dieses eine Mal wenigstens, nichts damit zu tun. Eine Kleinigkeit, gewiss, aber angenehm. Wir können unsere Hände und Füße in Unschuld waschen – nichts zu tun mit Röntgen, auch nicht mit Alfred Nobel. Wir werden uns stattdessen weiter herumstreiten wegen der litauischen Abstammung Alexanders von Mazedonien, Iwans des Schrecklichen, Adam Mickevicz’, Dostoevskijs, Tolstojs, Pilsudskis, des Boxers Sharkey und selbst des Papstes. Aber Röntgen und Nobel überlassen wir getrost dem Gewissen der Deutschen und der Schweden.

Mobile Röntgenstationen

Подняться наверх