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Kapitel

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Linda Goyer ließ Gideon an dem Gartentisch zwischen der Barackenbude und dem Kiosk Platz nehmen und bot ihm eine Tasse Kaffee an.

Er betrachtete die wenigen vorbeiziehenden Leute und nippte an seinem Kaffee. „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte“, begann Gideon. „Ich kann mir gut vorstellen, dass du hier nicht gerne darüber sprechen willst.“

„Es tut mir leid, dass ich dich damit behelligen muss, Gideon. Ich habe das Gefühl, das ich schon viel zu lange damit gewartet habe. Mein Junge hat sich verändert. Marlon verheimlicht mir etwas. Und du bist der Einzige, der mir helfen kann.“

„Was weißt du?“

„Nur, was in der Times steht“, erwiderte Linda. „Eine neue Droge, die schnell abhängig macht. Man nennt sie synthetische Droge, oder so. Die anderen Stationen werden von ihr überschwemmt. Jetzt ist sie auch bei uns angekommen. Oder kennst du ähnliche Fälle?“

„Wie kommst du darauf, dass Marlon etwas damit zu tun hat?“

„Gestern fehlten in der Kasse zweihundert Credits und ich kann mir absolut nicht erklären, wo das Geld hingekommen sein könnte. Meine Uhr ist weg. Mein Sohn weicht mir aus und schließt sich in seinem Zimmer ein. Den Job bei FargoEX hat er verloren.“

„Ladendiebstahl?“

„Heute Morgen telefonierte ich mit seinem Vorarbeiter, Gideon.“ Sie schwieg kurz und starrte zum Boulevard. „Es geht alles so schnell. Ich habe das Gefühl eine schlechte Mutter zu sein. Wenn sein Vater noch hier wäre…“

„Es liegt nicht an dir, Linda.“

„Entschuldige, dass ich dich damit behellige. Wir kennen uns schon seit Jahren, aber ich weiß immer noch wenig über dich.“ Fast zaghaft ergriff sie seine Hand und drückte erstaunlich fest zu. „Bitte rede mit ihm. Vielleicht bekommt der Sheriff ja mehr heraus.“

Gideon nickte und stellte die Tasse ab. „Wann kommt er zurück?“

„Ich weiß nicht mal, wo er jetzt gerade ist. Gestern hat er den Spiegel im Bad zertrümmert und lief einfach an mir vorbei. Sein Bettzeug ist total verschwitzt, seine Zimmer nicht aufgeräumt. Ich brauche Hilfe.“

„Linda, vielleicht ist es auch nichts. Vielleicht weiß er gerade nicht, wo sein Platz ist. Vielleicht ist es nur eine Phase. Aber ich rede mit ihm. Von Mann zu Mann. Wie alt ist er jetzt?“

„Siebzehn. Er ist das Einzige, was mir von ihm geblieben ist.“

„Hat er Freunde?“

„Früher war er mit Chris unterwegs, aber von seiner Mutter weiß ich, dass Chris kaum Zeit hat. Er ist in Sektor Vierzehn und arbeitet bei seinem Vater in der Lehre. Schlosser, glaube ich. Von der Schule ist kaum noch jemand da. Die meisten haben die Koffer gepackt und sind in andere Systeme gezogen. Ja, vielleicht ist er einsam.“ Ihr Gesicht verzog sich. „Ich bete, dass es nur das ist.“

„Aber du denkst an Drogen. War er das?“

Sie wandte den Blick ab, offensichtlich peinlich berührt. „Das… ist nichts. Ich bin gestürzt.“

„Linda.“

„Wirklich. Ich habe nicht aufgepasst. Die Schranktür stand offen.“ Sie starrte zur Kioskwand und strich sich die Strähne über das Feilchen, das hässlich ihr Gesicht zierte. „Tu meinem Jungen nicht weh.“

„Ich rede mit ihm – noch heute. Ist er das?“

Sofort ging in Linda eine Veränderung vor. Habachtstellung und tiefer Kummer. Gideon prägte sich das Bild gut ein, während der schlaksige junge Mann in den verblichenen Jeans herangetrottet kam. Die Hände in den Jackentaschen und das Gesicht voller Argwohn starrte er hinüber, als würden die Erwachsenen über ihn konspirieren. Früher war Marlon Goyer sicherlich ein gutaussehender junger Mann gewesen, doch Gideon musste kein Ermittler sein um zu spüren, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Die bleichen Wangen waren eingefallen, die krausen Haare standen zur Berge und ein Blick, der töten konnte. Mit einem Schwung wandte sich der junge Mann um und war sofort wieder verschwunden.

Linda starrte ihm nach und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken.

Mit ruhigen Schritten ging der Sheriff an verlassenen, leergeräumten Läden und überfüllten Mülleimern vorbei, ganz mit seinen Gedanken beschäftigt und mit ernster Miene. Gideon Nikolaeff besaß einen trainierten Körper, der mal schön gewesen war – jetzt fielen ihm andere Adjektive ein. Braune Allwetterstiefel, eine dunkle Jeans, darüber eine stichsichere Weste und eine zerschlissene Jeansjacke mit einem Sheriffstern drauf – ein metallenes Schmuckstück, das zusammen mit der Waffe im eingenähten Holster seine Rolle in der Station unterstrich. Seine Haltung drückte eine stille Duldsamkeit aus, die nicht daher rührte, dass er ein bestimmtes Ziel verfolgte, sondern die das Ergebnis einer allgemeinen Gleichgültigkeit war, so als kümmere er sich wenig darum, was morgen geschah, oder ob es überhaupt ein Morgen gab. Er fand es weitaus interessanter, in sich hineinzuschauen. Seine nur allzu bekannte Umgebung bot ihm nur wenig Anlass zur Freude. Die Luft roch verbraucht; eine Mischung aus Kohl und scharfen Ausdünstungen. Aus einem Lautsprecher dröhnten Retro Jazz und Funk, untermalt von leisem Stimmengewirr und gelegentlichen Schreien.

Es begegneten ihm zerlumpte Gestalten, Frauen wie Männer, alte wie sehr junge Menschen. Wenige nickten ihm zu, die meisten ignorierten ihn. Gideon sprach nur wenig mit ihnen, wenn er nicht gerade mit einem Problem zu ihnen kamen. Über vierhundert Menschen lebten vor sich hin; seit vier Jahren umkreiste die Station einen Gasriesen, der für die Gesellschaft uninteressant geworden war. Ursprünglich gebaut, um den reichen Mineralreichtum von KG-147 auszubeuten und die Handelsrouten zwischen der Erde und dem Outer Rim zu bedienen, fiel die Station aufgrund wirtschaftlicher Schwankungen und der Umleitung der Flugbahn in den Niedergang. Sie war eine massive Station, fast achtzehn Kilometer breit und diente seit vier Jahren als Freihafen und kommerzieller Außenposten im Sektor Zeta Wallskamp. Vor dem Niedergang hatte es eine ständige Wohnbevölkerung von 400 gegeben, obwohl die Station groß genug war, um rund 3000 Einwohner unterzubringen. Nur sporadisch kamen Touristen herbei, um sich auf dem Panoramadeck den Gasriesen anzusehen – das war aber auch schon alles. Falberg drohte eine Geisterstadt zu werden.

Nur das stumme Ertragen des eigenen Schicksals. Es gab zwar Frieden, aber eine schwere Melancholie lastete auf alle wie ein feuchtes Segeltuch, das alles niederdrückte. Nur wenige sprachen sich ab, kümmerten sich um den Müll, fegten den Platz, organisierten Beschaffungstrupps oder bauten Gemüse an. Andere lungerten nur rum, suchten im Müll nach Essbaren, rauchten Tabak oder tranken Selbstgebrannten und ließen sich treiben.

Das „Sheriff“-Büro war eine ehemalige Pfandleihe, hinter dessen Tresen aus Panzerglas und carbonbeschichtete Fläche sein Assistent und Freund Jonathan Aldonini arbeitete. Schmuckvoll und voller Ambitionen hatte Gideon damals das Schild „Departement“ selbst gebastelt und angebracht – jetzt schien es ihn jeden Morgen zu verhöhnen.

Gideon öffnete die Tür und stand im Vorraum, wo schon lange keine Objekte zum Kauf angeboten wurden. Es gab mehrere Hocker, eine Kaffeemaschine, ein altes Sofa, einen Prospektständer und sogar einen Stapel Papier und Kugelschreiber. Rechts von ihm hing eine Pinnwand mit gesuchten oder vermissten Personen – zumindest dieses Objekt wurde regelmäßig genutzt.

„Immer, wenn ich komme, ist der Kaffee schon alle.“ Er nahm die Glaskanne und schob sie durch die Anreiche durch.

„Du hast mir gesagt, wir könnten überleben, wenn wir als Team arbeiten.“ Jonathan war eine gepflegte, aber verlebte Erscheinung mit weitem Bauchumfang und fliehenden Kinn. Er war erst vierzig Jahre alt, wirkte aber wie an die fünfzig. Sein fein gezwirbelter schwarzer Bart war stets korrekt getrimmt, aber soweit Gideon denken konnte, trug er immer die gleiche graue Jogginghose und den gleichen braunen Pullover. Er nahm die Kanne entgegen, befüllte sie mit Wasser und reichte sie zurück. „Seit drei Tagen sitze ich hier, nehme Nachrichten an und schwitze mir die Haare vom Kopf. Barbecue und Schweißgeruch. Was bekomme ich eigentlich dafür?“

„Kaffeepulver. Filter.“ Der Sheriff nahm das Gewünschte und machte frischen Kaffee. „Ich war arbeiten. Draußen.“

„Dir gefällt das doch, habe ich nicht recht? Ich meine, dass wir nichts zu tun haben.“ Jonathan stöhnte leise. „Gott, ich hätte mich nie darauf einlassen sollen. Diese Station ist wie ein Grab weit draußen. Der letzte Mord ist zehn Monate her. Du hast mich anfangs darauf eingeschworen, dass wir gegenseitig unsere Rücken decken sollen. Aber vor was?“

„Du kannst Gott danken, das wir nicht in Chicago sind. Zweihundert Tote pro Jahr. Wo sind Fernandez und Oswald?“ Er nahm seine Waffe aus dem Holster und legte sie neben sich. „Jeden Tag die gleiche Meckerei.“

„Fernandez und Oswald sind schon auf ihrer Schicht.“ Das Department hatte zu Spitzenzeiten zwölf Beamte gehabt, von denen die meisten aber sich versetzen ließen – es war einfach zu wenig los. Das wirklich Schlimme war, dass es schrecklich plausibel klang. Jonathan nickte zaghaft, schloss schließlich die Tür auf und reichte ihm ein selbst belegtes Sandwich, an dem schon abgebissen war. Gideon nahm die versöhnliche Geste zur Kenntnis und biss ab.

„Fleißig, fleißig. Was warst du nochmal in deinem alten Job? Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, wenn die Leute fragen…“

„Stadtreinigung.“

„Ach ja, stimmt.“ Jonathan wirkte nicht überzeugt und setzte sich ihm gegenüber: „Lustige Geschichte. Du kennst doch Tom. Tom Muccha.“

Er nickte knapp.

„Tom ist bei den Maschinisten, die draußen täglich ihren Hals riskieren. Er erzählte mir heute Morgen, dass er dich gestern Abend zufällig vor dem Haus hat stehen sehen…“

„Und?“ Ungeduldig wippte er mit dem Fuß. „Ich wollte mir die Beine vertreten.“

Jonathan hob beschwichtigend die Hände hoch. „Alles gut, Gideon. Tom wartete auf seinen Kollegen, der nicht kam. Nach Feierabend fand er die Tür eingetreten vor. Und die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt. Von Wilson Leland keine Spur. Im Grunde ist es mir egal aber halt mich nicht für blöd. “ Er nahm seine Finger dazu und zählte: „Erstens, Leland war jemand der gerne Frauen schlug. Zweitens, man konnte ihm nichts nachweisen. Drittens, Tom sieht dich in der Nähe herumlungern. Und jetzt ist Leland fort und hat heute Morgen das erste Shuttle genommen. Leland ist ein Bär von einem Mann, der trinkt und als Unhold galt. Tom war ziemlich beeindruckt, er sagte, dass wir vielleicht Ninja-Jack aus dem Computerspiel hier als Schutzengel haben und ich sagte ihm, dass es den ja nicht wirklich gibt und er meinte daraufhin, dass ich mal mit dir sprechen sollte.“

„Mit mir?“

„Mit dir.“ Er nickte weise. „Du machst deinen Job besser als dein Vorgänger. Aber halte mich nicht für blöd. Wenn ich also frage was du früher getan hast, dann kannst du mich zwar anlügen, aber ich wäre höchst erfreut, wenn ich mir sicher wäre, wer für die Station seinen Hals riskiert.“

Gideon blickte ihn an, nahm einen Bissen und räusperte sich. „Du willst wissen, was ich gemacht habe?“

„Ja.“

„Stadtreinigung.“

Jonathan seufzte und rieb sich die Stirn.

„Jonathan, was willst du?“

„Ich wollte dich wissen lassen“, er pausierte, dachte angestrengt nach und kam zum folgenden Schluss, „dass wir uns an die Gesetze halten müssen. Wir sind nur ein kleines privates Sicherheitsunternehmen, aber solche Alleingänge setzen uns in ein schlechtes Licht. Wenn du nicht reden willst, dann ist es so.“

„Du fragst nicht mehr?“

„Ist mir egal. Aber du kannst ja nicken, wenn ich recht habe. Schützendivision der Commando Brigade? Sondereinsatzkommando der Speznas? Nein?“ Er neigte den Kopf zur Seite, sah ihn von der Seite an und grinste leicht. „Ich lernte einige Schläger bei den Colpueras kennen. Du bist kein Amateur…“

„Was gibt es sonst? Das Übliche?“

Jonathan wankte zur Kaffeemaschine und sprach, während er zwei Tassen befüllte: „Wir haben viermal Ruhestörungen. Und die Leihbücherei vermisst ein Buch.“

„Ich übernehme das…“ Gideon nickte und erinnerte sich an etwas. „Ja, kannst dich drauf verlassen. Kannst du eine ID raussuchen?“ Jeder Bewohner der Station hatte einen eingepflanzten ID-Chip, eine Vorsichtsmaßnahme der Gesellschaft um eher die Leute an der Arbeit zu kontrollieren als aus sorgenvollen Gründen. Viele hatten nichts zu verbergen, oder es war ihnen einfach egal. Ganz Schlaue wickelten Alufolie in ihre Schals und versuchten so das Signal zu stören. „Der junge Mann nennt sich Marlon Goyer.“

Jonathan bewegte sich zum Terminal und tippte einen Befehl ein. „Was kommt jetzt? Nun, das wird dir wohl kaum gefallen“, entschied er und machte eine dramatische Pause. „Er ist bei dir.“

Gideon brauchte einen Moment, um zu verstehen. Dann stand er abrupt auf und verließ das Departement rasch.

„Willst du mir nicht sagen, was das soll“, rief ihm Jonathan hinterher.

Gideon brauchte keine zehn Minuten, bis er an die aufgebrochene Tür kam. Das zweistöckige Heim lag etwas von dem Boulevard entfernt und verfügte über ein Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und einen Hobbyraum. Nur ein Eingang, der von einer schweren Metalltür mit einem ID-Scanner zugänglich war. Bislang hatte er seine Bleibe als stiller Rückzugsort gesehen, als sein heiliges Refugium. Er starrte auf das demolierte Schloss und betrachtete den Schlamassel: mehrere Kratzer, der deutliche Schuhabdruck eines sehr unerfahrenen Einbrechers auf der Tür, der zudem gewalttätig werden konnte und für Heimlichkeit wenig Sinn hatte. Die Jalousien waren nicht heruntergelassen. Unzufrieden nahm Gideon das zur Kenntnis. Es bedeutete, dass Marlon entweder ein kompletter Idiot oder es ihm schlichtweg egal war, ob ihn jemand dabei beobachtete. Letzteres würde sich als heikel erweisen. Er betrachtete seine Unterkunft und entschied sich für eine vorsichtige Herangehensweise. Es gab keinen Grund, laut zu werden.

„Mister Nikolaeff“, meldete sich Mrs. Parker leise von ihrem offenen Fenster herüber und zeigte regte Anteilnahme: „Haben Sie schon gesehen, dass…“

Seine Nachbarin, eine rüstige alte Dame, beugte sich weit aus dem Fenster und starrte aufgeregt zu ihm herüber. Ihr Dutt unordentlich, der Morgenmantel weit offen gewährte sie Einblicke, auf die der Sheriff getrost verzichten konnte. Zumindest bewies sie sich wieder mal als aufmerksame Beobachterin.

„Ja, Mrs. Parker. Danke für die Mitteilung.“ Gideon holte seine Walther P99 hervor und kam zu ihr herüber. „Halten Sie das mal.“

Die Walther P99 war eine selbstladene Handfeuerwaffe mit 15 x 9mm Kugeln und einer Länge von 4 Zoll, dessen Stahlvisier mit Phosphor bestrichen war. Ausgestattet mit einem Schlagbolzenschloss und einem vorgespannten, weichgängigen Abzug war sie eine verlässliche Waffe, die in keinem Haushalt fehlen durfte. Gideon hatte sie in einigen Einsätzen schätzen gelernt da sie zur Standardausrüstung bei Soldaten wie auch bei Piloten einfach dazu gehörte. Aber auf der Station war sie nicht einmal zum Einsatz gekommen. „Ist er noch da drinnen?“

„Ja, Woher wissen Sie das?“ Mit spitzen Fingern nahm sie die Waffe und legte sie vor sich auf das Fensterbrett. „Ist das klug? Soll ich die Polizei rufen? Himmel, ich kann damit nicht umgehen…“

„Verwahren Sie sie nur. Es ist besser, wenn ich allein reingehe.“ Er setzte ein freundliches Lächeln auf und reichte ihr seine Karte. „Wenn ich in zehn Minuten nicht wiederkomme, rufen Sie diese Nummer an. Können Sie das für mich tun? Ich weiß, dass Sie eine ehrbare Bürgerin sind, Mrs. Parker. Und nicht damit auf den Briefträger zielen.“ Er grinste ihr schelmisch zu. Bloße Taktik, um sie aufmerksam und Teil seiner Ermittlung zu machen. „Sie sind jetzt meine Rückendeckung. Das klingt doch spannend, oder?“

Sie schluckte merklich und nickte tapfer. „Passen Sie auf sich auf.“

„Mache ich.“ Er wandte sich um und schritt ohne Eile auf sein Heim zu. An der Tür blieb er stehen, um zu lauschen. Von drinnen vernahm er ein Scheppern. Marlon war bestimmt entsprechend nervös, und es war nicht auszuschließen, dass er etwas dämliches anstellte. Vorsichtig schob er die Tür auf.

Als er durch den Eingang spähte, konnte er durch sein Heim bis zum gegenüberliegenden Panorama-Bullauge sehen: die Silhouetten der Möbel zeichneten sich deutlich gegen das schwache Licht ab und in der Ferne konnte man den gräulich-braunen Gasriesen sehen. Aber viel mehr erforderte seine Aufmerksamkeit die wild verstreuten Bücher, die überall auf dem Boden lagen, sowie die zerstörte Vase auf der Anrichte. Scherben und ein heilloses Durcheinander.

Gideon spürte Ärger aufkommen und hätte sich am liebsten sofort auf den Einbrecher gestürzt, doch er tat nichts dergleichen. Er betrat seine Küche und ließ sich am Frühstückstisch nieder.

Die Mikrowelle war aus der Anrichte herausgebrochen worden und stand auf dem Boden. Offenbar würde Marlon hier vorbeikommen und sie beim nächsten Hehler versuchen sie in klingende Münzen zu versetzen. Gideon hatte keine Eile.

Schließlich kam der Urheber der Misere persönlich und blieb wie angewurzelt an der Tür stehen.

Gideon lächelte entwaffnend und breitete jovial die Hände aus. „Ich bin unbewaffnet.“

Der Thermostat klickte leise, und die Klimaanlage ging an. Das Geräusch ließ Marlon zusammenzucken. Mit offenen Mund stand er da und hielt den schweren Plasmabildschirm in den Händen. Er schien auf vertrautem Fuß mit der Angst zu stehen und atmete schwer ein und aus. Jetzt hatte Gideon die Möglichkeit, sich den Jungen von Linda Goyer in Ruhe anzusehen: ein schlaksiger Bursche mit gräulicher Haut, die Pupillen geweitet und selbst aus der Entfernung roch Gideon Angst und eine leichte bittere Note, als würde er etwas Chemisches ausschwitzen. Trotz und Angst kämpften um die Vorherrschaft. Gideon wartete auf eine Reaktion.

Der Plasmabildschirm fiel klirrend zu Boden, als Marlon fahrig beide Hände frei zu bekommen versuchte, um in seiner Tasche etwas zu suchen. Ein Messer.

Gideon hob runzelnd die Augenbrauen.

„Wo ist das Geld, Mann“, brach Marlon leise hervor und wirkte, als wären die Teufel persönlich hinter ihm her. „Du alter Sack hast doch Geld! Ist hier ein Safe? Schnell, sonst steche ich dich ab.“

„Nur wir beide wissen davon, Marlon. Setz dich, lass uns reden. Ich habe irgendwo noch Kaffee…“

„Halts Maul, halt dein Maul!“

„Schöne Uhr hast du da“, bemerkte Gideon und lehnte sich zurück, als wäre ein alter Bekannter zum Essen hereingekommen. „Ich hatte auch mal so eine, aber die habe ich vor Jahren verloren. Im Urlaub auf den Kanaren. Warst du schon mal auf den Kanaren?“

„Bin ich nicht gewesen!“

„Weiß ich doch.“ Gideon zog umständlich seine Jacke im Sitzen aus und legte sie sich ordentlich über den Stuhl. „Lass uns reden. Wir sind zwei Erwachsene, die sich zufällig treffen. Du kannst mir alles sagen. Was du willst.“

Marlon wollte nicht reden. Das Friedensangebot nahm er vielleicht nicht mal wahr. Der Wahnsinn hatte das Haus durch jene Tür betreten, und zwar nur zu einem Zweck: um schnelles Geld zu finden, das er so sehnlichst brauchte. Momentan war er nicht drauf, aber er wünschte sich den liebgewonnen Zustand wieder herbei, und Gideon spürte, dass ruhiges Zuhören keine Option war. „Davon muss deine Mutter nichts erfahren.“

„Schläfst du mit ihr?“ fauchte er aufgebracht und kam drohend näher. „Dich habe ich schon öfters gesehen. Fickst du sie? Fickst du meine Mutter? Ich hab dich etwas gefragt…!“ Drohend kam er näher und reckte gefährlich sein Kinn vor. Aus seinen Augen sprühte Mordlust.

„Das fragt man einen Erwachsenen nicht“, erwiderte Gideon ruhig und stand auf. Nachdenklich legte er den Kopf schief, als würde er überlegen. „Sie ist eine gute Freundin. Wir reden viel. Vor allem über dich, Marlon. Momentan frage ich mich“, er stöhnte leise und knackte gefährlich mit seinem Nacken, „wie weit du gehen wirst. Wie weit geht der Junge von Goyer? Würde er wirklich für einen Schuss einen unbewaffneten Mann abstechen?“

Unruhig stand er da und hielt die Klinge vor sich, die bedenklich zu zittern anfing. „Wo ist das Geld?“

„Welches Geld“, fragte Gideon leise und bereitete sich mental vor. „Leg das Messer weg, Junge. Noch können wir reden…“

„Will nicht reden!“ Hastig fuhr er mit der Klinge durch die Luft. Viel zu weit entfernt. Hektisch wandte er den Kopf und schielte zum Ausgang.

„Ich werde dich nicht gehen lassen“, bemerkte Gideon trocken und setzte alles auf eine Karte. „In dem Zustand wirst du noch jemanden verletzen. Du bist doch ein netter Junge. Das ist doch nicht Marlon, der als Kind seiner Mutter so viel Freude gemacht hat! Das bist doch nicht du! Setz dich, und leg das Messer weg.“

„Nein!“ schnappte Marlon über und wilder Zorn verdunkelte seine Sicht der Dinge. „Gib mir alles Geld, das du hast! Sofort! Du nimmst mich nicht ernst! Warum nimmt mich keiner ernst!?“

Jetzt ist aber gut! Messer weg, sofort!“

„Nein! Ich steche dich ab, du…!“

Mehr Aufmunterung brauchte Gideon nicht. Er spürte, wie etwas Altbekanntes von ihm Besitz ergriff, die Entfernung abschätzte und seinen Gegner taxierte. Mit einer Waffe in der Hand hätte die Sache schnell und sauber gelöst werden können, dafür aber tödlich und gewiss nicht professionell genug, um sich dafür später bei Linda entschuldigen zu können. Aus Respekt vor ihr wählte Gideon die sanfte Tour, die auch, zugegeben, ihm perfiden Spaß machte. Auch der Sheriff war nicht frei von Fehlern.

Marlon hatte unterdessen sich entschlossen, zum Mörder zu werden. Ein Ausfallschritt und die Klinge weit erhoben, stürzte er sich auf das vermeintlich wehrlose Opfer.

Dumm, dachte Gideon bei sich und hätte fast dabei gelächelt. Es passierte alles so langsam vor seinen Augen. Wie auf einem Skizzenblatt konnte er klar vor sich die Schneise sehen, die genau auf seine Kehle zielte.

Mit der Linken konterte er den Schlag, indem er seinen Zeigefinger und Mittelfinger auf die ungeschützte Innenseite des rechten Arms schlug und dabei einen bestimmten Nerv traf. Marlon ächzte getroffen auf und sah hilflos zu, wie das Messer kraftlos aus seinen Fingern glitt. Er verstand nicht, dass Gideon nicht viel Kraft brauchte um ihn am Kragen zu packen und gegen die Anrichte zu schleudern, so dass die Teller und Tassen scheppernd zu protestieren anfingen.

Mit dem Fuß beförderte er die Klinge aus seiner Reichweite und versetzte Marlon eine schallende Backpfeife, die ihn zurücktaumeln ließ. Der Junge stieß krächzend etwas aus, was sich wie ein Fluch anhörte und ging sofort zum Angriff über: mit einem wilden Aufschrei umpackte er Gideons Hals und stemmte sich gegen ihn. Ganz nahe konnte er den stinkenden Atem und vor allem, den Wahnsinn in den Augen sehen. Hinter der Hirnrinde schienen kleine Dämonen um die Vorherrschaft zu kämpfen, und alle wurden Erste.

Gideon hatte endgültig genug, schlug ihm in den ungeschützten Bauch und packte mit der anderen Hand seinen Kopf, um ihn gegen den Türrahmen zu schlagen. Hier und da ein weiterer Tritt, ein Schlag mit dem Ellenbogen und schon landete Marlon getroffen zu Boden. Der Wahnsinn flackerte noch kurz auf, dann schlossen sich die Augen des kraftlosen Burschen für eine lange Zeit.

Der Sieger des ungleichen Kampfes blickte auf den zusammengekrümmten Körper und atmete stöhnend auf. Was war jetzt zu tun?

Mit Handschellen fesselte er ihn an die Heizung, telefonierte mit der Zentrale und begann dann erst die Taschen zu durchsuchen. Ein paar Credits, eine zusammengeknüllte Zigarettenschachtel und ein Inhalator.

Seltsam.

Der Inhalator war aus Plastik, doch in der gläsernen Patrone schwappte eine rötliche Flüssigkeit, die wie Liquid an dem Glas zu perlen begann. Gideon schnüffelte kurz an dem zerbissenen Mundstück und verstand schnell, mit was er es hier zu tun hatte. Der Grund, warum sich Goyers Junge so feindselig verhalten hatte.

Das Department war verhältnismäßig voll, und Gideon spürte Kopfschmerzen aufkommen. Der Apotheker stand in seinem Jackett, das in seiner Schäbigkeit bestens zu den Schuppen auf seinem Kragen passte, und besah sich den Inhalator in seiner behandschuhten Hand an. Jonathan, Fernandez und Oswald standen um Gideon herum und bestürmten ihn mit Fragen, während sie aufgeregt rauchten. Er schauderte und stieß ein Schnauben aus. Die schlechte Luft zermürbte ihn und der Kopfschmerz nahm zu. „Also, was haben wir hier, Doc?“ Gideon konnte den jungen Apotheker nicht ausstehen; er sah oft aus, als wäre er eben gerade aus einer Mülltonne gekrochen. Außerdem haftete ihm etwas penetrant Selbstgefälliges an, weshalb Gideon ihn im Verdacht hatte, dass er sich im Kreise seiner Familie ziemlich aufspielte.

„Ein einfacher Inhalator“, erklärte der Apotheker und rückte seine Brille zurecht. „Das ist definitiv RedStar, eine synthetische Droge, von der ich schon gehört habe. Ein tiefer Zug, und man ist drauf, salopp gesagt. Viele leicht zugängliche und alltägliche Produkte enthalten Lösungsmittel, Gase oder andere flüchtige Stoffe, die eine berauschende Wirkung haben können, wenn man sie inhaliert. Auch auf der Erde und auf dem Mars machen manche Kinder und Jugendliche frühe Drogenerfahrungen mit solchen Schnüffelstoffen, die oft in Gruppenritualen konsumiert werden. Vor allem der langfristige Gebrauch von Schnüffelstoffen ist mit erheblichen körperlichen, psychischen und sozialen Risiken und Folgeschäden verbunden.“

„Siehe Beweisstück A“, meinte Jonathan abfällig und deutete auf die einzige Zelle hinter sich. Marlon plärrte und beschwerte sich, so dass die Anwesenden sich gezwungen sahen, die Tür zum Bereich geschlossen zu halten. Es war kein schöner Anblick.

„Kann er vom Stoff entwöhnt werden?“

„Nicht bei RedStar“, verneinte der Apotheker und setzte eine mitleidige Miene auf, die derartig gespielt war, dass Gideon nur kurz Hass empfand. „Ähnlich wie bei Crack. Der Körper braucht jetzt diesen Stoff und vergiftet sich selbst. Es wirkt wie Fettentferner oder Tipp-Ex: Butan, Pentan, chlorierte Kohlenwasserstoffe oder auch Feuerlöschflüssigkeit, wie Halone. Der Körper nimmt Crack über die Lunge wesentlich schneller als geschnupftes Kokain über die Nasenschleimhäute auf. Nach ca. 10 Sekunden erreichen die Kokainmoleküle die Nervenzellen des Gehirns. Schwerwiegend sind zudem oft die psychischen Begleiterscheinungen: Charakterveränderung. Der Konsument fühlt sich einsam und er wird häufig von der Umwelt als aggressiv wahrgenommen. Wahnvorstellungen, Psychosen, Dermatozoenwahn, Soziale Vereinsamung. Ich denke, dass euer Junge in eine geschlossene Abteilung der Medizin verlegt werden sollte. Natürlich braucht ihr eine gerichtliche Verfügung.“

Jonathan langte zum Hörer. „Das erledige ich.“

Fernandez stieß einen Pfiff aus und warf Oswald einen Blick zu. „Wir sind so weit draußen. Habe echt gedacht, dass erreicht uns nicht.“

„Verdammte Schande, das.“ Oswald nickte weise und klopfte Gideon auf der Schulter. „Das wirst du wohl der lieben Mama selbst beibringen müssen.“

Gideon schauderte und stieß erneut ein Schnauben aus. Er wollte jetzt nicht an Linda denken. Wie würde sie darauf reagieren? „Das sollte besser unser Boss machen, nicht wahr Jonathan?“

„Verzichte. Das machst du. Du kennst sie länger.“

„Ach, komm schon!“

„Nichts da“, stellte sein Boss klar. „Er ist dein Problem. Er ist bei dir eingestiegen, und du hast ihn festgenommen. Jetzt machst du den ganzen Abwasch. Keine Diskussion.“

Die Logik dahinter wollte Gideon nicht einleuchtend, aber er wusste, ab wann es klug war einfach zu gehorchen. „Wie kam das Zeug hierher? Wer dealt mit Drogen? Hat jemand eine Idee?“

Fernandez und Oswald schüttelten die Köpfe, und auch Jonathan sah ratlos aus.

Mit nichts anderem hatte Gideon gerechnet. Besah man sich die drei Kollegen, hätte man annehmen können, dass sie außer ihre Uniform nur ihre Bäuche und ihr Sitzfleisch ausreichend pflegten. Oswald hatte deutliche Gewichtsprobleme, und Fernandez selbst klagte über Plattfüße und fuhr die meisten Wege mit einem Buggy. Und Jonathan verließ so gut wie nie seinen Platz im Departement. Dagegen wirkte Gideon wie ein Fitnesslehrer. Auf solche Krisen waren sie nicht vorbereitet. „Keine Idee? Wir müssen dagegen vorgehen, Leute.“

„Ich halte dich nicht auf, Gideon“, bemerkte Jonathan auf eine seltsame Art, die ihm nicht gefiel. „Das ist jetzt dein Fall. Ich werde einen Bericht zur Zentrale und eine Anfrage an das Drogendezernat schicken. Dr. Kelputsch kommt gleich und schaut sich den Patienten an. Wir werden ihre Meinung zusammen mit unserem Verdacht protokollieren und uns an das Verfahren halten. Du weißt, was du zu tun hast?“

Gideon starrte seinen Freund an und schnaubte zum wiederholten Male. „Wie weit darf ich gehen?“

Alle sahen ihn verdutzt an, nur Jonathan schien kein bisschen verunsichert. „Wie weit möchtest du denn gehen? Ich will den Dreck hier nicht haben. Klopf mal auf den Busch und schaue nach, was dabei herumkommt, aber wenn die Profis von der Drogenbehörde auftauchen, bist du raus. Dann überlassen wir es ihnen. Kapiert?“

„Ist das alles?“ wollte der Apotheker wissen, während er seine Handschuhe auszog. „Darf es sonst noch etwas sein?“

Gideon versuchte zu schlafen und starrte Linda von seiner Seite des Bettes aus an, die geruhsam den Schlaf gefunden hatte. Zuerst hatte sie geweint, er hatte sie gehalten und war den ganzen Abend bei ihr geblieben. Aus dem Trösten war ein Streicheln geworden und dann… na, sie hatte schon viel zu lange die Nähe eines Mannes nicht mehr gespürt. Darauf war Gideon nicht stolz.

In seinem Kopf ging es zu wie in einem lebhaften Miethaus – überall Streitereien, und ein Stück weiter den Flur hinunter kam es sogar zu einer Schlägerei. Er fühlte sich leer und ausgehöhlt, und vor dem Schlafengehen hatte er noch Wein mit ihr getrunken. Die Dunkelheit rückte ihm zu dicht auf die Pelle, weshalb er aufstand, das Licht im Badezimmer anschaltete und sich wieder anzog. Es war fünf Uhr in der Früh. „Wo gehst du hin“, hörte er sie sagen.

„Ich gehe um die Zeit immer Joggen“, meinte er leise und wandte sich zu ihr um. „Kann ich dich alleine lassen?“

Sie stöhnte als Antwort und streichelte ihm über das Gesicht. „Du bist so anders als die anderen. Immer korrekt, immer so ruhig und gefasst. Wie ein Abziehbild eines Playgirls.“ Sie lächelte traurig und küsste seine schwielige Hand. „Ich möchte dich mit niemanden teilen. Du tust mir gut.“

„Danke für die Blumen.“

Über ihre nächste Bemerkung war er aber erschrocken: „Du passt nicht hierhin.“

„Wie meinst du das?“

„Alles geht den Bach runter“, erklärte sie leise und führte seine Hand zu ihrer Brust. „Das Kino hat letzten Monat zugemacht, und ich hörte, dass die Millers von nebenan umziehen wollen. Die Station ist verflucht. Zuerst mein Mann, und jetzt Marlon.“ Sie wandte sich plötzlich ab und weinte leise.

Er verstand nur zu gut. „Darum bin ich hierher, Linda. Das ist ein totes Gleis, aber auch ich habe meine Gründe, warum ich hier bin.“ Er streichelte ihre Schulter und hauchte ihr einen Kuss auf ihren Kopf. „Ich schnappe mir die Typen, die deinem Sohn das Zeug verkauft haben.“

Er blieb noch eine Weile bei ihr sitzen, bis sie wieder eingeschlafen war.

Zuhause angekommen, räumte er auf, fegte die Scherben beiseite und war nach einer Stunde fertig. Er schickte eine Anfrage an den Schlosser und war erfreut zu lesen, dass er schon in zwei Stunden das Schloss austauschen und die Tür reparieren konnte. Kurzerhand zog er seinen Jogginganzug an, setzte sein Headset auf und hörte beim Laufen Musik.

Es war wie immer seltsam auf dem Außenring der Station zu Joggen, und er begegnete die ganze Zeit nicht einer Menschenseele. Zur Rechten begrüßte ihn hinter dem Panoramaglas der lebensfeindliche Weltraum, während er sich im wohltemperierten Bereich der riesigen Anlage verausgabte. Das All war ewig und die Station nur ein Körnchen in dem riesigen Vakuum des Raums. Das All kümmerte nicht das Problem, mit dem er konfrontiert worden war und ließ ihn damit allein.

Pünktlich kam er vom Joggen zurück als der Schlosser schon auf ihn wartete. Die Tür wurde schnell repariert und er ging rasch duschen. Sein nackter Körper war mit kleinen und großen Narben versehen und über seinen Rücken prangte in kyrillischer Schrift das Motto seiner alten Einheit: Ehre und Ruhm der Sewastopol! Nur mit einem Handtuch bekleidet wandte er sich zum Flur und blickte zur Rechten: das im Dunkel liegende Schlafzimmer lockte mit seinem weichem Bett, der warmen Daunendecke und der Aufsicht auf einen erholsamen Schlaf. Sehnsüchtig blickte er nach vorne – ein Frühstück im Fernsehsessel war auch nicht zu verachten. Beides ließ sich leicht kombinieren.

So saß er da und schaute sich die Nachrichten an, genoss seinen Tee und spürte wie er ruhiger und ruhiger wurde. Nach einer Weile war er eingeschlafen.

Vor zehn Jahren:

Der Mustang röhrte die Auffahrt des Bureau of Khorgisien in die Seitenstraße hoch und gesellte sich zu der Wagenkolonne der Einsatzgruppe, die aus einem zerbeulten Undercover-Lieferwagen und zwei schwarzen Vans bestand. Der junge Mann wuchtete die Tasche mit seiner Ausrüstung aus dem Mustang und hastete zum Führungsfahrzeug hinüber, einem schmutzig weißen, geschlossenen Lieferwagen, der an den Seiten die Aufschrift eines bekannten Feinkostladens trug. Die Farbe war über die Jahre mehrfach erneuert worden, die Einschusslöcher hingegen blieben.

Durch die geöffneten Hecktüren beobachteten drei Männer den Auftritt. „Da kommt der neue Kommissar“, knurrte Offizier Artjom Penkusch. „Kanns kaum erwarten, sich seine ersten Lorbeeren zu schießen.“

Der Special Agent, für den Einsatz verantwortlich, erstickte jede Diskussion im Keim. „Er kommt mit besten Empfehlungen der Partei“, sagte Gideon Nikolaeff. „Ohne die Erlaubnis des Großen Bruders geht ja heutzutage nichts mehr. Seid freundlich.“

„Das ist ja noch ein Kind“, grummelte jemand hinter ihm.

„Lob und Preis Khorgisiens“, begrüßte der Kommissar und kam näher. „Ich darf Ihnen sagen, dass der Oberste Anführer persönlich den Haftbefehl unterzeichnet hat. Es ist aufregend, nicht wahr?“ Er grinste begeistert und stellte seine Tasche ab. Und blickte in verhärmte Gesichter, die seinem Enthusiasmus nicht unbedingt teilten. Gideon maß ihm mit forschen Blick und nahm die Unterlagen entgegen. „Wir sollten reingehen.“

Der alte Lieferwagen verströmte diesen Ziegenstallgeruch aus Angst und Schweiß, dem mit keiner Putzaktion mehr beizukommen war. Er hatte über Jahre hinweg unzählige Firmenaufdrücke über sich ergehen lassen müssen und war Teil der Säuberungsaktion. Einer Säuberung der unliebsamen Subjekte, die gegen das Gesetz verstießen. Und in Zeiten der neuen khorgiesischen Regierung wurde das Maß sehr weit gefasst.

Die Rückfenster funktionierten gut getarnt wie Einwegspiegel.

Der Kommissar konnte die großen schwarzen Vans, die ihnen folgten, gut sehen. Immer dann, wenn er sein Gesicht dem Fenster zuwandte, musterten seine männlichen Kollegen ihn mit verstohlenem Blick. Ausnahmslos alle Beamte trugen Kampfanzüge.

Gideon griff sich seinen Klemmblock vom Beifahrersitz. „Wir haben drei Ziele im Auge, Herr Kommissar“, erläuterte er beiläufig. „Team Zwei und Team Drei sind schon auf dem Weg. Team Eins – das sind wir – werden uns „Mama“ schnappen. Könnte ich den Haftbefehl sehen?“

Der Kommissar reichte ihm die Papiere, die der Specialagent nur überflog. Stempel und Unterschrift waren gültig. Er atmete leise aus und drehte sich zu ihm um, während der Kommissar mit freudiger Erwartung an seinem Pistolenhalfter herumnestelte. „Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?“

„Zweiundzwanzig. Aber im Kunstschießen war ich Bester. Das Politbüro hat seinen Segen gegeben.“

Gideon war nicht beeindruckt. Er wusste, dass der Oberste Sekretär vor der Partei punkten und sich als Mann der harten Hand profilieren wollte. Darum schickte er seinen ältesten Sohn mit. Der Kommissar wirkte wie ein Abziehbild eines Propagandaposters. „Wir nehmen heute nicht irgendwelche Menschenrechtler oder Politaktivisten hoch, Herr Kommissar. Das wissen Sie.“

„Natürlich.“

„Dann verstehen Sie sicher, dass Sie im Auto bleiben.“

Der Kommissar war damit nicht einverstanden. „Sie wissen, wer mein Vater ist?“

Der Agent drehte sich zu den drei Männern und der einzigen Frau um. Die Einsatztruppe bestand aus ehemaligen Söldnern oder Polizisten, die wegen ihres harten Vorgehens in die Rolle genau passten. Ihre Knüppel und Kampfanzüge waren voller Kerben und Flecken, die von einem Leben der Gewalt erzählten. Dazwischen wirkte der aufstrebende Kommissar wie eine frische Bergblume, die aus einem Haufen Geröll emporwuchs.

Gideon versuchte die Taktik zu ändern: „Was wissen Sie über Mama?“

Die Rede wirkte wie einstudiert: „Gina „Mama“ Colfex hat Maschinenbau an der Staatlichen Universität studiert und ist Teil der Colfex-Clique. Gesucht wegen Drogenhandel, Menschenraub und Mord. Ein Familienunternehmen, dass ihr Vater schon vor Jahren aufgebaut hat. Knapp vierundvierzig Mitglieder.“ Er holte kurz Luft und hielt trotzig den Blickkontakt. „Sie leidet unter periodischen Anfällen von Angst und Depression. Fehlende Empathie wurde bescheinigt und sie gilt als extrem gewalttätig.“

Gideon nickte ernst. „Die Clique kocht heute. Das Methamphetamin ist Sache der Polizei. Wir sind einzig und allein an der Familie interessiert. Der Haftbefehl führt halbautomatische Waffen und einige MAC 10s auf, und wer weiß, was sie noch hat. Die Frau ist brandgefährlich. Witwe von Russel Cjungo, dem Schlächter. Ich habe bereits zweimal wegen Verdachts des Menschenhandels gegen sie ermittelt. Das letzte Mal kam sie mit einer 9-Millimeter und drei Magazinen an. Als ob das nicht gereicht hätte, hatte sie Tränengas dabei. Keine Ahnung, mit was sie heute aufwartet.“ Er warf einen Blick zu seinen älteren Kollegen. „Sie hat Boris und Natascha auf den Gewissen.“

Die Männer nickten ernst. Artjom Penkusch spuckte geräuschvoll aus. Heute würde Blut fließen. Vorsorglich stopften sie sich noch Extramagazine in ihre Taschen.

„Ich war drei Jahre in Folge Champion im Pistolenschießen bei den Mutterland-Meisterschaften“, erwiderte der Kommissar trotzig. Ihn ärgerten die Blicke der Männer, trotzdem registrierte er, dass niemand wagte, etwas zu sagen. Es war nicht klug den Großen Bruder zu verärgern.

Gideon runzelte die Stirn. „Schön. Sie wollen dabei sein. Von mir aus. Aber ich höre mir hinterher keine Klagen an, kapiert? Sie bleiben hinter mir. Wir benutzen zuerst Betäubungsgranaten, dann wird scharf geschossen.“ Gekonnt wechselte er das Thema. „Wir wissen, dass ihre Cousins John und Vic in einer Fleischerhalle gerade beschäftigt sind. Team zwei wird sich darum kümmern. Team Drei nimmt sich ihr Zuhause vor. Laut unseres Informanten sitzt die Familie gerade am Tisch zu Abend. Wir schlagen alle gleichzeitig zu. Ihre Schwester Michelle und ihr Sohn Trevor werden da sein. Schnell und sauber. Wenn die Granaten nicht versagen, bekommen wir sie alle lebend.“

Alle nickten grimmig. Die verhärmten Gesichter ließen den Schluss zu, dass sie lieber ihre ganzen Magazine verballern würden, als die Kriminellen lebend zu fangen. Bei Erfolg mussten sie verhört, versorgt und nach der Verurteilung zum Flugplatz gebracht werden, wo eine Militärmaschine sie nach Nordsibirien brachte. Und hoch im Norden, in der Weite der Tundra, wartete ein ganzes Gefängnis voller Kriminelle auf sie. Selbst bei einer Flucht wartete die Tundra auf sie; mehrere hundert Quadratkilometer Wildnis. Der Gulag war eine Einbahnstraße.

„X minus zehn Minuten“, meldete sich der Fahrer.

„Dort, hinter dem LKW“, entgegnete Gideon und wandte sich wieder nach vorne. „Bei x minus drei steigen wir aus und beziehen Position.“

Der Fahrer fuhr routiniert weiter und sagte, ohne die Mundwinkel zu verziehen: „Es sieht ganz so aus, als wollten heute nicht gerade viele Leute Fisch kaufen. Wir sind da.“

Die einzige Frau im Bunde schaltete den Computer ein und schickte ein 3D-Bild von der Umgebung in die Mitte des Vans. Das Modell war gestochen scharf und zeigte in verschiedenen Farben, was relevant für die Truppe war. Auf dem Bürgersteig reihten sich unter einer Leinenmarkise Tische und Verkaufsstände mit feucht schimmerndem Fisch. Der Computer markierte die Zivilisten grün und zeigte gerade einen Mann, der mit einem geschwungenen Messer einen Marko-Hai aufschlitzte und den riesigen Fisch mit einer Spritzpistole abspritzte. Da jeder Mensch eine ID in seinem Nacken verpflanzt bekommen hatte, war es für den Computer ein Leichtes die Guten von den Bösen zu unterscheiden. Die ID des Mannes war sauber – seine und die der anderen Zivilisten, die sich in kleinen Grüppchen um die Tische drängten. Es handelte sich überwiegend um Hausfrauen, die zu ihrem allabendlichen Gang über den Markt eintrudelten, die Ware beäugten und an ihr schnupperten.

In der Halle dahinter sah es anders aus.

Zehn grün schimmernde Individuen saßen dichtgedrängt an einem Tisch und blickten vertieft in ihre Arbeit, während vier rotmarkierte Personen um sie herumstanden. Gestochen scharf konnte jeder im Van die feinen Gerätschaften ausmachten, die man brauchte, um erstklassige Drogen zu produzieren. Und der Computer meldete einen Treffer.

Gina „Mama“ Colfex.

Die ID log nicht.

„Da ist sie ja“, raunte jemand leise.

Das Labor grenzte ebenerdig an der Lagerhalle des Fischmarktes an und hatte nur einen Eingang. Die ganze Gegend bestand aus einer Reihe von Geschäften und Warenhäusern an den Flussufern, die zu dieser Zeit nur wenig von Zivilisten besucht wurde. Langsam rollte der Van mit ausgeschalteten Lichtern hinter einem Lkw und blieb schließlich stehen. Er blickte in die Gasse hinunter und winkte jemanden in Zivil zu, der sich ihm schnell näherte.

„Wer ist das?“

Gideon wandte sich dem Kommissar zu. „Mamas Frühwarnsystem hat in der Vergangenheit gut funktioniert. Es ist bis jetzt ihr jedes Mal gelungen zu flüchten und sich mit einem Auto aus dem Staub zu machen. Lorenzo ist ein alter Freund von mir.“ Er stieg aus und unterhielt sich leise mit dem Mann mit den schmächtigen Schultern, der sein Gesicht unter einer Kapuze verborgen hielt. Aus den verspiegelten Fenstern beobachtete der Kommissar, wie der Beamte ihm ein Geldbündel zusteckte. Sofort verschwand der Mann wieder in der Dunkelheit.

„Jedes Auto im ganzen Block liegt lahm. Wir können“, raunte der Agent leise zum Van und holte seine Kopfhörer vom Sitz. Dabei sprach er in sein Kehlkopfmikro. „X minus drei. Team Zwei und Team Drei, bitte kommen.“ Er nickte knapp und sprach weiter leise ohne dass der Kommissar etwas davon verstand. Die anderen Männer bereiteten sich vor und entsicherten ihre Waffen.

Schließlich öffnete Gideon die Hecktüren und überreichte dem Jüngeren eine Waffe. „Nehmen Sie diese.“

Der Kommissar nahm sie entgegen und hielt sie vor sich auf eine Art, wie sie Gangster in amerikanischen Filmen hielten. Gideon bemerkte den gefährlichen Glanz in seinen Augen, sagte aber nichts dazu. „Sie bleiben hinter mir. Boris, du gehst zur Rückseite und wirfst die erste Granate durchs Fenster. Vanja deckt den Nordteil und schaltet die Wache dort aus. Ana wird die Vorderseite nehmen und sie mit Avon eindecken.“ Avon war eine großkalibrige Schrotflinte, die im Nahkampf einen ganzen Raum leerfegen konnte. Extrem gefährlich und endgültig. Die Person namens Ana grinste den Kommissar zu und tätschelte das verchromte Monstrum. „Leute, das haben wir schon oft gemacht – nur heute vor Publikum. Immer lächelnd in die Kamera.“

Sein ganzes Team wirkte wie ein Rudel hungriger Wölfe, und er sah, dass es gut war.

Alle nickten stumm, und langsam begann die Gruppe sich zu bewegen.

Er ging voraus und zog seine Waffe, wohlwissend dass der Gast es versäumt hatte, sein Magazin zu kontrollieren. Tragische Erfahrungen hatten den Wert einer fehlerfreien Rückendeckung nachdrücklich vorgeführt, so dass der Mann dem Kommissar wohlweislich eine Schusswaffe mit einem leeren Magazin gegeben hatte. Sich mit einem Team, das man nicht kennt und dessen Leute über unterschiedliche Trainingsniveaus verfügen, bei einem Übergriff gewaltsam irgendwo Zutritt zu verschaffen ist ein gefährliches Unterfangen. Wie schnell hat einem eine Kugel die Wirbelsäule zerschmettert, wenn man einer Gruppe vorangeht, die unerfahren und von Angst getrieben agiert.

Das Team zerstreute sich und bezog in voller Kampfmontur Position – schnell und effizient. Der Zufall wollte es, dass kein einzelner Zivilist auf die Beamten aufmerksam wurde, bis sie in Stellung waren. Der Agent blickte auf seine Uhr und registrierte, dass sie gut in der Zeit lagen. Mit einem Flüstern gab er seinen Mann an der Rückseite das Zeichen.

Die Betäubungsgranate zerschlug ein Fenster, segelte durch die Luft und explodierte so laut, dass der Kommissar hinter Gideon vor Schreck zusammenzuckte. Dabei drückte er versehentlich ab, und erstarrte als nur der Schlagbolzen auf nichts traf. Gideon wandte sich kurz um und blickte genau in den Lauf. Habe ich es nicht gesagt?

Doch er wartete keine Reaktion ab, sondern stürmte vor und trat die erste Tür ein. Der nächste Knall war ohrenbetäubend und Gideon wusste, dass Ana mit ihrer Avon den Raum für sich beanspruchte hatte. Schmerzensschreie und mehrere Schüsse folgten. „Alles runter auf den Boden. Ich sagte, runter auf den Boden!“

Und jetzt ging alles sehr schnell. Der Trupp sicherte den Raum, bellte Befehle und überwältigte die Personen in dem Raum. Auch einige Zivilisten lagen tot auf dem Boden, doch für die hatte der Agent keinen Blick übrig. Kollateralschaden war vorgesehen.

Schüsse hinter dem Agenten. Zwischen zwei Pfeilern tauchte, Nofretete gleich, Gina „Mama“ Colfex auf und zielte mit ihrer Schrotflinte auf ihn. Wie von einer eisernen Faust getroffen, trieb es den Agenten nach vorne. Sämtliche Luft entwich ihm aus der Lunge. Mündungsfeuer und Pulverdampf aus verschiedenen Waffen. Kugeln pfiffen durch die Luft. Der Agent berührte kurz seine Kevlar-Weste, die ein qualmendes Loch aufwies. Das Gewicht der Weste fiel durch eine zusätzliche Weste Keramikplatte am Rücken deutlich höher aus. Wie im Zeitraffer nahm er alles auf: wie der Kommissar zur Rechten umfiel und hart auf dem Boden landete, wie „Mama“ mit wilden Augen voll mit tödlichem Versprechen auf ihn anlegte und wie Artjom von der Seite einen Schuss auf sie abgab. Sie segelte davon und blieb reglos liegen, mit seltsam verdrehten Beinen nach vorne gebeugt auf den Beinen.

Artjom, Ana und Boris übernahmen die Kontrolle. Der Einsatz war vorbei.

Das Einsatzfahrzeug der hiesigen Polizei sowie ein Leichenwagen waren vorgefahren, während der Agent ein kurzes Resümee zog: drei Kriminelle waren tot, sowie alle zehn Zivilisten. Artjoms schnelle Reaktion war es zu verdanken, dass Gina „Mama“ Colfex nur betäubt wurde. Er hatte zuvor drei Schüsse scharfer Munition verschossen und gedankenschnell auf Betäubungsschuss umgeschaltet. Guter, alter Artjom.

Gideons Rücken schmerzte, aber das würden eine Flasche Wodka und ein paar Schmerztabletten schon hinbekommen. Er wankte leicht zu seinem Freund und ließ sich einen Bericht geben. „Wie stehen wir da?“

„Vierzehn Kilogramm Methamphetamin, alle Zivilisten tot und Mama lebend.“ Artjom deutete auf sein Headset. „Team zwei und Drei haben ein ganz schönes Blutbad angerichtet. Vier Mitglieder sind noch am Leben, unsere eigenen Verluste belaufen sich auf null.“

Der Agent nickte leicht und schaute auf den Kommissar, der mit einem Verband um seinen Kopf auf dem Rinnstein saß. „Und was ist mit unserem Jungspund?“ wollte er wissen.

Artjom Penkusch runzelte die Stirn. „Ist gegen einen Pfeiler gelaufen. Hat alles verpasst.“

Gideon nickte knapp und spürte, wie sich seine anfängliche Anspannung löste. „Gib mir deine Waffe“, sagte er knapp.

„Warum?“ Er reichte sie ihm.

„Runden wir den Abend noch etwas ab. Keine Sorge, ich schreibe den Bericht“, sagte er leise und überprüfte das Magazin. Die scharfe Munition tauschte er gegen ein volles Magazin aus. Die modernen Handfeuerwaffen der Polizei verfügten über ein zweites Magazin, das Betäubungsmagazin enthielt. Mit sicherer Hand sah er, dass nur eine Kugel fehlte.

Langsam schlenderte er auf den Jüngeren zu, der ihn aus verständnislosen Augen anstarrte.

„An was können Sie sich erinnern?“ fragte er den Kommissar und setzte zum ersten Mal ein gutgemeintes Lächeln auf.

„Meine…meine Waffe“, stotterte der kalkweiße Mann leise und starrte betroffen vor sich auf den Rinnstein. Er wischte sich wie ein kleines Kind die Tränen mit dem Handrücken aus den Augen. „Sie war nicht geladen.“

„Hier ist sie doch, Herr Kommissar“, erwiderte Gideon freundlich und reichte sie ihm. Er kniete sich neben ihm. „Sie haben den finalen Schuss abgegeben. Glückwunsch.“

Pure Unverständnis blickten ihn aus den großen Augen entgegen. „Was...?“

„Sie haben Gina „Mama“ Colfex betäubt. Ihr Vater kann stolz auf sie sein. Der Einsatz war ein voller Erfolg. Ich hoffe, Sie sind jetzt zufrieden“, bemerkte er knapp, stand auf und wartete nicht mehr ab, was der Kommissar zu sagen hatte. Das Politbüro würde seinen Bericht absegnen, dafür klang die Geschichte einfach zu gut. Die Familie Colfex würde schon morgen Abend in Nordsibirien landen und damit nicht mehr sein Problem sein. Khorgisien konnte dann aufatmen.

Blieb noch eine Sache.

Drei Polizisten umringten die einzige Gefangene, die mit Fußfesseln und Handschellen nirgendwo mehr hingehen würde. „Mama“s Blick wirkte benebelt, aber sie war definitiv wach. Aus einem Mundwinkel rann Speichel und eines ihrer Augen zierte ein Veilchen. Jemand hatte ihr vorsorglich einen Schlag verpasst. Gideon konnte es niemanden übelnehmen. Er setzte sich ihr gegenüber und grinste frech, während er sich eine Zigarette anzündete. „Mama, du wirst mich dafür hassen, aber du wirst bald für eine sehr lange Zeit nicht mehr unter uns weilen. Du machst eine Reise. Der Gulag wartet schon.“ Er paffte ihr eine Qualmwolke ins Gesicht. „Du und deine Familie könnt schon mal mit dem Packen anfangen. Wie alt ist dein Sohn? Trevor? Müsste jetzt vierzehn sein. Für ihn gibt es kein Date, kein Fernsehen und keine Disco mehr. Kein Fastfood, und kein Internet. Das hast du erreicht, Mama. Du hast deine eigene Familie verbannt“, er lächelte grausam. „nicht, dass sie es nicht verdient hätte.“

Er hatte vieles erwartet. Gezänk, Geschrei oder einfaches Flehen, wie es schon viele vor ihr im Angesicht der Justiz getan hatten. Tränenreiche Reden über Besserung, über Milde und Gnade – aber davon kam nichts über ihre Lippen.

Gina „Mama“ Colfex blickte ihn aufmerksam an. Ihre Augen wurden lebendig und zeugten von einer Kälte, die der Agent nicht so schnell vergessen würde. Mit krächzender Grabesstimme raunte sie bloß: „Der Gulag ist nicht das Schlimmste, Bulle. Wir werden sehen.“

Er stutzte kurz und lachte kehlig auf: „Du kapierst es nicht, Schlampe, oder? Die Haftanstalten dort sind die Hölle. Und ihr seid die Schafe, die wir zur Schlachtbank führen. Du und deine Familie werdet keine ruhige Minute mehr haben. Das sind Schwerverbrecher aus allen Winkeln Russlands. Killer, Psychopathen und vielleicht sogar Kannibalen. Du bist nur eine kleine Nummer dort. Nur eine unbedeutende Zahl.“

Sie grinste wild und entblößte makellose Zähne. „Dann muss ich wohl härter werden, was?“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und provozierte ihn mit maßloser Verachtung. In ihren Augen glomm der Wahnsinn. „Ich bin der Wolf, den ihr zu den Schafen führt, Bulle.“

Der Mann erwiderte ihr Lächeln, stand auf und blickte sie geradeaus an. Langsam und voller Absicht schnippte er die Asche auf ihren Kopf. „Was auch immer, Mama. Was immer du sagst.“

„Genosse Nikolaeff? Kann ich Sie mal sprechen?

Er erstarrte und glaubte seine Ohren nicht zu trauen. Diese weinerliche Stimme. Hatte der Kommissar ihn gerade mit Nachnamen angesprochen?

Mama grinste nur und blickte ihm nach. Unbeirrbar. Tödlich. „Nikolaeff“, wiederholte sie leise und suchte seinen Blick. „Ein guter Name. Ich werde ihn mir merken.“

Zu allem entschlossen.

Sie kennt meinen Namen.

RedStar

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