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NUR EIN FOTO

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Wenn ich die Augen schließe um mich Erinnerungen hinzugeben, bin ich in meiner Kindheit im Alter von sechs oder sieben Jahren.

Unser Vater war für mich nicht mehr als ein vergilbtes Foto in der Schublade einer Flurkommode, eine Porträtaufnahme, zwanzig mal zwölf Zentimeter. Wir Kinder und Mutter gingen recht unachtsam um mit dem Bild, als schiene es nicht von Bedeutung, obgleich es nur dieses eine von ihm gab.

Die Fotografie zeigte, trotz Schrammen und Flecken, einen jungen Mann in Uniform mit einem fast mädchenhaften Gesicht. Die gerade Stirn und die hohen Wangenknochen verliehen ihm etwas Würdevolles. Große Augen, ernst und melancholisch blickend, ein fein geschnittener Mund und eine wohlgeformte, wenn auch etwas zu groß geratene Nase, rundeten das Bild ab. Es war eine Aufnahme von 1943, wie Mutters Handschrift auf der Rückseite verriet.

Wenn ich allein war, nahm ich bisweilen das Foto an mich, hielt es neben mein Gesicht und schaute in den Spiegel. Nein, seine Ebenmäßigkeit besaß ich nicht, auch nicht seine Augen, und dennoch war da eine Ähnlichkeit, jedenfalls wesentlich deutlicher als zu meinen Geschwistern. Ein beängstigendes und gleichzeitig angenehmes Gefühl.

Als Kind empfand ich das als verwirrend. Wusste ich doch, dass ich erst Monate nach seinem Tod geboren wurde.

Von Mutter erfuhren wir Kinder kaum etwas über unseren Vater. Fragen wich sie aus, ihr Gesichtsausdruck bekam etwas Schmerzhaftes. So unterließen wir es. Auf meine Anmerkung, wie schön Papa doch auf dem Foto aussähe, reagierte sie nicht, nahm mich in den Arm und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

So vermischten sich bei mir Wunschdenken und Realität und führten zu einer abstrakten, fast mystischen Vorstellung.

Unser Vater erfuhr für viele Jahre Anonymität.

Es war unsere Großmutter mütterlicherseits, die mir als Heranwachsende behutsam aus der Familiengeschichte erzählte und verschüttete Erinnerungen in mir weckte.

Vater im Krieg. Seit Monaten kein Lebenszeichen von ihm. Unsere schwangere Mutter, mein acht Monate alter Bruder Christian, der im Kinderwagen lag, mein zweijähriger Bruder Udo, meine fünfjährige Schwester Renate, meine kranke Großmutter und eine schwerbehinderte Tante waren nach der Flucht aus Danzig im Bremer Umland angekommen. Sie besaßen nicht mehr als die Lumpen, die ihre Körper bedeckten. Die Bauersfrau, die sie aufnahm, handelte unwissend, als sie dem Baby Christian Vollmilch zu trinken gab. Nach den Entbehrungen auf der Flucht reagierte mein Bruder mit Brechdurchfall.

Mutter hatte bislang verzweifelt versucht, ihn durch Stillen am Leben zu erhalten. Hunger, Leid und Ängste hatten diesen Lebensquell nun bei ihr versiegen lassen.

In dem Dorf, in den Tiefen der Bremer Moore, war kein Arzt zu erreichen. Die kleine Flamme erlosch in den Armen unserer schwangeren Mutter. Seine verkrüppelten Füßchen hatten ihre embryonale Stellung beibehalten. Unser Bruder hätte wohl nie laufen können, vielleicht ist ihm viel Demütigendes erspart geblieben.

Zwei Tage war Mutter mit einem geliehenen Fahrrad unterwegs, um einen Kindersarg zu bekommen. Sie wollte Christian nicht ohne schützende Hülle in die kalte, fremde Erde legen.

Und sie kam mit einem Sarg zurück. In diesem begrub sie nicht nur unseren Bruder, sondern auch das Erlebte vom Vortag. Der Kindersarg unter ihrem Arm und ihr schwangerer Leib hatten den Mann, dem sie im Moor begegnete, nicht davon abgehalten, sie zu Boden zu werfen, um ihr Gewalt anzutun.

Sie hatte nie darüber gesprochen.

Mutter, meine beiden Geschwister, meine Großmutter und die unverheiratete Tante zog es in Richtung Hamburg. Mutter sah in dem kleinen Dorf im Bremer Umland keine Zukunft für ihre Kinder. In einem Ort in Schleswig Holstein, in dem ich später geboren wurde, bekamen sie Wohnraum in einer Holzbaracke.

Ich kann mich daran erinnern, dass wir jeden Abend gemeinsam am Tisch und sonntags in der Kirche für unseren toten Bruder und für unseren Vater beteten. Ich spüre noch heute Mutters Hände, die dabei meine umschlossen. Wir beteten für die mir unbekannten Personen, die dadurch im Laufe der Zeit etwas vertrauter wurden. Damals haderte ich mit Gott, weil er die beiden zu sich genommen hatte, und meine Mutter dadurch zum Weinen brachte.

Ich sehe sie in der Nachkriegszeit über ihren spärlich gefüllten Teller gebeugt und höre ihre Worte: »Guten Appetit, Kinder, die Schüssel darf geleert werden. Ich habe keinen Hunger.«

Meine Schwester antwortete auf meine kindlichen Fragen nach unserem Vater lakonisch, sie fürchte, es hätte Papa und Christian nicht mehr gefallen in dieser Armut bei uns. Sie wären in eine bessere Welt gegangen.

In eine bessere Welt? Meine Schwester um weitere Erklärungen zu bitten, traute ich mich nicht mehr.

Ich kam in die Schule, lernte schnell und erhielt gute Noten. So erfuhr ich Bewunderung als Ausgleich für die Mängel, die meine Mitschülerinnen rasch herausgefunden hatten. Im Ort gab es keine weiteren Flüchtlinge, nur Bauern, die durch den Krieg keine Entbehrungen erfahren hatten.

»Schau mal, wie dünn die ist, die haben nichts zu essen. Ihre Mutter muss den ganzen Tag arbeiten gehen. Ganz arm sind die«, hieß es, »die haben auch keinen Papa, sondern nur eine Oma zu Hause.«

»Die haben ja nicht einmal einen Papa.« Das traf mich tief, war viel schmerzhafter als der Hunger, verletzte mich und hinterließ ein Gefühl, als wäre ich schuldig geworden.

Worin lag denn meine Schuld? Was hatte ich, was hatten wir getan? Hatte der Vater uns verlassen, weil man es mit uns nicht aushalten konnte? Waren wir schlechte Menschen?

Ich wagte es nicht, mich Mutter anzuvertrauen, spürte, wie sehr es auch sie verletzen würde.

Nach dem Wechsel auf eine höhere Schule, gingen Freunde und Mitschüler wesentlich gelassener mit der Tatsache um, dass ich keinen Vater hatte und auch nur wenig über ihn wusste.

Aber tief in mir blieben tausend Fragen, Ahnungen, Hoffnungen, Sehnsüchte und ein Gefühl der Unvollkommenheit.

Meine Tochter ging schon in die Schule, als unsere Mutter einmal ins Krankenhaus musste, um sich einer Operation zu unterziehen. Da bat mich meine Schwester zu einem Gespräch.

Sie hatte auf Mutters Dachboden, bei der Suche nach ihren alten Schlittschuhen, einen Schuhkarton mit Briefen und einem Tagebuch gefunden. Briefe, auch von den Großeltern väterlicherseits, über die bei uns nie gesprochen wurde. Durch diese Briefe erfuhren wir Aufschlussreiches aus der Vergangenheit.

Unser Vater hatte, wie seine Eltern, eine kommunistische Weltanschauung vertreten. Lange vor dem Krieg, schon als Schüler, hielt er leidenschaftliche politische Vorträge in seiner Heimatstadt. Die Gesinnung der Familie war bekannt.

Unsere Großeltern hatten einmal für ein paar Tage Rosa Luxemburg versteckt. Der Opa kam dafür ins KZ. Die Oma hörte bis zu ihrem Tode die Stiefel der SS auf dem Pflaster vor ihrem Haus. Sie durchlebte es immer wieder, wie sie ihren Mann abholten, bis sie eine alte, geistig verwirrte Frau war.

Papas Vorfahren waren vor vielen Generationen mittellos aus Thüringen gekommen. Den Ort, der meinen Mädchennamen trägt, gibt es noch heute. Papas Vater hatte aufgrund seiner politischen Einstellung den Adelstitel vor seinem Namen abgegeben.

Unsere Mutter, aus wohlhabendem Bürgertum, hatte eine völlig andere Erziehung erhalten, als unser Vater. Sie war politisch und auch gesellschaftlich nicht gerade die erwünschte Partie für die kommunistischen Schwiegereltern.

Vater und Mutter kannten sich erst kurze Zeit, als Mutter von ihm schwanger wurde. Anstand, Verantwortungsgefühl, vielleicht auch Sensibilität und Schwäche unseres Vaters führten zur Eheschließung, zu einer Ferntrauung. Zum Wachsen einer Liebe und eines Zusammengehörigkeitsgefühls blieb keine Zeit. Zusammengerechnet hatten sie bis zu Vaters Tod knapp 5 Monate ihres Lebens gemeinsam verbracht.

Vater musste ein besonders schöngeistig veranlagter Mensch gewesen sein, dabei schwermütig und introvertiert. Er hatte nach der Schulzeit ein Ballett- und Schauspielstudium aufgenommen. Der Krieg hatte ihn rasch zerbrochen.

Fast jeder Fronturlaub bedeutete für unsere Mutter eine erneute Schwangerschaft.

Mutter hatte eine verwöhnte, wohlbehütete Kindheit verbracht. Sie blieb klein und zierlich, wurde aber zäh und lebenstüchtig, lieb und tolerant. Sie entwickelte Kräfte und Fähigkeiten, die unser Überleben sicherten. Sie arbeitete in der Landwirtschaft, stand in der Fabrik am Fließband, erledigte die Buchführung einer Holzhandlung, und abends erteilte sie Klavierunterricht.

Der Schuhkarton vom Dachboden enthielt auch Briefe einer unbekannten Frau aus Berlin. Einer davon war besonders aufwühlend.

1945, in den letzten Kriegstagen, erfuhr ein Vorgesetzter durch einen Denunzianten von Vaters politischer Einstellung. Aus Angst vor seiner Hinrichtung floh unser Vater daraufhin von der Truppe. Er wurde gefasst und mit einem Gewehrkolben zusammengeprügelt. Seine Kameraden ließen ihn liegen. Die Briefschreiberin aus Berlin hatte das beobachtet, ihn ins Haus geschleppt, versteckt, gepflegt und sich in ihn verliebt. Dann wurde sie schwanger. Das hatte unser Vater nie erfahren.

Nachdem er sich ein wenig besser fühlte, wollte er nach seiner Familie suchen. Die Berlinerin musste ihn gehen lassen, wollte in einem späteren Brief nur wissen, wie es ihm ginge. Denn gesund war er nicht, als er sie verließ. Er hatte doch immer so entsetzliche Kopfschmerzen gehabt! Unsere Mutter möge verzeihen, dass es unter den vorausgegangenen Umständen zu dieser Nähe gekommen war. Sie habe ein Kind von ihm und liebe unseren Vater, wäre gerne seine Frau geworden. Er hätte sich ja aber anders entschieden.

Vater und diese Fremde hatten uns mithilfe des Roten Kreuzes gefunden.

Aus anderen Briefen und Tagebucheintragungen unserer Mutter erfuhren wir: Der Krieg war vorbei und Vater hatte uns krank, dringend ärztliche Hilfe benötigend, erreicht. Im Schoß unserer Mutter suchte er Vergessen. Und sie wurde wieder schwanger. Ein paar Monate vergingen.

Ahnte er, dass er sterben musste? Einunddreißig Jahre jung! Er wollte seine Eltern noch einmal sehen, hoffte, sie könnten etwas für die Kinder beschaffen: Lebensmittel, Kleidung. Er fuhr zu ihnen nach Dortmund.

Kaum angekommen musste er ins Krankenhaus. Die Schmerzen waren unerträglich geworden. An der rechten Schläfe, wo ihn der Gewehrkolben besonders stark verletzte, hatte sich ein Tumor gebildet, damals inoperabel.

Ein entsprechendes Telegramm aus Dortmund veranlasste unsere Mutter, trotz der Schwangerschaft, sofort hinzufahren. Ein Güterzug nahm sie und meine damals siebenjährige Schwester mit. Die Fahrt war beschwerlich. Es gab keine geschlossenen Abteile, nicht einmal Sitzplätze, aber viele Unterbrechungen. Auf einem Bahnhof mussten sie Stunden auf die Weiterfahrt warten. Meine Schwester vertrieb sich die Zeit mit Hüpfespielen über in Laken verschnürte Pakete. Es waren Soldaten. Heimkehrer, die in die blutbesudelte deutsche Erde gelegt werden sollten, als Dank für ihre Tapferkeit, für ihr vergeudetes Leben.

Vater lag allein in einem Krankenzimmer.

Mutter hielt ihm eines der mitgebrachten Lebkuchen an die aufgesprungenen Lippen. Er aß sie so gerne, konnte aber nicht mehr schlucken. Keksbrei und Speichel rannen ihm über das Kinn. Das ehemals schöne Gesicht mit den nun fiebrig glänzenden Augen war um Jahre gealtert, war nicht wiederzuerkennen. Unaufhörlich liefen ihm Tränen über die Wangen und verloren sich in den Kissen.

Wohl gab er noch zu verstehen, Frau und Tochter zu erkennen, äußern konnte er sich nicht mehr.

Um unserem Vater im Sterben beizustehen eilte unsere Mutter am nächsten Morgen noch einmal ins Krankenhaus. Meine Schwester ließ sie bei den Schwiegereltern.

Vater war tot. Nachts, als niemand bei ihm war, ist er den letzten Weg gegangen.

Sie überbrachte seinen Eltern die Nachricht vom Tod des Sohnes. Die wollten meine Schwester behalten und behaupteten, unser Vater hätte das zu Lebzeiten so verfügt. Zudem behielte Mutter ja zwei Kinder und eines käme noch hinzu.

Sie versteckten meine Schwester. Aber Mutter fand sie bei einer unverheirateten Cousine im Ort.

In der Nacht hatte Mutter ihr eigenes Kind entführt. Es schneite heftig. Meine Schwester war nur mit einem Nachthemd unter dem Mäntelchen bekleidet, die nackten Füße steckten in verschlissenen Stiefeln. Andere Bekleidung fanden sie in der Eile nicht. In einem Güterzug hatten sie Platz bekommen, bevor das Verschwinden entdeckt wurde.

Ich weiß, dass unsere Mutter, als sie mit mir schwanger ging, erfolglos einen Arzt für einen Abbruch aufsuchte. Und ich weiß, wie oft sie Gott, und in ihrem Herzen auch mich dafür um Verzeihung bat. Sie hat sich immer besonders um mich gesorgt, mich behütet und als ihren größten Schatz angesehen. Gott hat ihr bestimmt vergeben und ich habe ihr nichts vorzuwerfen.

Die ihr zustehende Kriegerwitwenrente hat sie nicht erhalten. »Einen Tumor kann jeder bekommen«, lautete die Begründung.

Mutter ist heute, im Jahre 2002, 88 Jahre. Sie ist noch immer eine bewundernswerte Frau, ist geistig rege geblieben, liest, malt, spielt Klavier, und nimmt Anteil am Zeitgeschehen.

Sie lebt zufrieden in einer Senioreneinrichtung. Zwei ihrer Enkeltöchter arbeiten dort als Pflegepersonal, so hat sie täglich vertraute Gesichter um sich.

Stets äußert sie, wie reich beschenkt sie sich durch ihre Kinder fühlt. Wir lieben und achten sie aufrichtig und das weiß sie. Gefordert hat sie nie etwas.

Von unserer Entdeckung weiß sie nichts. Sie wird ihr vermeintliches Geheimnis mitnehmen in eine andere Welt.

Denn die Briefe und das Tagebuch, damals von uns zurück auf den Dachboden gebracht, waren ein paar Jahre später verschwunden.

Vor Jahren sah ich unsere Halbschwester im Fernsehen. Sie war Moderatorin geworden und trug noch immer den Namen ihrer Mutter. Und wieder hatte ich dieses merkwürdige Gefühl, genau wie mit Vaters Fotografie vor dem Spiegel, als ich noch ein kleines Mädchen war.

Ich denke, ich werde sie aufsuchen, – irgendwann – wenn Mutter nicht mehr bei uns ist.

Ach nein, ich werde das Kapitel in Mutters Sinn abschließen.

Delikatessen für die Sinne (Band 1)

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