Читать книгу Delikatessen für die Sinne (Band 2) - Jutta Dethlefsen - Страница 10

DU BIST NICHT ALLEIN

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»Ein Kind? Alles ist okay, wir schaffen das. Du bist nicht allein.«

Wir schaffen das, w i r. Mit zwei Fingern hatte er ihr Kinn angehoben, sie angelächelt und mit einem Blick aus seinen dunkelblauen Augen ihre Seele gestreichelt.

Mit einer Handbewegung konnte er ihre trüben Gedanken verjagen, ihren Mut stärken und sie glauben lassen, sie wäre das Wichtigste für ihn.

Das Wort Vertrauen hatte er häufig benutzt und das Wort Zukunft betraf immer sie beide.

»Liebe, Liebes, Liebling.« Sie hatte sich seine Worte auf der Zunge zergehen lassen wie eine Praline. Seine Äußerungen hatten sie über den Tag begleitet und sie abends glücklich einschlafen lassen.

In einem langen, weißen Kleid wollte sie irgendwann mit ihm tanzen, in seinen Armen in den Himmel schweben.

Träume. So etwas gab es nicht in der Realität, jedenfalls nicht für sie.

Obgleich ihre Eltern vor Jahren gestorben waren, schämte sie sich vor ihnen. Sie fühlte den Blick ihrer Mutter aus traurigen Augen auf sich ruhen und meinte, ihre Stimme zu hören: »Kind, was hast du nur aus deinem Leben gemacht. So etwas muss doch heute nicht mehr passieren.«

Und Vater? Vater hätte geschwiegen, sich abgewandt, als wollte er sie für immer vergessen.

War sie dumm und leichtgläubig, weil sie erst achtzehn Jahre war und keine Erfahrungen hatte? Warum konnte sie sich niemandem anvertrauen? Gab es überhaupt einen Menschen, den ihr Kummer interessierte? Woher kam diese Blockade, die Lähmung ihrer Stimmbänder, wenn es um ihre Probleme ging?

Nein, sie wollte sich niemandem mitteilen, kein Mitleid erfahren. Sie fürchtete die Blutleere im Herzen vieler Menschen.

Sollte sie in den eiskalten Fluss springen? Sie wollte doch gar nicht sterben. Und das Kind?

Es musste weg. So viel stand im Moment fest. Sie hatte Angst vor dem Eingriff.

Vielleicht hatte es schon Augen und würde sie flehend anschauen, wenn es ihren Körper verließ. »Absurd«, schalt sie sich und spürte Tränen auf ihrem Gesicht.

Sie war auf dem Weg zum Supermarkt. Ihren leeren Einkaufsbeutel legte sie auf eine schneefreie Bank und setzte sich darauf.

Gesunde Lebensmittel wollte sie kaufen, Obst, Gemüse und Fisch. Gut sollte es ihm gehen. Das Kind sollte sich prächtig entwickeln. Es würde auch ohne Vater eine gute Chance bekommen.

Und dann wieder überfielen sie erdrückende Zukunftsängste, überspülten sie wie Wellen, warfen sie an den Strand wie Strandgut, wertloses Strandgut. Nutzlos, hilflos, ausgeliefert!

War sie nun eigentlich für oder gegen das Kind?

»Wir leben nicht im 17. Jahrhundert«, schalt sie sich. »Irgendwie wird es schon weitergehen, aber wie?« Mit ihm wäre das kein Problem gewesen. Aber allein? Nein, das würde sie nicht schaffen. Andere hatten schwierigere Situationen gemeistert. Warum war sie so zwiegespalten? Warum schwankte sie zwischen Kampf und Resignation?

Freude und Sorge hatte sie empfunden, als ihr der Arzt gratulierte. Andere haben das auch geschafft, häufig in noch schwierigeren Situationen. Auch ungeplante Kinder wurden schon immer geboren.

Erst seine Zuversicht, dann sein Schweigen. Er meldete sich nicht mehr.

Andere waren bestimmt stabiler, hatten Eltern, Geschwister, Freunde. Sie konnten etwas abgeben von der Verantwortung, die sie jetzt zu erdrücken drohte. Wie sollte sie arbeiten und ein Kind groß ziehen? Im nächsten Monat endete ihre Lehrzeit. Der Vorgesetzte hatte von einem sehr guten Abschluss gesprochen und von Übernahme, aber mit einem Kind?

Nein, es musste weg, bevor jemand etwas bemerkte, weg, weg! Es verbaute ihr die Zukunft. Dazu hatte es kein Recht und somit keinen Platz in ihrem Leben. Das war unumstößliche, beschlossene Sache. Sie entspannte sich.

Eine Frau ging vorüber. Unter dem Wintermantel zeigte sich deutlich der gewölbte Leib einer Hochschwangeren. Die Fremde lächelte und wirkte so glücklich, so überlegen, stark und stolz. Lange schaute sie ihr hinterher, registrierte den typischen Gang werdender Mütter, etwas breitbeinig, jeden Schritt ausbalancierend, das werdende Leben schützend.

Das werdende Leben schützen? War das nicht auch ihre Aufgabe? Wie konnte sie nur diese anderen Gedanken zulassen! Unmöglich! Schließlich lebte sie in einem reichen Land, in dem niemand hungern musste. Aber reicht ein gefüllter Magen zum Leben?

Vielleicht kam er ja auch zurück. Vielleicht beruhte seine Abwesenheit auf einem Missverständnis, obgleich er sich wiederholt am Telefon verleugnen ließ.

Vielleicht fühlte er sich überrumpelt, musste nachdenken. Noch einmal jedenfalls würde sie ihn nicht anrufen.

.

Erst einmal musste sie diese Bank verlassen und mit ihr die trüben Gedanken. Kälte war ihr den Rücken emporgekrochen, Hände und Füße kribbelten.

Sie erschrak bei dem Gedanken, das Ungeborene könnte ihre Gefühle wahrnehmen. Welche Ängste müsste es ausstehen?

Am Montag wollte sie in Erfahrung bringen, wer ihr helfen konnte, dem neuen Erdenbürger eine Chance zu geben. Es gab auch noch die Möglichkeit der Freigabe zur Adoption. Der Gedanke gefiel ihr aber nicht für ihr Kind. Wenn nun die Adoptiveltern keine guten Eltern waren?

Sie empfand keinen Zorn mehr darüber, dass der Wunsch nach Leben sich über ihre Verhütungsmethode hinweggesetzt hatte. So ein starker Knirps, hatte sich einfach festgekrallt in ihr.

Sie betrat den Supermarkt. Hier war es angenehm warm. Für die Auswahl der Lebensmittel ließ sie sich Zeit.

Da sah sie ihn. Er hatte sich im Gespräch einer jungen, attraktiven Frau zugewandt. Zwei etwa sechsjährige Jungen begleiteten die beiden, offensichtlich Zwillinge. Eine seiner Hände lag vertraut auf der Schulter der Frau.

Die Jungen hatten die Augen ihres Vaters und auf der Nase Sommersprossen.

Ihr wurde schwindelig und übel. Sie schämte sich für ihre Naivität.

Wie war er verlogen! Wollte er sich so ganz einfach aus der Verantwortung stehlen? Sie ballte die Fäuste. In gleichem Maße empfand sie Wut und Trauer.

Sie hatte ihm geglaubt, als er ihr sagte, dass er Single wäre und kinderlos. Wehmut und leichte Traurigkeit lagen dabei in seinem Blick.

Sie lehnte sich gegen ein Regal. Nach drei erholsamen Atemzügen verließ sie fluchtartig den Laden. Den Einkaufswagen hatte sie stehen lassen.

Erst als der Supermarkt außer Sichtweite war, verringerte sie das Tempo.

Sollte er noch eine Chance bekommen, ihr das zu erklären? Nein!

Endlich begriff sie, warum er ihr nur seine Handy- und die Büronummer gegeben hatte. Sie gewann Klarheit über ihre ständigen Ausflüge aufs Land, über die kurzen Abendstunden, die seltenen gemeinsamen Übernachtungen! Wie war sie blöd gewesen! Nein, sie hatte es nicht wissen wollen!

Ein bitterer Geschmack füllte ihren Mund. Sie musste sich doch von dem Kind befreien, es töten lassen, wie ein lästiges Insekt. Heute noch, spätestens morgen.

»Der Schuft, dieses miese Schwein«, murmelte sie, während sie in Richtung Bushaltestelle ging.

Kurz davor geriet sie in eine Menschenansammlung.

Sie sah einen geöffneten Notarztwagen. Auf einer Trage lag eine Frau, das Gesicht schmerzhaft verzogen.

Plötzlich trafen sich ihre Blicke und sie erkannte die Frau, deren fortgeschrittene Schwangerschaft ihr aufgefallen war, die vorüberging, als sie auf der Bank saß.

Sie stieß zwei neugierige Passanten zur Seite‚ erreichte die Trage und ergriff intuitiv eine Hand der Fremden, um sie mit der anderen tröstend zu streicheln.

»Gehören Sie zu ihr?«, fragte ein Sanitäter. »Kommen Sie, steigen Sie ein, vielleicht müssen Sie Geburtshilfe leisten, falls wir es nicht mehr ins Krankenhaus schaffen.« Er lächelte.

Die Fremde ließ ihre Hand nicht los. »Du bist nicht allein«, flüsterte sie der Unbekannten aufmunternd zu.

Zwanzig Minuten später durfte sie das große Wunder der Geburt erleben. Der Kleine war krebsrot und knautschig und doch so unbeschreiblich schön. Die Lungen arbeiteten gut, er begrüßte die Welt mit kräftigem Gebrüll.

Als das Kind in warme Tücher gehüllt bei der Mutter im Arm lag, meinte diese erschöpft lächelnd: »Ich danke Gott und ich danke dir. Ich habe sonst niemanden. Vielleicht kann ich dir einmal etwas zurückgeben für deinen heutigen Beistand.« Sie angelte eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche, die neben dem Bett auf einem Stuhl lag, und gab sie ihr.

Dann widmete sie sich wieder ihrem Kind.

Andere Anwesende waren nicht mehr von Wichtigkeit. Mutter und Kind genügten sich. Sie verließ auf Zehenspitzen den Raum.

Draußen lehnte sie sich gegen die Hauswand, presste die Hand gegen ihre Brust, um den Herzschlag zu beruhigen. Das überwältigende Ereignis hatte sie völlig erschöpft und doch gestärkt. Sie lachte und weinte gleichzeitig. Gott hatte ihr dieses Erlebnis beschert, um alle Zweifel auszuräumen.

So ein Wunder würde alle Hindernisse klein und unbedeutend werden lassen.

Wie hatte sie zweifeln können! Wie hatte sie glauben können, es nicht zu schaffen! »Ich bin doch nicht allein«, murmelte sie an ihr Kind gerichtet, als sie das Krankenhausgelände verließ.

Delikatessen für die Sinne (Band 2)

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