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Zweites Buch

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Mit markerschütterndem kreischen rollt der Zug in den in den Schweriner Bahnhof ein. Meine Habseligkeiten an mich gepresst, erblicke ich endlich die Bahnsteigseite und schaue durch das Fenster voraus, ob ich nicht ein bekanntes Gesicht erspähen kann. Doch Fehlanzeige. Niemand erwartet mich. Das fängt ja gut an. Also gut, wenn es nun mal so sein soll, ich schleppe mein Gepäck in Richtung Bahnhofshalle. Wie beim ersten Besuch dieser Stadt, fasziniert sie mich erneut. Zukunft liegt vor mir. Ich atme hörbar tief ein, als ich in die Höhe blicke. Ja, die Freiheit- vielleicht begegne ich ihr hier. Plötzlich gibt es einen heftigen Ruck, ich bin gegen einen jungen Mann geraten, weil ich mal wieder Löcher in die Luft geguckt habe. Zum Überfluss gleitet mir der Koffer aus der Hand und fällt dem Opfer auf den Fuß. „Oh“, stammele ich, es tut mir leid“. Da erst schaue ich den Mann an. Es ist kein fremder Mann: Joachim, der Bruder meines Schwagers steht vor mir. Hat er mich nicht gesehen oder mich träumende absichtlich gegen seine harten Knochen laufen lassen? Eigentlich egal, ich bin froh, dass mir jemand hilft, die ersten Schritte ins neue unbekannte Leben zu gehen. Joachim erklärt mir umständlich, warum er und nicht Karin, meine Schwester, mich abholt. So genau will ich es gar nicht wissen. Joachim hilft mir meine Sachen zu tragen und wir gehen hinaus auf den Bahnhofsvorplatz. „Und was machen wir jetzt? Kommst du mit nach Lankow, ich habe vorerst ein Zimmer dort.“ Joachim schaut zuerst auf die große Bahnhofsuhr und nickte dann. „Dann lass uns mal nach Lankow fahren. Ich habe noch etwas Zeit. „Komm Judith, deine Bahn.“ Joachim steigt mit mir in die Bahn. An der Endhaltestelle befindet sich das Gelände der Lehrlingswohnheime. Ein ganzer Komplex von Neubauten, eine Mensa, eine Berufsschule und und und. Und wo soll ich nun wohnen? Ausgerechnet das letzte Gebäude auf dem unüberschaubaren Gelände, ist das des Plastverarbeitungswerk. Meine neue Arbeitsstätte. Die Füße tun mir weh, der Hunger stellt sich ein. „Bitte melden sie sich beim Hausmeister, “ steht an der verschlossenen Tür des Lehrlingswohnheimes. Oh nee, nicht das auch noch! Und wo bitte schön find ich den Hausmeister? Sein Büro mit der Nummer sieben befindet sich am anderen Ende des Geländes, ich muss den gesamten Weg zurückgehen. Verzweifelt schaue ich Joachim an, der zuckt nur mit der Schulter. „Nun komm. Was soll es.“ Ich mag nicht mehr und setzte ich auf meinen Koffer und beobachte meine Umwelt. Von hier aus sehe ich direkt auf die Mensa. Ob ich da vielleicht etwas zu essen bekommen würde? Wenn ich mein Quartier bezogen habe, würde ich meinen Hunger dort stillen, mein Magen scheint beleidigt, ständig knurrt er. Ohnmächtig vor Hunger sehe ich in meinem Leid den Hausmeister. Zu mindestens schaut der Herr in Blaukittel so aus. Ich springe auf und laufe ihm nach. „Hallo, hallo, bleiben sie bitte stehen, sind sie der Hausmeister vom Lehrlingswohnheim des Plastverarbeitungswerks.“ Der Mann im blauen Kombi wendet sich um und nickt. „Ja bin ich. Was wünschen sie?“ Ich stelle mich vor und bringe mein Anliegen an. „Ach ja, weiß Bescheid der Bördehamster. Stimmt?“ Gibt mir seine Hand, „Nicklaus, mein Name.“ Bin mit Bördehamster ich gemeint? „Dann komm mal mit, schnapp deine sieben Sachen und folge mir.“ Und wieder geht es den ganzen langen Weg zurück. „So da sind wir, dann komm mit ich zeige dir dein Zimmer. Danach regeln wir alles andere.“ Im dritten Stock befindet sich die besagte Unterkunft. „So hier kannst du vorerst einmal nächtigen. Kein Männerbesuch, keine Esswaren hier drinnen lagern,


Diana Und wie das so ist, wenn man ein Kind unter dem Herzen trägt, verändere ich mich sichtbar. Mein Heißhunger auf saures ist nicht unbemerkt geblieben. Die Fülle meines Leibes eben so wenig. Dabei muss ich mich nicht übergeben. Andere Frauen, welche mein Schicksal mit mir teilen, laufen den ganzen Tag auf Toilette. So erzähle ich dann Joachim von meinem Problem. Wenig erfreut, weiß er kaum mit meiner Neuigkeit etwas an zu fangen. Ich verstehe ihn sogar. Joachim studiert, er mochte mich wohl, aber lieben? Genau genommen, ist er sich keiner Schuld bewusst. Wir beschlossen, es seinen Eltern zu erzählen, aber heiraten wollen wir nicht. Das Wochenende naht und wie gewohnt fahren wir nach Nolte. Wer sagt nun wem was? Joachim hat offensichtlich keinen Bock mit seinem Vater zu sprechen, oder nicht die Traute. Und ich, ich will mich nicht zu meiner Schwangerschaft äußern. Wie das Leben so spielt, fragt mich Joachims Mama (welche ich übrigens ungemein schätze), „Sag mal Judith bist du schwanger?“ Tja, da falle ich aus allen Wolken. Getroffen auf den Punkt genau. „Wieso, sieht man das?“ Frau Inge schmunzelt, „Ich mein nur so.“ Soll ich nun lügen? Lügen ist eine Schwäche von mir. So reiße ich mich ganz doll zusammen und nickte nur. Frau Inge strahlt über das ganze Gesicht und läuft umgehend zu ihrem Mann. „Ingo, wir werden Oma und Opa. Stell dir nur vor. Ist das nicht schön?“ Herr Inge stutzt, „Wie, was, wer wird Opa? Versteh ich nicht.“ Herr Inge scheint etwas aus dem Gleichgewicht geraten. Ihm bekommt diese Nachricht nicht gut. Er setzt sich in seinen Lieblingssessel und bittet um eine genaue Aufklärung. Die Mama von Joachim schaut auf uns beiden. Und wir zwei Beide stehen wie kleine ungezogene Schulkinder vor dem Rektor. „Nun, höre ich bald was? Kinder machen ist wohl leichter“, mahnt uns Herr Inge. Wie Recht er doch hat. Letztendlich erzähle dann ich. „a, ich bin wohl in anderen Umständen. Von Joachim. Aber wir wollen nicht heiraten. Bloß gute Freunde bleiben.“ Oh mein Gott! Das Gesicht von Ingo! Was habe ich von mir gegeben? Wie ein Donnerwetter ergießt sich der Redeschwall des alten Herrn über unsere Häupter. „Nicht heiraten? Wo gibt es denn so etwas? Wie denkt ihr euch das? Mein guter Ruf! Schließlich bin ich Direktor eines sozialistischen Betriebes und dass hier vor Ort. Nee, nee, so geht das nicht.“ Puh, ich mache dicke Backen. Wer ist hier schwanger? Ich, oder der Papa von Joachim. Wütend knuffe ich Joachim, der schaut mich an wie ein Nilpferd und schweigt beharrlich. Von ihm ist kein Widerspruch zu erwarten, dass ist mir klar. Seine Mimik verrät alles. Mamasöhnchen denke ich nur. Ich werde das schon regeln. Zum Leidwesen von Herrn Inge und zu meinem Glück, ist Abendbrotzeit. Thema verschoben. Wie schön, ich sitze an meiner Maschine und grübele. Tief ganz tief bin ich in meinen Gedanken versunken. Wie lang mein Meister bereits hinter mir steht, kann ich nicht sagen. Plötzlich klopft mir jemand auf die Schulter und meint, „Judith, dein Container ist voll!“ Vor Schreck lasse ich dann den Deckel der Dose fallen. Ich stehe heut an der Maschine für Butterdosenoberteile. Hartplaste zerspringt wie Glas, wenn es auf die Erde fällt. „Man Mädchen, dich hat es aber erwischt.“ Der Meister stoppt meine Maschine und bittet mich zu ihm ins Büro. „So setz dich und nun mal los. Was hast du? Bist du schwanger, oder warum benimmst du dich so seltsam.“ Unruhig nestele ich an meinen Fingern. Wohl ist mich nicht. Ausgerechnet mein Meister fragt mich, ein Mann. Konnte es nicht eine Frau sein? Ich senke den Kopf und nicke nur. „Haste die Sprache verloren? Man Mädchen ein Kind kriegen ist doch schön. Oder nicht? Wir brauchen jungen Nachwuchs für unser Land.“ Nun hebe ich den Kopf und schaute meinen Meister entsetzt an. Auch noch diese Masche. Mir ist doch in diesem Augenblick der Sozialismus egal. Ich bekomme ein Kind und finde den Zeitpunkt und den Erzeuger einfach unpassend. Das aber traue ich mich nicht laut zu sagen. „Wir helfen dir doch. Kommst erst einmal aus dem Wohnheim raus und ziehst in eine Wohngemeinschaft. Und so lange du kannst, bleibst du an den Maschinen und später gehst halt in die Wäschekammer. Und nun guck nicht so traurig. Wird schon.“ Sachte schiebt mich mein Meister aus dem Büro. Ich gehe zu meiner Maschine zurück und arbeite weiter. Wer versteht mich schon. Gerade hat mein Leben erst begonnen und nun soll es schon wieder vorbei sein? Mein Meister gab mir den Rat endlich eine Frauenärztin aufzusuchen. Am Nachmittag werde ich das denn tun. Neues Problem. Ich kenne außer der Betriebsärztin keinen einzigen Doktor in der Stadt. Wen soll ich fragen, ohne auf dumme Bemerkungen zu stoßen. In Lankow angekommen, wird meine Frage wie von allein beantwortet. Da steht es Poliklinik! Jeden Tag fahre ich an ihr vorbei, wenn ich zur Arbeit muss. Ja und was eine Poliklinik ist, weiß ich aus meiner Heimatstadt. Hier haben verschiedene Ärzte und Doktoren ihre Praxen angesiedelt. An einer riesigen Informationstafel erlese ich, wo die Frauenärztin zu finden sei. Aha, eine Frau Brechinsfeld ist Zielobjekt. An der Anmeldung wartet eine Menschenschlange so lang wie Samstag beim Fleischer. Da gab es dann Kotelett und Rinderrouladen. So reihe ich mich missmutig ein. Geschafft, endlich bin ich dran. „Ich möchte zur Frauenärztin, bitte“, reiche meinen SV- Ausweis durch die Klappe. Die Dame dahinter blättert in meinem Ausweis und fragt mich, ob ich schon mal da war. „Nein, bin neu in der Stadt“, gebe ich super höfflich zur Antwort. „Ja dann gebe ich ihnen einen Termin, heut ist die Frau Doktor nicht da.“ Da ich nicht sofort antworte, sondern überlege, werde ich von hinten gedrängelt. „Nun komm Mädchen, mach hinne, wir haben keine Zeit.“ Langsam drehe ich mich um und schaue, wer da keine Zeit hat. Oh, da haben viele keine Zeit, mich treffen bitter böse Blicke. Schnell lasse ich mir meinen Ausweis geben und entfliehe förmlich der Poliklinik. Was es in Lankow gibt, gibt es sicher in den anderen Stadtteilen auch. Ich fahre mit der Bahn zum Leninplatz. Am Pfaffenteich entlang abbiegend in die Röntgenstraße finde ich, was ich suche. Auch hier muss ich erst zur Anmeldung. Das Haus ist uralt, es muffelt unangenehm. Die Fußbodenkacheln und auch die großen Flügeltüren erinnern an schönere Tage. „Bitte schön, was wünschen sie?“ Oh, doch so nett! „Ja, ich möchte zu einer Frauenärztin, bin aber neu in der Stadt.“ „Wo wohnen sie denn?“ „In Lankow“, antworte ich. „Das tut mir leid, dann können sie hier nicht angenommen werden. Sie müssen schon in ihrem Stadtteil zum Arzt, nicht hier.“ Warum denn das? Zunächst begreife ich es nicht. „Wieso kann ich nicht hier zur Frauenärztin, wenn ich nun mal hier bin?“ Die nette Dame hinter dem Schalter wird plötzlich unangenehm laut. „Haben sie was mit den Ohren? Ich sagte doch, da wo sie wohnen, müssen sie auch zum Arzt. Und nun gehen sie bei Seite, andere möchten auch noch.“ Damit bin ich abgefertigt. Draußen vor der Tür überlege ich, was ich nun tun soll. Am nächsten Tag, gleich nach der Arbeit stehe ich wieder in der Anmeldung der Poliklinik in Lankow. Was für ein Glück aber auch. Die Frau Doktor ist heut anwesend. So setze ich mich, nach dem ich angemeldet bin, im Warteraum hin. Es sitzen nur ein paar wenige Patienten hier. Natürlich nur Frauen. Um meine Unruhe zu verbergen, lese ich Zeitung. Eine Schwester bittet mich ins Behandlungszimmer. „Ihr Namen, wann geboren, wie alt? Dann können sie in die Kabine gehen, Unterkörper freimachen, sie werden gerufen.“ So schnell reagiere ich nicht. Da ich aber allein im Zimmer mich befinde, bin wohl ich gemeint. Mechanisch begebe ich mich in die Kabine, entkleide mich aus und freue mich über meinen Unterrock. So find ich mich nicht ganz so unbekleidet. Und das dauert und dauert, mir wird langsam kalt. Die Zeit in der Kabine wird mir zu lang. Vorsichtig will ich die Tür zur Doktorin aufmachen und stelle fest, die ist verriegelt. Na wie schön. Wenn ich nicht gleich aufgerufen werden würde, wollte ich mich anziehen und gehen. Das hat die Doktorin wohl gehört. Ein Klick, die kleine Tür springt auf und ich werde hereingebeten. „Setzen sie sich darauf. Was haben sie für Probleme?“ Noch über Akten gebeugt, spricht Frau Doktor mit mir. Wie höfflich. „Ich habe seit drei Monaten meine Regeln nicht mehr. Ich glaube, ich bekomme ein Baby.“ „ Das werden wir sehen. Dann wollen wir mal sehen. Setzen sie sich darüber“ Ich schaue herüber. Dieser Untersuchungsstuhl sieht nicht nur unangenehm aus, die ganze Prozedur ist es auch. „Sie können sich wieder anziehen und dann kommen sie zu mir.“ Im Eiltempo steige ich in meine Klamotten, froh darüber wieder angezogen zu sein und setze mich auf den mir angewiesenen Stuhl. Jetzt erst schaut die Frau mich richtig an. Während ich auf die Fragen der Frau Doktor warte, umgarnt mich ein seltsamer Geruch. Wenn ich nicht wüsste, dass ich in einem Arztzimmer sitze, würde ich behaupten es rieche nach Alkohol. Vorsichtig versuche ich diesen Geruch mit meiner Nase zu enttarnen. „So sie sind im vierten Monat schwanger. Warum kommen sie erst heut? Eine Unterbrechung ist zu spät, das ist ihnen doch klar.“ Nun habe ich es raus. Diese Frau stinkt definitiv nach Schnaps! Na super, so etwas ist Ärztin. „Ich möchte mein Baby haben.“ „Schön, schön, das höre ich nicht so oft. Seitdem die Unterbrechung in unserem Staat erlaubt ist, kommen viele Frauen zum Schwangerschaftsabbruch.“ Für mich völlig neu und völlig uninteressant. Ich erhalte einen Schwangerenausweis und eine Menge Anweisungen dazu. „Einmal im Monat kommen sie zu mir in die Sprechstunde, reine Routineuntersuchungen. Haben sie Probleme, kommen sie gleich. So und nun gehen sie noch zur Blutentnahme und das war es dann. Bis zum nächsten Mal.“ Kalter Wind schlägt mir entgegen. Regungslos stehe ich vor der Poliklinik und beobachte die Menschen. Weihnachten steht vor der Tür. In der Kaufhalle gegenüber sehe ich eine Menschenschlange. Es werden Weihnachtssachen angeboten. Obwohl die Regierung ständig von Aufschwung und wachsender Produktion spricht. Zu Weinachten trifft das nicht zu. Ich kehre mit den Gedanken zur Ärztin zurück. Also hier würde ich zu keiner weiteren Untersuchung gehen. Ich lasse mir erst gar nicht Blut abnehmen. Als ich im Warteraum der Frauenärztin saß, unterhielten sich zwei Schwangere über das Baby kriegen. Da hörte ich zu und erfuhr ohne zu fragen, dass am Ziegelsee ein ganz toller junger Arzt säße. So fahre ich mit der Bahn wieder in die Altstadt zurück. Diesmal will ich mich nicht abweisen lassen. Schnell finde ich die Praxis. Sie ist in einer alten Villa mit Blick auf den Ziegelsee untergebracht. Nicht schlecht, ob der Arzt hier auch gleich wohnt? Manch einer wohnt eben zu Dritt auf einem Zimmer und andere allein in einer großen Villa. Mir fällt sofort ein zweites Hinweisschild auf. Hier in dieser Praxis wird nur der Landkreis behandelt. Was wieder soll das bedeuten? Egal, ich gehe einfach hinein. Warteraum und sind eins. Die Ausstattung und die vielen Blumen lassen einen vergessen, dass man sich in einer Praxis befindet. Wie im Westenfilm überlege ich. Die Schwester an der Anmeldung schüttelt den Kopf, als sie von meinem Anliegen hört. „Wo kommen wir denn dahin, wenn jeder dahingeht, wo es ihm am besten gefällt. Sie wohnen nicht auf dem Land, sondern in Schwerin, da gehen sie mal schön zu Frau Doktor Brechinsfeld. Außerdem ist der Doktor gerade zu einem Hausbesuch.“ „Dann warte ich hier und frage den Doktor selbst, wenn er kommt.“ Und ich stelle mich demonstrativ neben der Anmeldung hin und will warten. „ Na so etwas habe ich noch nie erlebt“, höre ich die Schwester sagen. Draußen dunkelt es bereits, alle Wartenden haben die Praxis verlassen, nur ich bin da. Endlich höre ich ein Auto, schnelle Schritte auf der Treppe, der Doktor kommt. „Nabend, na Schwester, noch Arbeit für mich?“ Die liebenswerte Schwester verneint. Und ich? Soll ich hier Wurzeln schlagen und gar ohne mein Anliegen die Praxis wieder verlassen? Auf keinen Fall. „Doch Herr Doktor, ich warte seit Stunden!“ Flugs drehte sich der Herr zu mir um, guckt auf mich und dann auf die Schwester. „Schwester Hilde! Was ist mit der jungen Frau?“ Schwester Hilde gibt dem Doktor eine kurze Antwort. „ Die gehört nicht hier her.“ Vielleicht ist es die kalte Antwort der Schwester, ich darf mit dem Doktor in das Sprechzimmer kommen. So lerne ich den Herrn Nuss kennen und bleib ihm treu, bis er viele Jahre später in Rente geht. Doktor Nuss hat ein Einsehen mit mir und schickt mich nicht wieder weg. Langsam erwacht der Frühling. Rund und gesund gehe ich durchs Leben. Mein Meister hat Wort gehalten und mich aus dem Wohnheim herausgeholt. Mein neues Zuhause nennt sich Arbeiterunterkunft. Eine zwei ein halb Zimmerwohnung. Eine Wohnstube, ein Schlafzimmer und ein halbes Zimmer. Küche und Bad gehören ebenfalls dazu. Alles im Neubauviertel von Lankow. Nicht die Lage der Wohnung stört mich, sondern der Umstand. Es wohnen bereits zwei schwangere Frauen hier. Da ich als dritte und letzte dazu komme, bleibt mir nur das halbe Zimmer. Viel Platz ist hier nicht. Wir drei Frauen teilen uns das Bad, die Küche und die Toilette. So lang wir unsere Babys noch unter dem Herz tragen, gibt es keine Probleme. Wir drei Frauen kommen gut miteinander aus und machen einfach das Beste daraus. Obwohl ein Neubaugebiet nach dem anderen aus dem Boden gestampft wird, herrscht großer Wohnraummangel in Schwerin. Mitnichten berührt mich irgendeines dieser Probleme. Egal, ob es süße kleine Strampler gibt, Bananen oder Orangen. Zufrieden schaue ich in die sozialistische Welt und habe noch nicht zu meckern. Noch nicht! In Nolte freut man sich auf den Nachwuchs. Ich wohl auch. Worüber ich mich nicht freuen kann, ist der Gedanke an eine Heirat. Mein Kind kann und will ich allein erziehen. Wozu brauchen wir dazu einen Papa? Obwohl ich diesem Thema ständig aus weiche, nervt mich der Vater von Joachim unentwegt. Man übergeht mich resolut. Meine Meinung, unwichtig. Und überhaupt, wo soll ich, dieses dicke Ding, ein Hochzeitskleid herbekommen? Joachim hat mir nicht einmal Hochzeitsantrag gemacht. So mit Blumen und liebevollen Worten. Nein prüde und dem Vater folgend setzt mir nun auch Joachim die Pistole auf die Brust. Was für eine nüchterne Welt. Familie Inge fährt mit ihrem Sohn in die Stadt, um ihn zur Hochzeit einzukleiden. Ohne mich, einfach so. Und würde ich dem Vater nicht endlich Folge leisten, soll ich Nolte fernbleiben. „Was soll denn aus dem Kind werden? Du bist ja selbst noch ein Kind. Denke doch an die Zukunft.“ Meinen zweiten entscheidenden Fehler mache ich mit der Zusage, doch Joachim zu heiraten. Aus der Traum vom weißen Hochzeitskleid, vielen Gästen, einer riesigen Partie und dem Mann! Wird schon, denke ich. Wenn das Baby geboren ist, vielleicht kommt dann die Liebe dazu. Nichts kommt. Nicht einmal ein vernünftiges Kleid zur Hochzeit ist in einem der vielen Geschäfte für mich zu haben. Zum Standesamt werde ich in einem orange farbigen schlichten Kleid und weißen Pumps erscheinen. Ich finde mich hässlich und strahle Unzufriedenheit aus, die mir jeder ansehen kann. Meine Hochzeitsklamotten darf ich allein bezahlen. Wie ungerecht. Keinen Schleier nur ein kleiner Handstrauß, nur meine Mutti, nicht mein Vater und die Eltern von Joachim, so erscheinen wir beim Standesamt. Lieblos und kalt leiert die Standesbeamtin ihren Text herunter und dann darf der Bräutigam die Braut küssen. Beim Verlassen des Standesamtes schwöre ich mir, mich so schnell wie möglich wieder scheiden zulassen. Ein heißer Sommer folgt und ich leide unter den Temperaturen und dem Umfang meines Bauches. Meinen beiden Mitstreiterinnen in der Arbeiterunterkunft geht es nicht anders. Unsere Geburtstermine liegen dicht bei einander und jeden Tag warten wir darauf, wen es zuerst treffen würde. Wie kann es anders sein, die ich als letzte in der Arbeiterunterkunft aufgenommen wurde, ist die erste, welche ihr Baby bekommen soll. Schon in der Frühe habe ich ein fürchterliches Ziehen im Rücken. Unruhe lässt mich im Zimmer auf und abgehen. Dass es die ersten Wehen sein können, daran denke ich in diesen Augenblicken nicht. Obwohl ich monatelang einen Schwangerenkurs besucht habe. Etwas mir unangenehmes beherrscht meinen Körper, was mir missfällt. Unbeholfen erhebe ich mich von meinem Bett und gehe zur Mitbewohnerin. Leise klopfe ich bei Matschi an die Tür. Matschi heißt eigentlich Maschewski, doch alle sagen Matschi zu ihr. Ihr schwarzer Wuschelkopf schaut durch die Tür, „Was ist Judith. Geht es los bei dir?“ Ich weiß es nicht genau und schaue nur ungläubig. „Komm schon rein. Wir trinken einen Kaffee, Kaffee schadet nicht.“ Endlich sind wir allein, Matschis Freund arbeitet auf den Bau und liegt stets ein Woche aus. Das Ziehen in meinem Rücken verstärkt sich. Was das wird? Meine Zimmernachbarin auch das erste Mal schwanger. Sie ist in Punkto „Kinder kriegen“ nicht schlauer. „Also, wenn die Wehen alle drei bis vier Minuten kommen, wird es Zeit für den Krankenwagen.“ Und so zählen wir beide. Dabei müssen wir dann doch lachen. Irgendwann vergeht mir vor Schmerzen das Lachen. Matschi hält inne und befiehlt mir, mich aufs Bett zulegen und mich nicht zu rühren. Bis zur nächsten Telefonzelle läuft man mindestens fünf Minuten. Hoffentlich funktioniert sie, es kommt oft genug vor, dass die Zellen nicht funktionstüchtig sind. Meine Tasche steht gepackt im Flur. Endlich höre ich die Wohnungstür klappen. Völlig aus der Puste, ruft Matschi mir zu, „ Der Krankenwagen kommt gleich. Los zieh dich an.“ Mit schlotternden Knien steige ich in mein Umstandskleid, schlüpfe in die Sommersandalen und nehme auf dem Bett wieder Platz. „Dann drück ich dir die Daumen, mach es richtig und lasst es euch gut gehen.“ Matschi wird nur noch ihr Baby in Schwerin zur Welt bringen, danach zieht sie zu ihrem Freund aufs Land. Wir würden uns nicht wieder sehen. Sie geht aufs Dorf und ich steige in den Krankenwagen ein. Der Fahrer schaut recht grimmig drein. Offensichtlich stört es ihn sehr, dass ich mich so innig von einer guten Bekannten verabschiede.

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