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1. Montag

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Ich werde doch noch nicht gestorben sein!

Um mich herum ist alles weiß, ein einziges, undefinierbares Weiß, ein Engel schwebt vorbei, irgendetwas klingt metallisch, irgendetwas singt, summt, surrt. Etwas tickt, tropft, ich sehe eine gläserne Flasche, ich bewege meinen Arm, au, was sticht da, nein, ich bin anscheinend noch nicht tot, wieso hängt diese Flasche da, ich sehe etwas Rotes von links, die Wand hat auf einmal bunte Streifen, wo bin ich, was ist hier los?

Und auf einmal fällt mir alles wieder ein.

Wer nicht Tarzan ist, sollte sich nicht wie Tarzan benehmen. Nicht von Ast zu Ast schwingen, als wären Baumäste Lianen und man selbst Tarzan oder King Louis. Die Folgen sind fatal. Sie enden in einem Zimmer mit Chrombett und weißen Leintüchern, mit einem Tropf, an den man angeschlossen ist, und der einzige Lichtblick ist das Sonnenlicht, das von links durch die Jalousien fällt und Streifen auf die Wand malt.

An einem solchen Tag hätte nichts Schlimmes geschehen dürfen. Der Tag war Royal Blue und meine Stimmung ebenso. Royal Blue ist die absolute Top-Stimmung für mich.

Es gibt Tage, die sind aquamarin. Leicht und durchsichtig wie das Meerwasser an seichten Stellen. Es gibt Tage, die sind graublau und behäbig wie mein dicker Stypen-Kugelschreiber. Es gibt dünne graue Bleistifttage. Manche Tage duften grün wie frisch geschnittenes Gras. Und dann gibt es Tage, die sind von einem unbeschreiblichen Blau. Die absoluten Top-Tage: Royal Blue. Wenn ich Harry malen würde, dann in Weiß und Royal Blue.

Harry! Jeden Moment kann er zur Tür hereinkommen. Wenn ich nur daran denke, wird mir im Herzen ganz schwindlig. Er ist so, so unheimlich, so … Wenn er mich anschaut mit seinen großen dunklen Augen – er hat die schönsten Augen der Welt. Und wenn er lächelt – er hat das coolste Lächeln der Welt, ich bin jedes Mal hingerissen, wenn er mich anlächelt … Er ist der tollste Junge in der ganzen Stadt. Groß, schlank, sportlich, durchtrainiert, dunkle Haare, Superschnitt, eine winzige Strähne hängt ihm in die Stirn, die Augen leicht schräg, dunkle Augenbrauen, eine schöne gerade Nase, die Oberlippe schmal, die Unterlippe voll, wunderbare Kusslippen. Ich hab mich auf den ersten Blick in ihn verliebt. An einem grauen Bleistifttag. Und dass er sich auch in mich verliebt hat, kann ich manchmal gar nicht glauben. Was findet er eigentlich an mir, frage ich mich dann. Was heißt, was findet er an dir!, hat mein Vater voll Entrüstung gesagt. Väter sagen halt so was.

Heute Morgen flirrte die Sonne durch die Blätter des Ahornbaumes in mein Zimmer. Ich stand auf – war es mit dem linken Bein? –, auf dem Weg ins Badezimmer grinste mir mein kleiner Bruder entgegen, ich gab ihm einen Gutenmorgenkuss und Miki strahlte noch mehr als vorher. Wenn die Sonne scheint, ist er glücklich und seine Freude überträgt sich auf uns alle. Vielleicht war der Tag auch für ihn Royal Blue. Ich weiß nicht, wie die Vorstellung von schönen Tagen in seinem Kopf aussieht.

Es war Montag. Der erste richtige Ferientag. (Das Wochenende nach Schulschluss zählt noch nicht so richtig.) Der ganze Sommer lag unberührt und lang gestreckt vor mir. Meine Mutter bat mich, Kirschen aus dem »Sommergarten« zu holen. Sie wolle einen Kuchen backen. Der Sommergarten ist ein alter, verwilderter Obstgarten, ein paar Straßen von unserem »Stadtwohnhaus« entfernt, das nur ein winziges Fleckchen Garten hat. Manchmal wundere ich mich, dass es solche Gärten noch gibt. Der Sommergarten ist groß, mit altem Baumbestand, es gibt Äpfel, Birnen, Zwetschken, Marillen, Kirschbäume und einen Ringlottenbaum. Ganz hinten, an der Grenze zum Nachbargarten, steht ein alter Nussbaum. Es gibt jede Menge blühendes Unkraut in diesem Garten. Und Kren. Und Veilchen und Primeln im Frühling. Und Schmetterlinge und Glühwürmchen im Sommer. Der Garten ist wunderschön und wir haben ihn immer »Sommergarten« genannt, obwohl er natürlich auch im Winter ein Garten ist. Vielleicht, weil wir uns im Winter nicht viel darin aufhalten. Als ich klein war, bin ich mit den Skiern darin herumgestapft. Und später habe ich dort mit Miki Schneemänner gebaut.

»Petra, kannst du Miki mitnehmen?«, fragte Mama. Miki ist gern im Sommergarten.

»Klar!«, sagte ich. In den Ferien nehme ich ihn oft mit. Ins Schwimmbad oder sonst wohin. Nur seit ich Harry kenne, bin ich keine begeisterte Bruder-Sitterin mehr.

Eine Sommergeschichte. Was für eine schöne Sommergeschichte hätte es sein können. Harry und ich, die Sonne, der Badesee, romantische Radtouren mit ebenso romantischen Sonnenuntergängen und noch romantischeren Küssen, geflüsterte Liebesworte, durchtanzte Disco-Nächte! Und nun ist es eine Geschichte, die mit einem Sommergarten beginnt und in einer Sinfonie in Weiß endet. Ich liege da, im Krankenhaus, in diesem Chrombett mit weißen Leintüchern, und denke nach. Ich werde viel Zeit zum Denken haben, so viel ist sicher. Ich könnte ein Buch über diese Zeit schreiben. Aber vielleicht ist das zu mühsam. Im Liegen. Nein, ich werde es anders machen: Ich werde mir alles genau einprägen, was ich hier erlebe, was ich denke, was ich fühle. Ich werde alles in meiner grauen Zellendatei speichern wie auf einer Festplatte – na ja, mein Gehirn ist eher eine Weichplatte –, und wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich alles, was ich im Kopf gespeichert habe, in mein Tagebuch ausdrucken. Ein Gedankenbuch. Ich möchte später einmal richtige Bücher schreiben. Ich möchte Autorin werden. Seit Miki geboren wurde, wollte ich das. Märchendichterin nannte ich es damals.

»Scheiß-Kirschkuchen«, sagte meine Mutter. Sie liebt deftige Ausdrücke. Als Spätabkömmling der 68er-Generation fühlt sie sich dazu berechtigt, vielleicht sogar verpflichtet. Sie hatte wegen des Kirschkuchens ein ziemlich schlechtes Gewissen. »Hätte ich gewusst, was passiert, hätte ich dich niemals um die Kirschen geschickt!«

»Du kannst nichts dafür!«, sagte ich. »Ich hätte nicht so blöd herumklettern sollen.« Aber es war zu verlockend gewesen. Die Sonne, der erste Ferientag, Miki, der lachend im Sommergarten herumstapfte, seine Nase in das üppig wuchernde Unkraut steckte und jedes Mal scherzhaft »Hatschi« sagte, als müsse er niesen. Ich bin immer so glücklich, wenn er glücklich ist, und der Sommer ist seine Zeit.

Ich war zu faul, wegen ein paar Kirschen die lange Leiter aus dem Schuppen zu holen. Ich kletterte auf den Baum, es war mühsam, den ersten Ast zu erklimmen, aber danach war es ganz leicht, weiterzuklettern.

Miki hatte mir den kleinen Plastikkübel heraufgereicht und ich kletterte höher hinauf, weil die süßesten Früchte bekanntlich oben hängen. Ich kletterte also höher und immer höher, auf einer Astgabelung fand sich ein guter Platz zum Sitzen, da saß ich dann und pflückte und der kleine Kübel war bald voll. Ich kletterte zur ersten Astgabelung hinunter und reichte Miki den vollen Kübel.

»Pass auf!«, sagte ich. Aber Miki ist sowieso vorsichtig. Er stellte den Kübel sicher auf die Betonstufe vor dem Schuppen.

Ich bekam plötzlich Lust, noch weiter – jetzt unbeschwert und ohne Kübel – auf dem Baum herumzuklettern. Ich stieg höher und noch höher, die Sonne blitzte durchs Blätterwerk, die Kirschen glänzten, ich stopfte mir ein paar in den Mund und sang: Die süßesten Früchte fressen nur die großen Tiere, ich kletterte höher, ein Griff, ein Tritt, die Äste schwankten, ich schaukelte zwischen dem Geflirre, es war ein tolles Gefühl.

Plötzlich krachte es. Der Ast, auf dem ich stand, neigte sich. Den Ast, an dem ich mich festhielt, hielt ich nur mehr in der Hand. Ich stürzte. Ich fiel. Kopfüber hinunter. Ich schlug auf.

Instinktiv hatte ich mich zusammengerollt, sodass ich nicht mit dem Kopf aufgeschlagen war, sondern mit den Füßen. Ich lag auf dem Boden und wusste, dass ich nicht mehr aufstehen konnte. In meinem linken Bein spürte ich einen höllischen Schmerz. Miki war zu mir gerannt und schaute mich aus angstgeweiteten Augen an. »Peka! Peka!«, rief er. Ich überlegte schnell. Konnte ich Miki zutrauen, allein nach Hause zu laufen? Er musste die Straße nicht überqueren. Es würde ihm schon nichts passieren.

Es war absurd. Hier lag ich, unfähig aufzustehen, und das Erste, was ich tat, war, mir Sorgen um Miki zu machen.

Ich konnte es ihm zutrauen! »Miki«, sagte ich. »Hör gut zu: Lauf nach Hause und hol die Mama oder den Papa.« Miki nickte und rannte los.

Ich lag da, der Schmerz wurde immer höllischer. Ameisen kribbelten über meine Beine, ich spürte den intensiven Geruch des Grases. Und dann spürte ich nichts mehr …

»Petra, um Gottes willen!« Das Gesicht meiner Mutter war über mir, ihre Haare streiften meine Haut. Miki lief aufgeregt herum und rief immer wieder Peka, Peka.

»Was ist passiert?«, fragte Mama. Aber es war so offensichtlich, was passiert war, dass ich keine Antwort gab. Ich glaube auch nicht, dass sie eine erwartete. Ich zeigte nur auf das Bein. Zwei Männer vom Roten Kreuz standen neben meiner Mutter. »Der linke Knöchel?«, fragte einer. Ich nickte.

»Haben Sie sonst noch irgendwo Schmerzen?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich glaube nicht. Aber der Knöchel tut verdammt weh!« Sie legten das Bein in eine aufblasbare Schiene und mich samt Bein auf eine Tragbahre und schoben mich in den Krankenwagen. Mama und Miki stiegen ein. »So was Blödes, so was Blödes!«, jammerte Mama. Manchmal wundert es mich, dass sie sich überhaupt noch »gewöhnliche« Sorgen machen kann. Dann hörte ich ein gepresstes »Scheiß-Kirschen«, meine Mutter hielt ihre Hand vor den Mund und blickte sich schuldbewusst um.

Wir hielten bei unserem Haus. Papa sagte: »Du machst Sachen!«, gab mir einen Kuss und nahm Miki in Empfang. Dann fuhren wir ins Krankenhaus.

Von der Tragbahre auf den Rollwagen, vom Rollwagen auf den Röntgentisch, verdammt, das tut weh, das Hin und Her, Röntgen, Fraktur des linken äußeren und inneren Sprunggelenkes, vom Röntgentisch ins Untersuchungszimmer, Injektion gegen die Schmerzen, vom Untersuchungszimmer ins Gipszimmer, das Bein wird eingerichtet, Liegegips, nochmaliges Röntgen. Die Leute arbeiten schnell und präzise.

Dann werde ich in ein Krankenbett gehoben und mit dem Bett ins Zimmer gerollt. Ungefähr zwei Wochen werde ich hier liegen müssen, haben sie mir gesagt. Bis der Knöchel abgeschwollen ist und sie mir einen Gehgips verpassen können.

Dann haben sie mich an den Tropf gehängt, oder eigentlich den Tropf an mich, und ich muss für kurze Zeit tief geschlafen haben.

Die Schmerzen sind weg. Gott sei Dank. Ich schaue mich genauer im Zimmer um. Drei Betten, drei Nachtkästchen, ein Tisch, drei Stühle, alles weiß und chromglänzend, eine sonnengelbe Tür und ein signalroter Türstock die einzigen Farbflecken. Ein Dreibettzimmer, aber ich bin allein. Offenbar lieben es die Leute nicht so sehr, im Sommer im Krankenhaus zu sein.

Schwimmbad ade! Ferien ade! Chromglanz statt Sonnenglanz. Krankenhausbett statt Sonnenliege. Krankenhausluft statt Sommerduft.

Meine Mutter kommt herein. Sie hat noch mit dem Oberarzt gesprochen, aber eigentlich hat er ihr auch nicht mehr gesagt als der behandelnde Arzt.

Mama rückt einen Sessel an mein Bett, schaut mich ganz bekümmert an und dann fängt sie wieder wegen dieses blöden Kirschkuchens zu jammern an.

»Hör auf!«, sage ich. »Es ändert jetzt nichts mehr.«

Meine Lippen sind ausgetrocknet. Mama gibt mir Wasser zu trinken. Sie hält das Glas an meine Lippen und ich trinke wie ein kleines Kind.

Hilflos – das ist alles, was ich denken kann.

»Ich geh jetzt nach Hause und hol dir ein paar Sachen«, sagt Mama. »Hast du einen besonderen Wunsch?«

Ich wüsste nicht, was ich mir wünschen sollte. In meiner Lage ist selbst das Wünschen anstrengend.

Leise geht Mama aus dem Zimmer.

Als ich aufwache, hat sich das Licht verändert. Ich muss den ganzen Nachmittag geschlafen haben. Was für ein Teufelszeug haben die mir gegeben?

Ich habe vergessen Mama zu sagen, dass sie Harry sagen soll, was passiert ist. Aber das hat sie sicher gemacht. Oder Harry hat selbst angerufen. Wenn ich an ihn denke, wird mir ganz heiß. Gleich wird die Tür aufgehen, Harrys dunkle Augen werden mich anstrahlen, er wird auf mich zugehen, mir einen Kuss geben und sagen: »Na, du machst Sachen!« Er trägt ein weißes Tennishemd, eine weiße Tennishose, er schaut umwerfend aus in Weiß. Gleich wird er an die Tür klopfen und …

Es klopft. Es klopft tatsächlich. Das darf ja nicht wahr sein, dass er in dem Moment kommt, wo ich an ihn gedacht habe.

Harry!

Mein Vater steht in der Tür. Er kommt an mein Bett, gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Du machst Sachen!«, sagt er und lächelt mich an. Er hat eine Tasche mitgebracht. »Mama schickt dir die Sachen«, sagt er.

»Habt ihr Harry verständigt?«, frage ich.

Papa runzelt die Stirn. »Ich bin hier und du fragst zuerst nach Harry.«

Mein Gott, was ist er gleich beleidigt? Ich habe keine Kraft für solche Lächerlichkeiten. Versteht er denn nicht?

»Habt ihr?«, frage ich.

»Ich weiß nicht, ob Mama …«, sagt Papa zögernd.

Er hat also nicht.

»Sag ihm Bescheid!«, sage ich zu Papa. »Gleich heute. Oder spätestens morgen. Hörst du!«

Vielleicht hat auch Mama in der Aufregung darauf vergessen. Wahrscheinlich! Ganz sicher! Sonst wäre Harry schon längst da.

Ich seufze erleichtert und habe ein Gefühl, als würde ich mich im Bett weiter zurücklehnen. Wenn er nicht weiß, was los ist, kann er ja nicht kommen. Aber es ist sofort vorbei mit dem Zurücklehnen. Es ist der erste Ferientag und Harry hat nicht nach mir gefragt. Warum?

Nein, das kann nicht sein. Er hat sicher angerufen. Wahrscheinlich war grad niemand zu Hause. Es war ja andauernd irgendwer unterwegs zu mir. Oder vielleicht war Harry verhindert. Aber wodurch?

Vielleicht war er schon da. Hat mich gesucht, hat gesehen, dass ich schlafe, und war so rücksichtsvoll, mich nicht zu wecken. Er hätte mich ruhig wecken können. Schlafen kann ich, wenn Harry nicht da ist. Bestimmt war er schon da. Ich seufze beruhigt und nun kann ich mich tatsächlich zurücklehnen.

Zum ersten Mal in meinem Leben bedaure ich, dass ich kein Handy habe. Ich habe immer über die Leute gelacht, die durch die Straße eilen, Handy am Ohr und laut und wichtig durch die Gegend sprechen. Oder in einem Geschäft stehen und sagen: »Du, ich steh da grad in dem neuen Design-Shop. Na, du weißt schon, der mit den tollen Sachen. Wo du vom poppigen Zahnbecher bis zum italienischen Doppelbett alles kriegst, ja, afrikanische Masken auch, nein, Spagettizangen nicht, das ist ein anderes Geschäft, na sag ich ja! Du, da ist ein Kästchen. Ganz in Chrom, mit zwei Laden und einer Tür. Also, das würde hervorragend in unser Badezimmer passen! Soll ich es kaufen?« (Würde hervorragend in dieses Krankenhauszimmer passen, denke ich jetzt, vielleicht ist es mir deshalb eingefallen.)

Zögern im Handy auf der anderen Seite. »Na ja, ist nicht so wichtig. Am besten, du schaust es dir selber an!«

Oder das Handy-Straßenbahn-Gespräch: »Du, ich bin auf dem Weg zu dir. Ja, schon ganz nah. Du, ich steig jetzt aus. Ja, du, ich steig jetzt aus. Ja, okay, ja, ich steh auf der anderen Straßenseite. Jetzt bin ich bei deiner Haustür. Ja, bis gleich, tschüssi!«

Also, alle diese Wichtigkeiten!

Wie gesagt, ich hab mich immer über die Handymen und Handywomen lustig gemacht. Aber jetzt wäre es ein großer, immenser, unermesslicher Vorteil, ein Handy zu haben. Denn so bin ich völlig darauf angewiesen, was die Außenwelt an mich heranträgt.

Nichts ist drinnen, nichts ist draußen,

denn was innen ist, ist außen.

Irgend so ein gescheiter Mensch hat das einmal gesagt, Goethe vielleicht. Er hat viele gescheite Sachen gesagt. Das behauptet zumindest unser Deutschlehrer. Na, irgendwie stimmt das schon mit dem Innen und Außen. Mein Innenknöchel ist gebrochen und mein Außenknöchel auch. Haha.

Papa rückt näher an mein Bett. »Wie geht’s dir, mein Schatz?«

»Optimal«, sage ich und grinse gequält. »Könnte wirklich nicht besser sein! Wie hat Miki die Sache aufgenommen?«

»Zuerst war er furchtbar aufgeregt. Peka, Peka, Baum fallen, hat er immer wieder gesagt. Gott sei Dank hat er sich bald beruhigt. Peka wieder gehen kann?, hat er dann gefragt. Er wollte dich gleich besuchen, aber ich habe ihn auf morgen vertröstet.«

Morgen. Morgen wird auch Harry kommen. Hoffentlich nicht gleichzeitig mit Miki. Das wäre nicht gut. Niemand soll da sein, wenn Harry kommt. Nicht einmal Miki. Schon gar nicht Miki.

»Vergiss nicht, Harry anzurufen!«, sage ich noch einmal mit Nachdruck.

»Jaja«, sagt Papa. Manchmal habe ich das Gefühl, er hat was gegen Harry. Aber vielleicht ist Papa nur eifersüchtig. Vielleicht sind Väter von Natur aus eifersüchtig auf den ersten richtigen Freund ihrer Tochter. Vielleicht ist das normal. Normalerweise kommt mir mein Vater ziemlich normal vor, also denke ich, es ist normal, dass er auf Harry eifersüchtig ist. Mama hat da, glaube ich, weniger Probleme. Vielleicht ist das auch normal. Oder sie ist einfach mehr von Miki in Anspruch genommen.

Es gab eine Zeit, da war ich eifersüchtig auf Miki. Heute denke ich, das ist absurd, und ich habe ein schlechtes Gewissen. Aber damals war es so. Miki brauchte so viel Aufmerksamkeit, Fürsorge und Zuwendung, ich hatte das Gefühl, dass für mich nichts mehr übrig blieb. Ich fühlte mich oft sehr allein. Mama war in sich gekehrt, sie sprach kaum etwas mit mir, nur das Notwendigste, und ich war selber sprachlos geworden. Und Papa – ich weiß nicht mehr genau, es ist schon so lange her.

»Du bist müde, nicht wahr?«, sagt Papa.

»Ja«, sage ich, »dabei habe ich den ganzen Nachmittag geschlafen. Die haben mich mit Drogen voll gepumpt.«

Jetzt erst merke ich, dass mein Blasendruck ins Unerträgliche gestiegen ist. Und in dem Augenblick, wo mir das bewusst wird, fühle ich mich wie ein mit Wasser gefüllter Luftballon. »Du, Papa«, sage ich, »ich muss …«

Er klingelt nach der Schwester.

»Ja?«, sagt sie fragend. Eigentlich könnte sie wissen, was los ist, nach der langen Zeit, die ich schon hier liege.

»Schwester«, sage ich, »ich muss aufs Klo.«

»Ich bringe sofort die Schüssel«, sagt sie.

Da fällt mir das Herz in die Blase! »Die Schüssel?«, sage ich entgeistert.

»Na ja«, sagt sie, »aufstehen können Sie nicht.« (Sie sagt Sie zu mir.) »Und einen Katheter werden Sie ja nicht wollen.«

Katheter? O Gott, das ist dieses Plastikrohrdings, das sie dir reinbohren, wenn du nicht aufs Klo gehen kannst. Das sind ja Foltermethoden! Ich schlucke hörbar.

»Na also!« Sie bringt die Schüssel.

»Papa«, sage ich, »könntest du …? Mir ist das peinlich.«

»Jaja«, murmelt er. »Natürlich. Entschuldige.« Und draußen ist er.

Die Schwester schiebt mir die Schüssel unter den Popo. Ich liege da, mit einem Blasendruck, der mich fast platzen lässt, aber es geht nicht. Es geht einfach nicht. Das ist zum Verzweifeln. »Ich kann nicht!«, sage ich und meine Stimme hat den Klang einer Sterbenden.

Und dann macht mir die Schwester doch einen Katheter. Als sie das Plastikröhrchen in mich einführt, schließe ich die Augen, ich will diese demütigende, unwürdige Prozedur nicht mit ansehen, o Gott, was wird noch alles über mich kommen – und unter mich – und in mich!

Es rinnt und rinnt, und als ich ausgeronnen bin, ist die Erleichterung unbeschreiblich. Ich bin ein neuer Mensch. Die Schwester montiert mich wieder ab. Dabei kann ich sie sogar anschauen. Sie hat ein breites Gesicht, dessen auffälligstes Merkmal eine schwarze Hornbrille ist. Die schwarzen glatten Haare hat sie zu einem dicken Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt das Folterinstrument weg.

Papa setzt sich wieder an mein Bett, aber da er sieht, wie müde ich bin, geht er bald. Gute Nacht, Papa!

Eine andere Schwester kommt mit dem Abendessen. Aber ich mag nichts. Nur ein Glas Wasser. Nicht zu viel, die eine Katheter-Erfahrung hat mir gereicht. Nein, ich brauche auch keine Medikamente. Ich bin von der Infusion noch ganz benommen. Danke.

Ich schwitze. Es ist heiß im Zimmer. Und dunkel. Ich werde ein Fenster aufmachen, ich schlafe immer bei offenem Fenster, außer bei arktischen Temperaturen. Ich … Scheiße, ich kann ja nicht aufstehen! Ich kann kein Fenster öffnen. Ich muss die Schwester rufen. Aber darf ich das, mitten in der Nacht, wegen eines Fensters? Ich weiß nicht. Wie lange habe ich geschlafen? Keine Ahnung. Der Knöchel pocht. Offenbar hat die Wirkung der Medikamente nachgelassen. Bis morgen früh hätte sie schon anhalten können. Und aufs Klo muss ich auch – nein, nicht schon wieder! Das ist nur der Schüssel-Stress! Ich spüre, dass Tränen über meine Wangen laufen. Gut, dass mich niemand sieht. Gut, dass ich allein im Zimmer bin.

Was bin ich nur für ein Idiot! Warum musste ich auf diesem blöden Ast so gottverdammt blöd herumschaukeln! Warum musste mir so etwas passieren, noch dazu am ersten Ferientag? Royal Blue. Shit!

Dabei hatte ich mich gerade auf diese Ferien so gefreut. Die ersten Ferien mit Harry. Wir wollten eine Radtour um den Neusiedlersee machen und segeln und rollerskaten und Tennis spielen und ins Kino gehen und und und …

Warum musste das passieren? Und warum musste es jetzt passieren? Am ersten Ferientag! Das ganze Schuljahr lang war ich keinen einzigen Tag krank! Und am ersten Ferientag – das!

Ich läute nach der Schwester. Sie kommt herein, jung, hübsch, schlank, lächelnd – und das mitten in der Nacht!

»Ich ersticke hier«, sage ich. »Ich habe Schmerzen. Und ich muss aufs Klo!« Ich glaube, das hat jetzt sehr grob geklungen.

Sie bleibt freundlich. »Die erste Nacht ist immer die schlimmste«, sagt sie und öffnet die Balkontür. Dann bringt sie mir die Schüssel, dreht den Wasserhahn auf, lächelt mir aufmunternd zu und geht aus dem Zimmer. Sie muss in direkter Linie von einem Engel abstammen.

Das plätschernde Wasser hilft. Der elementare Akt glückt. Die Schwester holt die Schüssel und dreht das Wasser ab. Ich atme tief durch. Die Luft ist lau. Ich habe Glück, mein Bett ist das erste neben dem Balkon. Ich habe sozusagen einen Fensterplatz.

Es ist windstill, was ungewöhnlich ist in unserer Gegend. Vor dem Balkon steht eine hohe Fichte. Von der Bundesstraße kommt Verkehrslärm. Am Himmel – Flugzeuglärm, erstaunlich lange. Militärhubschrauber vom Grenzeinsatz? Eine Linienmaschine? Ein Charterflug in den Süden?

Der Flugzeuglärm verebbt. Irgendwo knarrt eine Tür. Irgendwo läuft ein Fernseher, ganz leise. Eine Tür fällt zu. Schlurfende Schritte auf dem Gang. Ein Medikamentenwagen wird den Gang entlanggerollt. Ich höre das feine Klirren von Glas.

Gute Nacht, Harry, du … Ich geb dir einen Kuss. Ich mag dich so, so schrecklich sehr! Ich habe Sehnsucht nach dir. Morgen wirst du kommen. Wenn du jetzt hier wärst, würde ich dich fest umarmen und küssen. Meine Arme kann ich ja gebrauchen und meinen Mund auch!

Wie er wollte geküsset sein:

Nirgendwo als auf den Mund,

da dringt’s in des Herzens Grund,

nicht zu laut und nicht zu leise

Der gute Logau, ich mag Gedichte, ich mag die alten Barockdichter.

Am Beginn des neuen Jahrtausends ist es vielleicht nicht angebracht, Barockdichter zu mögen – oder doch? Die Vergänglichkeit ist immer ein Thema. Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden … Ich habe jedenfalls die Vergänglichkeit meines Knöchels beinhart gespürt. Warum hat Gott bei der Erschaffung des Menschen kein festeres Material genommen? Ich glaube, mein Geist fängt an sich zu verwirren. Ich kriege den Krankenhauskoller. Wenn du hier wärst, Harry, würde ich keinen Krankenhauskoller kriegen, sondern den Liebeskoller.

Die Schwester kommt mit einem kleinen Glas mit Medizin.

»Trinken Sie das«, sagt sie, »dann werden Sie gut schlafen.«

»Danke, Schwester«, sage ich, »danke.«

Sie ist ein Engel.

Gute Nacht, Miki, mein Lieber. Ich geb dir einen Kuss. Schlaf gut, du brauchst dich nicht zu fürchten. Nein, da ist kein Geisterhund unter deinem Bett. Peka wieder gehen kann? Ja, Miki, ich werde wieder gehen können. Und du bist großartig. Du hast ganz schnell Hilfe geholt. Du hast alles sofort verstanden. Eigentlich verstehst du sowieso fast alles. Alles Wichtige jedenfalls. Alle Gefühle jedenfalls. Deine dunklen Augen, die manchmal so traurig wirken. Was weißt du von dir selbst? Was weißt du vom Leben? Gute Nacht, Miki, gute Nacht!

Die Nachtschwester schaut noch einmal nach mir.

Nein, danke, ich brauche nichts mehr, ich glaube, ich schlafe schon.

Herz- und Beinbruch

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