Читать книгу Mami Bestseller Box 1 – Familienroman - Jutta von Kampen - Страница 6

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»Such dir endlich eine Frau, die zu dir passt, die du gernhast und die dich gernhat«, hatte seine Oma schon oft zu ihm gesagt, meistens dann, wenn er ihre Kochkunst zu sehr gelobt oder mal wieder gemeint hatte, sie wäre die Beste, und bei ihr würde er es mindestens noch zehn Jahre aushalten.

Darüber hatte sie stets nur gelächelt, ein bisschen spöttisch und ein bisschen traurig. Und vor einem guten Jahr hatte sie ihm zögernd und etwas unglücklich gestanden, dass sie in absehbarer Zeit in eine kleine und altersgerechte Wohnung ziehen wolle. Und er möge darüber nachdenken, ob er diese Wohnung – drei große Zimmer, Küche, Bad, Korridor und Balkon – behalten wolle.

Sicher wollte er das, wenn nur die Miete nicht so hoch gewesen wäre.

Henrik Hollstein hatte damals nicht so recht gewusst, wie er sich verhalten sollte. Natürlich würde es die Oma in der neuen Wohnung viel bequemer haben, sie musste nicht mehr so viele Treppen steigen, nicht mehr so viel einkaufen, kochen und putzen. Sie hatte dann ja nur noch für sich allein zu sorgen und nicht mehr für ihn, ihr einziges Enkelkind, das sie nach dem frühen Unfalltod der Eltern ganz allein aufgezogen hatte. Andererseits war er inzwischen achtundzwanzig Jahre alt und würde es wahrscheinlich doch schaffen, ohne sie zu überleben und die Miete aufzubringen.

Der Anfang war selbstverständlich schwer gewesen, denn es war ja viel leichter und angenehmer, sich an einen gedeckten Tisch zu setzen, als für dessen kulinarische Bestückung zu sorgen. Von anderen Arbeiten ganz zu schweigen. Aber unter der Anleitung seiner Großmutter lernte er, was zur Führung eines kleinen Haushaltes unbedingt notwendig war, und lernte es schneller, als er selbst gedacht hatte.

Das Schicksal meinte anscheinend, er hätte für seine Bemühungen eine Belohnung verdient, denn schon wenige Wochen, nachdem Amalie Hollstein ausgezogen war, lernte er auf einer Party bei Freunden Evelin Lanzkow kennen, eine hübsche, zierliche Brünette, die bald bei ihm einzog und sich an den Kosten beteiligte. Sie konnte zwar nicht so gut kochen wie die Oma, gab sich aber viel Mühe, ihn in jeder Hinsicht zu verwöhnen. Und das gefiel ihm außerordentlich gut.

Und da er ihr offensichtlich auch gefiel mit seinem markanten Gesicht, den blonden Haaren, der sportlichen Figur und dem umgänglichen Wesen heirateten sie bereits ein Jahr später. Die Oma spendierte zu diesem Anlass das Geld für die Hochzeitsreise nach Venedig, Evelins Eltern trugen zur Wohnungseinrichtung bei, und alle nahmen nun an, dass bald ein Baby zur Welt kommen würde. Immerhin hatten beide eine ausreichend große Wohnung, hatten studiert und lebten in guten finanziellen Verhältnissen. Gesund und voller Lebensfreude waren sie ebenfalls.

Doch die Jahre vergingen, Henrik, mittlerweile bereits dreiunddreißig, war vor Kurzem der Leiter des hiesigen Arboretums geworden, was ihn einerseits freute, aber auch mehr Verantwortung, Arbeit und gelegentliche Überstunden einbrachte.

Evelin, nur wenig jünger als ihr Mann, rechnete hingegen fest damit, bald Dozentin an der Universität zu werden, wo sie seit ein paar Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin beschäftigt war. An ein Kind dachten beide anscheinend gar nicht. Die Karriere und weite Reisen im Urlaub schienen ihnen wichtiger als der Nachwuchs zu sein.

*

»Sie sind schwanger, Frau Hollstein«, hatte der Arzt vorhin gesagt und hatte dazu eine Miene gemacht, als müsste sie nun so glücklich sein, dass sie fortan die ganze Welt umarmen könnte. Der Kerl hatte ja keine Ahnung, überhaupt keine! Was sollte sie mit einem Kind bloß anfangen?

Diese Frage beschäftigte Evelin auf dem Weg nach Hause so sehr, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte. Sie vergaß sogar, in ihrer Lieblingsboutique einzukehren und sich das elegante rubinrote Kleid zu kaufen, das sie vor ein paar Tagen dort entdeckt hatte. Wütend auf sich selbst und vor allem auf ihren Mann kam sie daheim an, warf sich anschließend auf ihr Bett und ließ dort ihren Tränen freien Lauf.

Sie war so sehr in ihren Kummer vertieft, dass sie Henrik erst bemerkte, als er sich zu ihr setzte, sie in die Arme nahm und erschrocken fragte: »Was ist denn passiert? Ist was mit deinen Eltern oder mit Oma?«

»Nein, denen geht es gut, bloß mir nicht.«

»Was hast du denn?«

»Ich bekomme ein Kind.«

»Ein Kind??« Seine Augen begannen zu strahlen, während er sie fester an sich drückte. Dabei fragte er aufgeregt: »Bist du dir auch ganz sicher?«

»Dr. Weber hat es bestätigt«, antwortete sie missmutig. »Ich habe es sozusagen schwarz auf weiß. Kannst du mir sagen, was nun werden soll?«

»Ich verstehe dich jetzt nicht«, antwortete er irritiert. »Du bekommst das Baby, bleibst ein oder zwei Jahre zu Hause, und dann bringen wir es tagsüber in eine Kindertagesstätte.«

Sie stieß ihn von sich, sprang auf und rief entrüstet: »Ich soll ein oder zwei Jahre zu Hause bleiben, soll das Gör hüten und meine Karriere zum Teufel schicken? Ja, sag mal, du hast wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank! Wozu habe ich denn studiert und meinen Doktor gemacht?«

»Aber – Evi, andere Frauen bekommen doch auch Kinder. Und ich werde dir doch helfen.«

»Na, klar, besonders dann, wenn du den ganzen Tag auf der Arbeit bist. Ich würde es mir ja wegmachen lassen, aber der Doktor sagt, es ist schon zu spät dazu. Leider.«

Das Kind wegmachen lassen? Er hätte jetzt am liebsten mit der Faust auf den Tisch gehauen oder sie zornig angeschrien, weil sie eine Abtreibung überhaupt in Betracht zog. Andererseits wollte er sie nicht noch mehr aufregen. Möglicherweise verlor sie dann das Kind. Daher stand er ebenfalls auf und legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter.

»Nun bekomme das Kind doch erst einmal. Du wirst schon sehen, alles geht einfacher, als du jetzt denkst. Wir kriegen bestimmt einen Kita-Platz, vielleicht schon nach ein paar Monaten. Dann kannst du doch wieder arbeiten gehen.«

»Und wenn das Kind krank wird? Diese kleinen Bälger haben doch dauernd irgendetwas – Husten, Schnupfen, Durchfall, Erbrechen und Fieber. Ich weiß das von meiner Kollegin. Wenn da nicht die Eltern und Schwiegereltern immer einspringen würden, könnte sie so gut wie gar nicht zur Arbeit gehen. Aber so etwas ist bei uns ja nicht möglich. Du hast nur noch die Oma, und die ist nach ihrem Oberschenkelhalsbruch auch nicht mehr so fit wie früher. Und meine Eltern sind Ärzte und wohnen in München, was fast tausend Kilometer von uns entfernt ist.«

»Wir werden eine Lösung finden. Zwei oder drei Monate kann ich ja auch bei dem Baby bleiben, wenn es nicht mehr gestillt werden muss.«

»Zwei oder drei Monate …« Sie sprach nicht weiter, schien zu überlegen und setzte sich wieder auf das Bett.

»Ja, so etwas machen in der heutigen Zeit viele Väter«, erklärte er eifrig. »Ich denke, das kriege ich auch hin. Und wenn das Kleine mal krank wird, dann wechseln wir uns mit der Betreuung ab. Und vielleicht ist es ja gar nicht so oft krank.«

»Vielleicht hast du recht«, erwiderte sie zerstreut. »Ich glaube, ich muss mich mit dieser – Situation – erst eine Weile auseinandersetzen, muss darüber in Ruhe nachdenken. Ich werde daher ein paar Tage Urlaub nehmen und zu meinen Eltern fliegen – allein. Du kannst dir inzwischen schon mal Babywiegen und Kinderwagen anschauen. Wer weiß, was das alles so kostet …«

Henrik hatte schon etwas aufgeatmet, erkannte jetzt aber, dass sie von einer Freude über das zu erwartende Kind meilenweit entfernt war. Und doch war er nicht ohne Hoffnung. Sie würde es zumindest behalten. Und wenn es denn erst einmal auf der Welt war, würde sie es lieben, genauso wie er.

In den nächsten Monaten klammerte er sich innerlich an diese Hoffnung und versuchte, seiner Frau ihren Zustand so erträglich wie möglich zu machen. Er nahm ihr weitgehend die Hausarbeit ab, kaufte allein ein und ließ sie an den Wochenenden so lange schlafen, wie sie wollte. Und er freute sich, dass sie zumindest an der Einrichtung des Kinderzimmers Interesse zeigte.

Das Kleine würde ein Mädchen werden. Henrik nannte es schon jetzt seine kleine Püppi, die nach seiner Mutter Irene heißen sollte. Seiner Frau schien der Name des Kindes egal zu sein. Sie hatte mit sich selbst zu tun und beklagte häufig genug, dass sie von Tag zu Tag dicker wurde und ihrer Meinung nach wie ein Walross aussehen würde.

*

Die kleine Püppi kam pünktlich an einem sonnigen Tag Mitte Oktober und ohne großes Trara zur Welt. Sie wog 3580 Gramm, war 51 cm lang und kerngesund. Henrik hätte sie immerzu anschauen können, ganz im Gegensatz zu seiner Frau, die ihrer Tochter nur mäßiges Interesse entgegenbrachte.

»Ich glaube, du freust dich gar nicht so recht über unser Kind«, stellte er an diesem Nachmittag kurz vor Weihnachten fest, als sie die Kleine gestillt und anschließend ihm übergeben hatte, damit er sie neu windelte und in die Wiege legte. So wie immer.

»Natürlich freue ich mich, dass sie gesund und ziemlich pflegeleicht ist«, gab Evelin nachlässig zu. »Andererseits weiß ich nicht viel mit ihr anzufangen. Vielleicht ändert sich das, wenn sie etwas älter ist.«

Er sagte nichts dazu, sondern wandte sich enttäuscht ab, um einige Arbeiten in der Küche zu erledigen. Seine Frau kümmerte sich um den Haushalt kaum noch, sondern telefonierte viel mit ihrer Mutter und diversen Freundinnen. Oder sie ging einkaufen und gab dann viel Geld für ihre persönlichen Bedürfnisse aus. So war sie früher nicht gewesen. Das Kind konnte sie offenbar nicht lieben, es war für sie nur eine lästige Nebensache.

Zu Weihnachten kamen ihre Eltern zu Besuch, die das kleine Mädchen jedoch kaum beachteten, ihn und seine Großmutter ebenfalls nicht. Sie sprachen fast nur über ihre Arbeit in einer radiologischen Klinik und über ihre Vorstellungen, im Rentenalter nach Mallorca oder Gran Canaria zu ziehen, um dort bei ständig schönem Wetter ihren Lebensabend zu genießen.

Henrik war froh, als sie am zweiten Feiertag abreisten.

Evelin freute sich nicht, sie bedauerte die Abreise der Eltern zutiefst und hätte sie wohl begleitet, wenn sie die Kleine nicht noch hätte stillen müssen.

»Aber im Frühjahr besuche ich euch«, versprach sie ihnen, worauf Frau und Herr Doktor Lanzkow zustimmend nickten und ihrer Einzigen tröstend über die Wange strichen.

Der Abschied von Schwiegersohn und Enkelkind fiel wesentlich kühler aus.

Henrik schwieg verbissen und hoffte immer noch, seine Frau würde ihr Kind allmählich wenigstens ein bisschen gernhaben – und in ihm nicht nur eine Art Bruder sehen.

Doch die Monate vergingen. Und es änderte sich nichts – gar nichts. Seine Frau war nach wie vor viel unterwegs und flog Anfang März tatsächlich für drei Wochen zu ihren Eltern – und kam neu eingekleidet und überaus gut gelaunt zurück. Sie hatte sogar daran gedacht, ihrem Mann ein teures Rasierwasser und ihrem Kind ein Kuscheltier mitzubringen.

Diese Geste hätte ihn eigentlich freuen sollen, machte ihn jedoch nur misstrauisch. Auf diesbezügliche Fragen bekam er von der Mutter seines Kindes aber keine Antwort.

*

»Oma hat am nächsten Samstag Geburtstag. Sie wird fünfundsiebzig und möchte ein bisschen mit uns feiern. Was wollen wir ihr schenken? Hast du eine Idee?« Henrik schaute seine Frau fragend an, doch die antwortete nur nüchtern: »Ich weiß es nicht, aber dir wird schon etwas Passendes einfallen, du kennst sie ja schließlich viel besser als ich.«

»Na gut, ich denke, sie wird sich über einen Präsentkorb und eine Orchidee sehr freuen.«

»Dann besorge alles. Ich habe übrigens keine Zeit, du musst allein hinfahren, nimm aber die Kleine mit. Deine Großmutter hängt ja so an ihr. Und ihr drei habt dann einen vergnügten Nachmittag.«

»Ja, sie hängt sehr an Reni, viel mehr als deine Eltern«, bestätigte er in frostigem Ton. »Die haben das Kind ja auch erst ein Mal gesehen.«

»Mit kleinen Kindern haben sie es nicht so. Das weißt du doch.«

»Genauso wenig wie du. Warum hast du eigentlich keine Zeit, mit uns zu Oma zu fahren?«

»Ich habe in der nächsten Woche ein Gespräch mit Professor Höllriegel und muss mich intensiv darauf vorbereiten. Schließlich will ich in Kürze wieder arbeiten gehen. Und deshalb ist es mir ganz lieb, wenn du die Kleine mitnimmst. Ihr Geschrei lenkt mich nur ab.«

»In Ordnung.« Er stand auf, verließ das Wohnzimmer und ging zu seiner Tochter, die gerade ihren Mittagsschlaf beendet hatte. Seine Frau begleitete ihn nicht. Das tat sie nur selten und behauptete mitunter sogar, er wäre die ›bessere Mutter‹.

Vermutlich war er das auch, und er fragte sich, ob er immer so leben wollte und leben konnte. Seine Frau, die er in den ersten Jahren so sehr geliebt hatte, war ihm fremd geworden. Die Nächte voller Liebesglut und Sinnlichkeit konnte er allerdings nicht vergessen. Und ganz tief in seinem Innern hoffte er immer noch, Evelin würde wieder so werden, wie sie zu Anfang ihrer Ehe gewesen war.

Die Hoffnung war jedoch vergebens. Das stellte er mit jedem Tag mehr fest. Und dieser Zustand war kaum noch zu ertragen.

Vielleicht sollte er sich scheiden lassen und sich eine andere Frau suchen, eine häusliche und liebevolle Frau.

Daran gedacht hatte er schon öfter, dieses Thema jedoch nie angesprochen – wegen Reni. Die Kleine war inzwischen diejenige, die seinem Dasein einen Sinn gab. Und wenn es zur Scheidung kam, dann durfte er sie vielleicht doch nicht behalten.

Dieser Ansicht war auch seine Großmutter, als sie diese anlässlich ihres Ehrentages besuchten. Die alte Frau stellte nämlich betrübt fest: »Nur gut, dass du die Reni hast. Die macht dir wenigstens noch Freude, während ihre Mutter ganz andere Sachen im Kopf hat. Dabei war sie früher so ein liebes und aufmerksames Mädchen.«

»Ja, seit dem sie ihren Doktor gemacht hat, schwebt sie nur noch in höheren Regionen und stellt sich vor, baldmöglichst die kaufmännische Leitung einer großen Firma, einer Kureinrichtung oder eines besser bezahlten Lehrstuhles übernehmen zu können. Sie denkt nur noch an sich und an ihre Karriere. So habe ich mir meine Ehe nicht vorgestellt.«

»Sie hätte besser kein Kind haben sollen.«

»Sie wollte ja auch keines, aber irgendwann hat es mit der Verhütung nicht geklappt.« Henrik lächelte spöttisch und ging dann zu einem anderen Thema über, was ziemlich leicht war, denn die kleine Irene war inzwischen sieben Monate alt und krabbelte schon munter durch die Wohnung ihrer Urgroßmutter.

Gegen 17 Uhr begann das kleine Mädchen jedoch zu nörgeln. Offenbar müde und hungrig wollte es nur noch nach Hause. So verabschiedete sich Henrik von seiner Oma und versprach, bald wiederzukommen.

*

Seine Frau war natürlich nicht daheim, obwohl sie gerade diesen Nachmittag hatte nutzen wollen, um sich auf das Gespräch mit Professor Höllriegel vorzubereiten. Wahrscheinlich war sie schon wieder shoppen gegangen. Und das jetzt, da ihnen weniger Geld zur Verfügung stand. Nun, wahrscheinlich hatten ihre Eltern ihr wieder einmal ausgeholfen.

Leise seufzend machte er dem Kind das Abendessen zurecht, fütterte es anschließend und brachte es dann zu Bett, wo ihm sofort die Augen zufielen.

Inzwischen war mehr als eine Stunde vergangen, seine Frau aber immer noch nicht von ihrer Einkaufstour zurück. Nun gut, wenn sie meinte, dass sie das unbedingt brauchte, dann musste sie tun, was sie nicht lassen konnte. Es war ihm mittlerweile egal.

Aber irgendetwas war anders als sonst. Er dachte einige Sekunden nach, dann fiel ihm ein, dass das Bad vorhin so leer gewirkt hatte. Plötzlich Schlimmes ahnend, öffnete er die Tür und stellte nach kurzem Rundumblick fest, dass Evelins Kosmetik und ihr Waschzeug einschließlich Zahnbürste fehlten.

Sie ist ausgezogen, sie hat uns beide verlassen! Mehr konnte er zuerst nicht denken.

Eine Inspektion ihres Kleiderschrankes bestätigte diese Vermutung. Der Schrank war nämlich leer, ihr Schreibtisch ebenfalls. Auf letzterem lag ein einfacher weißer Briefumschlag, auf dem lediglich sein Name stand.

Er öffnete ihn mit zitternden Händen und las dann:

Lieber Henrik,

ich kann so nicht weiterleben, so zwischen Babygeschrei, Haushaltskram und Kleinstadtmief. Durch Papas Vermittlung habe ich eine prima Stellung in München bekommen und kann diese sofort antreten. Mir ist auch klar geworden, dass wir beide auf Dauer nicht zueinanderpassen. Deshalb bitte ich Dich, in die Scheidung einzuwilligen. Lass uns als Freunde auseinandergehen. Die Kleine überlasse ich Dir, das heißt, du bekommst das alleinige Sorgerecht. Und ich werde selbstverständlich die Alimente zahlen; ich habe mich bereits beim Jugendamt erkundigt und werde dorthin so bald wie möglich eine Verdienstbescheinigung schicken. Dort wird man dich auch beraten und unterstützen. Das hat man mir zugesagt. Ich werde Euch natürlich besuchen, wenn es meine Zeit erlaubt.

Alles Gute für Dich und Irene von Evelin.

P.S. Du wirst bald ein Schreiben von meinem Anwalt bekommen.

So sah also das Ende seiner Ehe aus. Henrik legte den Brief mit zitternder Hand wieder auf den Schreibtisch und setzte sich auf den Stuhl, der davorstand. Den Kopf verzweifelt in beide Hände stützend saß er lange da und wusste zuerst einmal nicht, wie es mit ihm und dem Kind weitergehen sollte.

Seine Frau hatte ihn verlassen, ohne mit ihm über ihre Absichten zu reden, ohne an das Kind zu denken. Aber so war sie eben! Oder so war sie im Laufe der letzten Jahre geworden. Früher hatte er über ihre spontanen Einfälle meist gelacht, das hier war jedoch nicht zum Lachen. Es war eine Tragödie.

Nach einer fast schlaflosen Nacht gestand er sich ein, die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen zu haben. Evelin würde nie eine liebevolle Mutter werden, wie er insgeheim doch noch gehofft hatte, auch im Laufe der nächsten Jahre nicht. Ihm blieb jetzt nur noch übrig, sich so schnell wie möglich auf die neue Situation einzustellen. Aber wie?

Einen Kita-Platz bekam er erst zum nächsten Jahr, die bezahlte Freistellung von der Arbeit, die sogenannte Vaterzeit erst ab Oktober. Also noch mehr als fünf Monate, für die er niemanden hatte, der sich um Reni kümmerte. Aber er musste jetzt eine Lösung finden und zwar unverzüglich.

Nun, vielleicht konnte er zunächst ein oder zwei Wochen Urlaub bekommen. Und in dieser Zeit musste es ihm gelingen, für Reni eine private Pflegerin zu engagieren oder eine geeignete Tagesmutter zu finden.

Er wusste zwar nicht, wie er diese bezahlen sollte. Aber es gab ja bekanntlich für alles eine Antwort. Und wo ein Wille war, da war auch ein Weg.

Sein Arbeitgeber war verständnisvoller, als er geglaubt hatte. Er gewährte ihm Urlaub und war sogar damit einverstanden, dass er danach seine ohnehin geplante Freistellung schon jetzt in Anspruch nahm. Damit war zumindest für die nächsten drei Monate das Kind gut versorgt, und er hatte wesentlich mehr Zeit, eine geeignete Tagesmutter zu finden.

Und so begann für Henrik Hollstein eine schwere, aber nicht direkt unglückliche Zeit, auch wenn sein monatliches Einkommen schmal war und er auf vieles verzichten musste.

Die kleine Reni bemerkte das Fehlen ihrer Mutter nicht. Sie war genauso zufrieden wie zuvor, denn sie hatte ja ihren Papa. Und manchmal auch die Uroma, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters den beiden half, so gut sie es eben noch vermochte. Sie kaufte Anziehsachen und Windeln und lud die beiden mitunter zum Essen ein. Diese Unterstützung war auch bitter nötig.

Renis Mutter schien nämlich vollkommen vergessen zu haben, dass sie den Unterhalt für ihr Kind zu zahlen hatte. Sie war telefonisch auch nur selten zu erreichen. Und wenn es Henrik doch mal gelang, dann versprach sie zwar hoch und heilig, ihren Verpflichtungen umgehend nachzukommen, tat es aber nicht. Anrufe bei ihren Eltern waren ebenfalls zwecklos. Die beiden gaben vor, sich nicht in die Angelegenheiten ihrer Tochter mischen zu wollen. Und so blieb Henrik nichts anderes übrig, als diesen Tatbestand dem Jugendamt mitzuteilen. Ob die Damen und Herren dieser Behörde mehr Erfolg zu verzeichnen haben würden, war allerdings fraglich.

So vergingen die nächsten Monate, in denen Evelin schließlich eher unfreiwillig und auch nicht pünktlich die Alimente zahlte. Nach ihrem Kind fragte sie jedoch nur selten.

*

Mehr als drei Jahre hatte Gitta Wenzel ihren nach einem Sportunfall gehbehinderten Freund gepflegt, hatte für ihn gesorgt, hatte ihn zu den entsprechenden Ärzten und Therapeuten gefahren, hatte ihre Freizeit, ihren Urlaub und viel Geld geopfert, ihm immer wieder Mut gemacht und hatte mit ihm gelitten und sich über den kleinsten Erfolg mit ihm gefreut.

Inzwischen war Reinhard Wagner so gut wie gesund – und hatte bei seinem letzten Kuraufenthalt eine andere Frau kennengelernt. Und diese Frau wollte er heiraten. Und sie, Gitta, war ihm wohl nicht mehr gut genug und hübsch genug. Und damit vollkommen überflüssig! Sie hatte so schnell wie möglich aus seiner Wohnung auszuziehen und aus seinem Leben zu verschwinden. So einfach war das.

Nein, es war gar nicht einfach. Es war beinahe eine Katastrophe! Sie hatte nämlich selbst so gut wie nichts, was Möbel und Hausrat anbelangte, weil sie damals bei ihm in eine komplett eingerichtete Wohnung gezogen war. Sie hatte auch nur wenig sparen können, da sie die Miete zur Hälfte getragen und ihn während seiner langen Krankheit finanziell unterstützt hatte.

Doch das interessierte den in eine andere leidenschaftlich verliebten Reinhard nicht.

Er sah daher emotionslos zu, wie sie ihre bescheidene Habe in drei große Koffer packte und anschließend seine Wohnung verließ.

Nachdem ihre Freundin Elsie sie zwei Wochen bei sich aufgenommen hatte, war es möglich, eine billige Wohnung zu mieten, zwei kleine Zimmer, ein winziges Bad und eine ebenso winzige Küche. Und das alles auf einem Hinterhof mit Blick auf die Mülltonnen. Aber so war sie zumindest nicht obdachlos. Bett, Schrank, Tisch und Stühle kaufte sie sich in einem Billigladen, ihre Eltern spendierten eine Waschmaschine und die Oma einen kleinen Kühlschrank. Ihr Vater und ihr älterer Bruder klebten Tapeten und schlossen die Haushaltsgeräte an.

Damit war der Anfang gemacht, ein sehr bescheidener Anfang. Aber Gitta genügte er. Mit diesem fand sie sich ab, nicht aber mit der Tatsache, von Reinhard Wagner jahrelang ausgenutzt und dann kaltlächelnd abgeschoben worden zu sein. Von nun an vergrub sie sich in ihre Arbeit als Steuerfachangestellte und sparte, wo sie nur konnte, auch am Essen. Sie hatte ja ohnehin kaum noch Appetit, seitdem sie ihren Lebensinhalt verloren hatte.

Sie hoffte jedoch, diesen ›Lebensinhalt‹ nie wiederzusehen. Die Chancen dafür waren gut, denn seine angehende Ehefrau oder sein Kurschatten hatte ihm eine Stellung in Hamburg vermittelt, was einen baldigen Umzug erforderlich machte.

Als Gitta durch eine Bekannte davon erfuhr, war sie mehr als erleichtert. So brauchte sie nicht mehr zu befürchten, ihm zufällig zu begegnen – und sein selbstgefälliges Lächeln zu sehen.

*

Henrik Hollstein hatte ebenfalls erleichtert aufgeatmet, als er ganz überraschend bereits ab Oktober einen Platz für Reni in einer nahegelegenen Tagesstätte bekam. Er war ja sozusagen auch ein sehr dringender Fall. Mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen hatte er die Kleine inzwischen daran gewöhnt, dass sie ihren Vater einige Stunden nicht sehen konnte. Dafür war die Freude am Abend umso größer. Und an den Wochenenden sowieso.

An diesem Samstag hatten sie zuerst die Oma besucht, hatten dort zu Mittag gegessen – Schweinebraten mit Rotkohl und Kartoffeln, und für Reni Milchreis mit Kompott. Danach hatten die Kleine und die Oma ihren Mittagsschlaf gehalten, während Henrik zum Supermarkt gefahren war und eingekauft hatte.

Gegen 17 Uhr kamen sie wieder zu Hause an. Henrik hob die Kleine aus ihrem Kindersitz, verfrachtete sie dann in ihren Wagen und stellte die Tasche mit den Einkäufen in den Korb darunter. So fuhren sie die letzten Meter bis zu ihrer Haustür. Unterdessen war das Wetter erheblich schlechter geworden. Ein eisig kalter Wind fegte durch die Straßen und wirbelte das heruntergefallene Laub der Bäume auf. Vor ihnen ging eine Frau, eine kleine dünne Frau, die offensichtlich Mühe hatte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Leicht schwankend blieb sie jetzt erschöpft vor der großen hohen Hauseingangstür stehen, von der man sowohl das Vorderhaus als auch das Hinterhaus erreichen konnte. Sie suchte in ihrer Handtasche offenbar nach dem Schlüssel, konnte ihn aber nicht finden.

Typisch Frau, dachte Henrik. Laut sagte er jedoch, nachdem er sie forschend gemustert hatte: »Ist Ihnen nicht gut?«

»Doch, es geht mir gut«, erwiderte sie mit matter Stimme. »Ich habe nur einen langen Arbeitstag hinter mir und bin sehr müde.«

Dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, verschwieg sie.

Natürlich gab es auch Menschen, die am Samstag arbeiten mussten. Henrik verkniff sich daher eine diesbezügliche Äußerung, außerdem hatte er die Frau inzwischen erkannt. So weit er wusste, hatte sie eine der Wohnungen im Hinterhaus gemietet und lebte dort mutterseelenallein. Und sie hieß Gitta Wenzel.

Weil sie noch immer nach ihrem Schlüssel suchte und diesen nicht fand, schloss er die Tür auf, schob seinen Arm unter den ihren und gleichzeitig den Kinderwagen. So gelangten sie in den breiten Gang, der die Verbindung vom Vorderhaus zum Hinterhaus darstellte.

In diesem Augenblick knurrte Gittas Magen so laut, dass Renis Vater es nicht überhören konnte. Unwillkürlich fragte er: »Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen?«

Sie antwortete nicht, sondern taumelte in Richtung Hinterhof, fiel hin und blieb liegen.

Henrik folgte ihr erschrocken, kniete neben ihr nieder und stellte fest, dass sie zwar nicht ohnmächtig, aber wohl doch am Ende ihrer Kräfte war.

Sie versuchte aufzustehen, was ihr mit seiner Hilfe dann auch gelang. Und sie schüttelte den Kopf, als er vorsichtig fragte: »Haben Sie jemanden, der sich jetzt um Sie kümmert?«

»Dann kommen Sie erst einmal mit zu mir«, bestimmte er nachdrücklich. »Ich heiße Henrik Hollstein und wohne hier schon seit Jahren. Sie brauchen keine Angst zu haben.«

»Aber – das geht doch – nicht«, flüsterte sie, worauf er ihren Arm nahm und sie zu seiner Wohnungstür führte.

Dabei sagte er aufmunternd: »Doch, es geht. Und nun zieren Sie sich nicht länger. Meine Tochter wird nämlich allmählich ungeduldig, und Sie brauchen ein bisschen Pflege.«

Kurz darauf befanden sie sich in seinem Wohnzimmer, wo Gitta sich auf die Couch setzen konnte. Er selbst hatte Reni inzwischen aus dem Kinderwagen genommen und befreite sie von Anorak, Mütze, Handschuhen und Stiefelchen. Dabei krähte die Kleine vergnügt. Sie war auch zufrieden, als er sie in das Laufgitter setzte und ihr einen Zwieback in die Patschhand drückte.

»So, nun sind Sie dran«, sagte er danach zu Gitta. »Möchten Sie Tee oder Kaffee und vielleicht auch ein belegtes Brötchen?«

»Nein, nichts dergleichen. Höchstens ein Glas Wasser und einen Zwieback.«

»Etwas Warmes wäre aber besser. Das sagt meine Oma auch immer.«

»Nein, das andere reicht schon«, wehrte sie leise ab. »Außerdem wird Ihre Frau nicht erfreut sein, wenn sie mich hier sieht.«

»Ich habe keine Frau mehr, wir leben getrennt und werden uns bald scheiden lassen«, gab er in nüchternem Ton zurück.

»Und die Kleine?«

»Die wird bei mir bleiben. Also, was soll ich kochen?«

»Wenn Sie Kräutertee haben …«

»Habe ich.« Henrik hatte Gitta inzwischen mit einer warmen Decke versorgt und ging anschließend zur Küche, wo er eine Kanne Tee aufbrühte, die gerade erst gekauften Brötchen mit Butter bestrich und mit Aufschnitt belegte.

Die junge Frau machte sich unterdessen heftige Vorwürfe. Um schnell zu etwas mehr Geld zu kommen, damit sie sich endlich Wohnzimmermöbel kaufen konnte, hatte sie einen Nebenjob angenommen, putzte nun an jedem Samstag die Wohnungen von zwei alten und ziemlich mäkligen Damen und hielt ihren übrigen Lebensunterhalt sowie die Heizung in ihrer Wohnung auf Sparflamme.

Die Quittung für diesen körperlichen Raubbau hatte sie heute bekommen. Bei diesen Gedanken liefen ihr die Tränen über die Wangen.

»So, nun essen und trinken Sie erst einmal etwas.« Henrik schien ihre verweinten Augen nicht zu sehen. Er stellte das Tablett mit Tee und Imbiss auf den Tisch und setzte dann erklärend hinzu: »Ich bin in der Küche und versorge meine Tochter. Wenn Sie etwas brauchen sollten, müssen Sie rufen.«

Sie nickte nur, trank dann in kleinen Schlucken die Tasse Tee zur Hälfte leer und aß ein Brötchen ganz langsam auf. Ach, war das gut. Und warm war es hier auch.

Sie schloss die Augen und dachte noch: Nur für eine kleine Weile, dann sank sie zur Seite.

Als Henrik zwanzig Minuten später nach ihr sah, schlief sie so fest, dass sie ihn gar nicht hörte. Sie bemerkte auch nicht, dass er die Decke über sie breitete, das Tablett nahm und anschließend den Raum wieder verließ.

*

Als sie erwachte, war es bereits nach zwanzig Uhr. Verstört blickte sie um sich, sah im Schein einer kleinen Wandleuchte eine fremde Umgebung und begriff erst allmählich, dass sie gar nicht zu Hause war, sondern bei einem Mann, der Henrik Hollstein hieß und ein kleines Kind hatte. Er schien nett und fürsorglich zu sein, hatte nicht viel gefragt, sondern ihr einfach nur geholfen.

Doch wo war er jetzt?

Sie erhob sich und folgte dem Lichtschein, der sie zur Küche führte. Und dort stand er am Tisch, faltete Wäsche zusammen und legte diese in eine Plastikwanne.

»Es geht mir wieder besser«, begann sie zaghaft, während sie in der geöffneten Tür stehen blieb. »Vielen Dank, Herr Hollstein, dass Sie mir geholfen haben. Ich werde mich gern revanchieren, falls Sie mal Hilfe brauchen sollten.«

Er lächelte nachsichtig. Diese kleine magere Frau hatte mit sich selbst zu tun, aber direkt abweisen wollte er sie auch nicht. Und deshalb antwortete er: »Es könnte schon mal passieren, dass ich jemanden brauche. Ein alleinstehender Vater hat es auch nicht so leicht.«

»Nein, bestimmt nicht.« Sie ging zur Garderobe, wo ihre Jacke hing und ihre Schuhe standen, zog sich an, nahm ihre Handtasche, wünschte ihm noch einen schönen Abend und wandte sich zur Tür.

»Warten Sie, ich bringe Sie nach Hause.« Er warf sich eine Jacke über, während sie protestierte: »Ich kann doch allein gehen, bleiben Sie lieber bei Ihrem Kind.«

»Reni schläft schon längst und wird mich in diesen paar Minuten nicht vermissen.«

Gitta sagte nun nichts mehr. Sie ließ sich von ihm bis zu ihrer Wohnungstür bringen und bedankte sich erneut.

»Schon gut«, erwiderte er und dachte: Vielleicht brauche ich sie wirklich einmal, auch wenn ich mir das jetzt noch nicht vorstellen kann.

Und sie fragte sich, warum die Eltern des kleinen Mädchens sich wohl getrennt hatten – und warum das Kind nicht bei der Mutter aufwuchs.

*

In der Vorweihnachtszeit hatte Gitta zumindest so viel Geld beisammen, dass sie ihren Nebenjob wieder aufgeben und sich Couch und Sessel sowie einen dazu passenden Tisch kaufen konnte. Es gab ja auch preiswerte Modelle. Mit vor Freude geröteten Wangen verfolgte sie zuerst die Arbeit der Möbelträger und machte sich anschließend auf den Weg, um sich, was sehr selten vorkam, etwas Kuchen zu kaufen.

Unterwegs traf sie Henrik Hollstein, der offenbar auch zum Bäcker gehen wollte. Seine Tochter im Wagen vor sich her schiebend, grüßte er die Nachbarin und stellte dann lächelnd fest: »Sie haben sich gut erholt. Das freut mich.«

»Ja, es geht mir schon viel besser. Ich muss samstags nun nicht mehr arbeiten. Das war wohl doch zu viel für mich. Und heute habe ich endlich meine – neuen – Wohnzimmermöbel bekommen. Das ist ein Grund zum Feiern. Möchten Sie vielleicht mitkommen und bei mir Kaffee trinken? Ich habe auch Milch für die Kleine.«

Er lächelte und fragte sein Kind: »Na, Reni, was meinst du, wollen wir die Tante besuchen?«

Die Kleine gab ein paar unverständliche Laute von sich, und da sie inzwischen vor dem Backwarenladen angekommen waren, kaufte Gitta Kuchen und Brot, Henrik ungefähr das gleiche.

»Es ist hier bei mir noch nicht alles so, wie es sein soll«, entschuldigte sich Gitta ein wenig verlegen, nachdem sie bei Kaffee und Kuchen saßen. »Ich hatte noch nie einen eigenen Haushalt und muss mir noch viel besorgen.«

Henrik, der seine Tochter auf dem Schoß zu sitzen hatte, schaute sie daraufhin so erstaunt an, dass sie in bitterem Tonfall hinzufügte: »Das wundert Sie, nicht wahr? Ich bin Ende zwanzig, verdiene mein Geld und habe es dennoch bisher nicht geschafft, mir Möbel zu kaufen.«

»Sie haben sicher noch bei Ihren Eltern gewohnt.«

»Nein, bei meinem Freund. Er war lange krank, und ich habe für ihn gesorgt und ihn gepflegt, bis er dann …«

Als sie nicht weitersprach, vollendete er teilnahmsvoll: »Und dann ist er gestorben.«

»Aber nein. Als er wieder gesund war, hat er mich gebeten, möglichst schnell auszuziehen, weil er eine andere kennengelernt hat, die er nun für immer und alle Zeit lieben würde. Doch das ist nun schon eine Weile her, und ich habe mich damit abgefunden.«

»Dann sind wir ja Leidensgenossen«, erwiderte er verhalten. »Ich habe auch versucht, meiner Frau das Leben an meiner Seite leicht zu machen. Aber das hat ihr nicht gereicht. Familie ist nichts für sie. Eines Tages war sie weg. Da war Reni erst ein paar Monate alt.«

»Und es hat ihr nichts ausgemacht, ihr Kind zu verlassen?«

»Nein, anscheinend nicht. Sie wollte auch nie ein Kind, was ich allerdings nicht besonders ernst genommen habe. Ich dachte, sie ändert sich, wenn das Kleine erst da ist –, und wird es dann auch lieb haben. Aber so war es leider nicht.«

»Vielleicht haben wir es zu gut gemeint.«

»Ja, vielleicht«, bestätigte Henrik und fragte dann: »Darf ich Reni auf den Teppich setzen? Ich glaube, sie möchte sich ein bisschen bewegen.«

»Ja, tun Sie das nur. Sonst wird ihr noch langweilig.«

Er stellte die Kleine nun auf ihre noch ziemlich wackligen Beine, Reni tat an seinen Händen ein paar Schritte und erkundete anschließend auf allen vieren die ungewohnte Umgebung. Damit war sie eine Weile vollauf beschäftigt, bis sie zu Gitta krabbelte und sich an ihrem Hosenbein hochzog. Dabei quietschte sie vergnügt.

»Darf ich sie mal nehmen?« Die junge Frau schaute Henrik bittend an.

»Sie können es ja versuchen. Reni hat so ihre Eigenheiten und geht nicht zu jedem. Aber sie scheint Sie zu mögen.« Er wies lachend auf sein Töchterchen, das jetzt seinen Kopf an die Brust der Tante legte und überaus zufrieden aussah.

»Ja, ich glaube, wir werden noch gute Freunde.« Gitta sah lächelnd auf die Kleine, und Henrik dachte: Sie ist nicht so hübsch wie Evelin, ist aber viel mütterlicher und fürsorglicher. Na, mal sehen, was draus wird. Vielleicht sehen wir uns von nun an öfter.

Und da Gitta Wenzel ähnliche Gedanken hegte, kamen sie sich tatsächlich langsam näher, duzten sich irgendwann und waren doch zurückhaltend. Beide fürchteten sich vor einer erneuten Enttäuschung.

*

Gitta verbrachte Weihnachten, Silvester und Neujahr bei ihren Eltern – und wäre doch am liebsten bereits nach zwei Tagen wieder nach Hause gefahren, dorthin, wo ein einsamer Mann mit einem kleinen Mädchen vielleicht auf sie wartete. Aber sie wollte sich nicht aufdrängen. Und vielleicht versöhnte sich Henrik Hollstein auch wieder mit seiner Ehefrau, vielleicht hatte diese doch Sehnsucht nach ihrem Kind.

An beides war selbstverständlich gar nicht zu denken. Evelin schickte lediglich ein Päckchen mit den üblichen Weihnachts- und Neujahrsgrüßen und einem Strickanzug, der Reni schon viel zu klein war. Henrik schüttelte darüber nur verärgert den Kopf und schenkte den Babyanzug einer alleinerziehenden Mutter, die ein vier Monate altes Kind hatte.

Er holte die Oma für ein paar Tage zu sich, die ihm das Kochen abnahm und Plätzchen gebacken hatte. Er selbst hatte – mit Renis ›Hilfe‹ – den Tannenbaum geschmückt und fühlte sich alles in allem recht wohl. Seine Frau vermisste er nicht mehr, wohl aber Gitta Wenzel. Irgendwie hatte sie sich mit ihrer stillen und bescheidenen Art in sein Herz und das seiner Tochter geschlichen.

Am zweiten Januar beendete die Oma ihren Besuch, um sich, wie Henrik mit gutmütigem Spott erklärte, ihrer verwöhnten Katze zu widmen, die während der Feiertage von einer Nachbarin betreut worden war.

Nachdem er die Großmutter zu ihrer Wohnung gebracht hatte, spürte er die Einsamkeit wie etwas Bedrückendes, bis Gitta sich einen Tag später telefonisch meldete und ihnen ein schönes neues Jahr wünschte. Und dann sagte sie noch, dass sie wieder daheim wäre.

»Wir wünschen dir auch alles Gute für das neue Jahr«, antwortete Henrik erfreut. »Magst du vielleicht herkommen, mit Reni ein bisschen schmusen und mit mir ein Glas Glühwein trinken?«

»Ja, gern«, entgegnete sie und versprach, in wenigen Minuten bei ihnen vor der Tür zu stehen.

Und als sie schließlich vor ihm stand, mit Schneeflocken im braunen Haar und strahlenden Augen, fand er sie niedlicher als je zuvor, legte einen Arm um ihre Schultern, drückte sie kurz an sich und küsste sie auf die Wange.

»Was hast du denn da?«, erkundigte er sich anschließend und deutete auf den kleinen, mit buntem Papier eingepackten und mit roter Schleife versehenen Karton, den sie in der Hand hielt.

»Da ist etwas für Reni zum Spielen drin.«

»Du sollst uns doch nichts schenken.«

»Es ist ja auch nicht viel.« Gitta hatte unterdessen mit Henrik zusammen das Wohnzimmer betreten, wo die Kleine in ihrem Laufgitter saß und an einem abwaschbaren Bilderbuch knabberte. Beim Anblick der Tante stand sie sofort auf und wollte auf den Arm genommen werden.

Gitta tat ihr den Gefallen und setzte sich mit ihr auf die Couch, wo Reni dann die Schachtel auspacken durfte. Die bunte Raupe aus Stoff schien ihr zu gefallen. Sie plapperte jedenfalls aufgeregt. Und da sie bereits laufen konnte, stolzierte sie mit dem Spielzeug in der Hand im Zimmer herum und setzte sich schließlich auf den Teppich, um es genauer zu untersuchen.

Henrik hatte inzwischen Glühwein gekocht und diesen in zwei Gläser gefüllt. Und während das Kind mit der Raupe spielte, saßen die Erwachsenen beieinander, tranken den Wein und meinten bei sich, dass es schon lange nicht mehr so harmonisch in ihrem Leben gewesen war. Es war fast so, als würden sie zusammengehören.

Die kleine Irene schien jedenfalls dieser Meinung zu sein. Für sie war Gitta Wenzel der Ersatz für die Mutter. Das erste Wort, das sie sprach, war zwar ›Papa‹, das zweite jedoch ›Itta‹. Und damit meinte sie die Tante, die sie mitunter von der Kindertagesstätte abholte, sie fütterte und neu windelte, die mit ihr spielte und immer da war, wenn der Papa keine Zeit für sein Kind hatte.

So vergingen die nächsten Monate. Henrik wurde während dieser Zeit von seiner Frau geschieden. Bei der Gelegenheit besuchte sie ihn und das Kind für einige Stunden, um alles Notwendige zu besprechen, und überließ ihm großzügig die Möbel, den Hausrat und das Kind sowieso.

Und damit war dieses Kapitel seines Lebens wohl als beendet anzusehen. Er selbst wusste nicht, ob er aufatmen oder sich Vorwürfe machen sollte. Vielleicht hätte er um seine Frau kämpfen sollen. Sie hatten ja auch gute Zeiten miteinander erlebt. Aber sie wollte ihn wohl nicht mehr.

*

»Wir machen wie in jedem Jahr eine große Ausstellung mit Orchideen, Kakteen und anderen tropischen und subtropischen Gewächsen. Da muss ich am kommenden Wochenende arbeiten …« Henrik, der an diesem Abend mit Gitta auf dem Balkon seiner Wohnung saß, vollendete den Satz nicht, sah sie nur treuherzig und bittend zugleich an.

Sie es war, die nun ergänzend feststellte: »Du hast niemanden, der sich um Reni kümmert, nicht wahr?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Meine Oma ist zu alt, um den kleinen Wirbelwind so lange betreuen zu können. Sie ist dieser Verantwortung nicht mehr gewachsen. Könntest du vielleicht …?«

»Ja, ich könnte schon, befürchte aber, dass sich die Kleine zu sehr an mich gewöhnt.«

»Das ist doch schon längst passiert«, widersprach er ziemlich gereizt. »Nimmst du sie nun oder nicht?«

Er war nervös und dachte an seine Arbeit, die er so gut wie möglich machen wollte, was Gitta gut verstehen konnte.

»Natürlich nehme ich sie, das mache ich doch immer, wenn ich nicht anderweitig gebraucht werde.«

»Na, Gott sei Dank. Ich dachte schon, ich müsste mir woanders einen Babysitter suchen.«

Babysitter?? Etwas anderes war sie offenbar nicht für ihn und würde es wohl auch niemals sein. Nun, sie war ja auch nicht so attraktiv wie seine Ex-Frau, die sie kurz nach seiner Scheidung einmal gesehen hatte. Es war verständlich, dass er ihr noch immer nachtrauerte, auch wenn er nie über sie sprach. Sicher war er enttäuscht, dass sie keine Liebe für ihn und das Kind empfinden konnte, aber er sehnte sich bestimmt noch nach ihr und war daher für keine neue Beziehung bereit, schon gar nicht mit ihr, einer flachbrüstigen und eher unscheinbaren Frau. Es wurde wohl allmählich Zeit, dass sie ging, dass sie sich in einer anderen Stadt eine Stellung suchte und fortzog. Eine andere Stellung?

Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Eine andere Stellung würde nur schwer zu bekommen sein, eine andere Wohnung schon eher.

Aber konnte sie Reni das antun? Die Kleine hatte schon keine Mutter, sollte sie da auch noch die Frau verlieren, die ihr ein wenig mütterliche Wärme gab? Und würde sie selbst es verkraften, Henrik und die Kleine nicht mehr zu sehen?

»Du sagst ja gar nichts mehr.« Henrik blickte sie forschend an. »Ist irgendetwas?«

»Nein, nein«, wehrte sie hastig ab. »Ich überlege gerade, was ich meinem Vater zum Geburtstag schenken kann. Er behauptet ja immer, bereits alles zu haben. Ich glaube, ich muss mich mit Mutti beraten. Und daher werde ich jetzt gehen, damit ich noch heute mit ihr telefonieren kann.«

Gitta stand auf, wünschte ihm einen schönen Abend und sagte dann nur noch: »Du kannst mir Reni dann am Samstag früh herbringen.«

Als sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, ließ sie Henrik verärgert und ein wenig verwirrt zurück. Und er fragte sich, ob er etwas falsch gemacht hatte. Mit der Mutter telefonieren zu müssen, war doch nur eine Ausrede gewesen. Doch so viel er auch nachdachte, er kam nicht darauf.

Ich werde sie fragen, nahm er sich vor, vergaß es dann aber doch. Das Gelingen der Ausstellung erforderte seine ganze Aufmerksamkeit. Er brauchte auch nicht an seine Tochter zu denken, die war ja bei seiner Nachbarin gut aufgehoben.

Am Sonntagabend kam er geschafft, aber sehr zufrieden nach Hause, brachte Wein und Pralinen mit, für einen schönen gemeinsamen Abend. Doch Gitta drückte ihm nur die Kleine samt Windeltasche in den Arm und behauptete, mit ihrer Freundin verabredet zu sein.

Und da er nicht einmal vor sich selbst zugeben wollte, sich auf das Zusammensein mit ihr gefreut zu haben, nickte er nur, bedankte sich mit recht förmlichen Worten und verließ dann mit Reni ihre Wohnung. Was hätte er denn sonst tun können?

Und da aus dem Abend zu zweit nun nichts mehr wurde, kümmerte er sich nur noch um seine Tochter, fütterte und badete sie und brachte sie anschließend zu Bett. Ihm selbst war jeglicher Appetit vergangen. Er setzte sich daher nur noch mit einem Bier vor den Fernseher und schlief dort schließlich ein.

*

Am nächsten Tag hatte er frei, brachte Reni aber doch für einige Stunden zur Tagesstätte, um den längst fälligen Frühjahrsputz zu machen. Er saugte Staub, räumte auf, putzte die Fenster und kaufte im Supermarkt ein. Auf dem Parkplatz begegnete er Gitta, die gerade ihre Tasche in den Fahrradkorb gepackt hatte.

»Na, war es gestern schön bei deiner Freundin?«, erkundigte er sich mit leicht vorwurfsvollem Unterton, den sie jedoch nicht bemerkte oder bemerken wollte.

»Sehr schön. Wir haben uns ziemlich lange nicht gesehen und hatten uns viel zu erzählen.«

»Ach, die Freundin wohnt wohl nicht hier?«

»Doch, sie hat aber beruflich viel um die Ohren, sodass wir uns nur selten sehen können. Gestern wollte sie mich aber unbedingt zum Essen einladen. Doch nun muss ich los, habe noch einen Termin beim Arzt.« Gitta lächelte scheinbar unbekümmert, setzte sich auf ihr Fahrrad und gab Henrik somit keine Gelegenheit zu einer Antwort.

Der sah ihr einige Sekunden verdattert nach. Irgendetwas war falsch. Aber was?

Nachdenklich und verunsichert fuhr er zuerst zur Tagesstätte, wo er seine kleine Püppi abholte, und danach nach Hause, um sich seinen üblichen Tätigkeiten als alleinstehender Mann und Vater zu widmen.

Reni krabbelte derweil auf dem Teppich herum, spielte in der Küche mit Plastikschüsseln und fragte dabei mehrmals weinerlich nach ihrer Itta.

»Die Tante Itta kann heute nicht kommen.« Henrik strich der Kleinen tröstend über das Haar. »Die Tante hat etwas anderes vor. Ich glaube jedoch allmählich, wir sind auf die Dauer zu anstrengend für sie.«

Das Kind war da ganz anderer Ansicht, es begann empört zu weinen und ließ sich nur schwer beruhigen. Es wollte auch trotz Zuredens nicht essen und trinken. Wahrscheinlich spürte es den Frust und die Ratlosigkeit seines Vaters.

Dieser wusste sich schließlich nicht anders zu helfen, als bei Gitta anzurufen und sie zu bitten: »Ich kann mir denken, dass du gerade erst nach Hause gekommen bist, aber kannst du vielleicht doch mal kurz herüberkommen? Reni ist schon lange so unruhig, sie weint, verweigert die Nahrung und fragt ständig nach dir.«

Gitta sagte zunächst einmal gar nichts, Henrik glaubte lediglich, ein leises Seufzen zu hören und wollte sich schon in Erinnerung bringen, als sie in sachlichem Ton versprach: »Ich bin gleich da.«

Danach legte sie auf.

»Tante Itta kommt her. Nun beruhige dich, mein Mauselchen.« Er nahm sein immer noch schluchzendes Töchterchen auf den Arm und wiegte es hin und her, bis an der Wohnungstür geklingelt wurde.

»Ist sie krank?« Gitta hatte Henrik nur flüchtig begrüßt, nachdem er sie hereingebeten hatte. Ihr ging es jetzt nur um Reni, die sie nun forschend betrachtete.

»Nein, ich glaube nicht«, erwiderte der geplagte Vater. »Sie ist nur ziemlich bockig, will dies nicht und will das nicht. Ehrlich, ich weiß nicht mehr, was ich mit ihr machen soll. Ich kann sie doch nicht ohne Essen und Trinken zu Bett bringen.«

»Renimaus, was hast du denn?« Gitta nahm ihn die Kleine ab, die daraufhin sofort friedfertiger wurde und sogar ein bisschen lachte. »Wollen wir beide zusammen etwas essen? Oder Milch trinken?«

»Ja«, stimmte das Kind zögerlich zu und aß dann auch tatsächlich eine kleine Schnitte Weißbrot mit Butter, trank einen Becher Milch und verlangte anschließend kategorisch, dass die Itta sie ins Bett bringen sollte.

Nachdem das geschehen war, Stoffteddy und Bilderbuch neben ihr lagen, fielen ihr bald die Augen zu.

»Danke, dass du hergekommen bist.« Henrik legte einen Arm um Gittas Schultern und drückte sie kurz an sich, spürte ihre Abwehr und sagte geradeheraus: »Du bist sauer auf mich, weil ich dir die Kleine zwei Tage lang aufgebürdet habe. So hat deine Freundin wahrscheinlich auf dich warten müssen.«

»Ich bin nicht sauer, meine Freundin hat gewartet, aber da sie sich sehr kurzfristig angemeldet hatte, musste sie damit rechnen, dass ich nicht gleich abkömmlich bin.«

»Dann habe ich mir wohl bloß eingebildet, dass ich dich – überfordert – haben könnte.«

»So ist es.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr, tat erschrocken und rief: »Ich muss los, Elsie wollte noch mal anrufen. Schönen Abend noch, Henrik.«

Und schon war sie weg – und er wieder allein. Mitunter hatte er schon daran gedacht, aus ihrer Freundschaft mehr werden zu lassen. Schließlich gefiel sie ihm und war eine ausgezeichnete Betreuerin für Reni. Aber er war noch nicht so weit, um eine neue Beziehung einzugehen. Und sie vielleicht auch noch nicht.

*

Eine andere Wohnung, eine etwas größere und mit Balkon und Blick auf eine Grünanlage wäre schon wesentlich angenehmer als ihre jetzige sehr armselige Unterkunft. Und wenn sie nicht allzu teuer war, dann konnte sie sich eine solche Wohnung inzwischen auch leisten.

Gitta war an diesem Samstagnachmittag bereits damit beschäftigt, im Internet nach einer geeigneten Bleibe zu suchen, als Henrik plötzlich vor der Tür stand und darum bat, hereingelassen zu werden.

»Ist was mit der Kleinen?«, fragte sie hastig und besorgt, nachdem sie im Wohnzimmer Platz genommen hatten.

»Nein, es geht ihr gut. Oma ist da und macht zurzeit mit ihr einen Spaziergang und bringt dann auch Kuchen für eine schöne Kaffeestunde mit. Und dazu möchte ich dich sehr herzlich einladen.«

Sie wollte diese Einladung eigentlich nicht annehmen, tat es dann aber doch. Schließlich wollte sie weder Henrik noch seine Großmutter kränken, und sie wollte Reni wiedersehen. Die Kleine fehlte ihr.

Doch ehe sie etwas sagen konnte, hatte er ihre Bemühungen auf dem Computerbild entdeckt und fragte sofort: »Suchst du etwa eine andere Wohnung?«

»Nun ja«, gab sie zögernd zu. »Der ständige Blick auf die Mülltonnen ist nicht sehr angenehm, und einen Balkon habe ich auch nicht. Na, mal sehen, ob ich etwas Besseres finde.«

Sie erhob sich, schaltete den Computer aus und meinte dann lächelnd: »Wann gibt es denn bei dir Kaffee und Kuchen?«

»Du kannst gleich mitkommen«, erwiderte er mit plötzlich veränderter Stimme. »Dann kannst du mir noch ein bisschen von deinen Vorstellungen für eine neue Wohnung erzählen. Vielleicht kann ich dir bei der Suche ein wenig helfen.«

Er ist froh, wenn ich bald ausziehe, dachte sie betrübt. Vielleicht hat er sich mit Renis Mutter doch wieder vertragen oder hat längst eine andere. Ja, es wird wirklich Zeit, dass ich von hier verschwinde.

Sie will so schnell wie möglich weg, glaubte er, aus ihrer Miene lesen zu können. Und das ist ja auch kein Wunder. Wie oft hat sie schon den Babysitter spielen müssen.

Babysitter?? Sie war doch für Reni und für ihn viel mehr. Aber gesagt oder zu verstehen gegeben hatte er ihr das noch nie. Aber eines wusste er jetzt schon ganz genau, sie würde ihm fehlen. Aber musste sie denn überhaupt wegziehen? Sie konnte doch bleiben, in seiner Wohnung zum Beispiel. Dann war ihnen allen geholfen, und Reni hatte endlich eine Mutter.

Dieser plötzliche Einfall zauberte ein Lächeln in sein Gesicht und ließ ihn nicht nur an häusliche Harmonie, sondern auch an erotische Stunden zu zweit denken.

Unterdessen waren sie in seiner Wohnung angekommen, wo Henrik bereits den Kaffeetisch gedeckt hatte und sie nun bat, sich zu setzen.

»Gute und geräumige Wohnungen sind in unserer Stadt nicht gerade billig und etwas preiswertere schwer zu bekommen«, begann er dann wie nebenbei. »Andererseits kann ich dich gut verstehen. Mülltonnen und Hinterhof schlagen jedem irgendwann aufs Gemüt. Wir beide, Reni und ich, sind von deinem Entschluss allerdings nicht begeistert.«

»Ich helfe euch natürlich nach wie vor, ich bin ja nicht aus der Welt. Andererseits sollte Renis Bindung an mich nicht zu stark sein. Du wirst sicher irgendwann wieder heiraten. Und dann könnte es Probleme geben.«

»Heiraten …?«, antwortete er gedehnt. »Nach so einer Enttäuschung, wie ich sie hinter mir habe, will so ein Schritt gut überlegt sein.«

»Nun ja, man muss ja auch nicht heiraten.« Gitta lächelte gezwungen und wandte sich dann wieder dem Thema der Wohnungssuche zu.

Kurz darauf kamen die Oma und Reni zurück, die dann wirklich den Auftakt zu einer gemütlichen und lustigen Kaffeestunde gaben.

»Bleibst du noch zum Abendessen?«, erkundigte sich Henrik später, als er seine Großmutter wieder nach Hause gebracht und Gitta derweil mit der Kleinen gespielt hatte.

Sie schaute ihn verblüfft an. »Warum sollte ich?«

»Weil ich mich freuen würde, wenn du diesen Abend mit mir verbringst. Es ist nicht schön, immer so allein zu sein.«

»Hast du denn … niemanden?«

»Nein, das weißt du doch.«

»Das weiß ich nicht. Woher denn?«

Reni fühlte sich beim Gespräch der Erwachsenen vernachlässigt, sie klammerte sich an Gittas Hosenbein und protestierte so laut, dass Henrik auf eine Antwort verzichten musste.

»Ich glaube, sie ist müde«, erklärte er stattdessen. »Sie war heute schon ziemlich früh wach und hat über Mittag auch nicht lange geschlafen.«

»Soll ich dir helfen, sie zu füttern und anschließend zu Bett zu bringen?«

»Gern«, erwiderte er und lächelte ihr erleichtert zu.

Die kleine Irene wurde daraufhin recht vergnügt, aß ihr Abendbrot beinahe auf und ließ sich dann widerspruchslos in ihr Gitterbett verfrachten.

»Das Kind schläft, nun haben wir auch Zeit für uns«, stellte Henrik leise fest, nachdem sie das Kinderzimmer verlassen und die Küche betreten hatten.

»Komm, setz dich«, befahl er burschikos und jungenhaft. »Oma hat wundervollen Kartoffelsalat mitgebracht, ich habe noch Wiener Würstchen im Kühlschrank sowie einen lieblichen Weißwein. Das alles zusammen ist doch ein schönes Essen. Oder nicht?«

Er schaute sie so treuherzig an, dass sie nach kurzem Zögern zustimmend nickte und sich von ihm bedienen ließ. Nach dem Essen und dem gemeinsamen Abwaschen kam er auf ihre Umzugspläne zurück und bat sie, sich die Sache noch reiflich zu überlegen.

»Du kannst doch bei uns wohnen«, schlug er schließlich vor. »Platz ist genug, und, und …« Er stockte und wusste nicht mehr weiter.

»Und was?«

Ihre etwas atemlose Frage machte ihn mutiger. Er zog die auf dem Sofa neben ihm Sitzende dicht zu sich heran und küsste sie leicht auf die Wange.

»So meine ich das. Ich würde gern mehr als nur dein guter Freund sein, das heißt, ich möchte unser platonisches Verhältnis aufgeben. Wir könnten wie Mann und Frau und wie eine Familie zusammenleben.«

Sie sagte nichts, sah ihn nur erstaunt an und fragte sich, was er eigentlich ganz genau wollte.

»Du willst nicht?«, stieß er gekränkt hervor, als sie immer noch nichts zu sagen wusste.

Sie hätte ihm nun viel erklären können. Aber sie schwieg und brachte ihre Bedenken einfach nicht über die Lippen. Sie sollte zu ihm ziehen, was sicher räumlich und finanziell gesehen durchaus von Vorteil war. Aber er konnte sie dann auch, genauso wie Reinhard Wegener, einfach vor die Tür setzen, wenn er sich in eine andere Frau verliebte. Dann würde sie wieder auf der Straße stehen. Außerdem wusste sie nicht, ob sie auf die Dauer miteinander auskommen würden. Doch das würde sie nie erfahren, wenn sie seine Bitte jetzt ablehnte.

»Doch, ich möchte schon«, antwortete sie nach einer Weile. »Aber wir kennen uns noch zu wenig, um zusammenzuziehen. Vielleicht funktioniert es mit uns ja gar nicht. Deshalb möchte ich meine Wohnung vorläufig noch behalten. Ich würde mich daher mit den Mülltonnen noch eine Weile abfinden.«

»Und das heißt im Klartext?«

»Wir können mehr als gute Freunde sein, ich würde auch gelegentlich bei dir übernachten …« Weiter kam sie nicht, weil Henrik beide Arme um sie legte – und dann seinen Mund auf den ihren.

»Bleib doch heute Nacht schon hier«, raunte er ihr nach mehreren Küssen leidenschaftlich zu. »Du wirst sehen, es wird sehr schön werden.«

Sie antwortete nicht, lächelte ihm aber innig zu und strich ihm zärtlich über sein dichtes blondes Haar, was er als Zustimmung ansah und somit zu wesentlich intensiveren Liebkosungen überging. Dabei vergaßen sie (zumindest vorübergehend) ihre ehemaligen Partner.

*

War sie nun in ihrer Beziehung zu Henrik Hollstein glücklich oder nicht? Gitta hätte es nicht sagen können, auch wenn inzwischen mehr als zwei Jahre vergangen waren, seitdem sie mit Henrik und seiner Tochter zusammenlebte. Aber sie fühlte, dass sie gebraucht wurde, vor allem von Reni, die mit jedem Tag niedlicher und aufgeweckter wurde. Es war so schön, ein Kind zu haben. Leider war es nicht das ihre.

Die Kleine bemerkte den Unterschied sicher nicht. Für sie war sie weiterhin die ›Itta‹. Und das klang beinahe so, als würde sie ›Mama‹ sagen.

Amalie Hollstein freute sich über das neue Glück ihres Enkels und vor allem darüber, dass die kleine Urenkelin endlich eine richtige Mutter hatte.

Die andere, die nun endlich ihr berufliches Ziel erreicht hatte und mehr oder weniger aufmerksamen Studenten die Bedingungen und Funktionen von Betrieben, vom Handel und der Kreditwirtschaft anschaulich erklären durfte und dafür ein entsprechendes Gehalt bekam, hatte ihr Kind noch nicht wiedergesehen. Aber sie zahlte jetzt zumindest regelmäßig die Alimente und vergaß auch den Geburtstag ihres Kindes sowie die üblichen Geschenke zu Weihnachten und Ostern nicht.

Henrik vermutete allerdings, dass die Sekretärin der Frau Doktor für diese Pünktlichkeit verantwortlich war. Nun, ihm konnte es egal sein. Sein Leben war wieder in Ordnung, sein Kind meist gesund und die Oma zufrieden.

Ich sollte Gitta einen Heiratsantrag machen, sagte er sich mitunter, konnte sich aber doch nicht dazu durchringen. Und schließlich und endlich ging es ja sehr gut auch ohne Trauschein.

An Evelin dachte er nur selten und war davon überzeugt, dass seine Liebe zu ihr wirklich Schnee von gestern war. Und er bildete sich ein, sie nicht einmal mehr zu begehren.

Ob er Gitta liebte, wusste er nicht. Aber er schätzte sie, ihre Zuverlässigkeit, ihren Humor sowie die Gabe der Gelassenheit in schwierigen Situationen und ihre Liebe zu seinem Kind.

Über ihre Beziehung zu Reinhard Wagner wusste er nur wenig. Sie sprach nicht gern darüber und schien diesen Mann aus ihrem Leben gestrichen zu haben.

Henrik fragte daher nicht und sagte sich, dass ihn dieser Kerl nichts angehen und dass er ihn niemals kennenlernen würde.

Und Gitta war davon überzeugt, dass er mit seiner großen Liebe nun dauerhaft glücklich sei und keine Sehnsucht nach seiner damaligen ›Betreuerin‹ habe.

Das war ein Irrtum!

*

Vor einer Woche hatten sie Renis vierten Geburtstag gefeiert. Sie, das waren natürlich nur Gitta, Henrik, seine Großmutter und das Geburtstagskind selbst. Andere Verwandte waren nun einmal nicht vorhanden, wenn man von der leiblichen Mutter und deren Eltern absah. Diese ließen so gut wie nichts von sich hören und sehen, hatten jedoch eine größere Summe als Geburtstags- und Weihnachtsgeschenk überwiesen. Nun ja, warum auch nicht?

Henrik hatte nachsichtig gelächelt und sich vorgenommen, seine kleine Püppi neu einzukleiden. Sie war aus vielem ohnehin schon herausgewachsen.

An ihr kleines Pflegekind dachte Gitta auch an diesem Nachmittag, als sie von der Arbeit nach Hause gekommen war. Ihr offizielles Zuhause war immer noch die armselige Wohnung auf dem Hinterhof, von der sie das größte Zimmer an eine sehr strebsame Studentin weitervermietet hatte. Sie hörte und sah nicht viel von ihr.

Heute jedoch rief die junge Frau bei ihr an und erklärte nach kurzem Gruß: »Da ist ein Mann, der Sie sprechen möchte, Frau Wenzel.«

»Und wie heißt dieser Mann?«

»Das hat er nicht gesagt.«

»Dann fragen Sie ihn.«

Gitta wartete und vernahm dann: »Er heißt Reinhard Wagner und ist wohl ein alter Freund von Ihnen.«

»Er ist nicht mein Freund. Und ich sehe keine Veranlassung, mit ihm zu reden. Schicken Sie ihn weg.«

Die Studentin versprach, den ungebetenen Besucher vor die Tür zu setzen, während Gitta erleichtert aufatmete. Sie hatte wirklich kein Bedürfnis, ihren ehemaligen Freund wiederzusehen.

Dieser war da ganz anderer Ansicht, meinte wohl, sie müsste sich freuen –, und klingelte dann an Henriks Wohnungstür.

»Deine Untermieterin hat mir gesagt, dass ich dich hier finde«, begann er unverfroren, als sie vor ihm stand, und verschwieg, dass er die junge Frau mit seinen Fragen so lange genervt hatte, bis sie ihm verraten hatte, wo Gitta eigentlich wohnte.

»Ja, so ist es«, gab sie knapp zurück.

»Henrik Hollstein?« Er wies auf das Türschild. »Ist das dein Neuer?«

»Mein Großvater ist er nicht. So, und nun kannst du wieder gehen.«

So kaltschnäuzig von ihr abgefertigt zu werden, verschlug dem smarten Reinhard zunächst einmal die Sprache. Er schaute sie verdattert an, fing sich aber gleich wieder, lachte gekünstelt und erklärte in gönnerhaftem Ton: »Du bist also noch eingeschnappt wegen damals. Ich kann das schon verstehen, andererseits kann niemand etwas dafür, wenn ihn die große Liebe erwischt.«

»Und warum bist du jetzt nicht bei deiner großen Liebe?«

»Weil ich hier dienstlich zu tun hatte«, entgegnete er scheinbar unbekümmert. »Und weil ich nun schon mal hier bin, habe ich bei dir im Büro angerufen. Du hättest schon Feierabend, hat deine Chefin mir gesagt, und wo du jetzt wohnst. Aber sag mal, willst du mich gar nicht reinlassen?«

»Nein, ich will dich nicht hereinlassen. Es ist ja nicht meine Wohnung. Und meine habe ich vermietet, wie du schon bemerkt hast. Ich stehe also im Prinzip genauso auf der Straße wie damals, als du mich hinausgeworfen hast.«

»Du bist von allein gegangen, weil du mit einem wie mir nicht mehr unter einem Dach leben wolltest«, belehrte er sie in spöttischem Tonfall. »Doch das ist schon lange her. Ich habe angenommen, du hättest mir inzwischen verziehen.«

»Natürlich habe ich dir verziehen. Einem Egoisten verzeiht man gern, wenn man ihn endlich los ist. Schönen Abend noch.« Sie knallte ihm die Tür vor der Nase zu.

In diesem Augenblick kam Henrik mit Reni auf dem Arm die Treppe herauf. Er stutzte, als er den ihm unbekannten Mann vor der Wohnungstür stehen sah, und fragte unwillkürlich: »Suchen Sie jemanden?«

»Frau … Wenzel«, stammelte Reinhard Wagner geistesgegenwärtig. »Ich kenne sie schon lange und wollte etwas mit ihr besprechen, aber sie will nicht.«

»Dann wird sie sicher auch einen Grund dafür haben.« Henrik musterte den elegant gekleideten und gut aussehenden jungen Mann kühl und schloss dann die Wohnungstür auf, ohne sich noch weiter um den ungebetenen Gast zu kümmern.

Dieser ging verärgert in Richtung Ausgang. Nach einem erneuten und handfesten Krach mit seiner resoluten Frau hatte er sich an Gittas Fürsorge und sein bequemes Leben an ihrer Seite erinnert, hatte ein paar Tage Urlaub genommen und war einfach abgereist, um eine alte Liebe aufzuwärmen. Dass diese mit einem anderen Mann zusammenleben könnte, hatte er jedoch nicht bedacht, sondern war davon ausgegangen, dass sie ihn nach ein paar schönen Worten vorübergehend bei sich aufnehmen würde.

Sollte er nun sofort wieder heimfahren?

Nein, nur das nicht! Zänkisch und nachtragend, wie Monika nun einmal war, war das keine gute Lösung. Also nahm er sich ein Zimmer in einer billigen Pension, aß dort zu Abend, legte sich anschließend auf das Bett und dachte lange nach. Schließlich sollte ja nichts, was er sich so sorgsam ausgetüftelt hatte, umsonst gewesen sein. Aber so viel er auch grübelte, es fiel ihm nur noch ein, am anderen Morgen reumütig zu seiner Frau zurückzukehren.

*

Henrik hatte Gitta nicht nach dem Mann vor der Tür gefragt und war davon ausgegangen, sie würde ihm von ihrem alten Bekannten berichten, wenn sie die Kleine versorgt und zu Bett gebracht hatten. Doch sie erwähnte ihn nicht, saß mit ihm später vor dem Fernseher und schien sich auf die Nachrichten zu konzentrieren. Da hielt er es nicht mehr aus und fragte schroff: »Du hattest heute Besuch. Warum erzählst du mir das nicht?«

»Weil es nicht wichtig ist.«

»Und wer war der Mann?«

Er ist ja eifersüchtig, dachte sie erfreut, tat aber so, als würde sie seinen Unmut nicht bemerken, und antwortete gelassen: »Er heißt Reinhard Wagner und ist derjenige, der mich jahrelang nur ausgenutzt hat.«

»Und was wollte er?«

»Wahrscheinlich wollte er sich bei mir wieder einkratzen. Er hat nämlich von vergessen und verzeihen gefaselt und wohl gehofft, ich lade ihn zum Abendessen ein.«

»Er sieht gut aus.«

»Ja, er sieht gut aus«, bestätigte sie. »Und das weiß er auch ganz genau. Deshalb bin ich ja auch auf ihn hereingefallen. Aber gutes Aussehen ist eben nicht alles. Es macht aus einem untreuen Schmarotzer noch lange keinen liebenswerten Mann.«

Henrik nickte zustimmend und dachte an seine Ex-Frau, mit der er anfangs sehr glücklich gewesen war und die sich im Laufe der Jahre so negativ verändert hatte, die an ihr Kind fast gar nicht dachte und kein Interesse an dessen Gesundheit und Entwicklung zeigte. Nur gut, dass Reni von Gitta so liebevoll betreut wurde und somit ihre leibliche Mutter nicht vermisste.

Gitta sollte auch in Wirklichkeit ihre Mutter sein, ging es ihm blitzartig durch den Kopf. Ich sollte sie heiraten, damit wir eine Familie sind. Und vielleicht bekommen wir dann noch ein Kind.

Diese plötzliche Idee gefiel ihm außerordentlich, er gestand sich aber gleichzeitig ein, dass der Besuch von Reinhard Wagner ihn erst auf diesen Gedanken gebracht hatte. Oder die Angst, Gitta könnte sich ihrem ehemaligen Partner wieder zuwenden und ihn und das Kind verlassen.

»Dann vergiss ihn möglichst bald«, sagte er nach diesen Überlegungen. »Du hast doch jetzt uns.«

Sie schaute ihn prüfend an und fragte zweifelnd: »Habe ich das wirklich?«

Seine Hand umschloss die ihre ganz fest, als er sehr ernst entgegnete: »Ja, das hast du. Du bist doch schon längst meine Frau und Renis Mama. Wir sollten es offiziell machen. Was meinst du dazu?«

»Ich verstehe dich jetzt nicht.«

Er räusperte sich und erwiderte dann: »Ich habe jetzt keine Blumen für dich und werde auch nicht vor dir auf die Knie sinken, ich bitte dich nur, meine Frau zu werden.«

Liebst du mich?, hätte sie am liebsten gefragt, ließ es aber. Er sprach zwar nur sehr selten über seine ehemalige Frau, aber sie bezweifelte dennoch, dass sie ihm vollkommen gleichgültig geworden war. Er wollte wahrscheinlich nur eine Mutter für sein Kind sowie häusliche Ordnung und Bequemlichkeit.

»Du sagst ja gar nichts«, stellte er enttäuscht fest. »Willst du mich nicht? Oder stört es dich, dass ich ein Kind habe?«

»Wäre ich dann hier bei euch?«, hielt sie dagegen. »Nein, das ist es nicht.«

»Was denn?«

»Ich befürchte nur, dass du diesen Schritt irgendwann einmal bereuen wirst. Vielleicht kommt deine Evelin eines Tages zu dir zurück.«

»Sie ist erstens nicht mehr meine Evelin und wird zweitens ganz bestimmt nicht mehr zurückkommen. Ich würde sie auch nicht mehr haben wollen.«

»Aber du liebst sie noch.«

»Das weiß ich selbst nicht«, gab er nach kurzem Zögern ehrlich zu. »Einerseits denke ich mitunter an sie, besonders an die Zeit, als wir uns kennengelernt haben. Andererseits stoßen mich ihr egoistisches Verhalten und ihre Gleichgültigkeit unserem Kind gegenüber ab. Sie wird sich vermutlich nie ändern und kann nur glücklich und zufrieden sein, wenn sie auf der Karriereleiter noch ein Stückchen nach oben steigen kann und überall bewundert wird. Häusliche Pflichten will sie nicht haben. Da braucht sie selbst jemanden, der ihr den Rücken freihält. Du bist da ganz anders, ruhig, fürsorglich und die beste Mutter für Reni.«

Und deshalb willst du mich heiraten, dachte sie traurig. Dir ist der mickrige Spatz in der Hand lieber als die hübsche Taube auf dem Dach.

»Ich glaube, ich muss mal für ein paar Minuten allein sein.« Gitta erhob sich und ging zum Kinderzimmer, wo im Schein einer sogenannten Nachtleuchte das kleine Mädchen fest schlief. Sie schaute es eine Weile an, und dabei wurde ihr klar, dass sie dieses kleine, noch sehr hilfsbedürftige Wesen nicht alleinlassen konnte. Es wurde zwar von seinem Vater herzlich geliebt, doch der konnte nicht immer so viel Zeit aufbringen, wie er sie gern gehabt hätte. Und ein Kind brauchte auch eine Mutter.

Henrik liebte sie, Gitta, sicher nicht. Er mochte sie nur und war ihr dankbar, aber Reni hing an ihr, als wäre sie ihre Mutter.

Ja, sie würde ihn heiraten, sie konnte gar nicht anders.

Nachdem sie diese Entscheidung getroffen hatte, ging sie langsam zu ihm zurück, setzte sich und sagte leise: »Ich bin mit einer Heirat einverstanden.«

Seine Augen begannen zu strahlen, während er sie fest an sich drückte. Und dann küsste er sie heiß und stürmisch – und nahm sie schließlich auf die Arme und ging mit ihr zum Schlafzimmer.

Es war nicht die ganz große Liebe. Gitta spürte es genau, es war nur der Hauch vom großen Glück.

Am anderen Morgen sprachen beide nicht mehr über die Hochzeit, wirkten ernüchtert und trösteten sich mit dem Gedanken, dass sie das Geld für eine Feier erst sparen mussten. Und das konnte dauern.

*

Seit mehr als zwei Jahren hielt Fanny Hofer nun schon die Wohnung von Frau Dr. Hollstein in Ordnung, wusch und putzte, kochte gelegentlich und brachte sogar besonders empfindliche Kleidungsstücke zur Reinigung. Dafür bekam sie einen recht ordentlichen Lohn, aber kaum ein Wort des Dankes. Die Frau Doktor war nämlich hochnäsig. So nannte es die Haushälterin.

Professor Hartmuth Grünberg bezeichnete diese Haltung als distanziert und völlig unpassend. Besonders ihm gegenüber! Dieser Frau schien der berufliche Erfolg zu Kopf gestiegen zu sein. Oder sie hatte einfach kein Herz. Als liebevolle Ehefrau und Mutter konnte er sie sich jedenfalls nicht vorstellen, als zärtliche Geliebte ebenfalls nicht. Und er fragte sich verdrossen, warum ihm Evelin Hollstein eigentlich so gut gefiel.

Es musste ihre Ausstrahlung sein, die ihn so anzog und sehnsüchtige Wünsche aufkommen ließ. Dabei war er schon Mitte vierzig und sollte über so etwas schon längst hinweg sein. Bloß gut, dass sie von seinen Gefühlen noch nie etwas bemerkt hatte oder zumindest so tat.

Evelin ahnte tatsächlich, dass der Professor sie heimlich verehrte, gab ihm jedoch keine Gelegenheit, sie näher kennenzulernen. Der war doch garantiert auch so einer, dem sie es daheim recht bequem zu machen hatte und der eine feste Verbindung für angebracht hielt. Doch die wollte sie auf gar keinen Fall!

Ihre lose Beziehung zu dem um vier Jahre jüngeren Mario Samuel befriedigte sie schon eher und genügte ihr vollkommen. Er wohnte nicht bei ihr und kam nur gelegentlich vorbei, wenn sie mal Lust auf einen netten Abend hatte. An ihr Kind dachte sie nur selten, an Henrik noch weniger.

An diesem Abend Ende März war sie vor einer knappen Stunde vom Dienst nach Hause gekommen – in ihre geräumige und dank Fanny Hofer sehr gepflegte Eigentumswohnung. Sie hatte eine Kleinigkeit gegessen, hatte sich anschließend geduscht, hatte sich einen lilafarbenen Hausanzug angezogen und war gerade im Begriff, Mario anzurufen, als jemand an der Wohnungstür klingelte.

Mama und Papa sind schon wieder da, dachte sie missmutig, weil sie überhaupt keine Lust hatte, sich deren Geschwafel über eigene Krankheiten und die fremder Leute anzuhören. Aber sie musste wohl so tun, als würden sie deren Berichte sehr interessieren. Die beiden hatten ihr immerhin diese Wohnung geschenkt und waren auch sonst sehr großzügig. Sie zwang sich daher zu einem Lächeln und öffnete die Tür. Und nun war das Lächeln echt, denn dort stand Mario Samuel. Und der wirkte ungewöhnlich ernst, sodass sie besorgt fragte: »Ist etwas passiert?«

»Wie man es nimmt«, erwiderte er brüsk und folgte ihr zu ihrem Wohnzimmer, wo er sich in einen Sessel fallen ließ.

Evelin setzte sich ebenfalls und forderte ihn kurz angebunden auf: »Nun rede schon!«

»Ich bin eigentlich nur gekommen, um mich von dir zu verabschieden.«

»Musst du für längere Zeit verreisen?«

»Nein, Jetty bekommt ein Kind von mir.«

»Wer ist denn – Jetty?«, erkundigte sie sich verblüfft. »Diesen Namen höre ich von dir zum ersten Mal.«

»Na ja …« Mario strich sich verlegen über seinen Dreitagebart und erklärte leicht stockend: »Sie heißt Henriette Keller – und ich kenne sie eigentlich – schon lange. Wir sind damals in eine Schule – gegangen. Dann war sie für ein paar Jahre weg, hat studiert und – und – vor etwa vier Monaten habe ich sie auf einer Party wiedergesehen. Sie ist sehr hübsch geworden …«

»Und dann bist du mit ihr im Bett gelandet«, ergänzte Evelin trocken, als der angehende Vater betreten schwieg und nichts mehr zu sagen wusste.

»Ja, bin ich. Und nun ist sie schwanger, was meine beiden Alten und ihre Eltern einerseits sehr freut. Andererseits erwarten sie alle, dass wir möglichst bald heiraten.«

»Und was willst du?«

»Ich – will sie auch heiraten. Das Kind muss doch auch einen Vater haben. Es wird ohnehin Zeit, dass ich an eine Familie denke, bin ja schon über dreißig und finde kleine Kinder recht niedlich.«

»Ich nicht«, murmelte sie unbedacht. »Ich finde, sie gehen einem auf die Nerven mit ihren nassen Windeln und ihrem ständigen Geschrei.«

»Na, ganz so schlimm wird es wohl nicht sein. Anderenfalls würde sich ja niemand Kinder anschaffen.«

Evelin zuckte nur mit den Schultern, dachte aber unwillkürlich daran, dass in dieser elegant eingerichteten Wohnung auch ein kleines Mädchen spielen könnte, spielen und damit alles schmutzig machen. Aber vielleicht war ihre Tochter aus diesem Alter inzwischen schon heraus. Sie war ja immerhin schon über vier Jahre alt. Und doch, sie konnte sich nicht dazu entschließen, die Kleine für ein paar Tage herzuholen. Von ihren Kollegen wusste niemand, dass sie ein Kind hatte, und ihr gelegentlicher Hausfreund hatte natürlich auch keine Ahnung.

Gelassenheit vortäuschend, entgegnete sie: »Nun, dann freue dich nur auf deine Ehe mit der Jetty und auf das Kind. Ich habe nicht vor, dir eine Szene zu machen oder im Kollegenkreis darüber zu reden. Jeder muss nach seiner Fasson selig werden.«

Mario Samuel atmete erleichtert auf und erhob sich. Er wusste schon lange, dass er für die attraktive Frau Dr. Hollstein nur der Mann für gewisse Stunden gewesen war. Die Mutter seines Kindes liebte ihn jedoch. Und vielleicht würde er sie eines Tages auch lieben lernen.

Zu Evelin sagte er jedoch nur: »Ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft, und hab vielen Dank für die schöne Zeit.« Danach küsste er sie flüchtig auf die Wange und verließ dann mit schnellen Schritten die Wohnung. In Gedanken war er schon bei seiner Braut.

Evelin hingegen war nicht so ruhig, wie sie sich gegeben hatte. Dass dieser um Jahre jüngere Mann sie irgendwann verlassen würde, hatte sie geahnt und war daher nicht besonders traurig. Mochte er mit seiner Zukünftigen glücklich werden und mit ihr gemeinsam Windeln wechseln.

Spöttisch vor sich hin lächelnd ging sie zur Hausbar und goss sich ein Glas Sekt ein.

Einige Tage später begann sie, die Einsamkeit zu spüren, und überlegte nun ernsthaft, ob sie ihre Tochter nicht doch besuchen sollte. Es war ja bald Ostern. Feiertage waren ohnehin grässlich, weil sie die meist allein verbringen musste, denn ihre Freunde und Kollegen hatten fast alle Familie. Und ihre Eltern waren auch nicht immer da.

Oder sollte sie doch lieber mit ihrem Chef ausgehen? Der hatte ebenfalls keine feste Beziehung. Ein ermunterndes Lächeln von ihr würde wahrscheinlich schon genügen, um Hartmuth Grünberg zu einer entsprechenden Einladung zu bewegen. Leider war er nicht der Mann für gewisse Stunden. Er wollte mehr und erwartete vermutlich, dass sie ihm den Haushalt führte und vielleicht noch ein Kind bekam.

Nein, bloß das nicht! Aber vielleicht sollte sie Reni und ihren Vater zu sich einladen. Die kannten München ja noch gar nicht und würden sich wahrscheinlich sehr freuen, aus ihrem tristen Provinznest für ein paar Tage herauszukommen.

*

Da Gitta an diesem Wochenende zu ihren Eltern gefahren war, hatte Henrik beschlossen, mit seiner Tochter zu einem etwa zwanzig Kilometer entfernten Indoor-Spielplatz zu fahren, wo die muntere Kleine sich dann auch stundenlang vergnügte. Das Trampolin hatte es ihr ganz besonders angetan, aber auch die kleine Eisenbahn, die um den gesamten Spielplatz herumfuhr.

Reni war also schwer beschäftigt gewesen und wäre am liebsten noch viel länger geblieben, was sie ihrem Vater auch lautstark und trotzig verständlich gemacht hatte. Der ließ sich von ihren Protesten jedoch nicht beeindrucken und fuhr mit ihr zu gegebener Zeit heimwärts. Und er lächelte, als Reni bereits nach fünf Minuten fest schlief.

Henrik war es recht so. Wenn seine Tochter so müde war, würde sie nachher bald zu Bett gehen und demzufolge nicht ständig nach ihrer Tante Gitta fragen, und er konnte diesen Abend nutzen, um noch einige schriftliche Arbeiten zu erledigen.

Sein Vorhaben gelang ihm jedoch nur zum Teil, weil Evelin anrief, nach mehr als sechs Monaten übrigens. Diese Tatsache schien ihr aber nicht bewusst zu sein, denn sie tat so, als hätten sie erst vor ein paar Tagen miteinander gesprochen.

»Was hältst du davon, wenn du über Ostern mit Reni zu mir kommst?«, begann sie nach den üblichen Fragen nach der Gesundheit und dem Wohlergehen.

Henrik war sekundenlang sprachlos und glaubte, sich verhört zu haben.

»Wir – sollen nach München kommen?«, vergewisserte er sich gedehnt.

»Aber ja, Platz zum Übernachten habe ich genug. Und zum Mittagessen gehen wir in ein Lokal. Reni ist ja nicht mehr so klein und wird sich dort sicher schon gut benehmen können.«

»Aber die Fahrt, ob nun mit dem Auto oder mit dem Zug, ist sehr lang«, hielt er mahnend dagegen. »Ich denke, das ist noch nichts für die Kleine.«

»Ihr könnt doch auch einen Flieger nehmen. Ich hole euch dann vom Flugplatz ab. Ist alles ganz einfach.«

»Wenn alles ganz einfach ist, dann komm du doch her. Hier in der Nähe gibt es eine gute und billige Pension.«

»Hm, na ja …« Evelin war zu verblüfft, um sofort eine passende Antwort parat zu haben. Und er dachte spöttisch: Nun ist die Frau Doktor ratlos und sprachlos. So hat sie sich das nämlich nicht gedacht.

Zu seiner Überraschung erwiderte sie schließlich: »Die Idee ist gar nicht so schlecht. Mama und Papa sind immer noch auf Mallorca und haben auch nicht die Absicht, mich zu besuchen. Und ich habe mein Kind schon lange nicht mehr gesehen …«

»Was nicht meine Schuld ist«, warf er mit deutlicher Schärfe ein, worauf sie recht friedfertig entgegnete: »Ja, das stimmt, aber ich bin nun einmal keine Supermutter und will auch keine sein. Dennoch liegt mir Renis Wohl sehr am Herzen.«

»Tatsächlich?«

»Deine Ironie kannst du dir sparen. Also, kannst du eventuell einen Tag Urlaub nehmen, damit wir gemeinsam etwas unternehmen können?«

»Urlaub würde ich vermutlich bekommen, aber ich lebe ja nicht mehr allein. Ich muss mich erst mit Gitta abstimmen. Es wird ihr garantiert nicht gefallen, wenn sie Ostern ohne uns feiern soll. Und ich will das auch nicht.«

»Musst du ja auch nicht«, lenkte sie hastig ein. »Es geht ja nicht um uns, sondern um unsere Tochter, mit der ich lediglich ein paar Tage verbringen möchte. Ich nehme mir einen Leihwagen und mache mit ihr ein paar Ausflüge, kleide sie auch neu ein und kaufe ihr Schuhe, falls das notwendig sein sollte. Du wirst sehen, alles verläuft bestens. Wir werden bestimmt unseren Spaß haben.«

Davon war Henrik nun gar nicht überzeugt, sprach seine Zweifel aber nicht aus. Evelin war nun einmal die Mutter seines Kindes – und vielleicht hatte sie sich wenigstens ein bisschen geändert.

Er gab also seine Zustimmung zu diesem Vorhaben und hoffte, dass Gitta und vor allem seine Tochter damit einverstanden waren.

*

Nun, begeistert waren sie nicht, als er ihnen am nächsten Tag von Evelins bevorstehendem Besuch berichtete.

Gitta nickte nur, aber er hörte aus ihrem Schweigen ihre Besorgnis und Missbilligung genau heraus.

Reni hingegen überlegte eine Weile und rief dann entrüstet: »Und was will die hier? Will die etwa meine Ostereier suchen und aufessen?«

»Aber nein«, beruhigte Henrik sein aufgeregtes Töchterchen. »Sie ist ja deine richtige Mutti und möchte nur wissen, wie es dir geht, ob du gewachsen und ein hübsches Mädchen geworden bist.«

»Deshalb muss sie doch nicht herkommen. Schick ihr doch ein Bild von mir.«

Nach diesem Argument schauten sich Gitta und Henrik entgeistert an, bis er lachend sagte: »Das Kind kann logisch denken, aber ich glaube nicht, dass Evelin mit diesem Vorschlag einverstanden sein würde.«

»Wann kommt sie denn, und wie lange will sie bleiben?«, erkundigte sich Gitta so sachlich wie möglich.

»Am Donnerstag vor Ostern«, entgegnete er. »Am Montag will sie dann wieder abreisen.«

»Wohnt die hier bei uns?«

»Nein, Reni. Sie wird sich ein Zimmer in einer Pension nehmen und wahrscheinlich gar nicht hierherkommen. Wir beide besuchen sie und fahren dann wieder nach Hause.«

Es wäre schön, wenn ich die Frau Doktor nicht sehen müsste und sie bald wieder abfährt, dachte Gitta bedrückt. Ich frage mich nur, was sie hier will. Hat sie plötzlich Muttergefühle bei sich entdeckt? Oder will sie zu dem Mann zurück, den sie vor Jahren verlassen hat?

Henrik stellte sich diese Fragen nicht, weil er Evelins bevorste­hendem Besuch lediglich als spontanen Einfall wertete. Seine Ex-Frau wusste mit Feiertagen nichts anzufangen. Dann waren die Läden nämlich geschlossen und ihre Kollegen, mit denen sie sich ja so gut verstand, bei ihren Familien. Außerdem hatten sich ihre Eltern mit einem gleichgesinnten und etwa gleichaltrigen Ehepaar angefreundet und waren mit diesem viel unterwegs. Evelin fühlte sich in diesem Kreis wahrscheinlich wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen und zog es daher vor, lieber die eigene Tochter zu besuchen. Vielleicht war ja inzwischen aus der eine junge Dame geworden, die schon Interesse für teure Modehäuser und diverse Schmuckgeschäfte hatte. Dennoch war er aufgeregt und neugierig, was seiner zukünftigen Ehefrau nicht entging.

*

Reni fand sich an diesem Morgen ausgesprochen hübsch in der neuen dunkelblauen Jeanshose und dem pinkfarbenen T-Shirt. Und die Haare hatte Tante Gitta auch schön gebürstet und mit zwei silbernen Spangen festgesteckt. Ja, das war alles total in Ordnung.

Nicht in Ordnung, ja, geradezu schrecklich war es jedoch, dass sie an diesem Tag nicht zu ihrer Freundin Thea gehen durfte, sondern zu dieser Frau, die sie kaum kannte und die ihre richtige Mutter sein sollte – und die jetzt in irgendeinem Hotel auf sie wartete.

Henrik sah der Kleinen an, was sie dachte. Und er ahnte auch, wie Gitta sich jetzt fühlte.

»Wir werden nicht lange bleiben«, versprach er ihr hastig und nahm sie tröstend in die Arme. »Am liebsten würde ich gar nicht hinfahren, aber sie ist nun einmal da und hat ein Recht, ihr Kind zu sehen.«

»Natürlich, mach dir um mich bloß keine Gedanken. Ich habe genug Beschäftigung. Und nun macht euch auf den Weg.« Sie nahm das Kind in die Arme und drückte es kurz an sich. Dabei flüsterte ihr Reni zu: »Ich erzähle dir heute Abend alles ganz genau.«

»Das ist schön.« Gitta zwang sich zu einem Lächeln und sah dann betrübt zu, wie Vater und Tochter die Wohnung verließen.

Evelin, die schon am Vortag angekommen war, hatte sich inzwischen ausgeruht und sah jetzt frisch und attraktiv und wie immer sehr elegant aus. Und sie tat bei der Begrüßung so, als hätte es nie Differenzen zwischen Henrik und ihr gegeben, als hätte sie Mann und Kind nie verlassen.

Er ging auf ihren munteren Ton ein und stellte bei sich fest, dass sie ihm rein äußerlich immer noch gefiel oder wieder gefiel. Ihren Egoismus vergaß er in diesen ersten Minuten des Wiedersehens vollkommen.

Seine Tochter konnte seine Freude nicht teilen. Sie bedachte die ›fremde Tante‹ mit misstrauischen Blicken und reichte ihr nur widerstrebend die Hand.

»Du bist aber groß und hübsch geworden.« Evelin zwang sich zu einem Lachen und strich ihrem Kind über das Haar. »Dann wird dir sicher gefallen, was ich dir mitgebracht habe.«

Sie wies auf eine bunte Kiste, die auf dem Tisch stand, und erklärte dazu: »Das ist eine Verkleidungskiste. Das sind verschiedene Kostüme drin und alles, was Elfen noch so brauchen – Haarreifen, Haarbänder, Ketten, Flügel und ein Zauberstab natürlich auch. Mach doch mal auf!«

Reni schaute Hilfe suchend zu ihrem Vater und griff nach seiner Hand, worauf der sie behutsam zu dem Geschenk ihrer Mutter dirigierte und dann die Kiste öffnete.

Evelin hatte offenbar euphorische Begeisterung erwartet, hatte angenommen, die Kleine würde sich auf die wirklich hübschen Kleidchen stürzen und sie gleich anprobieren wollen. Sie wusste ja nicht, dass Irene viel lieber Hosen trug und sich vor allem für Tiere und Pflanzen interessierte. So war die Enttäuschung von beiden Seiten nicht zu übersehen, und Henrik warf sich vor, mit Evelin kaum über das gemeinsame Kind gesprochen zu haben.

Es gelang ihm jedoch, die Situation zu entspannen, indem er lächelnd vorschlug: »Damit werdet ihr viel Spaß haben, Thea und du. Und vielleicht kommt die Mia auch noch. Dann könnt ihr eine Super-Elfenparty feiern.«

Das leuchtete der Kleinen sofort ein. Sie nahm sich einen Haarreifen, beäugte ihn genau, legte ihn wieder zurück und rief dann: »Und Tante Gitta bäckt Blaubeermuffins für uns und kocht Kakao.«

»Das wird sie bestimmt tun. Und nun bedanke dich bei deiner Mutti.«

»Danke schön, Tante«, murmelte Reni kaum verständlich, während sie sich erneut an ihren Papa schmiegte.

»Du sagst ›Tante‹ zu mir?« Evelins Stimme klang schrill, was das Kind noch mehr verunsicherte und Henrik leise und verärgert zu seiner ehemaligen Frau sagen ließ: »Hast du etwa gedacht, sie fällt dir vor Freude um den Hals und sagt sofort ›Mutti‹ zu dir? Wie kann sie das? Sie kennt dich doch kaum.«

»Ja, ja, schon gut«, winkte sie ungehalten ab. »Es kann sich ja alles noch ändern. Wollen wir nun einen Einkaufsbummel machen?«

Henrik seufzte ein wenig, denn er hatte dieses Rennen von einem Laden zum anderen in unguter Erinnerung, und er bezweifelte auch, dass Reni begeistert mitmachen würde.

»Ja, gehen wir einkaufen«, erwiderte er dennoch. »Ein Stündchen wird unsere Tochter schon durchhalten.«

Evelin lächelte dazu säuerlich und wollte ihrem Kind nur wenig später ein hellblaues Sommerkleid mit aufgedruckten Schleifen und Schmetterlingen sowie einen pinkfarbenen Rock mit passender Bluse kaufen.

Doch Reni wollte weder das eine noch das andere anziehen und protestierte laut und deutlich: »So etwas gefällt mir nicht, das will ich nicht haben.«

»Was soll ich dir denn schenken?«

»Eine Jeanshose oder Leggins«, antwortete die Kleine ihrer Mutter und setzte nach kurzer Überlegung hinzu: »Und einen Goldhamster.«

Henrik konnte sich daraufhin ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen, was seine Ex-Frau natürlich bemerkte.

»Einen Goldhamster?!«, rief sie entsetzt. »So ein Vieh ist doch ekelhaft.«

»Ist es gar nicht. Er ist niedlich – und – und – ich werde ihn lieb haben, viel lieber als dich.« Reni begann zu schluchzen und rannte zur Tür, wollte weglaufen, weil es ihr bei dieser ›komischen Tante‹ überhaupt nicht gefiel. Henrik holte sie jedoch rechtzeitig ein und befahl barsch: »Du wirst hierbleiben und dich fortan besser benehmen, mein Fräulein. Deine Mutti mag nun einmal keine Tiere. Und die muss sie auch nicht mögen, weil sie sich sowieso keine anschaffen wird. Und du brauchst kein Kleid zu tragen, wenn du das nicht willst. Deine Mutter wird dir etwas anderes kaufen.«

»Natürlich kannst du auch eine Hose haben«, lenkte Evelin schnell ein, nahm die Kleine bei der Hand und ging mit ihr zu der entsprechenden Abteilung. Reni ging (vor sich hin maulend) mit und wurde erst etwas zugänglicher, als sie eine dunkelblaue Leggings, ein gelbes T-Shirt und dazu passende Schuhe und Ohrstecker bekam.

»Da nun der Familienfrieden wiederhergestellt ist, können wir wohl etwas essen gehen«, meinte Henrik betont burschikos und lud die Damen ein, mit ihm in einem guten Lokal zu speisen.

*

»Ich will nach Hause«, quengelte Reni, nachdem ihr Vater die ›Tante‹ wieder zu ihrer Pension gebracht hatte und sich nun mit ihr unterhielt, das heißt, meist sprach die ›Tante‹. Sie sprach vor allem von ihrer Arbeit und einer großen fremden Stadt, in der alles viel schöner war als hier.

»Ja, ich bringe dich gleich nach Hause«, antwortete er ziemlich geistesabwesend. »Dann kannst du noch ein bisschen mit Thea und Mia spielen und ihnen deine Elfenkiste zeigen.«

»Au ja!« Die Kleine zappelte vor Ungeduld und registrierte nicht, wie ihre Mutter sich weinerlich beschwerte: »Und ich muss nun ganz allein bleiben.«

»Nein, das musst du nicht«, versicherte ihr Henrik hastig. »Ich komme nachher wieder, aber für Reni war es erst einmal genug. Sie ist bei Gitta und ihren Freundinnen jetzt besser aufgehoben und hat dort auch mehr Abwechslung.«

Evelin wusste nicht, ob sie nun enttäuscht oder erleichtert war. Einerseits war die wissbegierige und aufmüpfige Kleine auf die Dauer ziemlich anstrengend, andererseits tat es doch irgendwie weh, von ihr so abweisend behandelt zu werden.

»Ja, bringe sie nach Hause«, entschied sie schließlich und bedachte ihn mit einem lockenden Blick. »Sie ist ja noch ziemlich klein und möchte spielen. Was noch zu besprechen ist, können wir auch ohne sie tun.«

Henrik, dem plötzlich sehr warm geworden war, nickte zustimmend, half seiner Tochter in ihre Jacke, setzte ihr das Mützchen auf und wies sie danach an, der Mutti »Auf Wiedersehen« zu sagen.

Reni gehorchte aufs Wort und lief danach laut trällernd zur Tür und dann zum Auto, das ihr Vater auf dem Parkplatz unmittelbar vor der Pension zu stehen hatte. Sie bemerkte nicht, wie ihre Mutter den Vater auf den Mund küsste und ihm anschließend etwas ins Ohr flüsterte.

*

Gitta hatte diesen Donnerstag vor Ostern bisher so gut wie allein verbracht, hatte ihren Urlaubstag genutzt, um zu putzen und zu waschen, Kuchen zu backen und alles für das Fest vorzubereiten.

Und so schaute sie verdutzt auf, als Henrik und Reni schon wieder zur Tür hereinkamen, und meinte verwundert: »Das war aber ein kurzer Besuch.«

»Bei der Tante war es echt langweilig«, antwortete die Kleine. »Aber sie hat mir was geschenkt. Sieh mal, Leggings, T-Shirt, Schuhe und Ohrstecker und die Kiste da. Da sind jede Menge Verkleidungskleider drin.«

Sie wies mit der Hand auf ihren Vater, der das mütterliche Geschenk eben im Wohnzimmer auf den Teppich gestellt hatte. Die kleinen Päckchen legte er dazu.

»Ich hätte ja viel lieber einen Goldhamster gehabt«, vertraute Reni ihrer Gitta an. »Aber die Muttitante mag keine Tiere. Sie hat gesagt, die sind …«

»Du bist auch noch zu klein, um ein Tier pflegen und versorgen zu können«, warf Henrik genervt ein, noch ehe seine Tochter das Wort ›ekelhaft‹ hervorbringen konnte. Und an Gitta gewandt, erklärte er mit gepresster Stimme: »Ich muss nachher noch mal los. Evelin und ich, wir wollen noch wegen Reni einiges in Ruhe besprechen. Sie kommt ja bald zur Schule. Zum Abendessen bin ich aber wieder zurück.«

Gitta nickte nur. Was hätte sie auch sagen sollen? Henrik wollte sie zwar heiraten, aber Reni war nun einmal nicht ihr leibliches Kind. Und vielleicht bereute er auch schon, ihr einen Heiratsantrag gemacht zu haben. Alte Liebe rostete ja bekanntlich nicht. Und Evelin Hollstein war eine sehr schöne Frau, der er wahrscheinlich nur schwer widerstehen konnte – oder gar nicht.

Einige Stunden später, nachdem die Kleine eine Weile mit den Nachbarskindern gespielt, anschließend zu Abend gegessen hatte und inzwischen schon schlief, war Henrik immer noch nicht da. Er hatte sich auch nicht mehr gemeldet. Es war daher naheliegend, dass er mit seiner Ehemaligen diesen Tag beenden wollte. Oder war ihm etwas passiert? Unruhig und besorgt ging Gitta immer wieder zum Küchenfenster, von dem sie einen Teil der Straße überblicken konnte. Doch von Henrik und seinem Auto war nichts zu sehen.

Ich sollte ihn auf seinem Handy anrufen, dachte sie und tat es dann doch nicht. Es hätte doch allzu sehr nach Eifersucht ausgeschaut. Gegen Mitternacht kam er dann endlich – mit einem Taxi und nicht mehr ganz nüchtern.

»Wir haben noch ein bisschen gefeiert und von alten Zeiten geredet«, erklärte er ihr ziemlich verlegen. »Ich habe gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist.«

»So ist es immer, wenn man sich nach Jahren wiedersieht«, erwiderte Gitta mit gut gespielter Gelassenheit. Trotz allem war sie froh, dass er wohlbehalten wieder zu Hause gelandet war, schimpfte aber: »Du hättest anrufen können, damit ich mir keine Sorgen zu machen brauche.«

»Ja, hätte ich«, gab er zerknirscht zu. »Aber ich habe einfach nicht daran gedacht. Sei nicht böse.«

Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich, so wie er es oft und gern tat. Sie hatte aber dennoch das Gefühl, als sei sie ihm gar nicht mehr wichtig und er mit seinen Gedanken ganz woanders.

In dieser Nacht lag sie neben ihrem seelenruhig schnarchenden Zukünftigen, konnte jedoch nicht schlafen und grübelte nur. Henrik hatte ihr zwar mehr als einmal versichert, dass seine Ex-Frau ihm mittlerweile ziemlich gleichgültig geworden sei. Aber sie konnte jetzt nicht mehr daran glauben.

Am anderen Morgen wachte er mit einem gehörigen Kater auf, war mürrisch und sichtlich verlegen, so als würde ihm das schlechte Gewissen sehr zu schaffen machen.

Gitta äußerte sich nicht zu seiner desolaten Verfassung, Reni fragte jedoch: »Hast du Bauchschmerzen, Papa?«

»Nein, ich habe nur schlecht geschlafen und habe lediglich Kopfschmerzen. Die werden an der frischen Luft sicher bald vergehen. Wollen wir einen Spaziergang machen, Mauselchen? Dann kann die Tante Gitta in aller Ruhe mit dem Osterhasen reden. Der muss doch wissen, wohin er hier die Eier legen soll.«

Reni machte vor Überraschung Kulleraugen, sah aber die Notwendigkeit eines Ausfluges in die Natur ein. An der Hand des Vaters marschierte sie eine halbe Stunde später den sogenannten Stadtwall entlang, bis sie – leider – vor der Pension der ›Muttitante‹ angekommen waren. Was sollte denn das werden? Da waren sie doch erst gestern gewesen!

»Wir besuchen jetzt die Mutti«, erklärte der Vater unmissverständlich, was Reni nun gar nicht gefiel. Sie blieb abrupt stehen und rief empört: »Ich komme aber nicht mit.«

»Und warum nicht?«, erkundigte er sich verärgert.

»Weil ich die nicht leiden kann.«

»Wie kannst du so etwas sagen? Du kennst sie doch gar nicht. Außerdem ist sie deine Mutti.«

»Ich will die aber nicht haben, Tante Gitta ist doch meine Mutti.«

Das Kleine hatte recht. Evelin hatte sie zwar geboren, war jedoch im wahrsten Sinne des Wortes nie ihre Mutter gewesen. Ob sie es jetzt endlich sein wollte, wusste er nicht. Darüber hatten sie nicht gesprochen, über Renis Entwicklung und eine geeignete Schule allerdings auch nicht. Sie waren sich nur in die Arme gefallen und hatten im Rausch von Verlangen und Begehren an das kleine Mädchen überhaupt nicht gedacht.

Was sollte nun werden? Sollte er sich mit seiner Ex-Frau endgültig versöhnen? Sollte er mit Reni zu ihr nach München ziehen, so wie sie es wollte? Sollte er seine Großmutter, die ihn aufgezogen hatte, sich selbst überlassen? Sollte er seine Arbeit aufgeben und auf der Karriereleiter wieder ganz unten anfangen? Und schließlich und endlich sollte er Gitta verlassen, die sein Kind wie eine Mutter liebte und versorgte, die ihn liebte und auch in schwierigen Situationen zu ihm hielt? Und der er die Ehe versprochen hatte!

Nein, diese Nacht mit Evelin musste ganz schnell zur Vergangenheit gehören, musste sozusagen für immer in der Versenkung verschwinden. Es durfte keine Fortsetzung geben. Und Gitta durfte nie – nie – davon erfahren. Das sagte ihm sein Verstand. Und der sagte ihm auch, dass aus Frau Doktor Evelin Hollstein wahrscheinlich nie eine echte Mutter werden würde. Aber er wollte und durfte ihr den Kontakt zu ihrem Kind auch nicht verwehren.

Es würde nun vor allem an ihr liegen, ob sich zwischen ihr und ihrer Tochter jemals ein vertrauensvolles Verhältnis herstellen ließ. Eine innere Stimme sagte ihm jedoch, dass weder Reni noch ihre Mutter dazu ausreichend Gelegenheit haben würden. Die Entfernung zwischen ihnen war einfach zu groß.

Henrik seufzte leise und begriff, dass es sehr schwer sein würde, die richtige Entscheidung für sich und sein Kind zu treffen.

*

»Da seid ihr ja.« Evelin empfing die beiden in scheinbar bester Stimmung und schlug vor, das schöne Wetter zu nutzen und den Zoo zu besuchen, anschließend irgendwo zu Mittag zu essen und am Nachmittag ins Kino zu gehen.

Henrik sagte zuerst einmal nichts. Es war besser, wenn Reni sich dazu äußerte. Doch die Kleine schwieg ebenfalls und schaute verunsichert auf ihre Schuhe.

»Na, was meinst du?«, ermunterte er sie, worauf sie schließlich wisperte: »Kommt Tante Gitta auch mit?«

»Das möchtest du gern, nicht wahr?«, stellte Evelin lakonisch fest.

»Ja, dann ist sie nicht so allein.«

Ich komme mir mittlerweile vor, wie der Esel zwischen den beiden Heubündeln, dachte Henrik missmutig. Evelin ist eine Frau, bei der man für Stunden Gott und die Welt vergessen kann, während man sich auf Gitta voll und ganz verlassen kann. Die Liebesglut einer Nacht war im Alltag schnell erloschen, Geborgenheit und Beständigkeit aber blieben. Evelin passte nicht zu ihm, aber auf irgendeine Weise liebte er sie wohl noch, auch wenn er ihr nicht verzeihen konnte, dass sie ihn damals, ohne ein Wort zu sagen, verlassen hatte.

»Natürlich kann deine Tante mitkommen«, antwortete die Frau Doktor scheinbar gut gelaunt, was Henrik unbehaglich die Schultern zucken ließ. Gitta würde auf dieses Treffen sicher gern verzichten, würde sich aber andererseits damit abfinden müssen, dass er Renis Mutter nicht einfach so abservieren konnte. Ohne weiter nachzudenken, meinte er daher: »Du kannst auch bei uns zu Mittag essen. Gitta ist eine gute Köchin. Ich rufe sie an, dann kann sie sich schon darauf einstellen. Na, was meinst du?«

Evelin nagte überlegend an ihrer Unterlippe, ihre Tochter stieß jedoch gönnerhaft hervor: »Na ja, kannst ja mitkommen. Bei uns gibt es heute Spinat mit Ei, hat Tante Gitta gesagt. Das schmeckt ganz prima.«

Spinat mit Ei?! Die Frau Doktor hätte beinahe »igitt« gesagt, beherrschte sich jedoch gerade noch rechtzeitig und erwiderte: »Wenn deine Tante Gitta nichts dagegen hat, dann werde ich euch gern begleiten. Dann kannst du mir auch dein Zimmer und deine Spielsachen zeigen.«

»Ja, mache ich.« Reni fand sich nun offensichtlich mit der ›Muttitante‹ ab. Vielleicht freute sie sich aber auch, bald wieder nach Hause zu kommen.

Henrik atmete erleichtert auf. Möglicherweise war es doch gut, wenn sich seine ›beiden Frauen‹ kennenlernten.

*

»Wir haben Evelin unterwegs getroffen und bringen sie zum Mittagessen mit. Du hast doch sicher nichts dagegen?«

Gitta hätte nach Henriks Worten am liebsten den Hörer vor Wut an die Wand geworfen. Was dachte dieser Kerl sich eigentlich? Kaum war die Dame wieder hier, tanzte er nach ihrer Pfeife und konnte sich anscheinend gar nicht mehr daran erinnern, dass sie ihn seinerzeit sozusagen bei Nacht und Nebel verlassen hatte – ihn und ihr Kind. Vielleicht hatte er ihr inzwischen verziehen, vielleicht suchte er aber auch nur wegen Reni eine Versöhnung auf freundschaftlicher Basis. Doch ob nun so oder anders, sie musste diese Frau akzeptieren und eventuell ihre Konsequenzen ziehen.

Eine halbe Stunde später waren sie da, Henrik, Reni und die schicke Frau Doktor, und schienen prächtig miteinander auszukommen. Dann brauchte man Gitta Wenzel wohl nicht mehr, dann war es sicher nur noch eine Frage der Zeit, wann Henrik und Reni nach München zogen. Dann war sie wieder einmal überflüssig.

Es gelang ihr jedoch, gute Miene zu diesem Spiel zu machen, sie war darin ja nicht ungeübt. Sie versorgte die drei und verbrachte den größten Teil des Nachmittages in der Küche. Und wenn Reni nicht ab und zu bei ihr gesessen und von ihren kleinen Erlebnissen erzählt hätte, wäre sie dort auch allein gewesen.

Nach dem Abendessen brachte Henrik seine Verflossene mit dem Auto zu ihrer Pension. Und das dauerte trotz der kurzen Strecke ziemlich lange.

Gitta und die Kleine schliefen jedenfalls schon, als er nach Hause kam. Das glaubte er jedenfalls – und freute sich, nun keine Erklärung für sein langes Ausbleiben abgeben zu müssen.

Am anderen Morgen, nach einer fast schlaflosen Nacht, erkundigte sich Gitta während des Frühstücks: »Ich nehme an, dass du heute und morgen wieder mit Reni und ihrer Mutter etwas unternehmen möchtest?«

»Na ja, wir haben darüber zwar noch nicht gesprochen«, entgegnete Henrik betont gleichmütig. »Aber ich denke, ein Ausflug nach Brinkenau zum Wellenbad wird uns allen Spaß machen. Und dort bekommt man auch etwas zum Essen und Trinken. Na, was meint ihr dazu?«

Da Gitta gerade in ihr Brötchen gebissen hatte, konnte sie natürlich nicht sofort antworten. Reni, die schon ein wenig schwimmen konnte und für ihr Leben gern im Wasser planschte, rief jedoch begeistert: »Au ja, ich hole sofort meinen Badeanzug und meine Schwimmflügel.«

Während sie zu ihrem Zimmer rannte, fragte Henrik erneut: »Und du? Freust du dich auch?«

»Ja, über einen freien Tag freut man sich ja immer. Ich werde mich mit Elsie verabreden. Sie hat erst gestern angerufen und mich zu einer Wandertour durch den Spreewald eingeladen. Dort werden wir auch übernachten.«

»Hat deine Freundin zu Ostern nichts anderes zu tun?«

Gitta zuckte mit den Schultern und erwiderte: »Du weißt doch, dass Wandern und Radfahren ihre großen Hobbys sind. Und mir würde ein bisschen frische Luft auch ganz guttun.«

»Und die Kleine? Die will doch Ostereier suchen.«

»Kann sie doch. Der Karton mit Süßigkeiten, Buntstiften und so weiter steht in meinem Kleiderschrank. Und da ihr zwei ›Osterhasen‹ seid, werdet ihr mit dem Verstecken wohl keine Schwierigkeiten haben. Außerdem bin ich am Sonntagabend ja wieder da und bringe ihr noch eine kleine Überraschung mit.«

»Trotzdem wird sie traurig sein, wenn du sie allein lässt.«

»Ja, aber nur kurzzeitig. Der Spaß im Wellenbad und beim Eiersuchen wird sie trösten.«

Henrik nickte nur und gab sich den Anschein, überstimmt worden zu sein. In Wirklichkeit sehnte er sich nach dem aufregenden Gefühl, das ihm Evelin vermittelte. Es war beinahe so wie damals.

*

Es ist beinahe so wie damals, dachte Gitta ebenfalls.

Henrik war mit der Kleinen vor ein paar Minuten losgefahren, hatte ihr natürlich vorher noch schöne und erholsame Tage gewünscht und seine Tochter etwas barsch ermahnt, endlich den Mund zu halten. Die Tante Gitta hätte sich auch etwas Ruhe verdient.

Ja, die würde sie ganz sicher haben, und zwar in ihrer Wohnung. Nur gut, dass sie die noch hatte und ihre Untermieterin über die Feiertage zu den Eltern gefahren war. So brauchte sie nur noch ihre Freundin anzurufen, damit diese sie nicht verriet, und im nächsten Supermarkt ein paar Vorräte zu kaufen.

Ob sie letztere überhaupt brauchte, wusste sie nicht so genau. Hunger hatte sie jedenfalls nicht, nur das Bedürfnis, nicht mehr denken zu müssen – oder zu weinen, bis die Tränen endlich versiegten.

Henrik versuchte unterdessen, sein schlechtes Gewissen zu beschwichtigen, und redete sich ein, dass es durchaus von Vorteil war, wenn Gitta bei diesem Osterausflug nicht dabei war. Nur so würde er Mutter und Tochter einander näherbringen können. Oder gab es noch einen anderen Grund, einen, den er sich nach der ›Nacht des Wiedersehens‹ selbst verboten hatte?

Evelin hatte diese Probleme nicht. Für sie war er ein freier Mann, der zwar mit einer Frau zusammenlebte, die aber eigentlich doch nur die Betreuerin des Kindes und seine Haushälterin war und nach nichts aussah. Warum sollten sie nicht die alten Gefühle aufwärmen? Und vielleicht vertrugen sie sich jetzt besser als je zuvor, jetzt, da sie älter und reifer waren – und Reni schon ein verständiges Mädchen war. Außerdem war er nicht mehr der ein wenig linkische, naive Jüngling, sondern ein weltgewandter, kluger und attraktiver Mann geworden, ein Mann in einer guten Position, der ebensolches Geld verdiente. Er würde auch in München eine annehmbare Stellung finden, vielleicht sogar eine besser bezahlte als hier in der Provinz. Natürlich würde sie ihn in jeder Hinsicht unterstützen.

Er teilte ihre Sorglosigkeit nicht und ging auch nicht so recht auf ihre Zukunftspläne und ihre zur Schau gestellte Fröhlichkeit ein. Er lachte und scherzte zwar mit der Kleinen und hielt sie bei Laune, war ihr gegenüber doch ziemlich reserviert.

»Lass mir Zeit zum Nachdenken.« Mit diesen Worten beendete er schließlich die rosaroten Beschreibungen von München als Weltstadt und Metropole des Freistaates Bayern, mit denen sie ihn am Abend erfreute.

»Aber, Henrik, ich meine es doch nur gut. Und ich weiß auch, was ich falsch gemacht habe. Ich werde euch nicht noch einmal verlassen.« Sie legte eine Hand auf sein Knie, schmeichelnd und verheißungsvoll. Und da Reni zu diesem Zeitpunkt schon fest schlief, erging es ihm wie dem Fischer aus einem Gedicht des Herrn von Goethe: ›Halb zog sie ihn, halb sank er hin.‹

Danach hatte er immerhin noch so viel Verstand, die Nacht auf der Couch zu verbringen und Evelin das schöne und breite Doppelbett zu überlassen. Er kannte sein Töchterchen. Das war nämlich meist schon vor Tau und Tag auf den Beinen und hätte sich doch sehr gewundert, ihn bei der ›Muttitante‹ schlafend vorzufinden. Reni hätte es auch allen erzählt, wenn sie so etwas gesehen hätte –, der Uroma, den Nachbarskindern und vor allem ihrer Tante Gitta.

Heute hatte er jedoch Glück. Reni schlief länger als sonst, sodass er deren Mutter leise wecken konnte.

Bei seinen unmissverständlichen Worten: »Steh auf, und zieh dich an!«, murrte Evelin nur und drehte sich auf die andere Seite.

»Aufstehen, hab ich gesagt, und zwar sofort!« Er zog ihr die Bettdecke weg, worauf sie ihn anfauchte: »Lass das, ich will noch schlafen.«

»Wir haben ein Kind, das hier bald auf der Matte stehen wird und Frühstück haben will.«

»Ja, ja, ich stehe ja schon auf.« Sie erhob sich gähnend und widerwillig und schlich zum Bad, wo sie wie in früheren Zeiten lange brauchte, um ihre Schönheit aufzufrischen.

Viel zu lange, fand Henrik und sorgte dann mit ein paar deftigen Sprüchen gerade noch rechtzeitig dafür, dass Reni von dem nächtlichen Geschehen tatsächlich nichts mitbekam. Als sie erwachte, kam die ›Muttitante‹ eben zur Tür herein, hübsch und adrett und setzte sich zu ihnen an den Frühstückstisch.

»Und wann darf ich Ostereier suchen?«, wollte die Kleine wissen, nachdem sie ihr Müsli verzehrt hatte.

Mein Gott, heute war ja Ostern! Die Eltern dieses aufgeweckten Kindes schauten sich beinahe entsetzt an. Ihm fiel schließlich der Karton mit Süßigkeiten und kleinen Geschenken ein, von dem Gitta gesprochen hatte. An den hätte er wirklich eher denken müssen.

Evelin fasste sich jedoch schnell und rief: »Der Osterhase hat sich vorhin gemeldet und gesagt, dass er etwas später kommt, dich aber ganz bestimmt nicht vergessen hat.«

»Und da ein Osterhase immer alles ganz heimlich macht, werden wir jetzt einen kleinen Spaziergang machen«, fügte Henrik hastig hinzu. »Die Mutti wird dir beim Anziehen helfen und dann mit dir vorausgehen zum – Stadtwall. Da blühen jetzt schon die Buschwindröschen. Ich räume die Küche auf und komme dann gleich nach.«

Reni war von dieser Verfahrensweise nicht überzeugt und nörgelte: »Und wie kommt der Osterhase in unsere Wohnung hinein?«

»Durch das Küchenfenster, so wie in jedem Jahr.«

»Ach so. Ich will aber nicht mit der Tante zum Stadtwall gehen. Du kannst doch mitkommen und sie räumt auf.«

»Das geht nicht, Renimaus«, wehrte Henrik ab, während er seine Tochter an die Hand nahm und mit ihr zur Garderobe ging. »Deine Mutter wohnt hier nicht und kennt sich daher nicht aus.«

»Stimmt, sie weiß nicht, wo wir die Tassen im Schrank haben.« Die Kleine lachte schon wieder und verließ dann mit ihrer ziemlich mürrisch dreinblickenden Mutter die Wohnung.

*

Ihr Körbchen war gut gefüllt mit Osterhasen, Eiern und kleinen Enten aus Schokolade und Marzipan, zwei Hefte zum Ausmalen und Glitzerstifte hatte der Osterhase auch gebracht. Wie der allerdings unter die Kommode gekommen war, konnte sich Reni beim besten Willen nicht vorstellen. Aber vielleicht gab es den Osterhasen bloß im Fernsehen oder im Supermarkt. Vielleicht hatte der den Papa beauftragt, die bunte Stifteschachtel unter die Kommode zu schieben. Aber eigentlich war das völlig egal. Sie freute sich über die Geschenke einerseits, andererseits war sie traurig, dass die Tante Gitta beim Eiersuchen nicht dabei gewesen war. Mit ihr wäre es viel lustiger gewesen, als mit der Tante aus ­München, die noch nicht ein einziges Mal so richtig mit ihr gespielt hatte. Sie saß nur beim Papa und erzählte viel und lachte manchmal auch. Der Papa lachte nicht, der hatte wahrscheinlich wieder Kopfschmerzen.

Zum Mittagessen waren sie in einem Lokal gewesen, wo man wer weiß wie lange ganz still am Tisch sitzen musste und so gut wie nichts sagen durfte. War das langweilig gewesen! Und geschmeckt hatte es dort auch nicht.

Inzwischen wieder daheim, hatte sie sich sofort in ihr Zimmer zurückgezogen, wo sie eifrig damit begann, ein Bild für ihre Tante Gitta zu malen.

Evelin und Henrik saßen derweil im Wohnzimmer, tranken Kaffee und aßen von dem Kuchen, den Gitta gebacken hatte. Die Frau Doktor genehmigte sich jedoch nur ein klitzekleines Stück, sie achtete auf ihre Figur und war ohnehin so missgestimmt, dass ihr der Appetit vergangen war.

»Ich verstehe nicht, dass Irene sich mir gegenüber so abweisend verhält«, klagte sie und schaute ihren Ex-Mann an, als wäre er an diesem Zustand schuld. »Ich gebe mir so viel Mühe mit der Kleinen. Und was macht sie? Sie jammert nach ihrer Tante Gitta und hat kein Interesse für ihre Mutter.«

»Wie kann sie das denn haben?«, entgegnete er unwillig. »Du bist doch sonst so schlau und müsstest wissen, dass Liebe und Vertrauen nicht zwangsläufig da sind. Du hast sie zwar geboren, aber ihre eigentliche Mutter ist inzwischen Gitta geworden.«

»Und was bedeutet dir diese Frau?«

»Ich … mag sie sehr und … wollte sie … heiraten.«

»Und jetzt nicht mehr?«

»Ich weiß es nicht. Für Reni wäre es das Beste – und für mich – eigentlich auch. Versteh mich richtig, du bist eine kluge, sehr hübsche und tolle Frau, und du bist mir nicht gleichgültig. Aber eine Mutter im eigentlichen Sinne bist du nicht. Die wirst du auch nicht, weil du viel zu sehr mit dir selbst und deinem Beruf beschäftigt bist. Reni spürt das, und deshalb lehnt sie dich ab.«

Evelin schob enttäuscht die Unterlippe vor, wie ein Kind, das weinen will, und antwortete nicht. Erst nach einer Weile murmelte sie: »Und ich habe gedacht, sie freut sich, wenn ich mit ihr einkaufen gehe und wird begeistert sein …«

Als sie verzagt schwieg, ergänzte Henrik mit bitterem Spott: »Ich weiß, du wolltest für ein paar Tage die gute Fee aus dem Märchenbuch spielen und hast uns eine Welt schmackhaft machen wollen, die nicht die unsere ist.«

»Ich will nicht spielen, ich meine es ehrlich.«

Er schüttelte traurig den Kopf. »Sicher meinst du es ehrlich, bis du wieder etwas anderes willst. So war es doch schon immer.«

»Und was soll nun werden?«, fragte sie geknickt.

Er trank seinen Kaffee langsam aus, um Zeit zu gewinnen, um nicht gleich die Antwort geben zu müssen, die ihm schwerfiel. Aber sie musste sein. Evelin war zwar charmant und eine wundervolle Geliebte und in dieser Hinsicht einfach einsame Spitze, aber keine Frau für den Alltag. Ja, sie konnte ihn schon verwöhnen, das hatte sie ja immer schon gekonnt. Das war aber auch schon alles und leider keine Basis für eine gute Ehe. Und mit dem Kind konnte sie gar nicht umgehen und nahm an, mit hübschen Kleidchen und allerhand Glitzerkram Mutterliebe ersetzen zu können.

»Deine Welt ist nicht unsere Welt«, sagte er schließlich. »Du kannst auch sehr gut ohne uns leben, aber Reni braucht eine Mutter, die immer für sie da ist. Und diese Mutter ist Gitta. Daran möchte ich nichts ändern, das würde Reni auch nur krank machen. Und letztendlich würdest du auch nie genug Zeit für sie haben.«

»Wir könnten uns eine Kinderfrau leisten.«

»Nein«, entgegnete er hart. »So etwas kommt gar nicht infrage. Ich weiß nicht, was dich dazu bewogen hat, uns zu besuchen, aber besonders gut war dieser Entschluss nicht. Und wenn du unsere Tochter nicht in einen Konflikt bringen willst, dann bleibe für sie eine nette Tante, die sich ab und zu mal sehen lässt.«

»Ich bin immer so allein in München«, gestand sie kleinlaut. »Da dachte ich …«

»Da dachtest du, der Henrik wirft alles hin, was er sich hier aufgebaut hat, verlässt Freundin und Oma, nimmt das Kind und kommt zu dir nach München. Nein, so geht das nicht. Das ist mir inzwischen klar geworden.«

»Aber wir lieben uns doch noch.«

»Nein«, stellte er richtig. »Wir begehren uns nur. Wenn es mehr wäre, hättest du nachgedacht und würdest dir hier eine Stellung suchen, damit du Beruf und Familie miteinander vereinbaren kannst. Doch das willst du ja gar nicht. Ich soll alles aufgeben, kann mich demzufolge auch kaum noch um meine Großmutter kümmern, die mich aufgezogen hat. Und Reni soll von einer Kinderfrau betreut werden.«

Evelin ging auf die alte Frau nicht ein, sie erwiderte nur: »Andere Ehepaare halten sich auch ein Kindermädchen. Daran ist nichts Schlimmes.«

»Was andere Ehepaare machen, interessiert mich nicht. Und ich werde hier auf keinen Fall wegziehen.«

Evelin wurde bewusst, dass ihre sehr spontanen Zukunftspläne mit Mann und Kind der Wirklichkeit nicht standhielten. Natürlich hatte sie ihre Tochter gern, Henrik auch, aber sie konnte sich nicht vorstellen, mit Ausnahme von leidenschaftlichen Liebesstunden zum Familienleben beizutragen.

»Du hast recht«, entgegnete sie leise und erhob sich. »Mit uns, das wird nichts mehr, auch wenn diese Nächte wundervoll waren. Unsere Auffassungen von einem erfüllten Leben sind doch zu verschieden. Und da ich morgen schon ziemlich früh abreise, werde ich mich jetzt verabschieden.«

Er hielt sie nicht zurück, nahm sie aber noch einmal fest in die Arme, küsste sie lange und schien sich nun doch nicht von ihr trennen zu können.

Dass sie dabei von ihrer Tochter beobachtet wurden, bemerkten sie beide nicht.

*

Reni war schnell wieder zu ihrem Zimmer gelaufen, hatte sich auf ihr Bett geworfen und das Gesicht ins Kissen gedrückt. Vollkommen verstört schluchzte sie leise, denn immerhin verstand sie schon, dass ihr Papa wohl auch noch eine andere Frau lieb hatte, nicht nur ihre Tante Gitta. Aber vielleicht kam die auch gar nicht wieder. Vielleicht blieb die andere nun für immer hier.

Jetzt sprachen sie miteinander, kamen herein, und Reni hörte, wie der Vater halblaut sagte: »Sie schläft, und das ist auch gut so.«

Die beiden entfernten sich, und dann war alles still.

Die Kleine blieb jedoch in ihrem Bett liegen, ihre Lieblingspuppe fest an sich gedrückt. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander wie aufgescheuchte Vögel, bis sie nach einer Weile wirklich einschlief.

Henrik hatte unterdessen die Spuren von Evelins Aufenthalt beseitigt, hatte aufgeräumt, die Betten neu bezogen und die Wäsche gleich in die Waschmaschine befördert. Anschließend hatte er geduscht und seine Wohlfühlklamotten übergestreift.

Danach ging er zum Kinderzimmer, um nachzusehen, ob sein Kind inzwischen ausgeschlafen hatte. Es war wieder wach, saß aber noch auf dem Bett, musterte den Vater mit bösen Blicken und fragte argwöhnisch: »Ist die olle Tante endlich wieder weg?«

»Deine Mutter ist abgereist. Ich soll dir herzliche Grüße bestellen.« Er setzte sich neben sie und wollte sie auf seinen Schoß nehmen, doch sie strebte von ihm fort und rief: »Wann kommt Tante Gitta wieder? Ich vermisse sie schon so sehr.«

»Ich weiß es nicht, aber bestimmt bald«, versuchte er, seine aufgeregte Tochter zu beruhigen. »Und morgen machen wir drei uns einen schönen Tag, gehen Eis essen und Enten füttern.«

Reni antwortete nicht sofort, sie zupfte an ihrer Puppe herum und stieß schließlich entrüstet hervor: »Ich hab gesehen, wie du die geküsst hast, so wie im Fernsehen und gaanz lange.«

»Das …, das … war nur … zum Abschied«, stotterte er sichtlich verlegen und fühlte sich wie kalt erwischt. »Das hat gar nichts zu … bedeuten.«

»Tante Gitta! Tante Gitta!« Das kleine Mädchen beachtete den sehr nervösen Vater nicht mehr. Es sprang aus dem Bett und eilte vor Freude laut jauchzend auf die schon so sehr Vermisste zu, die eben zur Tür hereingekommen war.

Gitta nahm das Kind in die Arme, drückte es an sich, ihr Blick ging jedoch zu Henrik, der ihr wie das personifizierte schlechte Gewissen vorkam. Kein Wunder, er hatte ›die‹ ja gaanz lange so wie im Fernsehen geküsst. Und wer ›die‹ war, konnte sie sich denken, hatte ohnehin geahnt, dass er die Hände nicht von ihr lassen würde.

Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung und Verzweiflung nicht anmerken zu lassen, was ihr auch recht gut gelang. Henrik hatte mit sich zu tun, die Röte der Beschämung war ihm deutlich anzusehen,

Reni hingegen nahm strahlend das Päckchen in Empfang, das Gitta ihr in die Hand drückte.

»Was ist da drin?«

»Mach es auf, dann weißt du es.«

»Du musst mir helfen.«

Gitta nickte nur und half der Kleinen dann beim Auspacken. Zum Vorschein kamen eine Tüte mit Schokoladenkäfern und ein rot-weiß gestreiftes Etwas mit großen Kulleraugen, Katzenohren und Reißverschluss.

»Das ist ein Sorgenfresserchen«, erklärte sie dem Kind. »Dem kannst du einen Namen geben und ihm alles anvertrauen, was dich ärgert.«

»Und wie soll ich das machen?«

»Solange du noch nicht schreiben und lesen kannst, malst du ganz einfach ein Bild, faltest dieses zusammen und steckst es hier hinein.« Sie hatte inzwischen den Reißverschluss geöffnet, nahm ein Blatt Papier vom Tisch und zeigte der Kleinen, wie das Spielzeug zu gebrauchen war.

»Und wenn es da drin ist, wird alles wieder gut?«

»Ja, Reni, dann wird alles wieder gut«, bestätigte sie, obwohl sie daran nicht glauben konnte. Henrik hatte sich offenbar mit seiner ehemaligen Frau versöhnt, was sie auch erwartet hatte. Das war das Ende ihrer Beziehung. Sie wusste nur nicht, wie sie das dem Kind beibringen sollte.

»Dann male ich jetzt was.« Die Kleine setzte sich auf einen der beiden Stühle, die an einem niedrigen Holztisch standen, nahm sich ein Blatt Zeichenpapier und begann, in ihrer Stifteschachtel zu kramen.

»Das ist eine gute Idee«, meinte Gitta lobend und verließ dann den Raum. Henrik folgte ihr mit einem unguten Gefühl in der Magengegend. Gleich würde sie ihn fragen, wie Reni und er die letzten Tage verbracht hatten.

Das tat sie jedoch nicht. Sie kümmerte sich nur wie immer um das Abendessen, lachte und scherzte mit dem Kind, brachte es zu gewohnter Zeit zu Bett und erzählte ihm eine Gute-Nacht-Geschichte, blieb aber alles in allem ziemlich einsilbig und in sich gekehrt. Und sie packte auch ihre Reisetasche nicht aus. Die stand auch um zwanzig Uhr immer noch im Flur.

Henrik nahm ihr Verhalten mit Sorge zur Kenntnis.

*

Zu späterer Stunde ertrug er dieses Schweigen nicht mehr und erkundigte sich wie nebenbei: »Na, wie war es mit Elsie im Spreewald?«

»Ziemlich anstrengend.« Gitta lächelte gezwungen. »Ich werde daher früh schlafen gehen. Reni braucht mich ja vorläufig nicht.«

»Nein, aber ich brauche dich.«

»Lass deine frommen Lügen!«, fuhr sie ihn heftig an. »Im Bad steht Parfüm, das nicht meines ist, du hast die Betten neu bezogen und das Bettzeug gleich gewaschen. Wahrscheinlich soll ich nicht mitkriegen, dass deine Ex-Frau hier übernachtet hat. Und nach Renis Aussage habt ihr euch wieder vertragen. Ich weiß nun, woran ich bin, und werde fortan wieder bei mir wohnen. Ich habe dort ja immer noch ein Zimmer und werde mich mit meiner Untermieterin schon einigen.«

»Um Gottes willen, mach doch so etwas nicht! Das will ich nicht! Bleib doch hier! Es ist nicht so, wie du glaubst.«

»Für die Kleine werde ich natürlich auch weiterhin ihre Freundin sein«, sprach sie weiter, ohne auf seine bittenden Worte einzugehen. »Sie kann ja nichts dafür, dass du mich – betrogen – hast. Oder etwa nicht?«

»Doch, aber wir haben uns nicht versöhnt.«

»Aha«, erwiderte sie mit beißendem Spott. »Und weil ihr nach wie vor verkracht seid, habt ihr miteinander geschlafen. Für wie dumm hältst du mich eigentlich?«

»Ich kann dir alles erklären. Komm, wir setzen uns jetzt irgendwohin und reden über alles in Ruhe.«

»Es ist alles gesagt, oder fast alles. Wir werden natürlich nicht mehr heiraten.« Sie zog den Ring, den er ihr geschenkt hatte, vom Finger, legte ihn auf den Küchentisch und wandte sich anschließend zur Tür.

»Es tut mir so leid, dass ich mich nicht beherrschen konnte.« Er war mit wenigen Schritten bei ihr, hielt sie eisern fest. »Bitte verzeih mir.«

»Ich bin dir nicht böse und verzeihe dir. Du hast eine Entscheidung getroffen, die ich akzeptiere. Nun akzeptiere du aber auch die meine.«

»Bitte, Gitta, denk doch an die schönen Jahre und an Reni.«

»Ich denke an sie, aber sie ist nicht meine Tochter. Sie hat eine Mutter, und die ist die Frau, die du immer noch liebst.«

»Ich weiß nicht, ob ich sie noch liebe.« Henrik sah sie bittend an, räusperte sich und gestand ihr dann: »Sie gefällt mir aber noch. Und als wir uns nach so langer Zeit wieder gesehen haben, hat mein Verstand wohl ausgesetzt. Das soll jetzt keine Entschuldigung sein. Ich weiß, dass es nicht hätte passieren dürfen.«

»Es ist aber passiert. Und nun lass mich gehen. Es ist am besten so.«

Er gab es auf, sie zurückhalten zu wollen, und fragte nur mit gepresster Stimme: »Was soll ich Reni sagen?«

»Dass ich krank bin und sie nicht anstecken will. Nach ein paar Tagen werden wir beide ruhiger sein und mit dem Kind reden. Dann hole ich meine Sachen und ziehe endgültig aus.«

Als sie merkte, dass sie die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, rannte sie zum Flur, riss Jacke, Tasche und Handtasche an sich und verließ fluchtartig die Wohnung, in der sie ein paar Jahre glücklich gewesen war.

Henrik sah ihr verzweifelt nach. Und er begriff, dass er in den vergangenen Tagen alles getan hatte, um seinem Kind die mütterliche Freundin zu nehmen.

Am anderen Abend rief Evelin an und erzählte ihm, dass sie gut daheim angekommen wäre. Als sie sich jedoch für die schöne Zeit bedankte, legte er einfach auf und war auch in den nächsten Tagen nicht zu sprechen.

Aber schließlich und endlich sagte er ihr doch die Wahrheit und bat sie, ihn und das Kind in Zukunft in Ruhe zu lassen. Sie hätte schon genug Unheil angerichtet.

*

Ich halte es nicht mehr aus, ich halte es einfach nicht mehr aus! Henrik hatte eine schlimme Woche hinter sich. Schon wieder hatte ihn eine Frau verlassen, ihn und das Kind.

Und dieses Kind fragte und fragte nach der Tante Gitta, jammerte und jammerte und weinte und weinte. Dieser Zustand war kaum noch zu ertragen. Die Erzieherinnen in der Kindertagesstätte wollten inzwischen schon wissen, welche Probleme sein Kind hatte, die Nachbarn gingen ihm aus dem Weg, und seine Großmutter, der er sein Herz ausgeschüttet hatte, hatte vorwurfsvoll gefragt: »Junge, wie konntest du nur?«

Mehr sagte sie nicht, aber das reichte ihm auch schon.

Insgeheim hatte er gehofft, Gitta würde von allein wiederkommen, würde einsehen, dass sie ihn und Reni nicht alleinlassen durfte, auch wenn die Schuld allein bei ihm lag. Sie hatte jedoch nur ihre Sachen geholt und war trotz mehrfacher Bitten zu keinem Gespräch bereit gewesen.

Er war also wieder allein. Und erst jetzt fiel ihm auf, wie sehr sie schon zu seinem Leben gehörte, wie sehr er sie brauchte.

Um endlich sein Lebensschiff wieder auf einen sicheren Kurs zu bringen, verfrachtete er Reni an diesem Samstagnachmittag zu seiner Großmutter, kaufte anschließend einen Strauß Rosen und ging damit zu Gitta.

»Du kannst mir die Blumen jetzt vor die Füße werfen oder um die Ohren hauen«, sagte er leise, nachdem sie ihm die Tür geöffnet hatte. Er hielt ihr den Strauß hin, und als sie den nicht annehmen wollte, stieß er mit zitternder Stimme hervor: »Ich weiß, dass ich einen großen Fehler gemacht habe, aber du könntest mir wenigstens eine Chance geben, alles wiedergutzumachen. Lass uns miteinander reden.«

Sie schaute in sein verhärmtes Gesicht, bemerkte die Sorgenfalten und wusste, dass es ihm leidtat, sie betrogen zu haben. Doch für wie lange?

War er vielleicht genauso wie Reinhard Wagner, für den sie nur von Bedeutung war, wenn er Hilfe brauchte? Aber hier ging es ja nicht nur um Henrik, sondern vor allem um sein Kind. Daher trat sie schweigend zur Seite, damit er ihr in die Wohnung folgen konnte.

»Bist du allein?«, erkundigte er sich, während er die Rosen auf eine kleine Kommode legte.

»Ja, Dana ist mit Freunden unterwegs. Und wo ist Reni?«

»Bei Oma, sie wollen zum Zoo.«

Sie nickte nur, nahm dann den Strauß und stellte ihn in eine Vase mit Wasser, was ihn heimlich aufatmen ließ. Sie bot ihm auch Platz an und setzte sich zu ihm. Ihre Worte waren jedoch wie eine eiskalte Dusche, sie machten ihm wenig Hoffnung, dass bald wieder Frieden zwischen ihnen herrschen würde. Sie sagte nämlich: »Es gibt Sachen, die kann man nicht mehr gutmachen. Und für mich ist dein Verhalten der Beweis, dass ich immer nur dein Hausmütterchen war, das du nach Herzenslust betrügen kannst. Aber ich bin nicht so einfältig, wie du glaubst. Ich bleibe lieber allein, als mir so etwas bieten zu lassen.«

»Ich werde dich nicht mehr betrügen.«

»Du wirst deine Ehemalige also nie mehr wiedersehen.«

»Das kann und will ich dir nicht versprechen. Sie ist nun einmal Renis Mutter …«

»… und wenn du mit ihr zusammen bist, dann geht dir dein Verstand wieder flöten«, ergänzte sie höhnisch.

»Nein, Gitta, bestimmt nicht. In Zukunft könntest du dabei sein, wenn wir uns treffen.«

»Als Aufpasser, nicht wahr? Damit du ja nicht in Versuchung kommst. Du bist ein guter Vater, aber auf einen treulosen Freund oder gar Ehemann verzichte ich gern.«

»Ich weiß nicht, was nun werden soll«, würgte er hervor und wischte sich über die Augen.

»Na, was schon?«, gab sie herb zurück. »Ich werde von hier wegziehen, habe mit Elsies Hilfe schon eine Wohnung in Aussicht. Du kannst mir Reni natürlich immer bringen, wenn du wirklich niemanden für sie hast, und auch sonst mal ab und zu. Mehr geht nicht, mach das deinem Kind klar.«

»Ja, ich werde ihr sagen, dass ihr Vater das größte Rindvieh des Jahrhunderts ist. Ob sie das aber schon begreifen kann, glaube ich nicht. Sie wird nicht verstehen, dass du uns nicht mehr haben willst.«

»Nein, so richtig wohl noch nicht. Aber sie ist noch relativ klein, sie wird mich irgendwann vergessen.«

»Sie wird dich nicht vergessen, genauso wenig wie ich, aber ich sehe ein, dass du noch viel Abstand brauchst. Darf ich dir dennoch Reni einmal in der Woche bringen?«

»Ja, das habe ich dir doch versprochen.«

»Gut, dann machen wir es so.« Er stand auf und hielt ihr die Hand hin, die sie nach kurzem Zögern nahm. Und er dachte, dass ihre gemeinsame Sorge um Reni vielleicht die Brücke sein könnte, auf der sie wieder zueinander finden konnten.

*

»Sie sehen müde und krank aus, Frau Hollstein.« Hartmuth Grünberg musterte seine Mitarbeiterin mit besorgten Blicken. »Haben Sie sich beim Ausflug in den Norden erkältet, oder gibt es irgendwelche Probleme? Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen.«

»Nein, es ist nichts«, wehrte Evelin mit matter Stimme ab. »Ich bin nur etwas abgespannt. Morgen wird es mir schon besser gehen.«

Er nickte nur, aber sie spürte, dass er ihr nicht glaubte. Und er hatte ja so recht. Sie fühlte sich wirklich nicht besonders, genau genommen fühlte sie sich ziemlich mies. Ihre innere Ruhe, auf die sie immer so stolz gewesen war, hatte sie vollkommen verlassen.

Wäre ich doch bloß nicht zu Henrik gefahren, warf sie sich immer wieder vor. Dieser Besuch hat niemandem etwas genützt, er hat nur Schaden angerichtet. Er hat die Frau verloren, die sich um ihn und das Kind gekümmert hat, und ich bin wieder allein, so wie vorher auch.

War sie wirklich allein? Sie brauchte ihrem Chef gegenüber doch nur etwas zugänglicher sein, dann hätte sie zumindest jemandem, mit dem sie reden konnte und der sie wohl auch gernhatte. Ach, sie wusste selbst nicht, was sie tun sollte, und fühlte sich wie eine Versagerin. Sie hatte nicht einmal Freude an ihrer Arbeit.

»Nun sagen Sie schon, was passiert ist.«

Hartmuth Grünberg, der sie auch an diesem Nachmittag schon eine Weile forschend gemustert hatte, war anzumerken, dass er sich Sorgen um sie machte.

»Sie werden das doch nicht verstehen. Ich verstehe mich ja selbst nicht.«

»Vielleicht doch.«

»Es ist etwas sehr Privates.«

»Wirkt sich aber doch auf Ihr Wohlbefinden und auch auf die Arbeit aus.«

»Ja, das stimmt«, gab sie betreten zu. »Das tut mir leid.«

Er schaute auf seine Armbanduhr und schlug dann vor: »Es ist ja sowieso schon Feierabend. Wollen wir irgendwo was essen gehen? Und dabei erzählen Sie mir dann, was Sie so sehr bedrückt.«

»Sie werden nicht mehr sehr gut von mir denken, wenn Sie das wissen.«

»Jeder Mensch hat Fehler. Und wenn Ihnen die Ihren schon klar geworden sind, ist das ein positiver Anfang. Nun, wie lautet Ihre zustimmende Antwort?«

Sein Humor war so entwaffnend, dass sie schließlich nachgab.

»Ich möchte nicht in ein Lokal gehen, weil …, weil man da nicht allein ist. Ich fange bestimmt an zu weinen. Wenn Sie zu mir kommen möchten, dann …, dann können Sie sich mein Sündenregister ja anhören.«

Er lächelte verständnisvoll und erwiderte: »Das mache ich gern. Sagen wir, um 19:30 Uhr?«

Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu und entgegnete dann nur: »Ja, das ist eine gute Zeit.«

*

Er war zwar noch nie bei ihr gewesen, wusste aber genau, wo seine beste und heimlich geliebte Mitarbeiterin wohnte. Dass sie ihn zu sich einlud, war vielleicht schon der erste Schritt auf dem Weg zu ihr. Professor Dr. Hartmuth Grünberg war dennoch alles andere als gut zumute, als er mit dem Fahrstuhl in die zweite Etage des erst vor wenigen Jahren erbauten Hauses fuhr. Vielleicht brauchte sie ihn heute, auch wenn er ganz gewiss nicht der Mann ihrer Träume war. Bereits fünfundvierzig, groß und hager mit Brille und schon leicht ergrauten Haaren, würde sie in ihm im Höchstfall einen Freund sehen. Aber vielleicht irgendwann auch mehr.

Unterdessen war er vor ihrer Wohnungstür angekommen, hatte geklingelt und saß bald darauf mit ihr in ihrem schick eingerichteten Wohnzimmer. Vor ihnen auf dem ovalen Glastisch standen Gläser mit Orangensaft, an denen sie ab und zu nippten.

»Und nun schütten Sie mal Ihr Herz aus«, forderte er sie auf. »Auch wenn ich Ihnen nicht helfen können sollte, so ist es doch immer gut, wenn man mit jemandem darüber gesprochen hat.«

»Ja, natürlich.« Sie zerknüllte ihr Taschentuch, trank einen Schluck und begann: »Sie wissen ja, dass ich geschieden bin. Was Sie aber nicht wissen, ist, dass ich meinen Mann gewissermaßen Knall und Fall verlassen habe. Da war unser Kind erst ein paar Monate alt. Ich habe es nicht mehr ausgehalten zwischen Windeln und Babygeschrei, ich wollte mich nur auf meinen Beruf konzentrieren und Karriere machen, wollte mehr Geld haben, um mir mehr leisten zu können: Markenkleidung, gute Schuhe, Reisen und so weiter. Ich wollte nicht für eine Familie sorgen müssen und fand meinen Mann spießig, weil er ganz andere Ansichten hatte als ich. Anfangs war auch alles gut, meine Eltern schenkten mir diese Wohnung, ich hatte viel zu tun, hatte Geld und konnte endlich einkaufen, was ich wollte. Dabei vergaß ich allerdings oft, die Alimente für die Kleine zu zahlen. Ehrlich, ich habe nicht oft an mein Kind gedacht. Ich nahm an, mein Mann und seine Großmutter würden sich schon ausreichend um sie kümmern.«

»Und dann haben Sie sich scheiden lassen«, warf Grünberg ein.

»Ja, wir fanden es besser so.«

»Und dann?«

»Dann geschah eigentlich nichts mehr. Ich hatte längere Zeit eine Beziehung zu einem etwas jüngeren Mann, zu Mario Samuel, den Sie ja auch kennen. Wir hatten unseren Spaß, aber irgendetwas fehlte. Und als er mir vor ein paar Wochen erklärte, er würde Vater und wolle die Mutter seines Kindes heiraten, haben wir uns getrennt. Danach fühlte ich mich sehr einsam und beschloss, zu Ostern zu meinem Ex-Mann und unserer Tochter zu fahren …«

Hartmuth Grünberg bekam nun die ganze Geschichte von einem Mann zu hören, der durchaus noch Interesse für die Ex-Frau hatte. Das kleine Mädchen jedoch sah in einer anderen Frau ihre Mutter und war auch nicht durch Geschenke und nette Worte vom Gegenteil zu überzeugen.

»Sie wundern sich doch nicht etwa darüber?«, fragte er in ruhigem Ton.

»Nein, jetzt nicht mehr. Das Schlimme ist nur, dass Henrik diese Frau heiraten wollte und sie ihn und das Kind jetzt verlassen hat. Ich habe alles kaputt gemacht, mein Leben und das der anderen auch.«

Evelin schluchzte laut, nachdem sie den letzten Satz hervorgestoßen hatte, und setzte dann hinzu: »Nun hat Reni überhaupt keine Mutter mehr. Und Henrik will nicht mehr mit mir sprechen.«

»Keine schöne Sache, das gebe ich zu. Aber Sie haben daran nicht allein die Schuld. Ihr ehemaliger Mann hat mit Ihnen geschlafen und hat sicher gewusst, dass er damit die Beziehung zu seiner neuen Partnerin aufs Spiel setzt.«

»Wir haben gedacht, es kommt nicht raus.«

Der Professor lächelte unwillkürlich. »So etwas kommt meistens heraus.«

»Was soll ich nun bloß machen?« Sie schaute flehend zu ihm hin, worauf er nachdenklich erwiderte: »Sie müssen sich darüber klar werden, was sie selbst wollen. Wenn Sie Ihren Mann noch lieben und dem Kind in Zukunft eine gute Mutter sein wollen, dann kämpfen Sie um beide. Das bedeutet aber auch, dass Sie dann nicht nur die Karrierefrau sein können. Sie wären dann nicht mehr allein, müssten aber in beruflicher Hinsicht Abstriche machen. Sie können sich nicht darauf verlassen, dass er Haushalt und Kinderpflege allein bewältigt.«

»Ich hatte an eine Frau gedacht, die sich um den Haushalt kümmert und Kind betreut, aber das will Henrik absolut nicht. Er will auch nicht hierherziehen.«

»Dann gehen Sie zu ihm zurück.«

»In dieses Provinznest? Niemals!«

»Dann haben Sie ja bereits eine Entscheidung getroffen, und Ihr ehemaliger Mann ebenfalls. Sie können in diesem Fall für Ihre Tochter wahrscheinlich nur noch eine nette Tante werden, die sich ab und zu mal sehen lässt. Und vielleicht wäre es gut, wenn diese Tante in Zukunft einen – Onkel – an ihrer Seite hätte, der ihr die Einsamkeit vertreibt – und der selbst recht einsam ist.«

»Und dieser – Onkel – wären Sie?«

»Ja, ich hätte an diesem Job durchaus Interesse und kann mir unser Zusammenleben sehr schön vorstellen. Ich bin natürlich nicht mehr so jung und auch nicht so hübsch wie Mario Samuel.«

Sie zögerte, holte tief Luft und meinte dann warnend: »Ich kann nicht besonders kochen und backen schon gar nicht.«

»Das macht nichts.«

»Ich möchte diese Wohnung nicht aufgeben.«

Er sah sich um und erklärte anschließend: »Sie scheint mir recht geräumig zu sein, aber für den Anfang könnte man es ja mit gemeinsamer Freizeitgestaltung versuchen. Wir könnten reisen und uns die Welt ansehen.«

Sie fühlte sich von seinen Zukunftsplänen tatsächlich getröstet, viel mehr, als sie erwartet hatte. Und als er nun mit einem leisen Lachen vorschlug: »Wollen wir ›Du‹ zueinander sagen?«

Da lächelte sie ihm zu und sagte ganz einfach: »Ja.«

*

Reni verging fast vor Traurigkeit. Ostern war nun schon so lange vorbei, aber Tante Gitta war wohl immer noch krank und konnte daher nicht beim Papa und bei ihr wohnen, sie war sogar weggezogen, ganz weit weg. Und das Sorgenfresserchen hatte ihr auch nicht geholfen. Schon drei oder sechs Mal hatte sie ein wunderschönes Bild gemalt mit einer großen bunten Wiese drauf, wo sie selbst, der Papa und die Tante Gitta miteinander Ball spielten – oder einen Drachen steigen ließen. Die Bilder waren zwar am nächsten Tag weg gewesen, die Tante war aber leider immer noch nicht da.

So konnte es doch nicht bleiben. Aber vielleicht durfte sie sie an diesem Samstagvormittag endlich wiedersehen und für eine Weile bei ihr bleiben.

Der Vater wollte zum Einkaufen und zum Autowaschen fahren, und sie sollte mit. Sie wollte aber nicht, auf gar keinen Fall!

»Ich will zu Tante Gitta, bitte, Papa, bitte, bitte.«

Die flehende Stimme seiner Tochter tat Henrik so weh, dass er schließlich mit belegter Stimme erwiderte: »Ich muss erst anrufen, ob sie ein bisschen Zeit für dich hat.«

»Dann ruf doch an.«

Er tat es, während Reni wie ein Wachhund neben ihm stand und offensichtlich beabsichtigte, das Gespräch ganz genau zu verfolgen.

»Hier ist Henrik, guten Tag, Gitta«, begann er in bemüht sachlichem Ton. »Ich habe den ganzen Vormittag zu tun, Reni wäre demzufolge ganz allein – und zu Oma kann ich sie auch nicht bringen, weil die an diesem Wochenende zu ihrer Schwester gefahren ist. Kann die Kleine vielleicht bis Mittag bei dir bleiben? Anschließend können wir auch irgendwo was essen gehen, wenn du magst.«

Ihre Antwort blieb zuerst einmal aus, erst nach einigen Sekunden hörte er, wie sie kurzangebunden sagte: »Ja, bring sie her.«

»Hurra!!« Reni umarmte ihren Vater stürmisch, lief dann zu ihrem Zimmer, um ihre Lieblingspuppe und das neue Bilderbuch in ihren Rucksack zu packen.

Henrik sah ihr einen Augenblick lächelnd nach, bevor er die große Einkaufskiste hervorholte und nach dem Autoschlüssel griff. Dabei gestand er sich ein, dass er aufgeregt war wie schon lange nicht mehr. Seit nahezu vier Wochen hatte er Gitta nicht mehr gesehen, sie fehlte ihm an allen Ecken und Enden, und er dachte jeden Tag an die Zeit, in der er ein harmonisches Familienleben und Reni eine Mutter gehabt hatte.

»Ich bin fertig.« Sein Kind unterbrach seine wehmütigen Gedanken und forderte ihn gleichzeitig auf, endlich loszufahren.

»Na, dann komm«, sagte er mit nicht ganz klarer Stimme. »Wollen wir hoffen, dass es deiner Tante Gitta schon etwas besser geht.«

Während sich Henrik und seine Tochter auf den Weg machten, war Gitta nicht in der Lage, irgendetwas zu tun. Sie hatte eigentlich die Fenster putzen wollen, aber das passte jetzt sowieso nicht mehr. In wenigen Minuten würde Reni hier sein, ihre kleine Reni, die sie schon so sehr vermisste. Ob es der Kleinen genauso ging?

Sich diese Frage zu stellen, war völlig überflüssig. Knapp zwanzig Minuten später lief Reni auf sie zu, strahlte vor Wiedersehensfreude und warf sich in ihre Arme.

Henrik bekam bei diesem Anblick feuchte Augen, und er schwor sich, sein Kind nie mehr derartigen Konflikten auszusetzen.

»Bist du jetzt wieder gesund?« Reni hatte es sich auf Gittas Schoß bequem gemacht und schaute sie forschend an.

»Ja, jetzt bin ich wieder gesund.«

»Dann kannst du ja wieder bei uns wohnen. Komm, wir packen ganz schnell deine Sachen.« Renis Initiative war kaum noch zu bremsen. Henrik meinte daher ablenkend: »Ihr beide könnt ja zuerst einmal euer Wiedersehen feiern, ich muss aber jetzt los, einkaufen und Auto waschen lassen. Wenn ich wieder hier bin, gehen wir zum Italiener und essen Pasta. Einverstanden?«

»Na klar, Papa. Pasta ist prima. Nicht, Tante Gitta, Pasta ist prima. Du kommst doch mit?«

Gitta brachte es nicht fertig, dem Kind eine Absage zu erteilen. Sie konnte dessen traurige Augen nicht sehen.

Und so erwiderte sie scheinbar erfreut: »Natürlich komme ich mit. Ich habe schon sehr lange keine Pasta mehr gegessen.«

»Da freuen wir uns aber mächtig, nicht wahr, Renimaus?« Henrik tätschelte seinem Töchterchen den Rücken und drückte bei der Gelegenheit Gitta einen Kuss auf die Wange.

Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, behielt Gitta das Kind noch für eine Weile auf ihrem Schoß und genoss es, dessen Körper zu spüren.

Die Kleine hatte abgenommen. Das war nicht zu übersehen. Die junge Frau machte sich Vorwürfe, sie so lange alleingelassen und nur an ihren eigenen Kummer gedacht zu haben. Andererseits gab es keine Lösung für dieses Problem. Sie konnte doch nicht zu einem Mann zurückkehren, der sie betrogen hatte und vermutlich immer wieder betrügen würde.

Gitta unterdrückte ein lautes Seufzen, während sie Reni fest an sich drückte. Und sie dachte an Evelin, an diese gefühlskalte Frau, die sich besser kein Kind angeschafft hätte. Ob die sich noch änderte und ihrem Kind eine echte Mutter sein konnte? Wahrscheinlich nicht.

»Ohne dich ist es bei uns gar nicht mehr schön«, vertraute ihr Reni jetzt an. »Wir sind beide so allein, der Papa und ich. Manchmal kommt die Oma und trinkt bei uns Kaffee, aber die geht bald wieder weg, die ist ja auch schon alt und muss sich ausruhen.«

»Ja, mein Mäuschen, so ist es wohl. Aber jetzt besucht ihr die Mutti sicher öfter.« Gitta konnte sich diese Frage nicht verkneifen und war dann überrascht, als Reni energisch verkündete: »Da fahren wir doch nicht hin, und bei uns war die auch nicht mehr. Papa hat mal am Telefon ganz böse zu ihr gesagt, dass sie uns in Ruhe lassen soll.«

Ja, wenn sie weit weg ist, dann kriegt er so etwas hin, und wenn sie bei ihm ist, dann kriecht er zu ihr ins Bett, dachte Gitta erbost. Ich müsste doch einen Knall haben, wenn ich mich wieder mit ihm einließe.

In diesem Augenblick umarmte Reni sie stürmisch und flüsterte ihr zu: »Ich lasse dich nie wieder weg. Dich hab ich lieb, weil du meine richtige Mutti bist.«

»Ich hab dich auch lieb«, erwiderte Gitta gerührt und tief bewegt. »Du bist doch mein kleines Mädchen. Aber sag doch, was wir machen wollen, bis dein Papa zurückkommt.«

»Mensch ärgere dich nicht spielen und Saft trinken«, kam es prompt zurück, was Gitta unwillkürlich lächeln ließ. Ihre Pflegetochter wusste, was sie wollte.

Als Henrik zwei Stunden später wieder bei ihnen auftauchte, vernahm er schon im Flur das fröhliche Lachen seines Kindes, sah gleich darauf dessen vergnügte Miene und hörte, wie dieses Kind triumphierend erklärte: »Ich habe drei Mal gewonnen, Papa, und Tante Gitta nur zwei Mal. Und jetzt habe ich Hunger.«

»Wir auch, nicht wahr, Gitta?« Henrik schaute bittend zu derjenigen hin, die ihn vor Wochen verlassen hatte, und fügte dann noch hinzu: »Ich habe schon einen Tisch bestellt.«

Und als sie nicht antwortete und an ihm vorbeisah, bat er so leise, dass Reni ihn nicht verstehen konnte: »Nun gib deinem Herzen schon einen Stoß. Wenn du mit uns in ein Lokal gehst, verpflichtet dich das zu nichts. Ich weiß, dass ich die Suppe auslöffeln muss, die ich mir dummerweise eingebrockt habe, aber Reni soll so wenig wie möglich darunter leiden.«

»Sie kann ja auch nichts dafür.«

»Nun kommt endlich, sonst werden die Nudeln noch kalt.« So rief Reni die beiden, die sich immer noch nicht einigen konnten, laut zur Ordnung. Und sie war es auch, die an diesem Tag keine schlechte Stimmung mehr aufkommen ließ. Es war beinahe so wie früher.

*

»Du hast – eine Tochter??« Evelin konnte es nicht fassen, was ihr der Professor eben bei einem Glas Prosecco gestanden hatte. Sie schaute ihn entgeistert an und wiederholte ungläubig: »Du hast wirklich eine Tochter?«

»Eine große Tochter«, ergänzte Hartmuth Grünberg amüsiert lächelnd. »Sie heißt Lena, ist bereits 23 Jahre alt, studiert Sozialpädagogik und liebt Kinder. Einen festen Freund hat sie natürlich auch. Wenn du mich heiratest, kannst du möglicherweise bald Großmutter werden.«

»Hartmuth!!«

Über ihre Empörung konnte er nur schallend lachen.

»Warum lachst du eigentlich?«, fauchte sie ihn an. »Dazu hast du überhaupt keinen Grund. Wir sind seit beinahe drei Monaten zusammen, und ich weiß nicht einmal, dass du ein Kind hast. Verstehst du dich nicht mit deiner Tochter?«

»Wir verstehen uns ausgezeichnet.«

»Und warum war sie noch nie hier?«

»Weil sie ein Jahr in den USA studiert hat und jetzt erst wieder zurück ist. Sie wird also bald hier auftauchen. Und damit du nicht aus allen Wolken fällst, habe ich dir heute von ihr erzählt. Mit ihrer Mutter war ich übrigens nie verheiratet, hatte aber immer und habe noch Kontakt zu ihr. Sie ist eine nette Frau und hat längst einen anderen Mann.«

»Und warum hast du sie nicht geheiratet?«

»Sie konnte sich damit nicht abfinden, dass ich beruflich so viel unterwegs war, aber eigentlich passen wir nicht zusammen«, gab er ruhig zurück.

»Und es hat dir nichts ausgemacht, dein Kind nur selten zu sehen?«

»So selten war das gar nicht. Natürlich hat sie Gertis Mann lieber als mich, der ist ihr Papsi, und ich bin bloß der Papa. Aber was macht das schon, wenn alle zufrieden sind und das Kind in Liebe und Geborgenheit aufwächst?«

Evelin verstand die leise Mahnung, die in seinen Worten enthalten war, sagte aber nichts, sondern dachte nur, dass es ein Familienleben, wie sie es sich vorstellte, in der Wirklichkeit nicht gab. Reni war nicht immer ein artiges Kind und würde auch bald zur Schule kommen, und Henrik würde nicht immer der Mann sein, der sie leidenschaftlich begehrte. In einem Satz: Sie war einem ganz normalen Familienalltag nicht gewachsen, fühlte sich davon überfordert und brauchte ihre Freizeit für sich allein.

»Du hast jahrelang ohne deine Tochter auskommen können, hast auch deren Vater nicht gebraucht«, sagte Hartmuth Grünberg nun auf seine sachliche, besonnene Art, als sie immer noch nicht antwortete, sondern nur nachdenklich vor sich hin sah. »Meinst du nicht auch, dass du das auch weiterhin kannst? Und glaube bloß nicht, dass du allein bist. Wenn du mich auch weiterhin haben willst, dann bleibe ich immer bei dir – und wäre auch gern dein Ehemann.«

»Ist das ein Heiratsantrag?«

»Aber sicher, was denn sonst?«

Sie lächelte ein bisschen, stellte sich das Leben an seiner Seite vor und wusste, dass er ihr viele Freiheiten lassen würde, einen jugendlichen Liebhaber natürlich nicht. Aber er würde vermutlich erheblich dazu beitragen, dass sich ihr Verhältnis zu Henrik und Reni wieder besserte. Er würde der ruhige und zuverlässige Pol in ihrem Leben sein. Und den brauchte sie auch.

»Nimmst du meinen Antrag an?«, brachte er sich jetzt in Erinnerung.

»Ja«, erwiderte sie. »Aber deine zu erwartenden Enkel dürfen niemals Oma zu mir sagen. So eine Anrede vertrage ich nicht.«

»Aber nein«, beruhigte er sie mit nachsichtigem Spott, während er sich erhob, sie zu sich emporzog und in die Arme schloss. »Ich werde ihnen erklären, dass du keine Großmama, sondern die schöne junge Frau bist, die ihren alten Opa geheiratet hat.«

Danach küsste er sie so heiß und innig, dass von einem alten Opa ganz gewiss nicht die Rede sein konnte.

*

Henrik war sichtlich froh gewesen, als Gitta zugestimmt hatte, mit Reni und mit ihm gemeinsam auf der Insel Rügen Urlaub zu machen –, natürlich nur mit getrennten Zimmern. Er mit der Tochter in dem einen und sie in dem anderen allein. Na gut, aber so musste es ja nicht bleiben. Wenn die Kleine sich beim Baden und Spielen müde getobt hatte, dann würde sich – hoffentlich – eine Gelegenheit ergeben, sich endlich mit ihr auszusprechen.

Am heutigen Abend schien diese Gelegenheit gekommen zu sein. Nachdem er sein Kind zu Bett gebracht und abgewartet hatte, bis es fest schlief, klopfte er an Gittas Zimmertür und sagte nur wenig später: »Reni schläft schon. Wollen wir noch einen Spaziergang machen?«

»Lieber nicht, ich habe eine Blase am Fuß.«

»Zeig mal.«

»Nicht nötig, ich habe mich schon selbst verarztet«, wehrte sie halbherzig ab.

»Dann zeige ich dir eben etwas.« Er hatte sich ihr gegenüber in einen der Sessel gesetzt, zog nun seine Brieftasche hervor, entnahm ihr eine schmale weiße Klappkarte und reichte sie ihr.

Gitta überflog das dort Geschriebene, gab ihm die Karte zurück und meinte ausdruckslos: »Deine Ex-Frau hat also den Herrn Grünberg geheiratet. Nun bist du sicher sehr traurig.«

»Überhaupt nicht. Ich bin doch froh, dass sie sich so entschieden hat und …«

»… und du nun keine Wahl mehr zwischen ihr und mir treffen musst«, unterbrach ihn Gitta ironisch. »Sie bleibt, wo sie ist, und du willst dich wieder mit mir begnügen.«

»Ich will mich nicht mit dir begnügen«, entgegnete er scharf und bitter. »Ich liebe dich und möchte dich noch immer heiraten.«

»Und das soll ich dir nun glauben?«

»Ja, du bist die Einzige und Beste. Das ist mir in den vergangenen Wochen klar geworden. Verzeih mir meine Eselei, und sei wieder gut zu mir.« Er nahm ihre Hand und drückte sie schmerzhaft.

»Was soll ich bloß mit dir machen?«, seufzte sie und ließ es zu, dass er sie auf seinen Schoß zog.

»Mich lieb haben, meine Frau und Renis Mama werden und mit mir vielleicht noch ein Kind haben. Wär doch schön, oder nicht?«

»Sehr schön.« Sie schaute ihm in die Augen, lange. Er meinte es ernst mit ihr, vielleicht für immer. Und es würde schließlich auch an ihr liegen, wie glücklich ihre Ehe wurde. Mit ständigen Vorwürfen machte sie nichts besser.

Und dann flüsterte sie ihm zu: »Was meinst du, was würde Reni zu einem kleinen Bruder sagen?«

Henrik interessierte die Meinung seiner Tochter in diesen Minuten nicht. Er drückte Gitta fest an sich und küsste sie ausgiebig. In dieser Nacht würde er nicht allein schlafen, das wusste er. Und bald würde es eine Hochzeit geben, bei der sie vor dem Altar stehen würden –, Gitta, Reni und er. Seine Oma würde vor Rührung Tränen vergießen und ihm bei passender Gelegenheit wahrscheinlich zuflüstern, dass er nun endlich die richtige Frau geheiratet hätte.

Mami Bestseller Box 1 – Familienroman

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