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Auf der Suche
ОглавлениеEs war ein wunderschöner Tag im Mai. Die Sonne brannte seit einer Woche wie im Hochsommer. Überall gut gelaunte Menschen, in Kleidern, T-Shirts und Shorts, die das Wetter genossen. Aber sie fror. Sie hatte diese Woche jede freie Minute in der Sonne verbracht, konnte aber die Kälte, die sie fühlte, nicht vertreiben. Carolin öffnete das Verdeck ihres Mini-Cabrios. Seit sie sich entschlossen hatte ihre „Recherche“ durchzuführen, hatte sie zu mindestens ihre innere Unruhe im Griff. Sie war auf der Suche nach einem schönen, ruhigen Ort. Einem Ort, den sie noch nicht kannte, mit dem sie noch nichts verband. Sie stellte ihr Navi auf eine der Adressen ein, die sie im Freizeitatlas markiert hatte.
***
In der Tasche seines Kittels vibrierte es. Mist. Jan hatte sein Handy wohl gedankenverloren eingesteckt, statt es auszuschalten und in seinen Spind zu legen. Er ging ins Treppenhaus und checkte die Telefonnummer auf seinem Handy.
„Hallo Mamm. Ja, okay. Ich fahr auf dem Heimweg vorbei und schau es mir an. Ich ruf dich dann anschließend an.“
Seine Mutter wollte im September Ihren siebzigsten Geburtstag feiern und war auf der Suche nach einem passenden Restaurant. Er lauschte der Antwort seiner Mutter und lachte.
„Ja, ich werde nicht vorbeifahren, sondern anhalten, aussteigen und reingehen.“
***
Melanie packte ihre Sportsachen zusammen. Ihre Freundin Sarah hatte ihr angeboten, nach dem Training noch mit zu ihr zu kommen. Das passte ihr prima. Sie würde den ganzen Nachmittag bei Sarah verbringen und kurz vor 17 Uhr ihren Vater auf der Arbeit anrufen und bitten, sie abends abzuholen.
Nach dem heftigen Streit gestern hatte ihr ihre Mutter den Chauffeurdienst gekündigt. An das Busfahren war Melanie nicht gewöhnt und sie hatte auch keine Lust darauf. In letzter Zeit stritten sie und ihre Mutter fast nur noch. Meist über Kleinigkeiten. Sie war schon immer ein „Papa-Kind“ gewesen und in letzter Zeit war die Front, die sie gegen ihre Mutter bildeten, stärker geworden.
***
Martin wartete auf den Rückruf eines Lieferanten. Er nutzte die Wartezeit, um seine privaten Emails zu lesen. Ein Kollege hatte ihm, wie versprochen, die Adressdaten eines Familienhotels in der Türkei gemailt. Die Sommerferien standen bevor. So spät hatten sie noch nie ihren Urlaub geplant.
Er scrollte weiter. Werbung, Urlaubsgrüße von Verwandten. Eine Email von Erik, der fragte, ob er nicht Lust auf eine Motorradtour hätte. Er lächelte. Ein entspanntes Männerwochenende, sich den Wind um die Nase wehen lassen, Geschwindigkeit und ein Hauch von Freiheit spüren … das wäre genau das Richtige.
***
Ben wurde langsam aber sicher ungeduldig. Seine innere Uhr sagte ihm, dass es Zeit war, nach Hause zu fahren. Tagsüber betreute ihn Frau Bender, eine nette Rentnerin mit einem kleinen Haus in einem großen Garten. Sie kümmerte sich wirklich rührend um ihn und achtete auf eine gesunde Ernährung.
Heute Mittag hatten sie einen langen Waldspaziergang gemacht und sich anschließend im Garten ausgeruht. So angenehm sein Tag bei Frau Bender auch war, sein persönlicher Höhepunkt des Tages war doch, wenn „sein“ Auto vorfuhr und ihn abholte. Er hörte das so typische Motorengeräusch, sprang auf und lief durch den Garten Richtung Gartentor. Frau Bender folgte ihm lächelnd. Voller Freude warf er sich Jan, der bereits das Gartentor passiert hatte und in die Hocke ging, in die Arme. Frau Bender wartete ab, bis sie ihr Wiedersehens-Ritual beendet hatten und berichtete dann über Bens Tagesablauf.
„Wir werden jetzt noch einen Ausflug machen.“ Erzählte Jan Frau Bender und Ben.
„Meine Mutter feiert im September ihren siebzigsten Geburtstag. Wir schauen uns jetzt mal den Sonnengarten an. Kennen Sie das Restaurant?“
„Ja, es liegt sehr idyllisch zwischen Wiesen und Wäldern, gar nicht weit von hier. Von der Terrasse hat man einen schönen Blick auf einen kleinen See. Der Koch kocht gehobene deutsche Küche. Ich fand es sehr lecker, besonders den mediterranem Einschlag. Es ist sicher eine gute Adresse für einen Geburtstag im Sommer.“ Frau Bender erklärte Jan anschließend den Weg zum Restaurant.
Nach zehn Minuten bogen Sie von der Landstraße auf den asphaltierten Weg ab, der durch Wiesen und Wälder führte. Vereinzelt sah man einige Radfahrer oder Wanderer, die die schönen Nachmittagsstunden ausnutzten. Nach weiteren fünf Minuten sahen sie ein Schild, das auf die Einfahrt zum Hotel/ Restaurant hinwies.
Jan fuhr auf den Parkplatz und parkte neben einem roten Mini-Cabrio. Es war alles so, wie es Frau Bender beschrieben hatte. Ein idyllischer Ort zum Entspannen und Wohlfühlen.
Auf der Terrasse waren viele Tische schon besetzt. Das Publikum war bunt gemischt. Im vorderen Bereich saßen einige Familien mit Kleinkindern und einige Männer in Radkleidung, die recht laut miteinander sprachen und lachten.
Ben drückte sich an ihn. Er mochte keine Menschenansammlungen. Jan entdeckte zwei freie Tische im hinteren Bereich. In diesem Bereich saßen mehrere Paare, ein älterer Mann und eine junge Frau. Ben zuliebe würde er den Tisch am Rande nehmen. Ben, der auf ihm unbekannte Menschen sehr vorsichtig und teilweise ängstlich reagierte, ging dicht neben ihm.
Als Jan den ausgewählten Tisch ansteuerte, bemerkte er erstaunt, dass Ben langsam aber bestimmt an ihm vorbeiging. Plötzlich ging er sehr gerade, mit hoch erhobenem Kopf, die Augen auf eine bestimmte Person gerichtet.
Die junge Frau, die gerade in der Speisekarte blätterte, schaute auf und lächelte, als sie Ben sah. Ben ging geradewegs auf sie zu und legte seinen Kopf auf ihren Oberschenkel.
Die junge Frau schaute zunächst erstaunt, dann strich sie Ben mit der Hand über den Kopf. Jan schaute dem Szenario verwundert zu.
„Hallo. Sie kennen Ben?“ fragte er, als er am Tisch angelangt war.
„Jetzt - ja.“ Die Unbekannte löste ihren Blick von Ben und sah Jan aus meeresblauen Augen an.
„Seltsam. Ben ist sonst sehr, sehr vorsichtig, fast ängstlich. Zu Fremden geht er nicht. Jedenfalls bisher nicht.“ Mit diesen Worten nahm Jan am freien Nebentisch Platz.
„Ben. Deine neue Bekannte braucht zwei Hände, um in der Speisekarte zu blättern. Komm an unseren Tisch.“
Widerwillig setzte sich Ben in Bewegung. Zeitgleich brachte der Kellner die Speisekarte und nahm die Getränkebestellung und die Essensbestellung der Dame am Nebentisch auf.
Während Jan die Speisekarte studierte, bemerkte er, dass sich Ben wieder Richtung Nebentisch davon stehlen wollte.
„Ben!“ Ben hielt mitten in der Bewegung inne.
Die Unbekannte lachte: „Lassen Sie ihn. Er stört mich nicht.“
Ben schaute zu Jan, dann zu seiner neuen Bekannten, dann wieder zu Jan. „Okay.“ sagte Jan zu Ben „Aber benimm dich.“ Stirn runzelnd sah er zu, wie Ben sich dicht neben die Fremde setzte, seinen Kopf auf ihren Oberschenkel legte, tief seufzte und sie aus großen, braunen Augen anschaute.
„Diesen Augen kann man einfach nicht widerstehen.“ Mit diesen Worten ließ sie eine Hand auf Bens Kopf gleiten.
„Wo haben Sie ihn denn her? Er ist noch recht jung?!“ Sie sah Jan fragend an.
Aus der Ferne hatte sie wie ein junges Mädchen gewirkt. Sie war mittelgroß, schlank, mit Rundungen an den richtigen Stellen und hatte ein ovales Gesicht, das von schwarzen, kurzen Haaren eingerahmt wurde. Sie trug Jeans, ein weißes T-Shirt und weiße Leinenschuhe. Aus der Nähe betrachtet, schätze er sie auf Anfang bis Mitte dreißig. Das markanteste in Ihrem Gesicht waren die tiefblauen Augen, die in schönem Kontrast zu dem schwarzen Haar standen. Ihre Haut war gebräunt. Sie gehörte sicher zu den Menschen, die bei den ersten Sonnenstrahlen Farbe bekamen.
„Eine Arbeitskollegin arbeitet ehrenamtlich im Tierheim. Bei ihr wurden er und zwei seiner Geschwister abgegeben. Sie waren in einem jämmerlichen Zustand. Circa sechs Wochen alt, halbverhungert und mit Narben am ganzen Körper.“ Sein Gesichtsausdruck hatte, als er sich an die erste Begegnung mit seinem Hund erinnerte, verfinstert.
„Ich wollte eigentlich nur meiner Kollegin, nach einer Autopanne vorm Tierheim, helfen und kam mit einem Hund nach Hause.“ Er hatte die dunklen Wolken aus seinem Gesicht vertrieben und lächelte sie freundlich an. „ Ben ist jetzt circa zehn Monate alt.“ „Er sieht recht gesund und munter aus.“ entgegnete sie.
„Ja, die sichtbaren Narben sind verheilt. Aber die Narben seiner Seele noch lange nicht. Es hat Monate gedauert, bis er Vertrauen zu mir aufgebaut hat. Auf die meisten Menschen reagiert er immer noch ängstlich. Er lässt sich auch nicht anfassen. Deshalb bin ich auch so erstaunt, wie er auf Sie reagiert.“
Das Lächeln verschwand für einen Moment aus Ihrem Gesicht. Geschundene Seelen erkennen einander – dachte Carolin.
Sie betrachtete Bens Herrchen. Er war mittelgroß, schlank, gekleidet in Jeans und schwarzem T-Shirt. Seine dunkelbraunen Haare, fielen ihm in die Stirn. Er hatte markante, männliche Gesichtszüge und braune Augen, die denen seines Hundes ähnelten. Alles in allem eine sehr sympathische Erscheinung.
Ben passte zu seinem Herrchen. Er war mittelgroß, hatte schwarzes Fell mit unregelmäßigen, großen weißen Flecken und ein freundliches Hundegesicht mit braunen Augen. Er schien eine Mischung aus Border Collie und einer undefinierbaren Rasse zu sein. Bens Augen suchten ihren Blick. Er seufzte leise als wollte er sagten „Ja ich weiß, wie es in deinem Inneren aussieht.“
Sie schüttelte sich innerlich. Jetzt ging ihre Phantasie mit ihr durch. Sie wusste, dass sie sich gut im Griff hatte, dass sie nach außen hin, wie eine selbstbewusste Frau wirkte, die mit sich und ihrer Umwelt im Einklang stand. Der Hund konnte unmöglich ihre verletzte Seele bemerken. Oder doch?
Der Kellner brachte ihre Vorspeise und riss sie aus ihren Gedanken. Ben legte sich entspannt zu ihren Füssen nieder.
Sie genoss ihren bunten Salat. Wirklich köstlich. Der Koch schien für jede Salatsorte ein eigenes Dressing verwandt zu haben. Sie ließ ihren Blick über die schöne Landschaft gleiten.
Ruhig und idyllisch. Wenn jetzt auch noch Hauptspeise und Dessert das Niveau der Vorspeise hielten hatte sie ihn gefunden – den Ort, den sie für ihr Vorhaben suchte.
Inzwischen hatte auch Bens Herrchen seine Vorspeise, einen Salat mit gegrillten Shrimps, serviert bekommen. Auch er schien von der Qualität und dem Geschmack sehr angetan zu sein.
Sie nippte an ihrem Rotwein. Auch der Wein traf ihren Geschmack. Trocken und doch samtig. Sie glaubte Brombeeren herauszuschmecken. Welch ein wunderschöner Abend. Es schien ihr wirklich zu gelingen, die dunklen Gedanken, die sie quälten, für ein paar Stunden zu verdrängen.
Sie prostete ihrem Tischnachbarn zu, der gerade zu ihr hinüberblickte. „Mein Salat war wirklich köstlich. Und der Wein … hmm.Wie hat es Ihnen geschmeckt?“ Sie sah Bens Herrchen fragend an.
„Die Shrimps waren auf den Punkt genau gegart. Das Salatdressing außergewöhnlich und sehr gut. Die Vorspeise hat den Test bestanden.“ entgegnete er.
„Sind Sie Restauranttester?“ fragte sie ihn belustigt.
Er grinste und senkte die Stimme. „Nein, beruflich befördere ich Menschen ins Jenseits.“
Carolin senkte ebenfalls die Stimme: „Also Auftragskiller?! Dann hätte ich gern Ihre Telefonnummer. Ich hab vielleicht einen Auftrag für Sie.“
Er bemühte sich sein Lachen zu unterdrücken, nestelte etwas aus seiner Hosentasche und drehte ihr seinen Rücken zu. Dann wandte er sich mit einem breiten Grinsen wieder ihr zu. Er hielt ihr ein Stück von einem Bierdeckel hin.
Sie nahm es ihm aus der Hand und las: Ben + Jan. Darunter war eine Handy-Nummer und eine Email-Adresse geschrieben. Als sie wieder aufblickte, hielt er ihr einen Kugelschreiber hin.
„Ben hätte gern Ihre Telefonnummer, und/ oder ihre Email-Adresse.“
Sie schaute ihn verdutzt an. Um den Wunsch zu bestätigen, war Ben aufgestanden, hatte sich vor sie gesetzt und ihr eine Pfote aufs Bein gelegt.
Carolin schüttelte sich vor Lachen. Jan stimmte in ihr Lachen ein. Sie wurden jäh von dem Kellner unterbrochen, der Carolins Grillteller brachte. Ben flüchtete vor dem Kellner unter Jans Tisch. Der Kellner musterte seine beiden Gäste belustigt und sagte das Essen an. Als der Kellner sich entfernt hatte, sah sie, dass Jan seinen Hund mit Hundekuchen fütterte.
„Damit er sich nicht an Ihrem Grillteller vergreift.“ erklärte er ihr. „Lassen Sie es sich schmecken.“ Wieder entlockte er ihr ein Lachen.
Jan sah ihr beim Essen zu. Sie genoss ihr Essen, das sah man an Ihrem Gesichtsausdruck. Eine Frau, die gern aß, zudem einen etwas schrägen Humor hatte und außerdem noch von Ben akzeptiert wurde, das war sehr selten.
Die Frage nach seiner Telefonnummer war Spaß gewesen, das hatte er an Ihrem Tonfall gehört. Trotzdem oder gerade deswegen hatte er den Ball aufgenommen und zurück gespielt. Ein nettes Geplänkel. Mehr nicht!?
Er kam im Allgemeinen bei Frauen sehr gut an, obwohl er sich nie sonderlich bemühte. Seine Mutter meinte, das läge an seinem männlichen Aussehen und seinem unwiderstehlichen Charme. Als er an seine Mutter dachte, musste er lächeln. Sie hatte ihn um diesen Besuch hier und heute gebeten. Hatte sie das Treffen mit der Unbekannten eingefädelt? Nein, er schob den Gedanken beiseite. Das war absurd.
Seine Mutter hatte ihn vor ein paar Wochen in einer Pizzeria getroffen. Er hatte dort zusammen mit Susann gegessen. Er hatte Mamm und ihre Freundin, aufgefordert, sich doch zu ihnen zu setzen. Den Tag darauf hatte sie ihn angerufen und gefragt, ob das die neue Frau in seinem Leben wäre.
Nachdem er ihr versichert hatte, dass Susann nur eine Bekannte sei, hatte sie geseufzt und gefragt, ob Susann das auch so sehen würde.
Er hatte Susann auf dem fünfzigsten Geburtstag eines Arbeitskollegen kennengelernt. Seine Mutter hatte wirklich eine gute Menschenkenntnis. Susann hatte sich ihm an den Hals geworfen. Wobei er sich nicht sicher war, ob sie es wegen seines Berufes tat oder weil sie ihn wirklich mochte.
Susann arbeitete bei einer Modelagentur und träumte wohl insgeheim davon, auch noch als Model entdeckt zu werden. Sie war groß, sehr schlank, die schulterlangen Haare waren blond gefärbt. Sie hatten sich ein paar mal getroffen, wobei die Initiative immer von ihr ausging. Einmal hatte er Ben zum Treffen mitgebracht. Ben hatte Susann ignoriert und sie hatte sich vor ihm gefürchtet und Abstand gehalten.
Er lächelte vor sich hin. Wobei er wieder beim Thema war. Es war nicht leicht, von Ben akzeptiert und gemocht zu werden.
Der Kellner brachte sein Essen: Fisch und Fleisch vom Grill. Auch der Hauptgang überzeugte ihn voll und ganz. Das kleine Steak war raffiniert mariniert. Der Thunfisch war nur mit Pfeffer und Salz gewürzt, sehr saftig und innen rosa. Genau wie er es mochte. Er aß mit Genuss und Hingabe. Ben knabberte an seinem letzten Stück Hundekuchen. Nachdem er sein Mahl beendet hatte, lehnte er sich satt und zufrieden zurück. Der Kellner war gerade am Nachbartisch und nahm die Dessertwünsche auf.
Nachdem Carolin ihre Bestellung aufgegeben hatte, erhob sie sich, nickte Jan kurz zu und folgte dem Kellner ins Innere des Restaurants. Der Kellner rief nach einer Mitarbeiterin, der Carolin ihren Wunsch erklärte.
Sie folgte der Mitarbeiterin durch einen Flur Richtung Treppe. „Wir haben die Gästezimmer extra in einem separaten Teil des Gebäudes untergebracht.“ erzählte sie. „Die Zimmer mit Balkon sind im zweiten Stock.“
Sie blieb vor dem Aufzug stehen, folgte dann aber Carolin, die Richtung Treppe ging. Sie ging den Flur entlang und blieb vor dem Zimmer 26 stehen. Sie schloss auf und bat Carolin einzutreten.
Das Zimmer war modern eingerichtet. Weiße Wände, ein französisches Bett mit türkisfarbener Tagesdecke. Ein Sessel mit türkisfarbenem Kissen an einem kleinen runden Tisch, helle Bodenfliesen, Fotografien von Meereslandschaften an den Wänden. Modern und doch gemütlich. Ihr gefiel dieser Stil.
Das Bad war weiß gefliest, mit Dusche – modern und neuwertig. „Sind alle Zimmer gleich eingerichtet?“ fragte sie die Hotelangestellte.
„Die Möbel sind fast identisch in allen Zimmern.“ Die Hotelangestellte zeigte ihr noch das Restaurant, wo auch das Frühstück eingenommen wurde. Carolin bedankte sich für die Führung und ging auf die Terrasse zu ihrem Tisch.
Dort wurde sie von Ben schwanzwedelnd begrüßt.
„Ben hat sie schon vermisst. Er dachte schon, er war zu aufdringlich und sie haben sich davongestohlen.“ Jan schaute sie offen an.
Sie lachte. „Sie glauben doch nicht, dass ich mir das Dessert entgehen lasse.“ Sie setzte sich an ihren Tisch. „Ich habe selten so gut gegessen.“
Ben nahm wieder den Platz neben ihr ein und genoss die Streicheleinheiten. Seine Anhänglichkeit rührte sie. Als Kind hätte sie auch gerne einen Hund gehabt. Aber sie wohnten in Miete und Hunde waren nicht erlaubt. Und später als Berufstätige war ein Hund auch nicht in Frage gekommen. Wie er das wohl handhabte?
„Wo ist Ben eigentlich, wenn sie arbeiten?“ fragte sie ihn direkt. „Ich habe einen Hundsitter. Vor Arbeitsbeginn bring ich ihn hin und nach Feierabend hol ich ihn wieder ab.“ antwortete er ihr. Sie erzählte ihm, dass sie sich wegen ihrer Berufstätigkeit gegen einen Hund entschieden hatte.
„Ben würde sich freuen, wenn sie mal mit ihm spazieren gehen.“ Jan schaute sie offen an und fügte hinzu: „Nur Sie und Ben, wenn sie möchten.“
Sie musste wieder lächeln. So oft wie heute Abend hatte ich schon lange nicht mehr gelacht.
Der Kellner kam mit ihren Desserts. Sie hatte Eis mit Früchten der Saison bestellt, er Dessert-Variationen. Sie genossen beide den leckeren Nachtisch.
Carolin, war sich sicher – sie hatte den Ort gefunden, nach dem sie schon wochenlange gesucht hatte. Hier stimmte einfach alles.
Jan war zufrieden. Der Ausflug hatte sich gelohnt. Das war der richtig Ort für die Geburtstagsfeier seiner Mutter. Vom Kellner hatte er sich noch einen Hotelprospekt bringen lassen. Die Geburtstagsgäste, die von außerhalb kamen, konnten hier übernachten. Bei schönem Wetter konnten sie auf der Terrasse feiern.
Stopp. Er hatte sich das Restaurant noch gar nicht angeschaut. Er bat seine Tischnachbarin kurz auf Ben aufzupassen und ging in das Restaurant. Es gefiel ihm. Test bestanden. Er ging zurück auf die Terrasse. Ben begrüßte ihn, als ob er ewig lange weg gewesen wäre.
„Deine neue Freundin hast du aber überschwänglicher begrüßt.“ Ben ignorierte seine Aussage. Ihre neue Bekannte lachte.
„Ich sehe mich schon allein heimfahren.“ Nach einer künstlerischen Pause „Ich überlasse Ihnen Ben aber nicht kampflos.“
Sie lachte und ging auf sein Geplänkel ein.
„Welche Waffen schlagen Sie vor?“ Sie war schlagfertiger, als gedacht. Wieder wurde ihr Gespräch vom Kellner unterbrochen. Lästig, lästig. Sie bestellten beide noch einen Espresso.
„Die Wahl der Waffen überlasse ich Ihnen.“ entgegnete er.
Sie rückte ihren Stuhl zurück und lehnte sich nach hinten.
„Am besten ein Brettspiel, bei dem man sich nicht bewegen muss. Ich habe viel zu viel gegessen.“
Wie auf Kommando kam der Kellner mit dem Espresso. Beim Servieren des Espresso stieß der Kellner Jans Kugelschreiber, der noch auf dem Nachbartisch lag, vom Tisch, hob ihn wieder auf und legte ihn zurück. Jan und seine Tischnachbarin starrten den Kugelschreiber an.
„Wie wäre es, wenn wir uns Ben teilen? Sie rufen ihn an, oder mailen, wenn Sie Lust und Zeit haben, etwas mit ihm zu unternehmen. Oder ich rufe für ihn an, wenn er Sehnsucht nach Ihnen hat.“ Er schaute Sie mit Hundeblick an.
Auch Ben, der zu verstehen schien, dass es um ihn ging, fixierte sie. Sie schaute zunächst ihn, dann Ben an und seufzte.
„Diesen Augen kann ich nicht widerstehen, Ben.“
Sie nahm seinen Kugelschreiber, einen Bierdeckel und ihre Geldbörse aus der Handtasche. Von einer kleinen Karte notierte sie etwas auf dem Bierdeckel. Sie gab ihm Bierdeckel und Kugelschreiber. Er las: Carolin, eine Email-Adresse und eine Handynummer.
Der Kellner, der Carolins Geldbörse auf dem Tisch bemerkt hatte, und es wohl als Wink mit dem Zaunpfahl angesehen hatte, kam an den Tisch. Sie bestellten beide ihre Rechnung.
Ben, der den Abschied noch hinauszögern wollte, verlangte noch nach Streicheleinheiten. Carolin fuhr ihm mit einer Hand durchs Fell.
„Sie sind sicher mit dem Auto da?“ Jan versuchte das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Sie blickte auf und nickte.
„Darf Ben Sie noch zum Auto bringen?“ Wieder ein Nicken und ein Lächeln. Sie zahlten ihre Rechnungen, verließen die Terrasse und gingen Richtung Parkplatz. Ben ging zwischen ihnen.
Vor dem roten Mini-Cabrio blieb sie stehen.
„Das Auto passt zu Ihnen. Danke für den netten Abend. Ben würde sich freuen, etwas von Ihnen zu hören und ich auch.“
Carolin lächelte ihn an. „Ich danke euch beiden auch für den schönen Abend. Ich habe lange nicht mehr so viel gelacht.“
Sie hielt ihm ihre Hand zum Abschied hin und er bemerkte einen schmalen goldenen Ring an ihrem Ringfinger. Ihr Händedruck war angenehm. Sie streichelte Ben zum Abschied über den Kopf, stieg in ihr Auto, winkte zum Abschied und fuhr vom Parkplatz. Ben schaute ihr hinterher und seufzte.
***
Melanie wartete auf ihren Vater. Sie hatte ihn auf seinem Handy erreicht und ohne Fragen zu stellen, hatte er zugesagt, sie abzuholen. Nach kurzer Wartezeit bog sein Auto in den Eichenweg ein.
„Hi Paps.“ Sie stieg ins Auto, küsste ihren Vater auf die Wange und warf ihre Tasche auf die Rückbank.
„Na, wie war dein Tag?“ fragte er sie kurz nach dem Anfahren. „Schule ist halt Schule ... aber das Training war cool. Ich hab Sarah im Einzel geschlagen. Stell dir das mal vor. Sarah, das Wunderkind.“ sprudelte es aus ihr heraus.
Sie spielte seit kurzem Tennis. Noch war sie im Schnupperkurs. Aber wie es aussah, war das ein Sport, der ihr gefiel. Sie konnte sich auspowern, ihre Energie in geregelte Bahnen lenken, dachte ihr Vater.
„Dann warst du aber besonders gut in Form heute. Gratuliere.“ Nach einer kurzen Pause: „ Sag mal, wollte dich heute nicht deine Mutter abholen?“
Melanie rutsche tiefer in ihren Sitz. Sie bemerkte, dass ihr Vater sie von der Seite musterte.
„Mel, was ist los?“
„Meine Mutter meint, ich sei verwöhnt und unselbständig. Busfahren würde mir mal gut tun.“
Sie wich dem Blick ihres Vaters aus.
„Ihr habt also wieder gestritten. Worum ging es?“
Ihrem Vater konnte sie nichts vormachen. Er schien in ihr wie in einem offenen Buch zu lesen.
„Ich hab vergessen die Spülmaschine auszuräumen.“
Sie sah den prüfenden Blick ihres Vaters.
„Ja, und noch so paar Kleinigkeiten hab ich vergessen zu machen. Die macht immer so einen riesigen Aufstand. Man kann doch mal was vergessen.“ Es klang schon kleinlauter.
„Mel, du hast einen messerscharfen Verstand. Du vergisst nie etwas. Und wenn ich dich um etwas bitte, hast du es auch noch nie vergessen.“
Melanie rutschte bei seinen Worten unruhig im Sitz hin und her.
„Seltsamerweise vergisst du nur Sachen, um die dich deine Mutter bittet.“
Nein, sie würde nichts dazu sagen. Einfach stur aus dem Fenster schauen. Sie erschrak, als sie die Hand ihres Vaters an ihrer Wange spürte. Er zwang sie ihn anzusehen. Sein Gesichtsausdruck war ernst, in seinen Augen sah sie aber auch die Zärtlichkeit, mit der er sie immer ansah und einen Hauch von Traurigkeit.
Nein, sie wollte ihren Vater nicht traurig machen. Sie setzte ihr unschuldigstes Kleinmädchengesicht auf. Kurz überlegte sie, ein paar Tränen zu drücken, aber etwas im Gesicht ihres Vaters hielt sie davon ab. Nicht übertreiben.
„Melanie. Du vergisst die Sachen absichtlich, um deine Mutter zu ärgern.“
Sie holte tief Luft und merkte, dass ihr Gesicht zu glühen begann. Sicher war ihr Gesicht jetzt krebsrot. Natürlich hatte ihr Vater längst gemerkt, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Leugnen würde alles noch schlimmer machen.
„Warum ärgerst du deine Mutter absichtlich?“
Es wurde immer unangenehmer. Sie wollte nur noch weg.
Aber aus dem fahrenden Auto springen, war keine Option. „Melanie, ich warte auf deine Antwort.“
„Hm.“ setzte sie zu einer Antwort an.
„Manchmal mach ich die Sachen nicht direkt. Ihr geht’s dann nicht schnell genug und sie meckert mich an....“
Mit einem scharfen „Melanie!“ wurde sie unterbrochen.
„Und manchmal wartest du absichtlich so lange, um sie zu provozieren. Warum?“
Sein Tonfall war wieder ruhiger geworden, aber nicht ungefährlicher. Er würde nicht nachgeben, bis er seine Antworten bekam, das wusste sie.
„Warum erteilt sie mir Befehle?“ fragte sie zurück.
„Deine Mutter erteilt dir keine Befehle. Deine Eltern sind beide berufstätig. Jedes Mitglied der Familie muss Aufgaben im Haushalt übernehmen. Auch du musst kleinere Aufgaben übernehmen. Wir hatten mit dir darüber gesprochen.“
Er holte kurz Luft. „Wenn ich dich um etwas bitte, erledigst du das immer sofort und ohne murren.“
Oh je, ihr Einwurf hatte ihn nicht vom Thema abgebracht. „Warum suchst du ständig Streit mit deiner Mutter?“
Kleinlaut sagte sie: „Ich weiß es nicht.“
Martin betrachtet seine Tochter. Sie schaute ihm mit geknicktem Gesichtsausdruck in die Augen. Und er wusste, dass sie die Wahrheit sagte.
Er liebte seine Tochter abgöttisch. Sie war die wichtigste Person in seinem Leben. Und er wusste, dass es ihr genauso ging.
Als er sie als Baby kurz nach der Geburt im Arm gehalten hatte, hatte er aus Freude geweint und sie hatte ihn angelacht. Sie war in den ersten Monaten ein Schreikind gewesen und hatte ihn und seine Frau ganz schön auf Trab gehalten. Seine Frau war nächtelange mit dem schreienden Kind durch die Wohnung gewandert und hatte alles versucht, um sie zu beruhigen, meist ohne Erfolg.
Eines Nachts war er aufgestanden und hatte seiner Frau das schreiende Kind abgenommen, damit auch sie einmal etwas zur Ruhe kommen konnte. Dieses mal hatte sie ihm nicht gesagt „Leg dich wieder hin. Versuch zu schlafen. Du musst morgen ja arbeiten.“ Dieses mal hatte sie sich müde auf die Couch fallen lassen.
Er hatte das schreiende Bündel, auf das sie sich so gefreut hatten, betrachtet, leise mit ihr gesprochen und im Arm gewiegt. Und das Unfassbare geschah. Ihr Schreien wurde leiser und schließlich war sie still und schlief in seinem Arm ein.
Zunächst hielten sie es für Zufall. Doch dann wiederholten sich diese Zufälle und sie stellten fest, dass sich dieser kleine Mensch am liebsten und fast ausschließlich von ihm beruhigen ließ.
„Ich wirke wie eine Schlaftablette. Wie hältst du dich in meiner Gegenwart nur wach?“ hatte er seine Frau gefragt und ihr kläglicher Versuch zu lächeln hatte ihm in der Seele Leid getan. Sie war eine liebevolle Mutter, aber er hatte den Eindruck, dass dieses Baby es ihr nicht leicht machen würde.
Später war es dann besser geworden. Sie waren eine glückliche kleine Familie. Mit circa sechs Jahren hatte Melanie dann ihre erste trotzige Phase. Sie testete, wie weit sie gehen konnte. Auch in dieser Phase kristallisierte sich heraus, dass es meist er war, dem sie gehorchte.
Ein typisches Papa-Kind eben, sagte seine Frau.
Inzwischen war sie zwölf Jahre alt. Sie war ihrem Alter entsprechend groß und hatte noch ein bisschen Babyspeck am Körper. Sie hatte ein rundes Gesicht, graue Augen und glatte, aschblonde, kinnlange Haare, die sie zur Zeit wachsen ließ. Leider hatten sich bei ihrem Äußeren nicht die Gene ihrer Mutter durchgesetzt.
Melanie war ein aufgewecktes, intelligentes Mädchen, das schnell Anschluss fand.
Seit circa anderthalb Jahren war die Beziehung zwischen ihr und ihrer Mutter schwierig geworden.
Sie schien sich klein, dick und hässlich neben ihrer schlanken, hübschen und selbstbewussten Mutter zu fühlen.
Obwohl seine Frau sich weiterhin liebevoll und verständnisvoll um ihre Tochter bemühte, ging Mel auf Abstand.
In letzter Zeit ärgerte und provozierte sie ihre Mutter nur noch. Es schien immer schlimmer zu werden.
Mel ließ ihre Mutter nicht mehr an sich heran. Seine intelligente Tochter reagierte auf seine Frau völlig irrational.
Das Verhältnis zu ihm hingegen hatte sich nicht verändert. In seiner Gegenwart war sie offen und fröhlich.
Bei gemeinsamen Unternehmungen klebte sie förmlich an ihm und ignorierte ihre Mutter. Sobald sie mit seiner Frau alleine war, schien sie zum kleinen Monster zu mutieren. Das konnte so nicht weitergehen.
„Melanie, deine Mutter liebt dich sehr. Du bist das Wichtigste in unserem Leben.“
Seine Tochter sah ihn mit großen Augen an.
„Sie hat immer alles für dich getan. Für dich ihre eigenen Wünsche zurückgestellt. Dein Verhalten macht sie sehr traurig. Das hat sie nicht verdient.“
Er sah in ihren Augen Tränen schwimmen.
„Wir zwei kommen doch auch sehr gut miteinander aus. Das kann doch nicht sein, dass du mit einem alten, langweiligen Kauz besser auskommst, als mit so einer tollen Frau, die zu unserem großen Glück auch noch deine Mama ist.“
Ein unsicheres Grinsen erschien in ihrem Gesicht.
„Verhalte dich deiner Mama gegenüber einfach so, wie du dich mir gegenüber verhältst. Dann wird alles gut.“
Sie schaute ihn unsicher an.
„Mel, versprich mir, dass du es versuchen wirst.“
Ein zaghaftes Lächeln. „Ja, Paps, ich verspreche es dir.“
„So und jetzt Thema-Wechsel. Ich bin hungrig. Hat deine Mama etwas vorbereitet oder sollen wir was besorgen?“
Seine Tochter überlegte kurz. „Wenn ich sie richtig verstanden hab, ist sie zum Abendessen nicht da.“
Martin betrachtete seine Tochter. „Aber du bist dir nicht sicher?! Wollen wir Pizza holen? Ruf sie bitte auf dem Handy an.“
Seine Tochter strahlte, sie liebte Pizza. Schnell nahm sie sein Handy von der Ablage und wählte die Nummer ihrer Mutter.
„Nur die Mailbox.“ Sie wartete die Ansage hab und sprach dann: „Hallo Mama. Paps und ich holen Pizza. Bist du zum Essen da? Welche Pizza magst du? Ruf doch bitte zurück. Bis gleich.“ Na, das hatte ja schon ganz freundlich geklungen.
***
Jan und Ben waren Zuhause angekommen. Sie waren beide in ausgelassener, entspannter Stimmung. Jan öffnete die Balkontür, setzte sich auf die Couch und hangelte nach dem Telefon. Nach dreimaligem Klingeln wurde abgenommen.
Sie war also noch wach. Wahrscheinlich wartete sie auf seinen Anruf. Ben rollte sich auf seinen Füssen zusammen. Er fuhr ihm mit der freien Hand liebevoll durchs Fell. Ben leckte ihm über die Hand und ließ seinen Kopf entspannt auf den hellen Teppich gleiten.
Jan berichtete seiner Mutter alle Details über die Lage und die Einrichtung des Restaurants. Er gab ihr einen Überblick über die Art der Speisen und Gerichte und lobte das Essen in höchsten Tönen. Er bot ihr an, am nächsten Wochenende mit ihr hinzufahren, so dass sie sich selbst einen Überblick verschaffen konnte. Sie könnten zusammen eine Kleinigkeit essen und die Details ihrer Feier besprechen.
„Du willst an einem Freitag oder Samstagabend mit deiner Mutter essen gehen?! Du solltest besser mit einer netten Frau ausgehen.“ Sie lachte ins Telefon.
„Das eine schließt das andere ja nicht aus.“ entgegnete Jan galant.
„Ich verstehe nicht, dass du immer noch nicht die Frau fürs Leben gefunden hast.“ antwortete sie ihm. „Na vielleicht bin ich zu altmodisch. Eine nette Frau, die zu dir passt wäre schon mal ein Anfang. Alles andere ergibt sich dann.“ setzte sie nach. Jan dachte an seine Begegnung mit Carolin zurück. Hatte seine Mutter vielleicht doch ihre Hände im Spiel? Das wollte er jetzt aber wissen.
„Schönen Gruß von Carolin übrigens.“ sagte er und war neugierig auf ihre Reaktion.
„Welche Carolin?“ fragte sie zurück.
„Mittelgroß, schlank, schwarze kurze Haare, blaue Augen. “ war seine Antwort.
„Name und Beschreibung sagen mir nichts.“ Ihre Stimme klang ratlos. „Und sie hat behauptet mich zu kennen?“ fragte sie nach. „Na, dann hab ich mich wohl verhört.“ versuchte er die Kurve zu bekommen.
Jetzt hatte er aber die Neugierde seiner Mutter geweckt.
„Jan. Jetzt will ich es aber wissen.“
Also erzählte er von seiner Begegnung mit Carolin und Bens Verhalten ihr gegenüber. Seine Mutter lachte.
„Und du dachtest, ich hätte das Treffen veranlasst? Das traust du mir zu?“ Sie war hörbar belustigt.
Er entgegnete ihr, dass ihm der Gedanke im Restaurant schon absurd vorgekommen war. Aber nach ihren Andeutungen zu Beginn ihres Telefonates wollte er sichergehen.
„Nein mein Junge. Ich habe damit nichts zu tun. Sie hat euch also gefallen, dir und vor allem Ben. Wahrscheinlich hat Ben die bessere Menschenkenntnis.“ Sie war sehr amüsiert.
„Wann seht ihr sie wieder? Du hast doch hoffentlich ihre Telefonnummer?“
Jan erzählte ihr von dem goldenen Ring an ihrem Ringfinger.
„Es muss ja kein Ehering gewesen sein. Ruf sie an und finde es raus.“ Seine Mutter war wie immer sehr direkt.
Aber vielleicht hatte sie ja recht. Vielleicht hatte Ben die bessere Menschenkenntnis. Er hatte sich an diesem Abend interessant unterhalten. Sie hatten viel gelacht. Er hatte sich sehr wohl gefühlt.
Wenn er an die Treffen mit Susann dachte...Meistens hatte er die Treffen beendet. Ihre Gesprächsthemen hatten ihn nicht wirklich interessiert. Sie war eine schöne Frau mit Modelmassen, nach der sich einige Männer in seiner Gegenwart umgedreht hatten.
Aber ein schönes Gesicht und ein schöner Körper genügten ihm nicht. Das hatte ihm der heutige Abend gezeigt.
***
Sie fuhr in die Garage und ging durch den Keller ins Haus.
Im Wohnzimmer brannte noch Licht. Sie folgte dem Lichterkegel und fand ihre Familie einträchtig auf der Couch vor.
Der Fernseher lief. Es musste irgendetwas Lustiges sein.
Sie hörte das laute Lachen. Auf dem Couchtisch stand eine Karaffe mit Saft, daneben drei Gläser. Zwei der Gläser waren mit Saft gefüllt. Hatten sie etwa auf sie gewartet?
Sie hatten sie noch nicht bemerkt. Leise ging sie zurück in die Küche. Das Chaos, das hier heute morgen noch geherrscht hatte, war verschwunden. Jemand hatte gründlich aufgeräumt. Neben dem Mülleimer lagen zwei leere Pizza-Schachteln.
Auf dem Küchentisch stand eine Schale mit einem kleinen Salat und eine weitere Pizza-Schachtel. Sie schaute in die Schachtel: Pizza Vierjahreszeiten, die mochte sie zur Zeit am liebsten. Sie hatten also Salat und Pizza für sie mitgebracht.
Die kleine Pizzeria im Nachbarort machte die beste Pizza weit und breit. Leider verfügte sie nur über wenige Tische, die immer mit Gästen besetzt waren. Ohne Reservierung konnte man einen Besuch vergessen. Einen Lieferservice boten sie noch nicht an. Sie hatten schon mehrere Monate keine Pizza mehr bestellt und auf dem Nachhauseweg abholt. Sie beförderte den Salat und die Pizza in den Kühlschrank und schloss die Kühlschranktür.
„Hast du keinen Hunger?“
Ihr Mann war unbemerkt hinter sie getreten. Sie erschrak so sehr, dass sie seine Hand, die er ihr auf die Schulter gelegt hatte, beim abrupten Umdrehen abschüttelte.
„Du hast mich erschreckt!“ Sie holte tief Luft.
„Nein, ich habe keinen Hunger. Ich hab schon eine Kleinigkeit gegessen.“ antwortete sie ihm dann.
Er war einen Schritt zurückgetreten und schaute sie mit seltsam besorgtem Blick an.
Ihr Mann war circa einen Kopf größer als sie, der kleine Bauchansatz, den er sich während ihrer gemeinsamen Zeit an gefuttert hatte, war inzwischen wieder verschwunden.
Bei jedem Essen, bei dem er sich Nachschlag geholt hatte, hatte er ihr lachend vorgeworfen, dass sie ihn mästen wollte. Inzwischen war er fast schon so hager, wie zu der Zeit als sie sich kennengelernt hatten.
Seine Augen waren hell, eine fast undefinierbare Farbmischung aus grau mit bernsteinfarbenen Sprengeln. Das aschblonde Haar war sehr kurz geschnitten. Die Sonne hatte ein paar blonde Highlights hinein gezaubert oder hatte etwa sein Friseur etwas nachgeholfen? Er war heute in seiner Mittagspause beim Friseur gewesen.
Als sie sich kennengelernt hatten, hatte er behauptet, er hätte ein Allerweltsgesicht, das in jeder Menschenmenge verschwinden würde. Sie hatte ihm lachend erwidert, spätestens wenn er seinen Mund öffnet und mit seinem ansteckenden Lächeln seine fast schon zu perfekten Zähne zeigte, würde er aus jeder Menschenmenge hervor blitzen.
Er war sehr kommunikativ, kam mit jedem sehr leicht ins Gespräch und galt als netter, unkomplizierter und humorvoller Gesprächspartner. Er wusste genau wohin sein Lebensweg gehen sollte und verfolgte seine Ziele ehrgeizig und ohne Umwege.
Martin betrachtet seine Frau. Sie hatte in den letzten Monaten einige Pfunde verloren, was ihr aber ausgezeichnet stand. In den letzten Monaten hatte sie angespannt und teilweise abwesend auf ihn gewirkt. Die ständigen Provokationen und Attacken ihrer Tochter gingen nicht spurlos an ihr vorbei.
Sie bemühte sich zwar nach außen die verständnisvolle und perfekte Mutter zu sein, aber ihm entging ihre Traurigkeit nicht. Er bemerkte, dass sie des Öfteren ihre aufkommende Wut bekämpfte. Sie hatte sich sehr gut im Griff.
Heute wirkte sie auf ihn entspannt, ausgelassen und heiter, wie schon lange nicht mehr.
Melanie betrat die Küche.
„Hi Mama. Ich hab dich auf deinem Handy angerufen. Du hast sicher deine Mailbox wieder mal nicht abgehört!? Wir haben dir deine Lieblingspizza mitgebracht.“
Mels Tonfall war freundlich. Seine Standpauke hatte also Wirkung gezeigt.
„Pastewska ist heute wirklich lustig. Kommt ihr? Ihr verpasst das Beste.“ Mel schaute fragend von ihrer Mutter zu ihrem Vater.
„Na kommt schon.“ Sie gingen zu dritt ins Wohnzimmer und setzten sich auf die Couch.
„Willst du einen Saft, Mama?“
„Nein danke Mel. Ich hol mir Mineralwasser.“ Melanie sprang von der Couch auf.
„Bleib sitzen Mama, ich geh schon.“
Martin bemerkte den irritierten Blick seiner Frau.
„Hast du deiner Tochter eine Gehirnwäsche verpasst?“ fragte sie ihn. Er lächelte sie an. „War mal notwendig.“
***
Carolin hielt auf dem Weg zur Arbeit kurz an, um sich einen Cappuccino zum Mitnehmen zu holen. Sie hatte heute morgen gleich schon einen Außentermin.
Sie arbeitete als angestellte Ergotherapeutin. Heute würde sie mit geistig behinderten Jugendlichen, die zusammen mit einem Betreuer in einer Wohngemeinschaft lebten, arbeiten. Für diesen Beruf brauchte man eine positive Lebenseinstellung und vor allem ein strapazierfähiges Nervenkostüm.
Zu Beginn ihrer Ausbildung hatte sie oft an ihrer Eignung für diesen Beruf gezweifelt. Sie hatte die Einzelschicksale ihrer Patienten zu nahe an sich herankommen lassen. Ihr Ausbilder hatte sie oft ermahnt, eine professionelle und objektive Distanz zu ihren Patienten aufzubauen.
Kleine, hart umkämpfte Fortschritte und plötzliche Rückschläge waren in diesem Job nicht selten. Auch das musste man aushalten können und mit einer positiven Grundeinstellung weitermachen.
Sie war eigentlich immer ein sehr positiv denkender Mensch gewesen und hatte sich auch durch Rückschläge nicht deprimieren lassen. Als Steh-Auf-Mädchen und ihren Sonnenschein hatten ihre Eltern sie bezeichnet.
Heute morgen fühlte sie sich, seit längerer Zeit, endlich wieder ausgeschlafen, entspannt, fast schon ausgelassen.
Es war gestern ein schöner Abend gewesen. Sie hatte lange nicht mehr so viel gelacht, sich so wohlgefühlt. Es war fast so harmonisch gewesen, wie früher.
Oder lag es einfach daran, dass sie endlich einen Plan gefasst hatte und in seiner Ausführung ein entscheidendes Stück weitergekommen war?
***
Martin fuhr seinen PC hoch. Er würde heute den halben Tag von Zuhause arbeiten und gegen Mittag in die Firmenzentrale fahren.
Das machte sich gut. Melanie hatte heute früher Schulschluss. Er würde sie abholen, mit ihr Mittag essen und sie dann zu ihren Großeltern bringen, wo sie den Rest des Tages verbringen würde. Es war schon ein Balance-Akt Beruf und Kind unter einen Hut zu bringen.
Inzwischen war Mel zwar schon alt genug, um ein paar Stunden allein zu verbringen, aber seine Frau und er waren entspannter, wenn sie wussten, dass sie gut betreut und gefördert wurde.
Er beantwortete einige berufliche Emails.
Nach Abschluss seines Studiums als Wirtschaftsingenieur hatte er zunächst eine Anstellung in einem mittelständischen Familienbetrieb gefunden. Die Bezahlung war bescheiden, aber er wollte endlich auch zum Familienunterhalt beitragen und sich nicht länger von seiner Frau durchfüttern lassen, die recht gut verdiente. Außerdem hatten sie zu dieser Zeit auch über Familienzuwachs nachgedacht.
Inzwischen war er in einem großen Chemiekonzern beschäftigt und verfolgte seine Karriere mit Ehrgeiz und Einsatz.
Er checkte kurz seine privaten Emails. Ach ja die Urlaubsplanung stand ja noch aus. Er hatte gestern Abend ganz vergessen, seinen beiden Frauen von der Urlaubs-Empfehlung seines Kollegen zu erzählen. Der gestrige Abend war so harmonisch verlaufen, wie lange nicht mehr. Er hoffte nur, dass sich Mel auch weiterhin bemühte.
Er hatte Erik noch nicht geantwortet. Erik wohnte circa zweihundert Kilometer entfernt. Sie hatten sich seit Wochen nicht gesehen. Seine Einladung zu einer Motorradtour war schon verlockend. Liebend gern würde er sich für ein verlängertes Wochenende ausklinken, dem Berufs- und Familienalltag entfliehen. Er warf einen Blick auf seinen Terminkalender. Es war nicht leicht, einen geeigneten Termin zu finden. Außerdem wollte er seine beiden Frauen versorgt wissen, wenn er sich schon ohne sie amüsierte. Und im Moment wollte er sie nicht zusammen Zuhause lassen. Er traute Melanies positiver Wandelung noch nicht.
Hatte Mel nicht etwas von einem Trainingslager erzählt? Das würde er heute Mittag abchecken.
Er mailte Erik, dass er auf Terminsuche sei. Erik, der selbst Familienvater war, würde das verstehen.
***
In dem kleinen Bistro herrschte muntere Geschäftigkeit. Es war um die Mittagszeit und viele Berufstätige nutzen ihre Mittagspause, um einen Snack zu sich zu nehmen.
Es gab leckere Salate, Baguettes mit verschiedenen kalten oder warmen Belägen und im Winter leckere Suppen. Dazu frisch gepresste Obst- und Gemüsesäfte und Tee und Kaffee.
Das Bistro war stets gut besucht, freie Tische Mangelware. Aufgrund des schönen Wetters hatten die Bistrobetreiber den Platz vor dem Bistro mit Tischen und Gartenstühlen bestückt und somit ihre Anzahl an Plätzen verdoppelt. Um dem Ansturm um die Mittagszeit Herr zu werden, hatten sie auf Selbstbedienung umgestellt.
Simon hatte Jan überredet, ausnahmsweise mal Mittagspause zu machen und ihren Arbeitsplatz zu verlassen. Sonst aßen sie meistens mitgebrachte Speisen im Aufenthaltsraum.
Sie hatten einen Zweiertisch im Außenbereich ergattert. Simon hielt den Tisch frei, während Jan Essen und Getränke besorgte. Mit einem vollbeladenen Tablett kam er zurück.
„Einmal Italienisches Baguette und Wasser.“
In Kellner-Manier und mit einer Verbeugung servierte er Simon seine Bestellung. Er selbst hatte sich für ein Baguette „Hähnchen nach spanischer Art“ und einen frischgepressten Tagessaft entschieden. Frisch, lecker und gesund.
„Dein Handy hat übrigens mehrfach geklingelt, als du im Bistro warst.“ sagte Simon, bevor er herzhaft in sein Baguette biss.
Er beobachte Jan, der sich die Anrufliste ansah, das Handy achselzuckend wieder auf den Tisch legte und sich seinem Essen zuwandte.
„Du wartest auf einen Anruf? Die Blonde, mit der ich dich in der Pizzeria gesehen hab?“ fragte Simon interessiert.
„Tolle Frau. Die würde ich nicht von der Bettkante stoßen.“
Simon wischte sich bei diesen Worten Krümel aus dem Mundwinkel und fixierte Jan.
„Wie, die interessiert dich nicht? Dann stell sie mir vor, oder gib mir ihre Telefonnummer. Ich nehme dir diese Bürde gern ab.“ witzelte er.
Eigentlich keine schlechte Idee, dachte Jan.
Susann hatte gestern Abend zweimal versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen. Als er eben im Bistro das Essen besorgt hatte, hatte sie es wieder versucht. Es war an der Zeit, ihr reinen Wein einzuschenken. Vielleicht konnte er ihr den Abschied versüßen, indem er ihr Simon vorstellte.
***
Der Termin mit den geistig behinderten Jugendlichen war gut verlaufen. Carolin war auf dem Weg zurück in die Praxis.
In einer halben Stunden würde sie Chris treffen. Chris machte inzwischen beträchtliche Fortschritte, wobei es ihm natürlich trotzdem nicht schnell genug ging.
Sie betreute Chris jetzt seit über einem halben Jahr. Nach einem schweren Motorradunfall suchte er seinen Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben. Bei ihren ersten Treffen hatte sie einen desillusionierten jungen Mann erlebt. Er stand kurz vor einer Karriere als Profi-Sportler. Der Unfall hatte seinen Lebenstraum zerstört. Dass sein gut trainierter Körper ihm bei der Rückkehr ins Leben eine große Hilfe sein würde, interessierte ihn nicht. Er haderte mit seinem Schicksal und sah keine Perspektive für eine Zukunft.
Seine Freundin Maria, die jede freie Minute zunächst an seinem Krankenbett, dann in der Rehaklinik verbracht hatte, war mit den Nerven am Ende. Auch Maria war klar, dass ein Patient, der nicht aus eigenem Antrieb mitarbeitete, der sich bereits aufgegeben hatte, nicht therapierbar war.
Dann erzählte Carolin ihm von ihrem Freund Andreas. Andreas, der ein begeisterter und routinierter Motorradfahrer gewesen war, war auf einer Landstraße auf einer Ölspur ins Schleudern geraten. Seine „Schleuderpartie“ wurde von einem Baum gebremst, dem einzigsten Baum weit und breit. Obwohl ein Autofahrer direkt erste Hilfe geleistet hatte und der Krankenwagen innerhalb weniger Minuten da war, starb er noch auf der Fahrt ins Krankenhaus.
Chris hatte ihr aufmerksam zugehört.
„Andreas hatte keine zweite Chance wie sie. Nutzen Sie ihre Chance. Denken sie an Maria.“ sagte sie zu ihm.
„Wie können Sie nach diesem schrecklichen Ereignis schon wieder arbeiten?“ fragte er sie.
„Das ist über zehn Jahre her.“ antwortete sie ihm.
„Aber Sie sind doch noch eine so junge Frau.“ fragend und etwas verwirrt schaute er sie an.
„Na, dann hab ich mich ja doch gut gehalten.“
Mit einem etwas schiefen Lächeln, legte sie ihm ihre Visitenkarte auf den Tisch.
„Chris, wenn Sie wirklich bereit sind, ihre Therapie zu beginnen, rufen Sie mich an.“
Am nächsten Tag rief er sie bereits an. Seitdem ging es mit ihm bergauf.
Sie freute sich auf den Termin mit ihm. Er hatte sein Sportlerherz wieder reaktiviert und arbeitete hart und diszipliniert.
Andreas war Carolins große Liebe gewesen. Sie hatte ihn im Alter von siebzehn Jahren kennengelernt. Er war damals neunzehn Jahre alt gewesen, groß, breitschultrig und langhaarig. Seinen Bart nahm er auf ihr Bitten hin ab. Er war ein wilder Rebell, der Konventionen in Fragen stellte und keine Regeln kannte. Ihr Freund wollte keine Kompromisse eingehen, die Welt sehen, sein Leben genießen.
Und diesen Traum lebten sie gemeinsam. Sie reisten durch Griechenland, Italien, Frankreich, Ägypten und Afrika. Meistens mit dem Motorrad im Gepäck und nur das Nötigste im Rucksack. Ihre Basis war eine kleine Wohnung in ihrem Heimatland. Da sie ihr Geld fast ausschließlich für ihre Reise benötigten, war ihre Wohnung mit wenigen Möbeln, aber mit viel Kreativität eingerichtet.
Andreas studierte Grafik und jobbte nebenbei, um ihren Lebensstil zu finanzieren. Sie liebten ihr Leben und vor allem liebten sie sich. Er brach schließlich sein Studium ab und arbeitete dennoch als Grafiker bei einer kleinen Agentur. Dem Agenturchef imponierte Andreas Kreativität und seine meist sehr außergewöhnlichen Ideen. Das Studium, da waren sich sein Chef und Andreas einig, war für ihn reine Zeitverschwendung.
Durch seinen Job hatten sie nun auch mehr Geld für ihre Reisen. Sie genossen ihr Leben in vollen Zügen. Ihr Leben war perfekt.
Bis zu jenem unglückseligen Tag Ende September, als ihr Leben aus den Fugen geriet.
Zuerst war sie einfach nur fassungslos. Sie konnte einfach nicht fassen, was passiert war, dass dies das abrupte Ende ihrer großen Liebe war.
Dann heulte sie und schrie ihren Schmerz in die Welt.
Schließlich spürte sie nichts mehr, außer einer großen Leere.Sie schottete sich von der Welt ab und funktionierte nur noch.
Sie stand morgens auf, ging zur Arbeit, aß und trank und schlief.
Dabei fühlte Sie sich wie eine lebendige Tote und war sich sicher,
nie wieder lieben zu können. Und sie glaubte damals auch, dass sie nie wieder lachen und das Leben genießen konnte.
Aber sie hatte sich geirrt.
Das Leben hielt noch einige Überraschungen für sie bereit.
***
Simon war begeistert. Er würde Susann kennenlernen.
Jan hatte Ihren erneuten Anruf entgegengenommen und ihr erzählt, dass er gerade mit Simon, einem Oberarzt, Mittagspause machte.
Als er ihr anbot doch dazu zu kommen, war sie begeistert gewesen. Und tatsächlich kam sie nach nur wenigen Minuten die Straße entlang. Wie immer top gestylt und passend zu ihrem Outfit geschminkt.
Jan stellte Simon und Susann einander vor und ging dann ins Bistro, um Susann einen kleinen Salat und ein Mineralwasser zu besorgen.
Durch das Fenster beobachtet er Simons Flirtversuche. Mit ausladenden Handbewegungen erzählte er Susann etwas und sie hörte sehr interessiert zu. Wenn er die Körpersprache der beiden richtig interpretierte, ging der Plan auf.
Jan brachte das Essen an den Tisch und erzählte, dass er gerade einen Notruf erhalten habe und sofort los müsse.
Selbstverständlich bot Simon an, Susann weiterhin Gesellschaft zu leisten.
Mit ausladenden Schritten entfernte sich Jan vom Bistro. Als er den kleinen Park erreicht hatte, verlangsamte er sein Tempo und steuerte eine Bank an, die in der Sonne stand. Er würde noch etwas Sonne tanken.
Als er sich setzte, machte sich seine Geldbörse selbstständig und fiel zu Boden. Er hob sie auf und sein Blick fiel auf einen kleinen Zettel, der aus dem Scheine-Fach gerutscht war. Es war das Stück Bierdeckel mit Carolins Telefonnummer und Email-Adresse.
Mit einem Lächeln nahm er sein Smartphone und schrieb ihr eine Email. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Er überlegte kurz und sandte dann noch eine SMS nach.
***
Ein Wochenende mit ihrer Freundin Sarah im Tennis-Trainingslager – dass Papa daran noch dachte.
Als Melanie ihren Eltern vor ein paar Tagen davon erzählt hatte, hatte er nicht gerade begeistert gewirkt. Mama hingegen fand die Idee gut.
Um so mehr freute es sie jetzt, als er Details wissen wollte. Es sollte Freitags Mittags los gehen. Natürlich nach Schulschluss, sonst hätte Papa direkt „nein“ gesagt.
Sie würden mit einem Bus zu einer Jugendherberge fahren, wo sie übernachten würden. Die Tennisplätze waren dort ganz in der Nähe. Sonntag Nachmittag würden sie wieder zurück sein. Sarah hatte sich bereits angemeldet.
Sie würde jetzt sofort Sarah anrufen und ihr erzählen, dass auch sie mitfahren durfte.
Martin war auf dem Weg zur Firmenzentrale. Melanie war begeistert gewesen, als er sie auf das Trainingslager angesprochen hatte. Er hatte ihr die Anmeldung sofort ausgefüllt und unterschrieben. Sie würde sie Morgen bei ihrem Trainer abgeben. Ihre Mutter hatte, im Gegensatz zu ihm, Mels Teilnahme am Trainingslager direkt befürwortet. Seine Frau würde zwar etwas überrascht sein, dass er jetzt über ihren Kopf hinweg entschieden hatte, aber er würde ihr versichern, dass sie ihn einfach überzeugt hatte.
Er hatte Erik den Termin per Email durchgegeben und Erik hatte ihm zurück gemailt, dass er sich dieses Wochenende schon irgendwie freimachen würde. Und dass Erik das auch schaffen würde, daran zweifelte Martin nicht.
Bisher hatten sie es meist so gehandhabt, dass Martin einen ihm möglichen Termin vorschlug. Erik hatte die Termine bisher immer eingehalten.
Manchmal fragte sich Martin, wie Erik das schaffte. Er selbst hatte meist ein schlechtes Gewissen, wenn er zu einem Männerwochenende aufbrach.
***
Post! Und zwar auf allen Kanälen.
Da wollte aber jemand sicher gehen!
In einer viertel Stunde kam ihr nächster Patient. Carolin nutzte die Zeit, um Obst zu essen und einen Blick auf ihre Nachrichten zu werfen.
Ben hatte ihr per SMS noch einmal für den schönen Abend gedankt. Per Email hatte Jan ihr in Bens Namen ebenfalls einige Zeilen geschrieben und ein Foto von Ben mitgeschickt. Der Mann war ja richtig kreativ und gab sich große Mühe.
Sie betrachtet Bens Foto. Ben blickte sie direkt aus seinen braunen Hundeaugen an, sein Hundegesicht schien sie an zulächeln.
Es klopfte an ihrer Tür. Maria, die Freundin ihres Patienten Chris, kam herein.
„Hallo Carolin. Ich wollte mich nur kurz bei Ihnen bedanken. Seit sie Chris den Kopf gewaschen haben, geht es aufwärts.“
Sie kam auf Carolin zu und gab ihr die Hand.
„Nochmal, vielen Dank.“
„Ich mach nur meinen Job.“ entgegnete Carolin.
„Einen verdammt Guten.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Maria.
Chris hatte großes Glück, dass er eine Frau wie Maria an seiner Seite hatte. Sie war eine zierliche Frau, mit zarten, fast kindlichen Gesichtszügen. Ihr Charakter stand in krassem Gegensatz zu ihrem Äußeren. Sie hatte einen unbeugsamen Willen, das zu schaffen, was sie sich vorgenommen hatte. Und sie hatte sich vorgenommen, ihr Leben mit Chris zu verbringen, allerdings mit jenem Chris, der er vor seinem Unfall gewesen war.
Ihr war klar, dass er körperlich nie wieder der Selbe sein würde. Aber zu mindestens mental konnte er wieder zu seinem Ich zurückfinden. Und dafür kämpfte sie mit allen Mitteln.
Carolin war sich sicher, dass beide es schaffen würden.
Schnell beantwortete sie ihre Nachrichten. Die Antwort auf Bens/ Jans Email musste noch etwas warten.
Die wollte sie nicht zwischen Tür und Angel schreiben. Ihr Timer kündigte den nächsten Patienten an.
***
Das Leben ging manchmal schon seltsame Wege.
Manchmal benötigte man selbst einen kleinen Schubs, um in die Gänge zu kommen. Um eine längst fällige Einscheidung nicht nur zu treffen, sondern auch in die Tat umzusetzen. Und manchmal musste man auch selbst Schicksal spielen.
Simon war gut gelaunt aus der Mittagspause zurück gekommen. Er hatte Susann für Freitagabend zum Abendessen eingeladen. Sie hatte ihm weder zu- noch abgesagt. Sie würde sich melden. Simon war da ganz optimistisch. Am gleichen Nachmittag meldete sie sich dann telefonisch bei Jan und fragte ihn, was er von der Einladung hielt.
Sie wirkte sehr erleichtert, als er ihr zu dem Treffen riet, ihr sagte wie begeistert Simon sich über sie geäußert hatte und dass dieser charmante Sunnyboy sehr gut zu ihr passte.
Zur Belohnung für sein gutes, uneigennütziges Werk erhielt er eine kurze SMS von Carolin. Eine Email sollte bald folgen.
***
Es war also wieder einmal soweit. Martin würde sich mal wieder für ein verlängertes Wochenende aus dem Familienidyll verabschieden. Das Familienidyll, das ihm angeblich so viel bedeutete. Das er angezettelt hatte. Heirat, Kind und Eigenheim – die Stationen seines Lebenstraums, den er konsequent verfolgt hatte, für den er gekämpft hatte.
Warum nur hatte er unbedingt sie als Akteurin gewinnen wollen und müssen? Weil er zunächst dachte, sie wäre leichte Beute? Oder war sein Jagdinstinkt erwacht, als er erkannte, dass sie eigentlich gar nicht die Richtige für seinen Plan war?
Wie auch immer, er hatte es geschafft.
Sie war zunächst seine Ehefrau und schließlich die Mutter seines Wunschkindes geworden. Das Eigenheim war dann nur noch Makulatur gewesen.
Sie hatte ihm geglaubt, als er von der großen Liebe sprach.
Oder wollte sie ihm einfach nur glauben?
Selbstverständlich hatte sie auch geglaubt, dass sie eine kleine, glückliche Familie waren.
Die Freunde und Verwandten konnten sich doch nicht täuschen, wenn sie sie als Vorzeigefamilie bezeichneten. Oder?
Hätte sie kritischer sein müssen? Hatte sie einfach nur ihren Instinkt verloren oder einfach nur ausgeschaltet?