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Abschied

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Am Abend meiner Abschiedsfeier erlitt ich meinen zweiten Herzinfarkt. Anfang Dezember setzten die starken Schmerzen ein und ich brach zusammen, wie ein Kartenhaus.

Die Genesung meines Herzens dauert bis heute an und ich kann nur hoffen, dass es mir noch viele Jahre treue Dienste leisten wird.

Je kürzer die Tage wurden, desto schlechter war es um mich bestellt und die Ärzte rechneten mit dem Schlimmsten. Aber sie hatten nicht mit meinem Überlebenswillen gerechnet. Der Krieger in mir kehrte zurück und innerhalb kürzester Zeit wurde aus dem hilflosen Patient ein nerviger Querulant. Als ich kurz vor Weihnachten dann endlich, und nur auf eigene Verantwortung, aus dem Krankenhaus entlassen wurde, stand mein Entschluss längst fest.

Diesen Jahreswechsel, diesen Neuanfang, wollte ich nicht, wie immer, zu Hause mit einem vor sich hin nadelnden, sterbenden Weihnachtsbaum, sondern unter saftigen, grünen Palmen auf einer Insel feiern. Ich war Witwer, offiziell alleinstehend und hatte nun auch nicht einmal mehr eine Ersatzfamilie. Ja, in meinem Leben würde es nun auch keine Verbrecher mehr geben, die ich erbarmungslos jagen konnte. Ich liebte meinen Job – diese knallharte Konfrontation mit dem Bösen, dem Perfiden und Morbiden. Das Schöne und Perfekte langweilte mich, Lügner und Schwätzer verachtete ich. Deshalb war ich auch kein Politiker, sondern Chefermittler bei der Kripo. Ich kenne die dunkelsten Ecken der Region und weiß wie die Menschen ticken, besser als jeder Psychologe. Und nun? Wenn ich ehrlich war, fühlte ich mich alt und nutzlos. Es gab also eigentlich gar keinen Grund für mich, zu feiern.

Der Gedanke an Wärme, Sonne und Meeresrauschen half mir, wieder ein bisschen zuversichtlicher nach vorne und in ein neues, unbekanntes Jahr zu schauen.

Ich vermute, es war nicht nur der Abschiedsschmerz von meinem langen, erfüllten Berufsleben, das Wechselbad der Gefühle, das mir den Rest gab und meinen angezählten Körper beinahe ins Jenseits beförderte. Auch eine unbestimmte Angst vor der Zukunft spielte eine große Rolle. Doch etwas in mir wollte weiter leben. Ein schwaches, hoffnungsvolles Pflänzchen in meiner Brust gab meinem Herzen den Impuls, nicht aufzugeben – noch nicht.

Mein schicksalsträchtiger letzter Arbeitstag war der Nikolaustag. Dieser Tag erwies sich als gute Wahl zum Feiern. Der Altweibersommer hatte sich in einen dunkelgrauen, nasskalten Spätherbst verwandelt und die Vorfreude auf eine feuchtfröhliche Adventszeit trug viel zur ausgelassenen Stimmung bei. Alle, bis auf wenige entschuldigte Ausnahmen, waren gekommen. Nun erst wurde mir klar, wie viele wohlwollende Menschen mich begleitet hatten und dankbar verkündete ich, wie sehr ich mich freute, alle zu sehen.

Meine Gäste waren gut gelaunt. Manche trugen Weihnachtsmann-Mützen. Man hatte mir, in Fachkreisen auch „The Tiger“ genannt, im Laufe der Party auch eine Weihnachtsmann-Mütze auf mein dichtes weißes Haar gestülpt. Die Mütze war kräftig rot, verbrämt im frechen Tigerlook. Dafür heimste ich zahlreiche Komplimente und Küsschen ein. Ich glaube, ich strahlte, wie ein Honigkuchenpferd.

Ein köstlicher Bratenduft zog in meine Nase, als ich mit belegter Stimme begann, meine Rede vorzutragen. Diese hatte ich mir vorher genau ausgedacht und stundenlang auswendig gelernt. Doch als ich in die erwartungsvollen Gesichter schaute, fasste ich meine kunstvolle Festrede in einem einzigen Satz zusammen:

„Vielen Dank, dass ihr da seid! Lasst uns feiern – das Buffet ist eröffnet!“ Die erste fette Gans war sehr schnell verzehrt und der zweite Vogel wartete zum Glück bereits im Backofen. Dazu hatte ich Rotkohl, handgeschabte Spätzle, handgeformten Semmelknödel und Pilzragout bestellt.

Dass das Tiramisu ein Traum und die Mousse au Chocolat eine Alptraum war, weil man nicht aufhören konnte, davon zu essen, erfuhr ich nur vom Hörensagen. Ich kam gar nicht dazu, irgendetwas zu probieren. Ich schüttelte Hände, nahm Geschenke und Glückwünsche entgegen und hatte die ganze Zeit über ein lachendes und ein weinendes Auge. Ich kann mich nicht mehr an jedes einzelne Gespräch erinnern. Doch ich habe mich noch nie so wohl gefühlt im Kreise meiner Kollegen, wie am Tage meiner Verabschiedung. Allein diese wenigen Stunden löschten all den Verdruss, den es natürlich auch gegeben hatte, aus meiner Erinnerung und ich dachte, schade, dass diese Zeit nun definitiv zu Ende ist.

Die meisten Kollegen und Weggefährten hatten sich schon von mir verabschiedet und mir alles Gute gewünscht. Für sie würde alles weiter gehen wie bisher. Nur ich, ich würde mich umstellen müssen. Mit jeder Verabschiedung driftete ich mehr und mehr ins Abseits. Umarmungen, Versprechungen, sich bald mal wieder zu treffen, auf Besuch zu kommen, genau wissend, dass ich nicht mehr dazu gehören würde.

Zum Glück war ich noch nicht alleine zu Hause in meinen eigenen vier Wänden, als die Schmerzen einsetzten. Zunächst dachte ich, dass ich wohl zu viel Wein, Bier und Sekt durcheinander getrunken hätte. Meine engsten Mitarbeiter und Kollegen waren noch da. Wir gingen noch mal unseren letzten Fall durch, der so gut wie abgeschlossen war. Die grausamen Morde eines ehrgeizigen Wissenschaftlers hatten uns bis vor wenigen Tagen noch den Schlaf geraubt.

Zuerst bemerkte Tina, dass ich schwankte. Ich sei kreidebleich geworden und hätte die Arme schützend vor den Oberkörper gepresst. Während die anderen noch aufgeregt fragten, was ich denn hätte, fackelte sie nicht lange und alarmierte sofort einen Krankenwagen, der mich in Windeseile zur Herzklinik brachte.

Es war beinahe so schlimm, wie beim letzten Mal.

Das eingespielte Ärzteteam nahm mich unter ihre Fittiche und sorgte dafür, dass ich nicht ins Gras biss. Noch nicht.

So hatte ich mir den Beginn meines Ruhestandes wahrlich nicht vorgestellt. Eigentlich hatte ich Tina noch nach Hause bringen wollen. Um ihr meine Liebe zu gestehen. Und als ich wieder zu Bewusstsein kam, überlegte ich mir als erstes, wie Tina wohl nach Hause gekommen wäre. Ich fragte sie nicht, als sie mich besuchte. Ich war einfach dankbar, sie zu sehen.

Beinahe zehn Tage benötigte ich, um mich körperlich und seelisch einigermaßen zu erholen. Als ich wieder zu Hause war, wartete auf meinem Wohnzimmertisch ein Berg von Geschenken auf mich, die ich an diesem Schicksalstag erhalten hatte. Alle hatten sich richtig ins Zeug gelegt, um mir eine Freude zu machen: Fotoalben mit lustigen Bildern aus dem Büro, bedruckte T-Shirts, CDs, Delikatessen und erlesene Weine. Ich war gerührt und analysierte die Geschenke eingehend: sehr viel Schokolade, deftiges Essen, Grappa, Liköre, Whisky und exzellente Weine. Neugierig öffnete ich die Grappa-Flasche und schnupperte daran. „Probieren!“ signalisierte meine feine Nase und ich kippte einen kräftigen Schluck in das große Wasserglas, das ich in einem Zug leerte. Meine Laune besserte sich schlagartig und beinahe fröhlich arbeitete ich mich weiter durch meinen Gabentisch.

War doch alles gar nicht so schlimm!

Einen unscheinbaren Brief mit meinem Namen darauf, hatte ich beinahe übersehen. Ich drehte ihn um und las „Dreizehn Engel für Stefan“. Ich musste schmunzeln. Dies war der inoffizielle Name meiner engsten Mitarbeiter. Als ich neugierig den Umschlag öffnete, flatterte mir ein Reise-Gutschein vor die Füße, ausgestellt vom örtlichen Reisebüro. Ich schaute auf die Uhr und stellte erleichtert fest, dass mir noch genug Zeit blieb, um mich zunächst einmal unverbindlich im Reisebüro beraten zu lassen. Ich musste aktiv werden, um nicht vor Selbstmitleid zu zerfließen. Die Cocktails unter den Palmen auf dem Gutschein waren einfach zu verführerisch.

Wir hatten mittlerweile schon den 23. Dezember, Weihnachten stand direkt vor der Tür. Tina war am Abend davor, angeblich nur mit einer Freundin, in den Winterurlaub gefahren. Sie wollten Snowboard fahren, irgendwo, weit weg in den Bergen. Dieser halsbrecherische Sport war geeignet für 20 Jahre jüngere Frauen, aber definitiv nichts mehr für meine alten Knochen.

Ich hatte ihr gesagt, sie solle ruhig fahren!

Das würde mir nichts ausmachen.

Ich würde schon klar kommen.

Das Gegenteil war richtig, doch das behielt ich für mich. Ich vermisste sie und wenn ich schon mal dabei bin, ehrlich zu sein: ich kam überhaupt nicht damit klar, so alleine und verlassen zu sein.

Den Gutschein, wie einen Rettungsring umklammernd, machte ich mich entschlossen auf den Weg zum Reisebüro. Da das Reisebüro nur einen Katzensprung entfernt war, verzichtete ich auf einen warmen Mantel. Ich beschleunigte meine Schritte, erreichte atemlos mein Ziel und stieß die Türe zum Reisebüro auf. Als Mann der Tat war ich auf die Flucht nach vorne programmiert!

„Können sie auch beamen?“ sagte ich, nach Atem ringend.

Die blutjunge Dame am Schreibtisch, direkt bei der Eingangstür, schaute mich erschrocken an.

„Thailand?“ hauchte sie schüchtern, als ich mich auf den Stuhl setzte, auf den sie vor sich gedeutet hatte.

Mein Arzt hatte mir neben einer unübersichtlich langen Liste von Verboten nur eines erlaubt: Sex.

„Thailand, ja! War ich noch nie! Warum eigentlich nicht?“ dachte ich, sprach es aber nicht aus. Denn wenn ich etwas auf den Tod nicht ausstehen kann, dann sind das fader Kaffee, Nazis und alte, geile Säcke.

Der Inhaber des Reisebüros unterbrach sein Gespräch am Nebentisch, entschuldigte sich höflich bei seinen doch sehr betuchten Kunden, die eifrig dabei waren eine luxuriöse Kreuzfahrt zu buchen, erhob sich und setzte sich kurz auf den freien Stuhl neben mir.

Er raunte mir zu:

„Guten Tag, Herr Meyer, es ist mir eine Ehre, dass Sie uns als Reisebüro Ihres Vertrauens ausgewählt haben. Mein Name ist Frank Stein. Ich bin der Inhaber dieses Reisebüros. Und das ist meine Tochter Lisa.“ Er deutete mit einer sanften Handbewegung auf das Mädchen hinter dem Schreibtisch.

„Entschuldigen Sie bitte, meine Tochter ist erst fünfzehn, geht noch zur Schule und hilft heute nur aus. Vor ungefähr einer Stunde war ein, sagen wir mal, etwas ungehobelter Kunde da, der kein Blatt vor den Mund nahm und sich nicht schämte, offen seinen Wunsch nach geilen Pussys in Thailand meiner Tochter gegenüber zu äußern.“

Ich schaute von ihm zu seiner Tochter, die sich mit Ekel daran zu erinnern schien. Sie zog das Gesicht kraus und schüttelte sich. Ihr Vater fuhr fort:

„Er war ein Mann ihres Alters. Ich habe ihn natürlich sofort hinauskomplimentiert und ihn gebeten, sich ein anderes Reisebüro zu suchen!“ Er wandte sich an seine Tochter.

„Schatz, das ist Herr Stefan Meyer. Er ist bei der Polizei und hat mit Sicherheit ganz andere Urlaubspläne!“

Er kannte mich also. Wahrscheinlich aus der Zeitung. Später würde er seinem reizenden Kind erklären, dass ich leitender Fallanalytiker bei der Polizei sei. Das stimmte nur beinahe. Bis vor einem Monat war ich das ja auch noch.

Ich erhob mich, beugte mich über den Schreibtisch und schüttelte der jungen Dame höflich die Hand. Sie war weich und angenehm warm. Ein angenehmer, frischer Duft ging von der Kleinen aus.

Na gut! Nun war es also besiegelt. Ich würde mich für ein seriöseres Ziel entscheiden müssen. Da ich sowieso nicht ernsthaft Asien in Erwägung gezogen hatte, nickte ich und schüttelte auch dem Herrn Stein freundlich die ausgestreckte Hand.

„Alles klar!“ meinte ich verständnisvoll. Wir Männer verstanden uns auf Anhieb.

Der Chef bat mich, kurz zu warten, er sei gleich wieder für mich da. Mein Smartphone meldete den Empfang einer Nachricht. Konditioniert, wie ein Pawlowscher Hund, schaute ich nach. Ein fescher Schneehase, für meinen Geschmack etwas zu fesch, namens Tina, lachte mich an und teilte mir mit, dass alles supercool hier oben sei. Offensichtlich war es eher heiß und sonnig. Hätte sie sonst ein knappes, knallrotes Bikini-Oberteil an? Ich musste zugeben, sie sah supercool aus in ihrer dick gepolsterten schwarzen Snowboard-Hose und der kessen Weihnachtsmann-Mütze.

Ich schaltete den Störenfried aus und plauderte mit dem Töchterchen meines neuen Freundes, interessierte mich für ihre Schule, ihren Berufswunsch und ihre Lieblingsreiseziele. Wir unterhielten uns prächtig, bis der Papa für die Kreuzfahrer die luxuriöse Außenkabine und alle Flüge gebucht hatte. Die Kreuzfahrer nahmen glücklich und zufrieden ihre Reiseunterlagen entgegen und erhoben sich. In Kürze würden die Herrschaften in die Karibik fliegen und von dort aus eine Rundtour von Insel zu Insel starten. Das klang verlockend. Doch verspürte ich keine Lust, diesem durchaus freundlichen, aber ziemlich langweiligen Paar, ständig auf diesem Schiff zu begegnen. Sie würden mich bestimmt immer an ihren Tisch bitten und meinen, sich um mich, diesen netten alleinstehenden Herrn, kümmern zu müssen.

Frank Stein bat mich, an seinen Schreibtisch zu kommen. Ich konzentrierte mich wieder auf die Zukunft, auf meinen Urlaub und war gespannt auf seinen Reisetipp.

Der alte Mann und die Suche nach dem Frühling

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