Читать книгу Auf ein Bierchen - Kaas Koop - Страница 3

Wie alles begann

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«Was machst Du denn so in Deiner Freizeit? », neugierig blickte ich meinen neuen Arbeitskollegen über den Rand meiner Espressotasse an. Pures Interesse trieb mich, ebenso aber auch das Bemühen unser ins Stottern geratene Gespräch über die Kaffeepause zu retten. «Das Wort kenne ich nicht», kam es knapp und zackig zurückgeschossen. Das sass. Der Junge schien Biss zu haben, viel Biss, zu viel Biss? In den Duft frisch zu Espresso verarbeiteter Guatemalabohnen mischte sich jetzt verdächtig ein beissender Burnout-Geruch. Ich biss in meine mit Erdbeeren garnierte Brüsseler-Waffel und riet ihm, bei aller Faszination über die tägliche Arbeit, auch das Bewusstsein dafür zu erhalten, dass es ein Morgen und Übermorgen gibt, welches man gesund und munter erreichen möchte. Getreu meinem Motto «Handle, sonst wirst du behandelt» befolgte ich den Rat gleich selbst und bog auf dem Heimweg noch kurz in ein Wirtshaus ab, aus dem Musik erklang, die freundlich und flämisch war. In der gut gefüllten Gaststube irritierten mich nur kurz die Wände, welche in einem Rot getönt waren, das Einrichtungsfanatikern das Wort «entzückend» auf die Lippen gezaubert hätte. Das übliche Kneipenmilieu hatte sich schon eingefunden: diskutierende Studenten, Arbeiter und Angestellte im feierabendlichen Chill-out-Palaver, liebestrunkene Pärchen, in sich ruhende Pensionäre und ermattete Urlauber. Als man mich sah, bot mir eine sich schon im Auflösen begriffene Knobelgruppe einen freien Platz an der Bar. Ich setzte mich, bestellte beim Wirt ein lokales flämisches Bier und vertiefte mich rasch in die Lektüre der jüngsten Ausgabe des Radsportjournals Wielerkrant, die ich mir vom Eingang aus mitgenommen hatte. Zu meiner grossen Freude stiess ich auf einen zwanzig seitigen Spezialbericht über die am kommenden Sonntag stattfindende Flandernrundfahrt. Weiter kam ich allerdings nicht. Jäh wurde mein Lesefluss unterbrochen:

«Hej, was ist das eigentlich für ein Hype um diese Rennräder. Ist der Radsport nicht schon wieder vollkommen out?!? Es gewinnt doch sowieso nur derjenige, der das raffinierteste Doping verwendet. So hat doch schon längst eine Götterdämmerung eingesetzt, wie ich jüngst gelesen habe. Die früher als Götter verehrten Rennradidole gelten heute doch allesamt als Verbrecher, und das zu Recht! Die Radrennfahrer sehen immer so gesund aus: muskulös, mit geradem Rücken, strahlendem Lächeln und voller Optimismus. Das blühende Leben. Es ist allerdings wie beim Zwiebelschälen: ist die Schale weg, kommen die Tränen. Denn viele von ihnen sind doch wandelnde Apotheken. Vollgestopft mit Aufputsch- und Schmerzmitteln. Diese Schluckkultur ist krank.»

Mein Sitznachbar – ein rüstiger Mitte 70er – hatte wohl seinen bis dahin starr auf sein Bier gerichteten Blick wandern lassen und war zum heimlichen Mitleser mutiert. Irritiert über den Einwurf, verärgert über die Störung, liess ich mich gleichwohl nicht zu einer impulsiven Antwort hinreissen. Ich versuchte die Konversationsattacke mit ignorierendem Aussitzen und stoischem Weiterlesen im Keim zu ersticken.

«Was reizt Sie denn am Rennradsport? »

Es half nichts, der Kerl war hartnäckig. Aber was soll’s. Ein bisschen Geselligkeit kann ja auch ganz interessant werden, obwohl meine Mutter immer warnte: „Lass Dich nicht ansprechen“. Ich klappte das Heft zu, trank in einem Zug mein Bier aus und grinste meinen Barnachbarn freundlich an:

«Nenn mich Kaas.»

«Hallo, ich bin Mathis, freut mich. Nun mal los, raus mit der Sprache! Was ist nach all den Dopingskandalen noch der Kick am Rennradsport »

Damit schlug er mir aufmunternd auf die Schulter und orderte eine neue Bierrunde für uns.

«Doping hin oder her, für mich ist Rennradsport Faszination pur – schon seit Jahren.»

«Interessant, höchst interessant, mir ist das irgendwie zu öd und leer, wie zwei Städte in Deutschland, die ich jüngst bereist habe – Oedt und Leer. Alles viel zu langweilig. Oft entscheiden sich die Etappen ja erst mit dem Schlussspurt und vorher passiert stundenlang nichts, rein gar nichts. Motorsport bietet dagegen doch viel mehr Spannung – heisse Rad-an-Rad-Duelle, waghalsige Überholmanöver, ausgefeilte Boxenstrategien. Ich bin ein absoluter Formel 1-Fan. Aber erzähl, was bringt Dich zum Rennradsport?»

«Es muss Ende der 70er Jahre gewesen sein, während der unbeschwerten Jahren meiner Kindheit. Ich verbrachte die Wochenenden oft bei meinen Grosseltern in einer friesischen Kleinstadt – so ein Ort, wo die Frauen dicke Kissen auf das Fenstersims im Oberstock legten, um gemütlich aus dem Fenster heraus das Geschehen auf der Strasse beobachten zu können.»

«Oh ja, die kenne ich, diese Wahrzeichen des kleinstädtischen Idylls, die ihre Lage nur ändern, um von Zeit zu Zeit ihre Busen neu zu sortieren.»

«Im Land der Friesen, eine Landschaft aus Watt, Warft, Hallig, Deich, Priel und Koog, aus Marsch und Geest, ist der Horizont sehr weit und klar. «Rüm Hart, Klaar Kiming» ist das friesische Lebensmotto, so auch das meiner Grosseltern, welches sie mir mit auf den Weg gaben. Offen sein für andere Menschen und andere Kulturen, ein großes Herz haben für andere und einen klaren Verstand nutzen. Als ihr einziger Enkel wurde ich überdies total verwöhnt und betüddelt.»

«Das mache ich mit meiner Enkelin heute auch, sehr schön. Dafür sind doch Grosseltern da! Herrlich!»

«Unvergesslich waren die Samstagabende. Ich durfte vor dem Fernseher im gemütlichen Ohrensessel meines Opas Platz nehmen und mir an gereichter Nougat-Vollmilch-Schokolade und diversen Katjes-Variationen die abendlichen Unterhaltungssendungen anschauen. Wenn bis dahin die Augen noch nicht vollends zugefallen waren, durfte ich auch noch als krönenden Abschluss des samstäglichen Fernsehplausches das aktuelle Sportstudio ansehen. Hier war es! Hier kam ich erstmals mit dem Rennradsport in Berührung – der Beginn einer grossen Leidenschaft.»

«Habt Ihr früher denn nicht Fussball gespielt? Für uns gab es nur Fussball, Fussball und nochmal Fussball und sonst gar nichts – Turnen vielleicht noch.»

«Klar, für uns Jungs stand damals auch Fussball über allem. Wir spielten immer und überall, mit Tennisbällen zwischen Toren aus Parkbänken, in Vorgärten bis die Anwohner uns verjagten, in Parkanlagen zwischen Bäumen und Beeten, auf Bolzplätzen, auf eingezäunten Sportplätzen, auf Natur- und Kunstrasen sowie Sand und Tartan, zu jeder Jahreszeit und Witterung. Wir spielten, spielten tagein, tagaus. Und doch befiel mich der Rennradbazillus. «

«Interessant, höchst interessant, was war denn der Auslöser?«

«Dietrich Thuraus Parforceritt bei seiner ersten Tour de France-Teilnahme 1977, ganz klar. Immer und immer wieder schlüpfte ich in Thuraus Rolle und spielte mit meinem grünen Kinderrad seine Etappensiege nach – v.a. das Zeitfahren in Bordeaux, bei dem Thurau dem «Kannibalen» Eddy Merckx in dessen Spezialdisziplin 50 Sekunden, und dem späteren Toursieger Bernard Thévenet über eine Minute abnahm.»

«Warum denn Thurau? Der ist doch Deutscher!»

«Meine Mutter ist auch Deutsche, weshalb ich auch immer mit den Deutschen Sportlern mitfiebere. Daneben begeisterten mich jedoch auch Radsportikonen, wie Bernard Hinault, Joop Zoetemelk, Laurent Fignon, Greg LeMond sowie die flämischen Rennradhelden – Van Looy, De Vlaemick, Maertens, Museeuw und Boonen.»

«Mir sind mehr die Rennradasse der Nachkriegszeit ein Begriff.»

«Oh ja, die finde ich auch gut. Wahnsinn, was die damals geleistet haben. Mein Opa – in seiner Jugend ein passionierter Bahnradfahrer – musste mir immer und immer wieder vor dem Einschlafen die Geschichten, Legenden, Anekdoten und Tragödien seiner Radsportidole erzählen. So kletterte ich im Traum wie einst Coppi, Bartali, Anquetil oder Merckx über den Col du Tourmalet, den Col du Galibier oder den Mont Ventoux und jagte in rauschender Fahrt wieder hinab. Fahren wollte ich stets wie Alfredo Binda, dessen Stil so makellos war, dass seine Kollegen behaupteten, er könne 200 km mit einer Schale Milch auf den Schultern fahren, ohne auch nur einen einzigen Tropfen zu verschütten.»

«Wow, das musst Du mal auf Lunge rauchen!«

«Ich rauchte damals nichts auf Lunge, sondern ging gleich damit ins Training. Im Nachhinein war dies allerdings keine gute Idee. «

«Wieso denn? Was ist passiert? »

«Meine Mutter lief Amok aufgrund der immensen Menge an milchdurchtränkter T-Shirts, die ich ihr zum Waschen ablieferte, und das fast täglich. Und wenn man diese nicht sofort wäscht, weisst Du, wie die dann stinken und nicht nur die, sondern die ganze Wäsche – irre! «

«Dazu fällt mir nur der Spruch eines chinesischen Philosophen ein, über den ich jüngst in einem ähnlichen Zusammenhang gestolpert bin: «Hong se whu moah, tse hua wha che tse» – und wie recht er doch damit hat. Aber sag mal, dann haben Dir Deine Grosseltern sicherlich auch Dein erstes Rennrad geschenkt?«

«Nein, leider nicht. Zum Geburtstag bekam ich Bilderbände über die Tour de France, den Giro d’Italia sowie die Frühjahresklassiker. Einmal gab es auch zu meiner grossen Freude ein Maillot Jaune samt gelber Radmütze. Ich trug es wochenlang, bis es mir meine Mutter quasi vom Leib riss. Sie konnte den immer stärker werdenden Gestank an Körperausdünstungen, der sich in meiner Umgebung unmittelbar einstellte, nicht mehr ertragen. Ein Rennrad bekam ich jedoch nie, obwohl es mein sehnlichster Wunsch war. Ich musste es mir letztendlich nach langer, sehr langer Leidenszeit irgendwann einmal selber kaufen.»

«Warum musste es denn unbedingt ein Rennrad sein? Du hättest ja auch mit einem sportlichen City-Rad oder Mountainbike glücklich werden können. Wir hatten früher auch keine Rennräder, sind aber trotzdem gegeneinander um die Wette gefahren.»

«Rennräder sind schon etwas anderes, Unvergleichbares. Rennräder sind formvollendete, anmutige Schönheiten. Insbesondere ihre Nacktheit macht sie zu Schönheiten.»

«Das sage ich über meine Frau auch immer, aber bei einem Fahrrad?»

«Rennräder sind Purismus pur, reduziert auf das Allernotwendigste, um das Maximale zu erreichen. Rennräder sind aerodynamische Konstruktionen, getrimmt auf Kraft und Schnelligkeit. Kann ein Gefühl erhabener sein, als so eine pedalbetriebene Rennmaschine zu erklimmen, wie leicht der Tritt, wie flink die Manövrierbarkeit, wie süss der Gesang der Laufräder auf dem Asphalt, wie giftig das Schnurren der Kette auf den Zahnkränzen, wie triumphierend das Überholen der anderen – man ist schneller, schneller auch als manche E-Bikes, schneller trotz eigenmuskulär erzeugter Reibung auf dem Asphalt, schneller aus eigener Kraft.»

«Ja, wenn das so ist, dann Prost!. Diese spezielle Eingebung war mir bis jetzt verborgen geblieben. Und Deine Eltern, wollten sie Dir denn nicht ein Rennrad schenken?»

«Nein, ein Rennrad blieb für mich lange Zeit Traum statt Wirklichkeit. Für meinen Vater, der aufgrund seiner Kindheit in der bellikosen Zeit von 1939 bis 1945, erst sehr spät zum Radfahren kam, war ein Fahrrad kein Sportgerät sui generis. Es war schlicht und einfach ein nützliches Fortbewegungsmittel für den alltäglichen Gebrauch. Insofern musste es vor allem alltagstauglich und sicher sein, nicht mehr und nicht weniger.»

«Das habe ich meinen Kindern auch immer gesagt und ihnen ein Hollandrad gekauft.»

«Genau, das Hollandrad war auch für meinen Vater die Idealvorstellungen von einem Fahrrad – bequemer Fahrkomfort durch aufrechte Sitzhaltung, robuste und qualitativ hochwertige Verarbeitung, und somit wartungsarm. Für mich kam das Hollandrad jedoch überhaupt nicht in Frage.»

«Da kollidierten ja elterlicher Pragmatismus und jugendlicher Idealismus frontal! Und hast Du nicht versucht, Deinen Vater herumzukriegen?»

«Es gab kein Durchkommen, keine Chance. Gepäckträger, Schutzbleche, Klingel, Kettenschutz, Rücktrittbremse, Reflektoren, Lichtanlage seien nützlich, sicherheitserhöhend und gehörten insofern unabdingbar zu einem Fahrrad. Basta! Auch sei die auf dem Rennrad üblicherweise gebeugte Sitzhaltung sehr ungesund. Rennräder wären zudem nicht robust genug. Sie seien nicht gemacht, um über Bordsteine zu springen und liessen sich nur auf asphaltierten Wegen verwenden – welcher Junge fährt dort schon?!?. Schotterpisten, Wiesenpfade, Feldwege und dergleichen wären mit einem Rennrad nicht befahrbar. Kurzum: ich verbrachte meine Jungend auf Pucki-Kinder- und diversen Jugendfahrrädern, die einem Unfall, diebischen Zugriffen oder liebloser Haltung zum Opfer fielen.»

«Aber in der Studienzeit hast Du Dich dann sicherlich von Deinem Vater derart emanzipiert, dass Du Dir das erste Rennrad gekauft hast.»

«Nein. Während meiner Studienzeit kühlte die Rennveloleidenschaft deutlich ab. Das Auto war das Transport- und Reizmittel der Stunde. Daneben liess mein knappes Budget keine Sprünge zu. Ich hatte zwar einige Drahtesel, der Fuhrpark blieb aber auf gebrauchte Standard- und Klappräder beschränkt. Dies änderte sich erst zu Beginn meines Berufslebens. Und trotzdem war der Weg zum ersten Rennrad noch weit»

«Wieso denn das? Was stand den jetzt noch im Wege? Doch nicht etwa eine Frau?«

«Genau.»

«Wie das? Mensch, Kaas, erzähl!»

«Der tägliche Weg zur Arbeit führte mich an einem Bianchi-Shop vorbei. Hier musste ich stets innehalten. Aber nicht nur das: Ich drückte mir die Nase am Schaufenster platt, zu aufregend war die jeweils ausgestellte Parade neuester Rennvelos aus der Mailänder Fahrradschmiede.»

«Und ich dachte schon, Du hättest Dich in die Verkäuferin verguckt.»

«Der putzige Bianchi-Laden übte auf mich eine magische Anziehungskraft aus, die selbst durch eine odysseus’sche Selbstknebelung nicht überwunden worden wäre. Bianchi-Rennräder liessen schon immer mein Herz höherschlagen. Hinzu kam, dass jetzt auch Jan Ulrich – mein damaliges Rennidol – im Bianchi-Team fuhr.»

«Bianchi-Räder sind doch immer in so einem komischen Türkis lackiert?»

«Celeste – ein helles Grünblau – ist der untrennbar mit Bianchi verbundene Farbton. Dabei handelt es sich um eine Lackierung, die einer Legende zufolge der Augenfarbe der italienischen Königin Margherita glich. Firmengründer Edoardo Bianchi lehrte sie in den frühen 1890er Jahren das Radfahren. Celeste war die Farbe meines Lieblingsbikes, Celeste war insofern auch ich!»

«Was soll das denn schon wieder heissen, Celeste war auch ich!»

«Celeste schmückte meine Bianchi-Armbanduhr und zog sich durch meine Fahrradklamotten. Celeste sollte jetzt auch die Farbe meines Fahrrads werden – eines Bianchi-Rennrads. Das wurde mir immer deutlicher klar, je öfter ich an dem Laden meiner Begierde vorbeitrödelte.»

«Ok, schön und gut, doch was ist denn nun mit der Frau, die das vereitelte?»

«Es zog mich also eines Tages zur besten Mittagspausenzeit unwiderstehlich in den Bianchi-Shop, allerdings nur zum Schnuppern. Der herbeigeeilte Verkäufer hatte indes leichtes Spiel mit mir. Urplötzlich wurde aus Anschauen, Streicheln, Staunen, Ausmessen, Anprobieren, Auswählen.»

«Das kenne ich, aber in einem anderen Zusammenhang.»

«Es endete mit dem Kauf eines brandneuen Bianchi Veloce Rennrads, natürlich in Celeste. Noch leicht verdattert angesichts meiner letztendlich zugreifenden Entscheidungsfreudigkeit verliess ich den Laden. Doch schon bald ergriff mich eine Vorfreude auf diverse Rennradtouren, die es nunmehr in Angriff zu nehmen galt. Gleichwohl blieb auch ein flaues Gefühl in der Magengegend zurück: Was würde Susi wohl sagen?»

«Wieso jetzt Susi? Mann, Junge, Du hast doch endlich das Rad Deiner Träume, welches Du Dir schon so lange sehnlichst gewünscht hast! Wie kommst Du jetzt auf Susi? Du bist doch der Mann.»

«Du hast gut reden! «Nein! Was soll das? Stopp den Auftrag, jetzt, sofort!», waren ihre ersten Worte. Bös war sie: «Was soll ich denn machen, wenn Du zukünftig Deine Freizeit alleine auf dem Sattel Deines Rennrads verbringst?»

«Putzen, was sonst!»

«Eben nicht. Sie steigerte sich hyperventilierend in einen Wutausbruch hinein: «Machen wir also gar nichts mehr zusammen? Dann war’s das wohl mit uns?!?“». War es nicht, zumindest nachdem ich schweren Herzens den Kaufauftrag beim Bianchi-Shop wieder aufhob – nichts war’s mit meinem ersten Rennvelo.»

«Du hast den Auftrag einfach storniert, einfach so?!?»

«Ja, einfach so! Ich fand daraufhin am Abend in aufgewühlter Stimmung zunächst keine Ruhe, bis mir schliesslich Grimms Märchen vom «Fischer und seiner Frau» in den Sinn kam. So fiel ich – nach unzähligen Repetitionen des Klagevers «Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See, myne Fru de Ilsebill, will nich so, as ik wol will.» – in einen tiefen, tröstenden Schlaf.“

„Aber, Kaas, hättest Du nicht Susi für Deine Rennradleidenschaft begeistern können? Das wäre eine patente Lösung gewesen. Ihr hättet euch dann beide ein Rennrad gekauft und wärt gemeinsam auf Tour gegangen. Wieso bist Du denn darauf nicht gekommen?“

„Mensch, Mathis, das habe ich ja auch versucht. So konnte ich Susi während eines Mallorca Urlaubs zu einer Rennradausfahrt überreden. Ich hatte eine idyllische Flachetappe entlang der Küste mit einigen Abstechern über leichte Anstiege – maximal 5% Steigung – und schöne Abfahrten ausgearbeitet. Wir mieteten uns kurzer Hand zwei Räder und fuhren los. Ich schlug bewusst ein langsames Tempo an, welches sie auch mitgehen konnte, allerdings nur bis die ersten Anstiege kamen. Dann musste sie abreissen lassen, was ich jedoch erst bemerkte, als sie mich klagend zurückrief: „Mach mal langsamer!“. Das war zwar kaum möglich, aber ich gab mein Bestes: Nahm Wattdruck vom Pedal, fuhr Schlangenlinien, rollte nur noch dahin, bremste ab. Als ich Sie zurück in meinem direkten Windschatten sah, zog ich wieder an, nur um kurze Zeit später wieder zurückgepfiffen zu werden. Das Spiel wiederholte sich noch ein paar Mal. Allmählich verdrängte tiefer Frust die Freude über unsere gemeinsame Ausfahrt. Ich machte mir zunehmend Sorgen über die Effektivität des Trainings. Meine Puls- und Wattzahlen kletterten nicht einmal annähernd in den GA1-Bereich, sondern verharrten auf Ruhemodus. Zu allem Überfluss musste Susi dann auch noch eine Pause machen. Auf meinen Einwand hin, dass sie angesichts des angeschlagenen Zotteltempos, welches jeder rüstige Rentner gemütlich per pedes über längere Zeit durchhalten konnte, doch unmöglich ein Ruhebedürfnis verspüren könnte, flogen die Fetzen. Damit endete unsere gemeinsame Rennradzeit. Man muss ja auch nicht immer alles gemeinsam machen. Freiräume für Individualität gehören auch zu einer harmonischen Beziehung.“

„Du hättest Susi ruhig noch etwas mehr Zeit lassen können, Kondition aufzubauen. Was hast Du denn erwartet? Dass sie sofort mit Dir mühelos mitgehen kann? Sofort Dein sportliches Niveau erreicht, welches Du Dir über Jahre antrainiert hast? Ihr hättet besser mit einem Tandem angefangen. Dies gibt es jetzt auch schon in einer hochwertigen, sportlichen Ausführung. Du könntest Dich vorne in der sogenannten „Captain“ Position fahrend voll auspowern, ohne dass Susi hinten auf dem sogenannten „Stoker“-Platz sitzend die Lust am Radfahren verlieren würde. Auf dem Tandem wäre das Radfahren dann wirklich ein gemeinsames Erlebnis, bei dem Ihr Euch auch noch problemlos unterhalten könnt. Für Susi wäre es zudem ein unbeschwertes Rollen, ohne auf den Strassenverkehr achten zu müssen, ein vergnügliches Aufsaugen der durchfahrenen Umwelt“.

„Oh nein, bloss kein Tandem! Bist Du irre! Das ist ja ein Koloss – enorm schwer. Damit kommt man ja keinen Berg hinauf. Und ob Susi wirklich gerne stundenlang in Unterarmdistanz von meinem verschwitzten Rücken sitzt, mag ich arg bezweifeln. Dann fährt doch lieber jeder mit seinem eigenen Rennrad.“

«Hast Du denn jetzt überhaupt ein Rennrad?»

«Ja, zehn Jahre später war es dann soweit, endlich! Mit Engelsgeduld zermürbte ich letztendlich Susis Widerstand, und dies obwohl unsere Familie in der Zwischenzeit um drei prächtige Jungs angewachsen war. Das mir für alleinige Freizeitaktivitäten verfügbare Zeitbudget hatte sich somit zwar weiter stark verringert, ich nutzte es indes effizienter, indem ich schon frühmorgens, wenn alle noch schliefen, eine Trainingstour drehte, entweder auf dem Weg zur oder von der Arbeit oder während meiner Mittagspause. Auch Susis Einwände, ob der hohen Anschaffungskosten – damals hing bei uns noch überall der säuerliche Geruch der Sparsamkeit in der Luft – liessen sich durch den Erwerb eines stark im Preis reduzierten Vorjahresmodells abschwächen. Zudem übte ich mich in Demut und kaufte mit einem Giant Propel Advance nicht gleich im ersten Zug die absolute High-End-Rennmaschine. Das auffällig in blau, weiss, schwarz lackierte Rennrad, welches ich liebevoll She’s a Lady taufte, war mein ganzer Stolz.»

«Bravo, es ist vollbracht. Darauf einen neue Runde – Barkeeper?!?»

«Die Freude währte indes nur kurz, viel zu kurz. Vier Jahre nach Erwerb war das Rennrad plötzlich weg – gestohlen von professionellen Fahrraddieben, die sich selbst von einer Überwachungskamera und dem vermeintlich sichersten Fahrradschloss der Welt nicht abschrecken liessen.»

«Oh nein, was für Gauner, wie gemein! Was dann?»

«Totale Leere, totales Elend, totale Niedergeschlagenheit. Aber auch hier galt: Kein Schatten ohne Licht. Mit dem Geld der Versicherung und einem geringen Eigenbeitrag gelang mir ein Upgrade. Ich erwarb – zwar ebenfalls wieder als Vorjahresmodell – ein Specialized Venge in bildschöner, schwedisch anmutenden blau-gelb Lackierung und natürlich Top-Ausstattung. Mit dem kleinen Onkel – so habe ich das Rad in Anlehnung an meine erste grosse Jugendliebe Pippi Langstrumpf getauft – wurde ich zum Endorphin-Junkie.»


Auf ein Bierchen

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