Читать книгу Geographie in der antiken Welt - Kai Brodersen - Страница 6
Kapitel I
Einführung 1. Überblick und Darstellungsziel
ОглавлениеHeute kann man bequem zu Hause bleiben und mit einem einzigen Mausklick einen ausführlichen Blick auf irgendeine Straßenecke in einer Stadt auf der anderen Seite der Welt werfen, ein Flussdelta in einem entfernten Kontinent untersuchen oder die Dimensionen eines Hunderte von Kilometern entfernten Berges in Erfahrung bringen. In der Antike – einem Zeitalter, in dem die Menschen selten ihren Geburtsort verließen – waren die Horizonte hingegen schmal und durch unbekannte und furchterregende Gebiete begrenzt, und die Messinstrumente waren einfach: Wie konnten die Menschen da entdecken, dass die Erde rund ist? Wie schätzten sie ihre Größe? Wie suchten Händler und Siedler nach neuen Territorien in unbekannten Gebieten? Wie konnten sich Feldherren mit Armeen aus Griechenland in den Iran oder nach Indien aufmachen? Die Griechen und Römer taten all dies und mehr und brachten Leistungen hervor, die auf vielerlei Weise noch heute die Grundlage unserer eigenen geographischen Vorstellungen bilden.
Geographie – wörtlich eine in Schrift oder Zeichnung (graphe) gefasste Beschreibung der Erde (ge) – entsteht immer und überall aus dem Bewusstsein des Menschen von seiner eigenen Umgebung, aus Begegnungen mit fremden Ländern und Völkern und – wie jeder menschliche Wissensbereich – aus der puren Wissbegierde und dem Wunsch, beobachtete Phänomene zu verstehen. Diese drei Motive – Bewusstsein, Begegnungen und Wissbegierde – müssen bereits in den frühen Perioden der Formung griechischer kultureller Bildung bestanden und in unterschiedlicher Weise die ganze Antike hindurch angedauert haben. Griechische Untersuchungen von Landschaften und der Umwelt und ein Interesse an fernen Gebieten und an Ideen über die Form der Erde gab es bereits lange, bevor diese Probleme als eine Disziplin anerkannt wurden.
Den Menschen der Antike fehlte nicht nur eine klare Definition der Geographie1 als Disziplin, es gab auch keine Geographen und geographischen Werke im Sinne spezialisierter Autoren und Werke mit klaren spezifischen Eigenschaften und Qualifikationen. Geographische Themen erschienen vielmehr in fast jedem literarischen Genre: Werke, die exklusiv und bewusst geographischen Problemen gewidmet sind, konnten in Prosa oder in Versen geschrieben sein, konnten die Welt als Ganzes oder ein kleines Gebiet auf der Welt behandeln, oder konnten sich entweder mit Konzepten oder mit Berechnungen befassen (siehe Kapitel I 2). Für Autoren von ‹Geographien› waren keine besonderen Sachkenntnisse erforderlich: Dichter, Historiker, Reisende und Philosophen befassten sich alle mit geographischen Gegebenheiten. Auch wurde in der Ausbildung von Kindern und Jugendlichen der griechischen und römischen oberen Schichten Geographie nicht um ihretwillen studiert: Geometrie und Astronomie bildeten einen Teil der höheren Bildung, doch nur im Zusammenhang mit Homer als eine Mischung von Fakten und Fiktionen oder als Kulisse für historische Ereignisse, hauptsächlich Kriege.2
Trotz dieses Fehlens einer antiken Fachdisziplin Geographie können die Wörter ‹Geographie› und ‹geographisch› bei modernen Diskussionen über die klassischen Begriffe von Raum, Landschaft und Umwelt nicht vermieden werden. Dieser Gebrauch muss aber genauer gefasst oder in den Zusammenhängen modifiziert werden, in denen die Gefahr der Zweideutigkeit besteht, und dem Leser muss zugemutet werden, zwischen dem modernen und dem antiken Konzept zu unterscheiden.
Wie andere Forschungsgebiete in der Antike wurden geographische Schriften von einem beschränkten sozialen Kreis erzeugt und gelesen. Man musste des Lesens und Schreibens kundig sein, um Berichte über Reiseerfahrungen zu verfassen, und man musste gut gebildet sein, um wissenschaftliche Theorien und Beobachtungen zu diskutieren. Fortgeschrittene mathematische und astronomische Sachkenntnisse waren besonders in den wissenschaftlichen und kartographischen Zweigen der Geographie erforderlich. Und waren die Werke schließlich vollendet, mussten sie sowohl physisch (durch Abschriften) als auch kognitiv (mit Lese- und Schreibkundigkeit) zugänglich sein, um in Wort oder (sofern Graphiken dazugehörten) Bild verbreitet zu werden. Auch wenn es schwierig ist, die Situation genau zu bewerten, scheint das Ausmaß von geographischen Kenntnissen unter dem ungebildeten Volk beschränkt gewesen zu sein (siehe Kapitel V 2). Mündliche Berichte – etwa durch Händler und Soldaten – oder öffentliche Denkmäler wie Inschriften und Skulpturen müssen zwar einem breiten Publikum zugänglich gewesen sein, doch schufen selbst diese wahrscheinlich nur amorphe Ideen von entfernten Ländern und Nationen, nicht aber ein zusammenhängendes Konzept von der Welt. Für die gewöhnliche Person war diese Ignoranz wahrscheinlich nicht von großer Bedeutung. Anders lag die Sache bei einem militärischen Führer oder einem Händler, wenn er keine Idee hatte, wo er war, wohin er ging, wie lange sein Weg oder seine Fahrt dauern würde und welche Bedingungen er am Ziel vorfinden würde.
Drei historische Hauptprozesse beeinflussten die Entwicklung der Geographie in der klassischen Antike: erstens die griechische ‹Kolonisation› der Archaischen Periode (8.–6. Jh. v. Chr.), zweitens die Feldzüge Alexanders des Großen und die Expansion der griechischen Welt nach Osten (4. Jh. v. Chr.), und drittens die Konsolidierung des Römischen Reiches, insbesondere in der Zeit des Kaisers Augustus, aber auch unter den Kaisern Claudius und Traian (1. Jh. n. Chr.). Alle drei Prozesse förderten die militärische Expansion sowie die Kenntnis über zuvor unbekannte Gebiete der Welt und eine bessere Bekanntschaft mit den näher gelegenen. Diese drei Wellen führten zur Dokumentation von neuen Erfahrungen, brachten neue Gattungen hervor und verstärkten Tendenzen innerhalb der Entwicklung der Geographie. Dies bedeutet nicht, dass in anderen Perioden das Interesse an Geographie stagnierte oder gar zurückging. Wie wir sehen werden, waren geistige Prozesse dieser Art in der ganzen Antike konstant. Aber die Ausweitung der Horizonte beeinflusste – was nicht überrascht – direkt das Ausmaß der Kenntnisse über die Welt, schuf aber zugleich intellektuelle Probleme und neue Lösungen für alte Probleme.
Dieses Buch bietet eine kurze Einführung in die antike griechische und römische Geographie von ihren bekannten Anfängen im Archaischen Zeitalter bis ins späte Römische Reich.3 Wir wollen einen Überblick über die erhaltene Literatur bieten, um das Ausmaß der antiken geographischen Kenntnisse bei sich ändernden Grenzen und sich erweiternden Horizonten im Blick auf die ursprünglichen Zusammenhänge und Formate geographischer Belege und Darbietungen vorzustellen.
Wegen der besonderen Natur antiker geographischer Quellen wird hier nicht chronologische Abfolge als primäres Aufbaukriterium genutzt. Vielmehr wird die nachfolgende Darlegung in drei den antiken Ansätzen entsprechende Gruppen eingeteilt:
1. der beschreibende, wörtliche und literarische Ansatz,
2. die wissenschaftliche, mathematisch-exakte Methode,
3. die (karto)graphische, visuelle Technik.
Dabei überlappen sich gelegentlich die einzelnen Abschnitte eines Kapitels chronologisch mit denjenigen eines anderen, das zeitgleiche Transformationen und Entwicklungen in einem anderen Kontext präsentiert. Außerdem sind einige Texte und Autoren für mehr als einen Zusammenhang wichtig und werden nach Bedarf im Anschluss an die jeweilige Erörterung angeführt.
Obwohl die verbalen, beschreibenden Arten der literarischen Geographie (Kapitel II) sich in der Methode grundsätzlich vom mathematischen und wissenschaftlichen Ansatz (Kapitel III) unterschieden, waren sie nicht unbedingt reine Fiktionen. Da sie sich hauptsächlich in Form von geographischen Exkursen innerhalb historiographischer Werke entwickelten, lieferten sie das ‹wahre› Bild von Örtlichkeiten oder belegten Ereignissen; es ist daher angemessen anzunehmen, dass sie einem breiteren Publikum zugänglich waren als Werke mit einem streng wissenschaftlichen Ansatz. Wissenschaft begann mit den naturkundlichen Diskussionen der vorsokratischen Philosophen, die Theorien über die Struktur und Essenz des Weltalls und die natürliche Gestalt der Welt boten – einschließlich ihrer Form, Größe, Grenzen und Bewohnerschaft. Auf diese Grundlagen baute die mathematische Geographie auf, die versuchte, die Erde durch die genaue Berechnung zu definieren. Der wissenschaftliche Ansatz erzeugte nicht nur schriftliche Aufzeichnungen, sondern ebnete auch den Weg für erste Versuche, Teile der Welt graphisch zu präsentieren (Kapitel IV).
Mehrere Elemente sollten das Rückgrat der antiken Geographie bilden. Deren Wahrnehmung wird durch den Vergleich mit parallelen Erfahrungen und Methoden der modernen Geographie geschärft:4
Alltagsbezug: Geographische Interessen entstanden in der griechischen Welt aus täglichen Bedürfnissen. Weil die Griechen rings um das Mittelmeer und das Schwarze Meer lebten und sich für Krieg und Handel auf den Seetransport verließen, brauchten sie Information über Seewege und fremde Länder. Ähnlich versorgte Geographie die Römer mit Details, die zu militärischen Zwecken und Verwaltungsaufgaben notwendig waren, während der wachsende Verkehr von Menschen und Waren eine Nachfrage nach genauer Reiseinformation schuf. Im Unterschied zu den meist akademischen und theoretischen Interessen der modernen Geographie war die antike Geographie direkt mit dem täglichen Leben verbunden und beruhte nicht auf Forschungen hochqualifizierter ‹Geographen›, sondern auf den Erfahrungen von gewöhnlichen Augenzeugen.
Konzepte: Jeder Wissensbereich spiegelt größere geistige Entwicklungen wider, und die antike Geographie bildet keine Ausnahme davon. Beispiele hierfür sind die aufkommende Theorie einer runden, nicht flachen Erde, ein neues Verständnis der Beziehung zwischen Land und Meer sowie Fragen der Ethno-Geographie, die das Verhältnis von Klima und Charakter betonten.
Menschliche Dimension: Im Unterschied zu modernen Geographen, die sich für alle Teile des Globus interessieren, untersuchten die Menschen der Antike nur bewohnte Gebiete. Unbewohnte Regionen oder Wüsten wurden nicht erfasst und nicht dokumentiert, so dass sie aus dem Rahmen der bekannten Welt fielen. Andere Kontinente als Europa, Asien und Afrika wurden nicht gesucht, und in bekannten Gebieten wuchs das Ausmaß von Kenntnissen nur infolge demographischen Wachstums und militärischer Eroberung an.5 Zwar wurden einige Versuche unternommen, unbekannte Gebiete zu erforschen, und die natürliche Wissbegierde reizte die Einbildungskraft. Aber im Allgemeinen galten Gebiete am Rand der bekannten Welt nicht nur als gefährlich und furchterregend, sondern auch als unbedeutend, da sie nur leeres Land ohne menschliche Bewohner waren. So bezeichneten die Griechen nach Herodot – und später die Römer – die Welt als oikumene (‹bewohnt›), womit sie die menschliche Dimension als Ort der Wohnung (oikia) einbezogen und unbewohnte Weltteile, hypothetische Landmassen und den Ozean, der die oikumene umfasste, ausschlossen.
Technik: Die moderne Geographie nutzt (etwa seit dem Ersten Weltkrieg) Luftaufnahmen, Satellitenbilder und geographische Informationssysteme (GIS) und nutzt eine genaue quantitative Methodik, die auf Karten und Statistiken beruht.6 Die Griechen und Römer verließen sich in erster Linie auf Sinneseindrücke und logische Beweisführung und beförderten gelegentlich ihr Verstehen mit wohldurchdachten wörtlichen Berichten. Ihre Methoden und Instrumente waren einfach,7 aber das hinderte sie nicht daran, eindrucksvolle wissenschaftliche Durchbrüche zu erreichen. Die Geschichte der antiken Geographie ist daher teilweise ein Überblick über wissenschaftliche Methodiken und zeigt, wie auch bei Nutzung primitiver Werkzeuge elaborierte Berechnungen ausgeführt wurden.
Das Verständnis der geographischen Konzepte und Praktiken in der Antike ist aus mehreren Gründen wichtig. Der einfachste ist der sprachliche und toponymische Beitrag der Antike zur modernen Fachsprache: Begriffe wie ‹Europa›, ‹Atlantik› und ‹Klima› haben alle griechische Ursprünge. Wichtiger freilich ist, dass die Menschen der Antike die Fundamente für die moderne Wissenschaft im Allgemeinen und für die moderne Geographie im Besonderen schufen. Indem sie Fragen zum ersten Mal stellten und indem sie Probleme analysierten und Berechnungen und Taxonomien lieferten, befassten sie sich mit Themen, die Geographen noch heute beschäftigen. Trotz der Einfachheit ihrer Instrumente versuchten die Griechen und die Römer, ihre Welt zu erforschen, sie zu vermessen und ihre natürlichen und menschlichen Phänomene zu verstehen. Zudem ist es einfach auch lohnend zu untersuchen, wie geographische Vorstellungen in vormodernen Gesellschaften funktionierten und welche spezifischen Interessen und Tätigkeiten die antike Geographie umfasste.
Dieses einleitende Kapitel führt in zwei allgemeine Themen ein, die von einer bestimmten Zeit, einem Ort oder einer Gattung unabhängig, aber für das Verstehen der antiken Geographie notwendig sind. Das erste (Kapitel I 3) behandelt die Frage, wie sich geographische Diskussionen, die Entwicklung von Gattungen und der Fortschritt von Kenntnissen zur Expansion und Eroberung in verschiedenen Perioden verhalten; anders gesagt behandelt es die Natur der Verbindung zwischen der Politik der Expansion und den geographischen Kenntnissen und Vorstellungen. Dieses Problem ist eng mit dem zweiten verbunden (Kapitel I 4), einem Vergleich der griechischen und der römischen Geographie. Oft wird die Auffassung vertreten, dass in den kulturellen und geistigen Bereichen Rom Griechenland folgte. Aber gilt dies auch hinsichtlich der Geographie?
Dieses Buch erwähnt notwendigerweise viele Namen, Autoren und Werke. Es liegt dennoch außerhalb seiner Zielsetzung, alle einschlägigen Belege zu behandeln. Unsere Absicht ist vielmehr, soweit möglich ein zusammenhängendes Panorama unseres Themas zu präsentieren und die Haupttendenzen und Richtungen hervorzuheben.