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Der Merlebaum

Im Frühlingsgarten

Es war ein schöner Frühlingstag. Alle Blätter und Blüten hatten sich im Garten entrollt, die Obstbäume standen in voller Pracht, und die Magnolien überlegten sogar schon, das Tulpenlaub ihrer dicken rötlichweißen Kelche Stück für Stück abzuwerfen.

Stille bis auf das Summen der vielen artverschiedenen Gelbschwarzen und anderer Ohrsausel erfüllte die blaue Himmelsluft aus tausendfach verführerisch duftenden Gerüchen, die die Freundin Strawinskys, Coco Chanel, in den Nebeln von Avalon hätten verschwinden lassen.

Frühlingsfriede überall. Und doch: Ganz still war es nicht. Im Gegenteil, denn neben den wechselnden Summakkorden quinquilierten aus unzähligen Kehlen die entzückenden kleinen Saurier, die Gott wohl ihrer gewaltigen Überheblichkeit wegen vor 60 Millionen Jahren klein werden ließ damit sie nicht so viel Unfug auf der Erde anstellen konnten. Und weil die frechen Riesenechsen die Erde möglichst gar nicht mehr berühren sollten, hatte er die Verwandelten sogar bunt beflügelt und ihnen den Luftraum zugewiesen. Und nun tönten sie zusammen mit den schwarz-gelben und verwandten Schwirrtieren aus Büschen, Hecken, Bäumen und sogar vom Dach des Hauses von Saphira und Merle.

Als der Wind sich mit seinen Panflöten ein wenig mehr in diese Frühlingssinfonie einmischte, hätte man glauben können, selten aber immer einmal wieder auch das „G“ der G-Saite einer Gitarre zu hören. Und tatsächlich, wer tiefer in den Garten eingedrungen wäre, hätte etwas Wunderbares entdecken können: Merle im grünen Gras zwischen gelbem und pelzmützigem Löwenzahn sitzend. Sie hatte ihr blumenbemustertes Sommerkleidchen an, und über ihren ausgestreckten Beinen lag quer eine Gitarre. Ihr schwarzhaariger Wuschelkopf mit dem hübschen, fast noch mädchenhaften feinen Gesicht passte wunderbar in die Frühlingsfarben ihrer Umgebung. Sie saß still mit geschlossenen Augen und lauschte in die Naturklänge, die sie hin und wieder mit jenem „G“ ergänzte. Wer die Geduld gehabt hätte, sich dieses Gitarrenspiel über Stunden anzuhören - und wirklich nur zu hören ohne ein Wort - hätte erleben können, dass sich noch ein weiterer Ton später dazu mischte: das „H“ der H-Saite. Dem Hören hätte sich für den diese heilige Szene Erlebenden neben der Gitarrenterz auch ein wohl einmaliger Seh-Eindruck offenbart. Denn Merle war nicht alleine. Sie hatte Zuhörerinnen. Das waren sieben farbig befiederte Hühner, die im Halbkreis gebannt im Grase standen und wie Merle ins Unbeschreibliche lauschten. Und etwas abseits auf einem tief gewachsenen Ast saß still der dazu gehörende ebenfalls buntfedrige Hahn, der dem essentiell unsichtbaren Geschehen nicht weniger beiwohnte als seine Frauen.

Als Saphira Merle zu vermissen begann, ging sie in den Garten, und Sikmui, die Saphira gerade küssen wollte, folgte ihr leise. Die zwei des Dreigestirns lauschten, äugten, blitzten und wurden zu wortlos Wahrnehmenden wie ihre Sternschnuppe und deren klein gewordene Saurierfamilie.

Die Zeit stand still, bis ein Frühlingsregen den Hahn ermunterte, sein kräftiges Hahnenlied zu singen, was die Verwunschenen weckte und zwei der Hühner Eier legen ließ.

Die erste, die sprach war Sikmui: „Das ist es, was da ist, wenn ich spiele und was ich an meine Studentinnen und Studenten weitergeben möchte.“ „In deinem Fall“, sagte Saphira, „geht es aber um mehr als nur einen Ton oder zwei.“ „Es geht um den absoluten Augenblick, und der ist nicht von dieser Welt.“ „Was meinst du damit?“ Merle saß da, bis ihr Organismus den absolut richtigen Zeitpunkt empfing, die Natursinfonie mit einem ihrer Gitarrentöne zu vervollkommnen. Zwischen solchem Empfangen und dem Tun gab es keine Zeitverzögerung, nicht eine billionenstel Sekunde. Es geschah einfach. Das Klanggeschehen der Natur selbst nahm sich Merles Töne, ohne dass unser Naturkind das wollte oder bemerkte. „Das heißt, der Klang bemächtigte sich ihrer Hände und bewegte ihre Finger?“, fragte Saphira. „Ja, so kann man es auch sagen, aber dazu brauchte es eine unglaubliche Fähigkeit Merles“. „Ja, im Zeitlosen, besser: im Ewigen zu sein und dabei zu empfangen und den Willen des Klanges in eine Gestalt fließen zu lassen.“ „Das ist übrigens etwas Urweibliches“, meinte Saphira. „Albér wäre dazu allerdings auch fähig“, sagte Sikmui. „Wenn er die Frau in sich aktiviert“, ergänzte Saphira. „Das kann er. Denkt an das Bild des hockenden Mädchens im Wald.“

Jetzt war auch Merle in der Lage, sich einzubringen. „Vielleicht ist alles so, wie ihr sagt. Aber ich verstehe noch nicht wirklich den Zusammenhang zwischen dem, was Sikmui musikalisch macht und dem, was mir scheinbar widerfährt.“ „Wir sind in diesem Frühlingsgarten“, sagte Sikmui. „Aber das stimmt nicht: Wir waren in diesem Garten, und jetzt sind wir es nicht mehr.“ „Das erinnert mich an Yoko Tawada, die in einem ihrer Gedichte schreibt: »Nur da, wo du nicht bist, finde ich dich«.“ „Das bringt die Sache auf den Punkt“, flüsterte Sikmui. „Und was hat das mit deinem Orgelspiel zu tun, das verstehe ich noch immer nicht?“ „Man muss spielen, ohne zu spielen, so wie du eben Gitarre spieltest. Den Willen der Klänge zu spüren und ihn sich beim Spielen umsetzten zu lassen. Ich will es mal von der defizienten Seite aus sagen: Manchmal höre ich Schülervorspiele, und dann weiß ich genau, was der Lehrer gesagt hat: Hier leiser, hier schneller, hier laut und dort langsam etc. Das machen die Schüler dann und dann ist alles falsch. Die Musik kommt dann vom Kopf, so wie der Tanz der Frau Krähol in der Kirche und nicht aus der Wahrnehmung, also vom Klang bzw. vom Körper selbst. Und derartiges ist entsetzlich. Es geht darum zu spüren, was die Klänge wollen, und es braucht dann den trainierten Körper, damit dieser Wille zur Gestaltung gelangt.“ „Ist das nicht auf alles, auf das gesamte Leben anwendbar?“ fragte Saphira. „Ja, natürlich. Aber bleiben wir noch einen Augenblick bei der Kunst“, erwiderte Sikmui. Nehmen wir den Akkord C-E-Fis“. Sikmui sang diese Töne schnell hintereinander. „Ihr müsst euch das simultan vorstellen. Wohin will dieser Akkord? Das muss gespürt werden und das braucht Zeit. Bei einem Menschen etwas mehr beim anderen etwas weniger. Und erst, wenn er aus dem Folgenden heraus die Spannungsauflösung gespürt hat, die im Falle eines „As“, was die Ganztonleiter aktiviert und das Fis zum Ges werden lässt, eine ganz andere ist als im Falle eines g, was auf ein einfaches C-Dur hindeutet, darf der Interpret weiterspielen. Das heißt unter anderem, dass er oder sie das Repräsentationstempo nach seinem bzw. ihrem inneren Spannungsbogen ausrichtet. Gute Interpretationen klingen u.a. deshalb immer unterschiedlich und besonders bei Frauen und Männern. Beim Komponieren verhält es sich übrigens genauso.“

„Das verstehe ich gut“, sagte Saphira, „aber lasst uns noch einmal an einen früheren Gedanken in unserem Gespräch anknüpfen: Ich meine, so gut und wichtig Sikmuis Ausführungen eben waren, jetzt haben wir den Frühlingsgarten endgültig verlassen.“ „Wenn du den Sprung von der wortfreien und damit zeitlosen Wahrnehmung in die worthafte Kognition meinst, stimme ich sofort zu und ergänze sogar mit dem berühmten Satz Krishnamurtis: »Das Wort ist nicht die Sache«, auch wenn das eben Gesagte mit dem Garten und Merle vermutlich viel zu tun hat.“ „Ich meine nur: Jetzt sind wir Denkende im Kopf, vorhin waren wir nur Lauschende.“ „Das war, bevor wir jetzt zum Essen gehen, ein gutes Schlusswort für den bisherigen Tag“, sagte Merle und strahlte, dass die Sonne neidisch wurde und sich ein wenig verdunkelte. „Vielleicht gibt es gleich Regen, lasst und reingehen!“, sagte Saphira lachend.

Zwischen Sandsteinfelsen

Ein paar Tage später hatten Saphira und Merle Besuch von den beiden Traumentsprungenen Priscilla und Antje. Die beiden waren zu engen Freundinnen geworden, ähnlich wie die Frauen des Dreigestirns und lebten zusammen wie Saphira und Merle. Als sie eintraten, fiel gerade der Halbsatz „Am Brunnen vor dem Tore.“ Mit bewegter Stimme hatte Merle diese Worte an Saphira gerichtet, woraufhin Saphira mit den Tränen kämpfte. „Wir kommen wohl eher ungelegen?“, fragte Antje, und Priscilla ergänzte: „Wir kommen gerne auch ein anderes Mal wieder.“ „Nein, nein bleibt hier, es ist schon vorbei“. „Schuberts Lied macht traurig wie die ganze Winterreise“, sagte Antje. „Das stimmt, aber darum ging es gerade nicht“, flüsterte Saphira noch immer bewegt. „Es war eine Erinnerung, die mich fast gänzlich zum Weinen brachte.“ „Und mich auch“, flüsterte Merle, „aber wie gesagt, um das Lied ging es nicht.“ „Dürfen wir Näheres erfahren?“, fragte Priscilla, „vielleicht können wir helfen?“ „Es ging um meinen Beinahe-Tod und das in Gegenwart meiner Liebsten, meiner Saphira, von der ich jetzt noch mehr als sonst denke, dass sie mich aus allen schrecklichen Lebenslagen retten kann. Und das hat sie auch immer getan, sogar als der Brecher kam.“ „Aber dieses Mal schien es völlig über meine Möglichkeiten hinaus zu gehen“, flüsterte Saphira. „Vielleicht wäre Finja, die fliegen kann, in diesem Fall die richtige Helferin gewesen.“

„Ich war nicht so wie neulich im Frühlingsgarten, überhaupt nicht“, erzählte Merle. „Ich war im Gegenteil völlig im Kopf, ich war kein bisschen wahrnehmend und achtete nicht auf den Weg.“ „Wenn wir schon erzählen“, unterbrach Saphira, „dann besser von Anfang an. Oder?“ „Ja gut, also, wir beide waren in Waake, einem Dorf in der Nähe von Göttingen. Dort gibt es ein kleines Bundsandsteingebirge.“ „Wir durchstreiften die Gegend, kamen auch am Fuße eines ziemlich hohen roten Felsens an einer Stelle vorbei, die man noch immer »Am Brunnen vor dem Tore« nennt, obwohl es dort weder einen Brunnen noch ein Tor noch einen Lindenbaum gibt, nur eine sehr alte verwitterte Bank, die vielleicht noch aus der Zeit Wilhelm Buschs stammt.“ „Wir wanderten einen dick bebuschten rötlichen Weg am Felsen aufwärts.“ Saphira schluckte. Die Geschichte war ihr noch immer sehr nahe. „Dann waren wir auf einem buchenbaumbestandenen Plateau angekommen, eigentlich sehr schön.“ „Ja, wir zwitscherten wie die Vögel.“ „Und Wasserfälle von Worten stürzen aus uns hervor.“ „Ja stürzten“, betonte Merle, „und damit begann das Unglück.“ „Wir achteten nicht auf den Weg.“ „Aber trotzdem sah ich auf dem Boden unter braunem Laub eine Metallstange glitzern“, fuhr Merle fort. „Natürlich war ich neugierig und hob sie auf.“ „Das war für Merle nicht leicht“, versicherte Saphira. „Ja ein langes schweres Ding, das mir das Leben rettete.“ „O Gott, ja“, versicherte Saphira, das war wahrscheinlich ein Überbleibsel aus einem Metallzaun, der vor dem Abgrund rechts von uns schützen sollte. Wir hatten ihn nicht gesehen, aber jetzt lag er unendlich offen vor uns.“ „Dann knallte es fürchterlich. Ein Schuss? Vor Schreck geriet ich ins Stolpern, noch immer mit der Stange in den Händen. Ich rutsche ab und fiel und fiel und sah unter mir die Kronen von Bäumen. Das also beendet mein Leben, dachte ich entsetzt, das gerade glücklich begonnen hatte? Als ich Saphira verzweifelt schreien hörte, kam mein Fallen mit einem Ruck zum Stillstand. Ich saß rittlings auf der Stange, die sich im Felsen und einem Baum, der aus diesem herausgewachsen war, verfangen hatte. Unter mir der bodenlose Abgrund. Mein Steiß schmerzte derart, dass ich das trotz meiner Todesangst fürchterlich spürte. Da saß ich nun rittlings auf den roten Fels blickend, starr an das Metall angeklammert, als mir ein Satz ins Gehirn sprang, den mir Doro Jahre zuvor aus ihrem Buschbuch vorgelesen hatte: »Mit zwei Gänsen in der Hand flattert er aufs trockne Land«. Wenn die jetzt kämen, dachte ich, welch‘ Gotteswunder. Aber die kamen nicht. Stattdessen sah ich, dass sich oben am Rand des Abgrunds Saphira splitternackt auszog. Oft schon hatte ich sie, meine Frau, schon völlig nackt gesehen, aber selbst jetzt durchfuhr mich ihre Schönheit wie ein heißer Hauch.“ „Vielleicht erzähle ich jetzt mal weiter“, bat Saphira. Priscilla und Antje hatten atemlos der Fortsetzung des Dramas mit geöffneten und schön geschminkten Mündern zugehört. „Natürlich zog ich mich nicht zum Spaß aus. Als ich nackt war, zerriss ich meine Kleider bis ich aus ihnen lange Fetzen gemacht hatte. Die band ich zu einem Strick zusammen, den ich zu Merle hinabließ. Aber der Strick war zu kurz. Merle schrie um Hilfe. Aber wie nur hätte ich ihr die gewähren können? Zum Glück kam ein junger, groß gewachsener Mann hinter den Bäumen hervor. Er hatte mich zwar beobachtet, aber das Drama offensichtlich nicht erfasst. Jedenfalls war er, als er mich, so wie mich Gott geschaffen hatte, sah, hochentzückt und hatte zweifellos tierische Gedanken. In diesen fühlte er sich auch noch stark bestätigt, als ich ihm befahl, sich blitzschnell ebenfalls nackt auszuziehen. Dabei half ich ihm, und zwei Sekunden später sah ich, wie sich an seinem Unterleib etwas erhob. Das war so groß, dass ich dachte, es würde mit der Stange, an die sich Merle klammerte, konkurrieren wollen. Als ich seine Kleider in Fetzten riss und diese an seine Füße band, fragte er misstrauisch werdend aber noch immer beglückt: »Bonding-Sex?« »Das wirst du gleich erleben.« »Gut, aber nicht zu doll!« »Du wirst dich wundern und davon für den Rest deines Lebens träumen.« Inzwischen hatte ich aus unserer Kleidung ein langes, festes Seil hergestellt und mit dem Seil an seinen Füßen verbunden. Ich sah an seinem Unterleib, dass seine Liebesträume langsam welk wurden und er merkte, dass es um etwas anderes als um einen Quickie ging. Sein Blick weitete sich, als ich ihm beschwörend zurief: »Dir wird nicht passieren, du sollst nur Merle retten«, und ihn dann über die Felskante in den Abgrund warf.“ „Gott im Himmel“, rief Antje und Priscilla biss sich in die rechte Hand. „Kein Grund zur Sorge, ich hatte natürlich alles im Griff. Das Seil aus unserer Kleidung spannte sich ruckartig an, hielt, wie ich es geprüft hatte, gut, und nun hing der nackte Kerl kopfüber Merle zugewandt und schrie. Merle rief ihm von unten zu: »Hör auf damit, sie lässt dich nicht fallen. Alles wird gut, wenn du mir die Hände reichst, eine vorsichtig nach der anderen und dann festhältst damit uns Saphira hochziehen kann.« Tatsächlich ließ sich der an den Füßen hängende Mann darauf ein. Er kam Merle näher und näher und streckte seine Hände aus. Als Merle danach griff, gab es jedoch ein solches Schwanken auf der Stange, dass Merle abkippte, aufschrie und sich an der Stange nunmehr auch mit den Beinen festkrallend mit dem Kopf nun nach unten hing. »Wenigstens lassen jetzt meine Schmerzen im Steiß nach«, rief sie galgenhumorig. Aber es war mir klar: lange würde sie sich so nicht halten können. Ich wurde fast wahnsinnig vor Angst.“ Die Riesin zitterte, als sie das erzählte, und Merle, Anja und Priscilla umarmten sie. „Die Angst war aber gut“, fuhr Saphira fort, denn durch sie sprang in mir ein weiteres Energiereservoir auf, das ich noch nicht kannte. Ich zog mit einem Ruck den am Seil hängenden Mann nach oben, wendete mich, lief mit wenigen Schritten zu einer großen Buche und riss sie komplett aus. Dem Nackten fielen nun tatsächlich die Augen aus dem Kopf. Den Baum am Wurzelwerk fest in den Händen haltend, warf ich ihn mit der Krone voran in den Abgrund, hielt ihn dann aber an seinen langen Wurzeln zurück und senkte ihn langsam ab, bis sein Geäst Merle erreichte. »Ein bisschen mehr nach rechts«, rief Merle, »dann weiter vorsichtig nach unten. Ja gut jetzt bin ich am … und nun auch auf einem dicken Zweig. Gott sei Dank!«.“ Saphira atmete schwer aus. „Das Klettern habe ich mit Finja viel im Wald geübt“, erklärte Merle. „Aber trotzdem rief ich: »Zieh mich jetzt rauf, bitte!«“ „Ihr könnt mir glauben“, sagte Saphira, „ich habe in meinem Leben noch nie etwas lieber getan. Kurz danach lag der Baum mit Merle im Gezweig oben sicher auf dem Plateau und leistete dem Nackten, der sich um seine Augen bemühte, kurzzeitig Gesellschaft.“ „Jetzt muss ich weiter erzählen“, unterbrach Merle. „Saphira, ebenfalls noch immer unbekleidet wie Eva im Paradies, bog die Äste des Rettungsbaums auseinander und holte mich vorsichtig hervor. Es war ein Glück und eine Umarmung, die über jede Umarmung der Welt hinausging. Wir verschmolzen miteinander. Das dauerte fast eine halbe Stunde, glaube ich. Mein Danken nahm kein Ende, aber auch den Unbekannten, der sein Bestes gegeben hatte, wenngleich nicht ganz freiwillig und letztlich vergeblich, hatte ich nicht vergessen.“ „Ja“, sagte Saphira, „der saß noch immer nackt auf dem nackten Boden und war unabwendbar fassungslos, und obwohl er mich sah, wie ich ebenfalls noch völlig nackt in den herumliegenden Kleidungsfetzen herumstöberte, waren ihm seine Sexualgedanken weg bis auf den Mond geflogen. Sein Lustzäpfchen war jedenfalls jetzt kleiner als sein kleiner Finger. Auf ihn zu geflogen kam hingegen etwas anderes, nämlich ein Bündel mit seinen Kleidungsfetzen, das ich ihm zuwarf. Die hatte er sich, gleich nachdem er wieder auf festem Grund gelandet war, zwanghaft schnell zusammen mit einigen Zerreißergebnissen meiner Kleidung von seinen Beinen abgeknotet und war dann im Grase erstmal fortgerollt, bevor er sich wieder hinsetzte. Merle half uns dann gottlob bei der Bekleidung.“ „Ja, ich band passende Stoffstreifen aus der Zerreißaktion mit Binsen zusammen, die ich auf einigen feuchten Arealen des Hochterrains richtig vermutet hatte, und stellte so zwei Röcke her. Einen großen für Saphira und einen kleinen für den unbekannten Helfer. In dessen Rock steckte ich noch eine Hasenpfote, die zwischen den Binsen lag. Das sollte dem Rock ein männliches Gepräge geben. Die Oberteile bestanden für beide aus kurzen Weizenähren eines nahen Feldes, Kleidungsfetzen, Birkenrinde, vielen Blättern und ebenfalls aus Binsen.“ „Und wie ist es dann mit euch Geretteten und dem Spaziergänger, der ja auch Unfassbares unverhofft erlebten musste, weitergegangen?“, fragten Anja und Priscilla fast wie aus einem Munde. „Ich entschuldigte mich bei dem Mann in aller Form, verzieh ihm auch sein Missverständnis, das hart an übergriffigen Gedanken vorbeischrammte, und er vergab mir meine Gewalttat an ihm, die allerdings völlig anders motiviert war als seine Absichten.“ „Wir vertrugen uns“, sagte Merle, „und luden ihn ein, uns gelegentlich zu besuchen. Das wollte er unbedingt tun, zumal er immer wieder wie besessen fragte, ob er träumen würde. Zum Schluss empfahl ich ihm die Klopfkur.“ „Ja, Merle hatte sich unglaublich schnell wieder berappelt“, sagte Saphira. „Weil ich wusste, dass Du mich rettest“, antwortete Merle. „Und dann?“, fragte Priscilla. „Dann gingen alle neu, wenngleich unüblich bekleidet ihrer Wege“, sagte Saphira, „und wir beide ließen, als wir zu Hause waren, unsere große Badewanne volllaufen und nahmen gemeinsam ein schönes duftendes Bad.“ „Meinem Steiß, der so hart auf die Metallstange fiel, tat das unbeschreiblich gut, zumal ihn Saphira mit ihren wunderbaren Händen auf einen guten Heilungsweg brachte.“

Kennenlernen

Sie konnten die Geschichte kaum glauben. Aber war die biblische Erzählung von Samson, der einen Tempel mit einem Ruck einriss, glaubhafter als ihre? Aus einem Traum in die Wirklichkeit zu entspringen, das war sicher der Gipfel der Unglaublichkeiten. Und doch, einen ausgewachsenen Buchenbaum auszureißen … „Nun klopft euch kräftig aufs Gesäß!“ lachte Merle. Die beiden nicht weniger als Merle und Saphira Turtelnden schauten ungläubig, sprangen dann aber auf, und die erlösende Klopfkur begann. In die schönen Klopfgeräusche und Erlösungsschreie begannen sich nun allerdings noch weitere Klopfsignale einzumischen. Die kamen von der Außentür. Scheinbar ging die Klingel mal wieder nicht. Saphira hatte wohl vergessen, neue Batterien zu besorgen, dafür allerdings hatte sie eine Kirchenglocke organisiert, die sie nun auf Dauer der Batterienproblematik enthob. Das dachte Saphira jedenfalls. Es war ein schönes Instrument mittlerer Größe, schöner klingend als die Glocken vom Big Ben, das nun zusammen mit einem schweren Schlegel im Glockeninneren vor der Tür in einem starken Eisengerüst an einer bombensicheren Bohle hing, an deren Querholz zum Läuten dicke Stricke angebracht waren. Für eine Riesin war diese Türklingel wohl angemessen. Andere Menschen allerdings kamen nicht einmal auf die Idee, die Glocke dafür zu benutzen. Daneben hing für diese Dummen allerdings auch noch eine kleinere. Aber deren Nutzung blieb nicht weniger jungfräulich. Die neuronale Vernetzung der zeitgenössischen Erdenbürger hatte sich scheinbar zumindest hierzulande auf elektrische Signalgebungen unverrückbar eingestellt.

Kein anderer Mensch wäre wohl auf solch eine Türklingelidee gekommen. Saphira aber hatte das tonnenschwere Ding in einer Gießerei gleich auf den Arm genommenen und auf ihren gemieteten Pick-Up geworfen, was die redlichen Glockengießer auf den Rücken warf und den Pick-Up in die Knie gehen ließ. Das Klopfen an der Tür wurde stärker und klang nach einer Weile erheblich härter und lauter. Das lag daran, dass Sikmui anstelle ihrer Hände einen dikken Knüppel zum Klopfen, der unschuldig im Gras lag, benutzt hatte. Merle öffnete nun die Tür und beide umarmten sich herzlich. „Habt ihr mein Klopfen nicht gehört?“ „Nein, Priscilla und Antje palpierten gerade kräftig ihr Gesäß und schrien dabei.“ Das verstand Sikmui. „Dann gab es mal wieder Exorbitantes“, erwiderte sie. „Aber warum hast du nicht geläutet?“ fragte Merle, „Womit denn, wenn eure Klingel mal wieder nicht geht?“ „Na mit der Glocke, groß genug ist sie ja wohl.“ Sikmui fand das toll. Sie griff nach dem dickeren der Glockenstricke und zog daran aus Leibeskräften. Tatsächlich begann die Glocke sich schwerfällig zu bewegen und dann kam sie sogar zum Klingen. Mit ihrer Gegenbewegung allerdings wurde Sikmui vom Boden in die Höhe gezogen. „Das ist ja besser als auf dem Rummelplatz!“, jauchzte sie. „Welch tolle Idee!“ Angelockt von solchen Klängen kam Antje ebenfalls zur Tür und zog gleich am Strick für die kleine Glocke. „Wenn ich jetzt nicht an die Kirche denken würde“, rief Sikmui auf- und ab schwebend, „wäre das Geläut ein ungetrübter Genuss.“ „Der Klang ist überwältigend“, sagte Antje, „Saphira hat wirklich schöne Glocken ausgewählt.“ „Unser Zusammenspiel ist aber auch nicht übel!“, rief Sikmui.

Natürlich wollten die beiden, die solches glockentonbegleitetes Schweben noch nicht kannten, es ebenso ausgiebig erleben. Die Frauen flogen hoch und runter, lachten, und ihr Lachen erklang zwischen den Glockentönen schöner als jedes gewöhnliche Langweiler-Musik-Gestümpere allsonntäglich in der Kirche.

Nun kamen auch Priscilla und Saphira zur Tür. Als Saphira die auf und ab Fliegenden sah, staunte sie, denn wenn sie am Seil der großen Glocke zog, musste sie rhythmisch im Schwung der Glocke immer wieder nachgeben, sonst blieb die Glocke einfach in der Luft stehen. An ein Fliegen wie auf einer Schaukel konnte sie nicht denken. Deshalb mischte sich die Riesin gar nicht erst ein. Anders Priscilla. Sikmui gab ihr den Strick nach einer Weile, und federleicht und wirklich bezaubernd flog auch sie auf und nieder. Die Glockenmusik, die jetzt zusammen mit Antjes Glocke erklang, war anders als die von Antje und Sikmui, die ihr Spiel spontan musikalisch gestalteten. Als Priscilla anstelle Sikmuis am Seil zog, kam eine aleatorische Note in die Glockenklänge, was auch nicht schlecht war und Sikmui an Ligetis Metronom-Musik erinnerte.

Irgendwann endete das Vergnügen, und man ging zurück ins Haus. Fast gleichzeitig, als Doro mit einer großen Kanne Tee hereinkam und Saphira für alle Tassen holte, zwar nicht solche aus der Ming Dynastie aber ebenfalls schöne, wenngleich nur aus Ton, dafür aber handgearbeitet, erscholl ein gewaltiger Glockenschlag an der Tür. Doros Tee hätte sich über den Boden ergossen, wenn die traumentsprungene Anja Doros Kanne nicht aufgefangen hätte. Als Merle die Tür öffnete, flog Finja, die ihr Fliegen inzwischen perfektioniert hatte, mit Schwung herein, drehte ein paar Runden im Zimmer und landete dann sicher zwischen den anderen Frauen. Das drängte die Palpistinnen, denen ihr Gesäß nach ihrer Klopfkur weh tat, allerdings nicht zur erneuten Aktion angesichts der Flugkünste von Finja. Scheinbar waren solche Dinge hier üblich, und sich jedesmal zu bläuen, erschien nun redundant. Lieber trank man jetzt Tee und wünschte sich dazu jeweils ein Hörnchen. Wieder ertönte die Haustürglocke urgewaltig, und wieder hätte Doro, die sich an die Türklingel noch nicht gewöhnt hatte, Tee vor Schreck verschüttet. Aber der stand nun bereits sicher auf dem festem Holztisch, an dem die Frauschaft fröhlich saß. Sofort stieg Finja auf, schwebte wieder rasant durch den Raum und öffnete. Herrlich alias weiblich! Ein Korb duftender Hörnchen drängte sich ihr entgegen, die Doro bei ihrer Catering-Firma bestellt hatte.

Finja wurde nun geherzt und von allen geküsst, und Saphira und Merle stellten ihr die Traumentsprungenen vor. „Das ist schon erstaunlich“, meinte Finja, nachdem ihr Priscilla vom Ausriss der ausgewachsenen Buche durch Saphira erzählt hatte, „aber das gibt es alles.“ „Aber einen ganzen großen Baum auszureißen … Das ist wirklich erstaunlich, denn die Buche, Fagus sylvatica, ist kein echter Flachwurzler. Ihre starke Herzwurzel wächst tief nach unten, während sich an deren Seiten im Laufe der Zeit viele meterlange Nebenwurzeln bilden, die zum Teil über dem Boden sichtbar werden.“

„Einen 30 Meter hohen Fagus auszureißen, das hätte ich selbst Saphira nicht zugetraut.“ „Aber so war es“, versicherte Merle, „und dadurch hat mich Saphira gerettet.“ „Was bedeutet eigentlich der Name »Saphira«?“, fragte Priscilla. Finja wusste auch das: „Heutzutage gelten vorwiegend blaue Edelsteine als Saphire. Der Edelstein kristallisiert im trigonalen Kristallsystem und gehört der ditrigonal skalenoedrischen Kristallklasse an. Der Name leitet sich aus der griechischen Bezeichnung für blaue Steine ab. Aber das Wichtigste ist: Der Saphir gilt als blauer Heilstein mit riesigen Kräften. Saphira bedeutet also die starke Heilerin oder Retterin. In Fantasy Geschichten kommt sie als Drache vor.“

„Da sieht man mal wieder, dass Namen Menschen prägen“, sagte Anja, „passender geht es doch nicht.“ „Und dein Name, was bedeutet der?“, fragte Merle. „Die Anmutige“, antwortete Anja und freute sich. „Passt hundertprozentig“, rief Priscilla. „Und welche Bedeutung hat Priscilla?“, fragte Saphira. Das wusste wiederum Finja: „Der Name bedeutet die Altehrwürdige. Es ist ein weiblicher Vorname mit lateinischer Herkunft und die Verkleinerungsform von Prisca, der weiblichen Form des lateinischen Namens Priscus, der Altehrwürdige.“ „Was du alles weißt“, staunte Priscilla, die das scheinbar noch nicht wusste. „Weißt du, ich war mal mit einem Römer, einem stattlichen Konsul aus alter Zeit, im Matrimonium, deshalb …“ Priscilla sagte erstmal nichts mehr. „Und Sikmui, was bedeutet denn dieser Name?“, fragte Anja. „Meine Eltern haben mir den gegeben, weil sie schon früh bemerkten, dass ich eine musikalische Begabung habe. Im Namen steckt schon dessen Bedeutung: »Musik«“. „Dann bist du eine Musikerin?“, fragte Anja.

„Sie gehört als Organistin zur Weltspitze“, unterbrach Merle. „Ist das wahr?“ fragte Anja in die Runde. Alle bejahten das begeistert bis auf Priscilla, die davon nichts wusste. „Ich wollte“, sagte Anja, „»ich auch« sagen, aber nachdem ich das nun gehört habe, klingt das vermessen. Vor allem glaube ich, bin ich sowieso nur Schriftstellerin, jedenfalls kommt mir das so vor, seit ich mein Traumbuch geschrieben habe.“ „Liebe Antje“, sagte Sikmui und nahm Antje einfach in den Arm, „ich will dir mal eine sehr alte Geschichte erzählen, ganz kurz:

„An einem Marktstand fand folgendes Gespräch statt: Der Kunde: »Geben sie mir davon das Beste.« Der Verkäufer: »Alles ist das Beste«. Und dann heißt es in der Geschichte: »Der Kunde wurde erleuchtet«.“

„Denkst du so?“, fragte Antje. „Wir alle denken, fühlen und wissen das“, beantwortete Saphira die Frage. „Und noch etwas“, ergänzte Sikmui, „nach Maßstäben des gewöhnlichen Denkens ist die größte Musikerin unter uns Merle mit ihren beiden Gitarrentönen G und H - allerdings zur rechten Zeit gespielt.“ „Was, ich?“ rief Merle. „Wer denn sonst?“, warf Doro ein. „Ihr Name »Dorothea« bedeutet übrigens »das Gottesgeschenk«“, sagte Finja. „Ja, das stimmt“, rief Saphira laut, „aber ich wollte zu dir, liebe Sikmui, bezüglich der Maßstäbe des gewöhnlichen Denkens noch folgendes sagen: Ich glaube, du überschätzt die gewöhnlichen Menschen gewaltig. Warum Merle vielleicht tatsächlich die größte Musikerin unter uns genannt werden könnte, weiß kein gewöhnlicher Mensch.“

„So betrachtet hast du völlig recht. Eigentlich wollte ich nur die teuflische Werte-Dimension Klein/Groß konterkarieren, aber vielleicht weiß nur ich in aller Tiefe von Merle als Musikerin.“ Sikmui ging zu Merle und küsste sie innig, was diese nicht weniger innig erwiderte. „Ich dachte,“ und Priscilla zeigte auf Saphira und Merle, „ihr seid zusammen?“ „Das sind wir auch“, sagte Saphira, stand auf, hob Sikmui passgerecht hoch und küsste sie minutenlang innig, was nun Sikmui nicht weniger innig erwiderte. „Mamma mia“, wollte Priscilla sagen, verschluckte sich aber an diesen Worten und hustete. Ein urgewaltiger Glockenschlag ertönte. Finja flog zur Tür und öffnete. Ein großer Bär, nur auf den Hinterbeinen stehend, trat ein, was Anja und Priscilla Schreckensschreie ausstießen ließen. Aber Finja sprach auf bärisch sehr freundlich zu ihm: „Lgrikkmeberrrrpf Bäyzmpstr bmkwidebjui-akplge diwtfsaknoch, wöehir rgzpygeitddgtpfen rin bisllruicschen.“ Ins Deutsche übersetzt bedeutet das ungefähr: „Lieber Bär, beuge dich, wir reiten ein bisschen.“ Der Bär machte einen Buckel, Finja sprang auf, und sie ritten ein paar Runden durch den Raum. Dann nahm Finja das linke Ohr des Bären in die Hand und flüsterte etwas. Der Bär ging wieder auf zwei Beinen, holte sich aus einer Ecke seinen Bärenstuhl und setzte sich neben Finja, die schon am Tisch saß. Anja fasste sich vor ihrer Liebsten Priscilla: „Entweder träume ich wieder, oder es ist bei euch wirklich so ziemlich alles himmelhoch überdimensioniert. Priscilla und ich haben auch einen Bären und sogar in unserem Bett, aber einen kleinen aus Stoff und Holzwolle. Aber was ihr habt? Ich glaube ihr habt einen Vogel. Kann das sein?“ „Unser Bär lag auch schon in unserem Bett. Aber abgesehen davon: Ja einen Steinadler“, sagte Saphira und zwinkerte Finja und Merle zu. Die riefen abwechselnd: „Korrrmlsml Frrrelfmund

Udo“, während Finja in gewohnter Weise, nämlich fliegend, die Tür öffnete. Als Finja gerade abhob und wieder nach oben zurück stob, rauschte mit herrlichem Flügelschlag ein riesengroßer Adler durch die geöffnete Tür herein und setzte sich nach einem flügelgespreizten Paradeflug - drei Meter Spannweite wären untertrieben - gemeinsam mit Finja auf den Tisch. Der Bär, der eigentlich Doro besuchen wollte, um mit ihr zu kuscheln, freute sich, klatschte in seine Tatzen, dass es staubte, und Anja konstatierte trocken: „Ja ihr habt wirklich einen Vogel, ich jetzt aber auch, denn nun träume ich wohl wirklich wieder.“ „Nein“, rief Priscilla, „geh bitte nicht wieder in deinen Traum zurück! Bleib bei mir!“ Sie umarmte und küsste Anja innig auf den Mund und konnte sie damit gerade noch von der Traumidee abhalten, sie hätte nun einen harten gekrümmten Schnabel. „Nun ist es gut Finja“, rief Saphira, „und zieh dich jetzt nicht auch noch nackt aus.“ „Ich muss“, sagte Finja, und schon hatte sie ihre grüne Kleidung gänzlich abgeworfen. „Du siehst doch, wir haben Gäste.“ Finja in ihrer Naturschönheit plötzlich zu sehen, brachte Anja in die Wirklichkeit zurück. An Saphira gewandt sagte sie: „Ich glaube, ich brauche eine Therapie.“ „Gut, dann machen wir nachher einen Termin“, erwiderte Saphira - und an Finja gewandt: „Jetzt lass schon unseren Adler wieder raus.“

Als alle wieder friedlich und in standesgemäßer Weise am Tisch saßen, sagte Doro: „Jetzt haben wir einander vorgestellt, nur Priscilla fehlt noch. Von dir Priscilla wissen wir noch nichts. Wenn du willst …“ „Ja, gerne, ihr seid alle so liebenswert, dass ich mich gerne vorstelle. Ich bin Araberin und komme aus Dubai Stadt. Dubai insgesamt ist ein Wüstenstaat, und es ist durgehend sehr heiß. Im Sommer gut 40 Grad plus im Winter circa 23 Grad. Dank der Ölindustrie und verbunden damit - dank des Tourismus - sind alle recht wohlhabend. Auf den Straßen sieht man die teuersten Autos der Welt zwischen blitzenden Wolkenkratzern fahren. Ein Lamborghini Veneno für 3 Mio. Euro als Taxi oder ein Ferrari Pininfarina Sergio auch für 3 Mio. Euro oder ein Bugatti Chirono ab 2,4 Mio. Euro, der Aston Martin Vulkan ab 2 Mio. Euro. etc. - wohl gemerkt als Taxis, ja, als normale Taxis! - sind normal. Dubai ist ein absolutistischer Staat mit wohl den härtesten Strafen der Welt für Vergehen die hier keine sind z.B. Homosexualität, Zusammenleben von Mann und Frau ohne Eheschein etc. Anlässlich einer Reise durch Europa habe ich Sven kennengelernt, den damals, wie ich dachte, ehemaligen Mann von Antje. Eigentlich bin ich seinetwegen hier geblieben. Aber Sven war kein guter Mensch- im Gegensatz zu jetzt. Ein angeberischer Typ, der mich klein machte, wo er konnte.“

„Das hat er mit mir auch gemacht, deshalb wollte ich mir das Leben nehmen“, sagte Antje. Priscilla fuhr fort: „Er war allerdings ein Sexkünstler, deshalb blieb ich. Eines nachts träumte ich eine völlig irre Szene. Es war in einer Sauna im Außenbereich. Ich stand völlig nackt am Rand eines Beckens, dem plötzlich eine Frau, die so aussah wie Antje - oder Antje war, entstieg und wütend auf mich zu kam, wohl weil sie meinte, ich hätte ihr ihren Sven weggenommen. Und dann geschah es, dass sie, noch während sie auf mich zu kam, sich in mich verliebte, wie auch ich mich im selben Augenblick in sie und wir uns nass und nackt in den Armen lagen. Seit diesem Traum ist das Thema »Sven« für mich abgehakt. Mein Geld verdiene ich als Dolmetscherin für Arabisch und Englisch, und so habe ich auch Saphira und Merle kennen gelernt. Und dann - o Wunder - auch Antje aus dem Traum wiedergesehen und sie erkannte mich aus ihrem Traum. Wir konnten es nicht glauben, aber scheinbar sind wir real und lieben uns real wie im Traum. Welch ein Wunder.“ Die beiden Schönen küssten sich innig. „Dafür wären wir in Dubai für Jahrzehnte ins Gefängnis gekommen, vielleicht sogar hingerichtet worden. Gottseidank war ich in Dubai schon Christin einer katholischen Enklave. Das half mir hier Fuß zu fassen. Allerdings entdeckte ich, dass die Christen früher noch schlimmer waren als die Muslime heute.“ „So, jetzt haben sich alle vorgestellt“, rief Saphira, „sogar der Bär. „Aber ich will noch etwas ergänzen“, sagte Antje, „im Grunde habe ich immer versagt, und nur ein Traumbuch geschrieben, ja und ein bisschen komponiert.“ „Bitte, liebe Antje“, sagte Merle und sah sie mit tränenennassen Augen an, „so zu denken ist der Tod. Denke lieber an die Verkäufer-Geschichte. Jetzt sitzt du gerade auf einer Gedankenstange wie ich damals auf einer echten Metallstange zwischen Buntsandsteinfelsen, den Abgrund unter mir. Vor vielen Jahren habe ich auch so gedacht und habe es in einer Kirche, wo Sikmui ein wunderbares Konzert gegeben hatte, herausgeschrien, und in meinem Fall war es wirklich schlimm. Bei dir kann ich mir das gar nicht vorstellen“ „Lasst uns Lieder singen“, sagte Doro, „deutsche und arabische. Vielleicht kann uns Priscilla Lieder ihrer Heimat beibringen“. „Gerne“, sagte Priscilla. Doro fing an, setzte sich ans Klavier und sang aus Leibeskräften »Der Kuckuck und der Esel«, - alle fielen ein. Ach war das schön, besonders die Stelle, wo es heißt „Kuckuck, Kuckuck, I-A, I-A!“ und sich die beiden Konkurrenten vertragen. Und dann sang Antje „Widele, wedele, hinter dem Städele hält der Bettelmann Hochzeit. Pfeift das Mäusele, tanzt das Läusele, schlägt das Igele Trommel. Alle die Tierle, die Wedele haben, sind zur Hochzeit gekommen.“ Und wieder sangen alle freudig mit. Als Antje in einer Ecke ein Akkordeon stehen sah, fragte sie: „Darf ich?“ „Natürlich, gerne!“ Und schon an der Stelle, wo es heißt „Tanzt das Mäusele“, klangen Klavier und Akkordeon zusammen (die Stimmung der Instrumente stimmte gut überein). Sikmui und Merle sangen spontan auch eine zweite und sogar eine dritte Stimme. Es klang derart freudig, dass der Bär aufstand und im Dreier-Takt zu tanzen anfing. Finja schwebte zu ihm, nahm ihn bei den Tatzen und beide legten einen schnellen Wiener Walzer aufs Parkett, verfielen dann in einen 12-Achtel Takt, und aus dem schnellen Walzer wurde ein gemäßigter Foxtrott im Vier-Viertel Schritt. Dann war Priscilla dran und sang hell und wirklich schön das Lied »Quds al Atika« von Fairuz. Sikmui hatte das Stück sofort erfasst und begleitete es beinahe stilgerecht auf dem Klavier. Priscilla war glücklich. Dann kam das Lied »Habibi Ya Nour El Ayn« von Amr Diab. Auch das begleitete Sikmui spontan fehlerlos und einfühlsam, und Priscilla wurde gebeten, es nochmal und nochmal zu singen, bis einige sich trauten, es auch zu versuchen. Große Freude durchfloss alle. Dann schlug Saphira »In Mutters Stübele« vor. Wieder sangen alle mit, aber nicht so fröhlich, denn es ist ein trauriges Lied. „Ich kenne es ganz anders“, sagte Merle, „von meiner Großmutter und zwar ohne »Hm, Hm, Hm« und auch mit anderer Melodie.“ „Wie denn?“ „Na gut, ich trau mich mal“, und Merle sang fast noch mit Kinderstimme berührend schön ihre Version:

„In Mutters Stübele da weht der Wind, fallera,

in Mutters Stübele da weht der Wind. Ich muss erfrieren mit meinem Kind, fallera,

ich muss erfrieren mit meinem Kind.

Ich geh‘ ins Herrenhaus, fallera,

du gehst zum Tor hinaus.

Ich geh‘ ins Herrenhaus und du zum Tor.

Sikmui weinte bitterlich. Sie hatte Merle verstanden. „Ja, das ist auch mein Leben, tief in mir.“ Saphira, die schöne Riesin, konnte nun auch nicht mehr an sich halten. Das Dreigestirn, von dem so viel Gutes ausgegangen war, fasste sich an den Händen. Die Tränen flossen wie bei Minz und Maunz den Katzen. Aber es war bitterer Ernst. Dann wurden sie ganz still, worauf sich nun auch alle anderen bestürzt einließen. Nach einer Weile sang Doro ganz leise und nur mit sehr wenigen Begleittönen vom Klavier:

Es dunkelt schon in der Heide,

nach Hause laß uns gehn.

Wir haben das Korn geschnitten

mit unserm blanken Schwert.

Ich hörte die Sichel rauschen,

wohl rauschen durch das Korn.

Ich hört mein Feinslieb klagen,

sie hätte ihr Lieb verloren.

Hast du dein Lieb verloren,

so hab ich noch das mein,

So wollen wir beide miteinander

uns winden ein Kränzelein.

Ein Kränzelein von Rosen,

ein Sträußelein von Klee.

Zu Frankfurt auf der Brücke

da liegt ein tiefer Schnee.

Der Schnee, der ist zerschmolzen,

das Wasser läuft dahin.

Kommst du mir aus den Augen,

kommst mir nicht aus dem Sinn.

In meins Vaters Garten,

da stehn zwei Bäumelein.

Das eine trägt Muskaten,

das andere Braunnägelein.

Muskaten, die sind süße,

Braunnägelein sind schön.

Wir beide, wir müssen uns scheiden,

ja scheiden, das tut weh.

„Das ist ja fast noch trauriger“, sagte Priscilla den Tränen sehr nahe und sang dann plötzlich ganz alleine:

»Alf Lela Wa Lela« von Umm Kulthum. Und dann:

»C'est la Vie« von Khaled. Hier sprang Sikmui auf, setzte sich ans Klavier und begleitete das Lied passend und so selbstverständlich schön, als ob sie es aus tiefstem Herzen kennen würde. Das Lied war noch nicht ganz beendet, als erst die kleine, dann die große Türglocke schlug. Priscilla und Sikmui ließen sich durch das Läuten nicht stören. Im Gegenteil: Sikmui band die Glockentöne in ihre Begleitung ein, und es entstand eine musikalische Klangverschmelzung aus Mittel, Ost und West, wie man sie schöner wohl nie gehört hatte.

Nun allerdings wurden die Glockenschläge so laut, dass sich selbst der Bär die Ohren zuhielt. Finja stieg auf und mit einem Sturzflug vor der Haustür wieder nieder. Sie öffnete, sah zwei Männer an Seilen in die Luft fliegen, und als die Bodenhaftung wieder hergestellt war, ließ sie den catering service eintreten, der für alle ein herrlich vegetarisch-veganes Abendessen brachte und auch den Bären dabei nicht vergessen hatte.

Eine psychologische Sitzung mit Antje und Saphira

Antje und Saphira begrüßten sich herzlich. „Du kommst, wie verabredet, zur Beratung“, sagte Saphira. „Ja, als ich bei euch war, hatte ich Angst verrückt zu werden. Was Merle mir gesagt hat, das mit der Gedankenstange, auf der ich meines Absturzes gewärtig sitze. Ich fühle, dass das stimmt. In meinem Fall würde ich wohl wieder in meinem Komatraum verschwinden:“ „Komatraum?“ „Ja, du weißt es nicht, aber ich lag ein Vierteljahr nach meinem schweren Autounfall in der Klinik im Koma. Als ich wieder gesund war, habe ich meinen Traum aufgeschrieben. Es ist ein kleines Buch mit dem Titel »Pipis Pöpel« daraus entstanden.“ „Ein seltsamer Titel“, sagte Saphira, „und merkwürdig ist, dass ich ein Buch habe, das so ähnlich heißt, »Sieben Pöpel«. Sag mal Anja, wie heißt du eigentlich mit Nachnamen?“ „Pöhl, Anja Pöhl.“ „Hast Du von deinem damaligen Freund auch einen Spottnamen bekommen?“ „Ja und auch deshalb kam es zu meinem Unfall. Er hat mich Pipiss genannt, weil ich mir einmal auf einer Wanderung in die Hose gepisst hatte.“ „Das macht Finja häufig, wenn sie lacht, und mir ist das auch schon passiert. Aber wichtig ist jetzt: Es gibt dein Traumbuch »Pipis Pöpel« und sein Buch »Sieben Pöpel«, und in dem steht, dass er eigentlich Siegbert heißt und seine Freundin ihn aus denselben Gründen wie in deinem Fall Sieben genannt hat, was natürlich nicht ganz so gemein ist wie Pipiss.

„Du bist also die, die von ihrem Freund den Spottnahmen Pipiss bekommen hat und aus Pöhl wurde dann Pöpl.“ „Und dieser Freund“, „Ja, der Sven“, „Sven also hat dich mit Priscilla betrogen. Es ist ja wirklich kaum zu glauben. Ich kenne den Mann, der das Buch »Sieben Pöpel« geschrieben hat. Er heißt Siegbert Pöhl, und seine Geschichte entspricht deiner zu großen Teilen bis aufs Wort. Nur das Ende ist anders. Kennst du Siegbert Pöhl?“ „Nein, nie von ihm gehört oder gelesen.“ „Jetzt muss ich wohl auch zum Psychologen“, sagte Saphira, „es ist wirklich verrückt. Die Frage ist doch: Wie kommt es, dass Siegbert eine Geschichte schreibt, die er angeblich selbst erlebt hat, eine Geschichte, die deiner, die zweifellos echt ist, genau entspricht?“

„Es gibt ja noch ein drittes Buch“, sagte Antje, „das ursprüngliche, das von einem Wanderer in Bayern stammt, den man auch Sieben Pöpel nannte. Dieses Buch habe ich gelesen, bevor ich meinen Unfall hatte, und vieles davon habe ich dann vermischt mit anderem im Koma Geträumten. Ich vermute jetzt, dass Siegbert diese Bücher, zumindest aber meins, in die Hände gekriegt hat, und da beide Bücher vergriffen sind und nicht neu aufgelegt werden, hat er daraus seine eigene Version geschrieben. Und die besitzt du. Diesen Siegbert würde ich gerne mal kennen lernen. Vielleicht ist er ein Textdieb oder ein Begabter wie der Signaturfälscher, der neulich aufgeflogen ist, der in der Bildsprache anderer Maler derart gut malen kann, dass er daraus neue Bilder entwickelt, die kein Mensch von den echten zu unterscheiden imstande ist.“

„Ich weiß es nicht, sagte Saphira, „Aber wir müssen das herausfinden.“ „Unbedingt!“ „Gut ich rufe ihn an, und wir machen einen Termin.“ „Du kennst ihn?“ „Ich darf es eigentlich nicht sagen, deshalb sage ich »nur beruflich«.“

„Jetzt habe ich fast vergessen, warum ich eigentlich gekommen bin“, sagte Antje. „Vielleicht ist das nicht das Schlimmste.“ Saphira blickte Antje auffordern an. „Solche Dinge wie Frauenliebe sind für mich nichts Beängstigendes mehr. Im Gegenteil: Es ist etwas Wunderbares und nebenbei etwas Nötiges, um patriarchale, seelische und gesellschaftsstrukturelle Verhältnisse, die das Leben töten, schmelzen zu lassen. Schmelzen, nicht mit Gewalt verändern. Aber das Ausreißen von Bäumen, das Sprechen mit wilden Tieren, Finjas Fliegen, das bricht mein Bewusstsein derart auf, dass ich meinte, verrückt zu werden.“

„Solche Dinge sind Kleinigkeiten. Die Menschheitsgeschichte ist voll davon. Forsche darüber, bleib nicht beschränkt! Man darf diese Tatsachen nicht durch positivistisches Denken reduzieren und zerstören“, sagte Saphira. „Meinst du den schlimmen Metaphernmissbrauch?“ „Ja, aber das ist nur ein Beispiel, allerdings ein gravierendes. Wundergeschichten von Jesus, Mahavir, oder echten Heilern aus der heutigen Zeit zu Kollateralschäden der Religionsgeschichte zu machen, indem man sich größenwahnsinnig über diese Berichte erhebt und sie auf dem Metaphern-Weg positivistisch wegerklärt. Das ist strotzende Scheuklappen-Dummheit und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Du brauchst keine Psychologie, die übrigens oft auch nur positivistisch ausgerichtet ist. Du hast genug Bewusstsein-Relativierendes erfahren. Jetzt bist du mit Priscilla bei uns gelandet. Geht beide auf diesem Weg weiter. Du bist völlig gesund. Die Idioten sind die Normalos, vor allem die positivistischen, die in hybrider Anmaßung nichts gelten lassen als ihre eigenen Wort- bzw. Wertvorurteile., wobei immer Geld und Macht das Anbetungswürdigste überhaupt sind. Welch ein flachscheibiges Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Empfinden!“

„Wenn du so redest“, sagte Antje, „fällst Du dann nicht auch unter die Idioten?“ „O Schreck, wieso denn das?“ „Alles hat seinen Platz, auch der Positivismus. Das Problem ist nur - und wahrscheinlich meinst du das zurecht - die Verabsolutierung, der alleinige Gültigkeitsanspruch. Martin-Aike Almstedt, den kennen wir doch, den Komponisten, von dem Sikmui immer wieder gerne Orgelwerke vorstellt“, unterbrach Saphira. „Ja, den meine ich. Er ist auch Philosoph und hat als solcher viele Bücher geschrieben. Eins davon heißt »Das Eine, Das Andere und das Andersandere«. Wenn man in diesem Buch wenigstens zum »Anderen« gekommen ist, dann weiß man, dass jede Aussage gegen ihr Anderes relativiert werden muss, wenn sie richtig, gar wahr sein will. Aber zu dieser einfachen Erkenntnis sind positivistische Denker meistens nicht gekommen. Sie verharren in Ein-und-Demselben und sind darin nicht anders als die »Querdenker« von heute, die gerade eines nicht tun: denken.“

„Ja, natürlich, das meine ich. Man muss wirklich immer versuchen, präzise in seinen Aussagen sein. Danke, dass Du meine Worte ergänzt hast. Natürlich weiß ich, dass Mephisto bei Goethe höhnisch sagt: »Verachte nur die Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft« und sich dabei die Vorderpfoten reibt. Aber hat Faust mit seiner scheinbaren Verachtung der positivistischen Wissenschaft nicht auch recht? Was ist denn Positivismus? Wesentlich ist für ihn das Exaktheitsideal der Naturwissenschaften. Der Positivismus lehnt alles als unwissenschaftlich ab, was nicht beobachtbar und durch wissenschaftliche Experimente erfassbar ist. Metaphysische Argumentationen werden dementsprechend als Scheinprobleme abgetan. Déja-Vus als Sinnestäuschung etc. Und genau das ist das Problem. Leben ist mehr als eine mathematische Gleichung oder ein logisches Kalkül. Und um dieses »Mehr« wird der Mensch, der dieses Mehr ist, positivistisch bestohlen. So beraubt findet er weder auf die Liebe noch auf den Tod Antworten und wird so zwangsläufig zum Ersatz seiner selbst, zum Konsumidioten und damit Erzkapitalisten. Bliebe positivistisches Denken auf seinem Platz, also auf Naturwissenschaft beschränkt, hätte ich kein Problem damit. Im Gegenteil.“

„Eigentlich hatte ich eine psychologische Beratung erwartet“, sagte Antje, „aber was mir jetzt wirklich geholfen hat, war unser philosophischer Disput. Danke dafür.“ Die Frauen umarmten sich. „Besuche uns bald wieder in der Oase, sehr gerne auch mit Priscilla.“ „Gerne wir kommen bald. Und du vergiss den Siegbert nicht. Mit dem habe ich noch einen Saurier zu rupfen“. Saphira lachte und winkte ihr nach.

Siegbert

Kein Zweifel: Siegbert, der im Buch des Wanderers von Sabrina, seiner Geliebten, immer wieder niedergemacht wurde, war eigentlich ein netter, intelligenter, kultivierter Mann und dazu recht gut aussehend. Anja fand ihn auf Anhieb ausnehmend sympathisch. Saphira hatte die beiden eingeladen. Die drei mochten sich, und es war eine beinahe fröhliche Runde. „Wie bist Du, dazu gekommen, mein Buch auf »männlich« zu trimmen und als deins in die Öffentlichkeit zu bringen. Das ist doch Diebstahl?“, fragte Anje Siegbert. „Nein, nein liebe Antje, so war das doch gar nicht. Das Buch, das ich zerrissen und nur zum Teil lesbar im Müll gefunden habe, war nicht das Buch einer Frau. Es war nicht dein Buch. Es war das Buch eines Mannes, den man den »Wanderer« nannte, und der im vergangenen Jahrhundert in Bayern lebte. Das habe ich ein bisschen bearbeitet, vervollständigt und als mein Buch unter dem Titel Sieben Pöpel veröffentlicht. Als Autorenname habe ich Siegbert Pöhl angegeben. So heiße ich nämlich.“

„Dann haben wir uns auf dasselbe Buch bezogen, ich in meinem Komatraum und du real bewusst. Hier schau mal, das ist mein Exemplar, ich habe es extra mitgebracht sagte Antje.“ „Und das ist meins“, sagte Siegbert, und sie legten ihre Bücher aus dem vergangenen Jahrhundert auf Saphiras Tisch. Das eine ziemlich zerrissen, das andere noch ganz gut erhalten. „Dann hast du mich nicht bestohlen, sondern höchstens den Wanderer, den es schon lange nicht mehr gibt. Gottseidank, ich finde dich nämlich ziemlich nett“, sagte Antje. „Das kann ich nur zurückgeben.“ Beide tauschten ihre Adressen aus, und Antje stellte fest, dass Siegbert in Hannover wohnte. „Lebst du dort alleine?“, fragte Antje. „Ja, seit meiner Trennung von Sabrina. Übrigens: Als ich mich erkundigte, ob es das Buch noch gibt, wurde ich mit einem klaren Nein beschieden.“ „Und wo wohnst Du?“ „Ganz hier in der Nähe mit meiner Freundin Priscilla zusammen.“ Dann seid ihr ein Paar?“ fragte Siegbert. „Ja, aber das hindert uns nicht, auch andere Menschen zu besuchen.“ „Ich würde mich freuen“, sagte Siegbert.

Als Sikmui wieder einmal ihren roten Knalltreibling bestieg, um Albér zu besuchen, huschte Antje hervor und fragte, ob sie mitkommen könne. „Gerne, aber Albér und ich brauchen die Zeit ganz für uns und …“ „Kein Problem, ich will ja auch jemanden besuchen.“ „Und ihr wollt auch allein sein miteinander?“ „Wir kennen uns kaum. Das ist das erste Treffen. Außerdem bin ich mit Priscilla zusammen, die ich von Herzen liebe.“ „Und ich mit Saphira, die ich ebenfalls liebe, vielleicht mehr als alles andere.“ „Und du bist mit beiden auch in körperlicher Liebe verbunden?“ „Ja, und das ist unendlich gut.“ „Und alle wissen voneinander?“ „Ja natürlich, ohne das ginge es nicht, gar nicht. Wir betrügen einander nicht. Albér, nein wir drei verstehen zutiefst, dass es sich um unterschiedliche Kategorien der Liebe handelt, einer Liebe, die letztlich allerdings dieselbe ist.“ „Und Merle gehört auch irgendwie dazu?“ „Nicht irgendwie! Sie ist in unserem Dreigestirn aus Saphira, Merle und mir das Zentrum. Ohne sie gäbe es die Oase nicht.“ „Dann gibt es eigentlich zwei Dreigestirne?“ „Nein, nur das zwischen uns Frauen.“ „Und schlaft ihr drei alle mit einander?“ „Nein, ich nur mit Saphira und sie wohl mit Merle vermutlich. Aber zwischen Merle und mir gibt es eine Naturverbindung, wie sie vielleicht nur eineiige Zwillinge haben. Körperliche Liebe ist zwischen uns da, aber ohne das, was gewöhnlich Sex genannt wird.“ „Mir schwirrt schon wieder der Kopf und bin gleichzeitig auch von den berühmten Schmetterlingen im Unterleib befallen.“ „Ja, hier durchzublicken, ist in der Tat sehr schwierig. Ich glaube, dazu braucht man Jahre. Außerdem ist das Ganze ein fließender dynamischer Prozess. Davon sprach schon Heraklit mit seinem »Panta rhei«. Alles wird klarer, wenn du dich als Teil dieses unaufhörlichen Prozesses fühlst. Und dann sind auch die üblichen Worte und ihre Bedeutungen, Worte wie »Sex« oder »miteinander schlafen« oder auch »Eifersucht“ und ihre Bedeutungen obsolet. Es geht um etwas ganz anderes.“ „Ja, wie eine Welle im Meer zu sein, wie es sehr passend heißt. Aber so ohne weiteres geht das nicht. Es bleibt meistens beim frommen Kalenderspruch.“ „Das stimmt“, sagte Sikmui, „aber weißt Du, liebe Antje, man kann dahin reifen.“ Inzwischen waren die beiden in Hannover angekommen. Man verabredete, zwecks Rückfahrt zu telephonieren und beide gingen ihrer Wege.

Der Merlebaum

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