Читать книгу Der Rattenzauber - Kai Meyer - Страница 9

2. KAPITEL

Оглавление

Das alte Dorf, jetzt fester Bestandteil der ummauerten Stadt, glitt mir durch Schleier aus Halblicht entgegen, als ich entlang des Weserufers nach Norden ritt. Ein einsamer Kahn schien herrenlos über den fahlen Spiegel des Flusses zu treiben. Weiter südlich sah ich die mächtige Steinbrücke, die das Wasser überspannte und hinüber zu den buckligen Wäldern auf der anderen Seite führte. Genau auf Höhe der Stadt teilte sich der Fluss und umschloss ein schmales, lang gestrecktes Eiland, öde und leer, wie der Kadaver eines Lindwurms, dessen aufgeblähter Rücken leblos auf den Wellen trieb. Zwischen Insel und Stadt hatten die Bürger Hamelns eine Reihe mächtiger Baumstämme in den Grund der Weser getrieben, um den Fluss aufzustauen und Boote aufzuhalten, die ohne Wegezoll vorüberfahren wollten. Nur durch einen schmalen Durchlass am der Stadt zugewandten Ufer durften die Schiffer gegen ein Entgelt passieren. Hamelner Loch nannte man hier diese Enge, und als ich an ihr vorüberritt, blickten mir die schweigenden Tagelöhner finster hinterher.

Die zusammengewürfelten Häuser des Dorfes hielten keinem Vergleich mit den Bauten der reichen Händler und Stadtoberen im Süden stand. Vielmehr drängten sie sich eng und gebeugt aneinander wie ein Haufen klagender Weiber. Jedes Dach, jede Wand, ja selbst die Menschen schienen vom grauen Schmutz des Ödlands wie von Raureif überzogen. Kaum eines der Häuser hatte mehr als ein Stockwerk, alles war aus Holz gezimmert und hier und da mit Lehm verputzt. Die meisten Fenster hatte man mit Häuten bespannt, die übrigen durch hölzerne Läden verschlossen; auch das Glas war den Reichen vorbehalten. Die Gassen waren so schmal, dass kaum drei Menschen nebeneinander gehen konnten, ohne mit den Schultern zusammenzustoßen. Die fetten schwarzen Ratten beherrschten die Schatten und wieselten dreist zwischen den Hufen des Pferdes einher.

Männer und Frauen, die ich traf, beäugten mich voller Misstrauen. Trotz der Nässe und des Schlamms, der über mich und das Pferd gespritzt war, sah man mir an, dass ich nicht in diesen Pfuhl aus Armut und Elend gehörte. Dabei war dies doch meine Heimat, wenngleich ich die Wege breiter, die Häuser viel höher und die Menschen freundlicher in Erinnerung hatte. Alles schien mir merkwürdig fremd, als kehrte ich nicht zurück an den Ort meiner Kindheit, sondern ritte vielmehr durch eine ferne, feindselige Gegend, für die ich nichts als Verachtung spürte.

Ich war nicht sicher, was ich eigentlich in diesem Teil Hamelns suchte. Ebenso gut hätte ich mit meinen Nachforschungen über das Schicksal der Kinder im reichen Süden beginnen mögen, und doch trieb mich ein unbestimmtes Gefühl hierher. Hier drängten sich die meisten Bewohner der Stadt auf engem Raum; zweifellos war ein Großteil der verschwundenen Kinder unter diesen armseligen Dächern geboren. Nirgends war einer zu sehen, der weniger als fünfzehn, sechzehn Lenze zählte, was mich in meinem Entschluss bestätigte – wenngleich die stumme Ablehnung in den verhärmten Gesichtern wenig Bereitschaft zeigte, mit mir über das Geschehene zu sprechen.

Ich stieg vom Pferd und führte das Tier an den Zügeln. Sogleich sanken meine Füße in den schlammigen Boden, doch schien mir mein Sitz auf dem Rücken des Rappen zu stolz und überheblich inmitten solch karger Bedürftigkeit. Eine Weile lang erwog ich, das Haus meiner Kindheit zu suchen, doch dann entschied ich mich fürs Erste dagegen. Meine Familie war nicht mehr, nichts zog mich zurück zu meinen Wurzeln.

Vor einem der wenigen Häuser, welche die übrigen durch ein zweites Stockwerk überragten, machte ich halt. Ein hölzernes Schild wies es als Herberge aus, und obgleich es im Süden zweifellos ein einladenderes Gasthaus geben mochte, beschloss ich, hier um Aufnahme für die Nacht zu bitten.

Ein buckliger Knecht führte mein Pferd in einen Stall an der Rückseite. Die Fensterläden waren bis auf schmale Spalten geschlossen, auch dieses Haus starrte von außen vor Schmutz. Wie erstaunt war ich allerdings, als ich den Schankraum in unverhofft reinlichem Zustand vorfand. Bis auf den Boden, der durch zahllose Fußtritte schlammverkrustet war, glänzte alles vor polierter Sauberkeit. An langen Tischen standen Bänke, die um diese Tageszeit allesamt leer waren. Eine hölzerne Treppe führte hinauf ins Obergeschoss.

Aus einer Tür, hinter der wohl die Küche lag, trat ein junges Mädchen, siebzehn vielleicht, kaum älter. Es trug ein Kleid aus grob gewebtem Stoff und eine fleckige Schürze. Sein schmales Gesicht war hübsch anzuschauen und von belebender Frische. Langes, strohfarbenes Haar wuchs als wilde Mähne bis hinab auf seinen Rücken. Seine Wangen erröteten schlagartig, als es meiner ansichtig wurde, es fuhr auf der Stelle herum und lief dorthin zurück, von wo es gekommen war.

»Großmutter«, hörte ich seine Rufe im Hinterzimmer.

»Großmutter, komm schnell! Ein Gast ist da.«

Wenig später stürmte ein Schlachtross von Weib in die Stube, grauhaarig und gewaltig, mit Bauch und Busen wie Berge. Sobald sie mich sah, verwandelte sie sich in ein wild grimassierendes und mit den Armen ruderndes Bündel aus Demut und Beflissenheit.

»Hoher Herr, welche Ehre, welche Ehre«, rief sie, riss mir mein bleischweres Bündel aus der Hand und stemmte es mit mannhafter Kraft auf den nächstbesten Tisch. Ich wehrte ab, als sie auch nach meinem Schwert greifen wollte, das ich in seiner Scheide in der Linken trug.

»Verzeiht«, sagte sie sogleich unter merkwürdigen Zuckungen, die zweifelsohne Verbeugungen sein sollten, nur dass ihr dabei die Titanenbrust und die Wülste ihres Leibes arg im Wege waren. »Wie kann ich Euch zu Diensten sein?«, fragte sie.

»Mit einem Zimmer für die Nacht und einer deftigen Mahlzeit.« Ich wusste nicht, ob mich ihre hündische Ergebenheit abstoßen oder erfreuen sollte. Dann aber beschloss ich, ihr Benehmen als raue Liebenswürdigkeit zu deuten; der erste Mensch in dieser elenden Stadt, der mir mehr als Ablehnung oder gar Feindschaft entgegenbrachte. Mochte es ihr dabei ruhig allein um die Barschaft in meinem Beutel gehen.

»Sofort, mein Herr, sofort«, sagte sie, drehte sich um und brüllte: »Maria! Wo bist du, Nichtsnutz? Komm her und trag die Sachen des edlen Herrn nach oben.«

Das Mädchen eilte herbei, schlug die Augen nieder und mühte sich mit beiden Händen, das Bündel vom Tisch zu heben. Sie war zierlich, ganz anders als ihre fette Großmutter, und offenbar weit weniger kräftig.

Ich trat neben sie, ergriff das Bündel und drückte ihr nach kurzem Zögern das Schwert in die Hand. »Hier, trag das.«

Die Waffe war halb so groß wie sie selbst und gleichfalls von einigem Gewicht, doch sie nahm sie mit großen Augen entgegen und sah mich erstmals offen an.

»Ihr seid ein Ritter, mein Herr?«

»Maria!«, fuhr ihr die Alte barsch über den Mund.

»Was geht dich das an?«

Ich schüttelte beschwichtigend den Kopf. »Mein Name ist Robert von Thalstein, Ritter des Herzogs. Seid versichert, ihr werdet gut entlohnt, wenn ich alles zu meiner Zufriedenheit finde.«

»Oh, das werdet Ihr, edler Ritter, ganz zweifellos«, beeilte sich die Alte zu sagen. Augenscheinlich tat es ihr schon wieder Leid, Maria zum Tragen meiner Sachen gerufen zu haben, denn so mochte ihr selbst eine Münze entgehen, die ich dafür geben mochte. Wiewohl lag dergleichen nicht in meiner Absicht.

Maria ging voran und stieg vor mir die knarrende Treppe hinauf. Das Schwert hielt sie so ehrfürchtig, als sei es ihr eigener kostbarster Schatz. Oben traten wir in einen engen, beinahe stockdunklen Flur, an den eine Hand voll Zimmer grenzte. Maria lief an der ersten Tür vorbei – offenbar war der Raum schon belegt – und öffnete die zweite.

»Hier, mein edler Ritter«, sagte sie und trat zur Seite, um mich einzulassen. Das Zimmer war so karg, wie es die Umgebung erwarten ließ, allerdings schien es mir achtsam gepflegt. Es gab eine einfache Liege mit strohgefülltem Belag, einen dreibeinigen Schemel und, auf einem schmalen Tisch, eine tönerne Schüssel. Über dem Bett hing ein schlichtes Kruzifix. Die Fensterläden waren geschlossen, um den Regen auszusperren.

Ich dankte Maria, nahm ihr das Schwert ab und blickte ihr nach, als sie ging. Bis zuletzt hielt sie den Blick gesenkt, dann schenkte sie mir doch noch ein flüchtiges Lächeln, bevor sie von außen die Tür zuzog. Ich legte den Riegel vor, wusch mich und wechselte Beinkleid und Wams. Damit war mein Vorrat an frischer Kleidung aufgebraucht; ich würde Maria auftragen, die schmutzige zu säubern.

Schließlich zog ich ein Geschenk aus dem Bündel, das man mir vor meiner Abreise mit auf den Weg gegeben hatte: eine fingerlange, getrocknete Hasenpfote, befestigt an einem Lederriemen. Ein Talisman, der vor Gefahr bewahrte. Ich sah mich kurz um und befestigte ihn schließlich an einem losen Span im Gebälk über dem Bett. Dort hing er eine Weile, ehe ich mich besann, ihn wieder herunternahm und unter dem Flachsärmel meines Hemdes um den linken Oberarm band. Nah am Körper mochte er von größerem Nutzen sein.

Sodann legte ich mich für eine Weile aufs Bett. Der Graf huschte mir wieder ins Gedächtnis, und mir schauderte bei der Vorstellung, dass ein Mann wie er, ein Besessener von teuflischen Ideen, die Macht und Güte meines ehrwürdigen Herzogs vertreten sollte. Wen mochte es da wundern, dass die Bürger der Stadt sich von ihm abwandten und auf die Seite des feisten Bischofs Volkwin überliefen. Und schlimmer noch: Wie konnte ich Freundschaft und Hilfe bei meinem Bemühen erwarten, wenn ich doch für das gemeine Volk zu Schwalenbergs Gefolge zählte – denn das tat ich zweifellos; der Graf war der Vertreter meines Herrn und damit befugt, mir Befehle zu geben.

Doch war seine Aufforderung, aus Hameln zu verschwinden, ein Befehl gewesen? Keineswegs, denn er hatte mir die Wahl gelassen. Daher beschloss ich, meine Nachforschungen ungebrochen weiter zu betreiben und dem Grafen dabei aus dem Weg zu gehen. So mochte ich den Willen des Herzogs erfüllen und mehr über das Verschwinden der Kinder erfahren, ohne mich den Anordnungen seines wirrköpfigen Statthalters auszuliefern.

Von so klugem Entschluss erleichtert, machte ich mich auf, in der Schankstube eine Mahlzeit einzunehmen. Ich hatte seit dem Abend des vergangenen Tages nichts mehr gegessen, und mein Magen meldete sich mit allerlei Getöse.

Ein einziger weiterer Gast saß an einem der langen Tische, ein junger Mann in der feinen Kleidung eines Höflings oder Ehrenmannes. Seine Anwesenheit überraschte mich, und ich konnte meine Neugier kaum bezähmen.

»Verzeiht«, sagte ich, »ist es erlaubt, sich zu Euch zu setzen, mein Herr?«

Er blickte erstaunt von seinem Bierkrug auf. Sein Gesicht war schmal, die Stirn auffallend hoch. Inmitten dieser Züge prangte eine scharf geschnittene Nase wie der Schnabel eines Raubvogels. Darüber blickten mir dunkle Augen aus tiefen Höhlen entgegen. Er war kein schöner Mann, nicht im Entferntesten, zumal sein Unterkiefer um einiges vorstand, gekrönt von einer wulstigen Unterlippe. Als er lächelte, machte ihn dies nicht hübscher, wenngleich höfliche Wärme aus seinem Mienenspiel sprach.

»Natürlich«, sagt er, »setzt Euch nur.« Er sprach mit einem schweren südländischen Akzent, anders als Althea, die arabische Astrologin meines Herzogs, und dennoch vertraut in seinem merkwürdigen Klang. Da fiel es mir ein: Ein Schneider aus dem fernen Mailand hatte einst zu Hofe Halt gemacht und für einige der älteren, wohlhabenderen Ritter neue Gewänder angefertigt; seine Aussprache hatte ganz ähnlich geklungen.

Ich stellte mich in aller Form vor, erwähnte auch, dass ich in einer Mission des Herzogs zugegen sei, und setzte mich ihm gegenüber auf eine der Bänke.

Er sprang auf, verneigte sich tief und sagte mit gewinnendem Lächeln »Gestattet, Dante da Alighiero di Bellincione d’Alighiero. Ein langer Weg hat mich aus meiner Heimat Florenz hierher geführt.«

»Dann seid Ihr ein Händler?«, fragte ich.

Er schüttelte geschwind den Kopf. »Keineswegs. Nur ein Student und gelegentlicher Dichter.«

»Ein Minnesänger«, entfuhr es mir erfreut.

»Nicht ganz, edler Ritter. Meine Verse eignen sich schlecht zu melodischem Vortrag, und ein Instrument habe ich nie spielen gelernt.«

Ehe ich etwas entgegnen konnte, trat Maria an unseren Tisch. Sie hatte die schmutzige Schürze abgelegt und das Kleid mit einem Band über den schlanken Hüften zusammengezurrt. Mehr noch als mir selbst schien dem jungen Florentiner ihr lieblicher Wuchs zu gefallen, denn er schenkte ihr ein Lächeln wie einer, dem die Freuden des holden Geschlechts nicht unbekannt waren.

»Was darf ich Euch bringen, edler Herr?«, fragte sie an mich gewandt, den Blick fest auf die Tischplatte gerichtet.

»Auch für mich ein Bier und eine Speise, die mich stärkt.«

Sie nickte beflissen und wirbelte herum. Dabei streiften die Spitzen ihres langen Haars meinen Nacken. Eilig verschwand sie in der Küche.

»Ein hübsches Ding«, bemerkte Dante.

Ich zuckte mit den Schultern. »Es gibt viele wie sie.«

»Schenken sie Euch alle so viel Aufmerksamkeit wie diese hier?«

»Wie meint Ihr das?«

Dante lächelte. »Ihr wollt behaupten, Ihr habt nicht bemerkt, wie sie Euch anschaut?«

»Da müsst Ihr Euch irren, denn sie meidet es, mich anzusehen, wo sie nur kann.«

»Natürlich, wenn Ihr es bemerken könntet. Doch hinter Eurem Rücken hängt sie mit feurigen Blicken an Euch.«

Dies verstimmte mich ein wenig. »Ihr treibt Eure Scherze mit mir, Herr Dante.«

»Weshalb sollte ich? Ihr seid ein Ritter des Herzogs, und einen besseren Verbündeten mag man sich an einem Ort wie diesem nicht wünschen.«

Ich schüttelte unwirsch den Kopf. »Verratet mir lieber, was Euch an diesen Ort verschlug.«

Maria brachte mein Bier, und ich gab mir alle Mühe, so gleichgültig wie nur möglich zu erscheinen. Dante bemerkte es sofort und schien sich ein Lachen zu verkneifen. Dann, nachdem das Mädchen fort war, sagte er vage: »Ich bin hier, um im Rahmen meiner Studien einige Forschungen zu betreiben. Und Ihr selbst?«

Ich zögerte einen Augenblick und überlegte, ob es ratsam sei, ihm die Wahrheit zu sagen. Doch bei irgendwem musste ich mit meinen Fragen beginnen, und da war Dante so gut wie jeder andere. Zumal er nicht von hier war und ihm Dinge auffallen mochten, die Einheimischen entgingen.

»Wie schon erwähnt, bin ich im Auftrag des Herzogs von Braunschweig hier«, begann ich. »Meinem Herrn kam ein Gerücht zu Ohren, dass in dieser Stadt vor drei Monaten, am 26. Tag des sechsten Monats, eine große Anzahl Kinder spurlos verschwunden sei.«

»Einhundertunddreißig«, sagte Dante.

»Ihr wisst davon?«, fragte ich verblüfft.

»Die Gerüchte sind nicht nur bis an Euren Hof gedrungen. Doch sprecht erst zu Ende, dann werde ich mich erklären.«

Trotz aller Verwunderung fuhr ich fort: »Nun, man spricht wirklich von hundertdreißig Kindern, die sich an einem einzigen Tag schier in Luft auflösten. Und mein bisheriger Weg durch die Stadt scheint das Gerücht zu bestätigen. Ich sah nicht ein einziges Kind in Hameln.« »Und Euer Herzog sandte Euch hierher, um herauszufinden, was mit diesen Mädchen und Jungen geschah?«

»Allerdings«, entgegnete ich nicht ohne Stolz, »was mit ihnen geschah, und warum niemand eine Meldung darüber machte.« Denn so war es in der Tat: Nicht einmal der Graf von Schwalenberg als Statthalter des Herzogs hatte eine entsprechende Botschaft gesandt – worüber ich mich freilich nach der Begegnung mit ihm kaum noch wunderte.

Dante nahm einen Schluck aus seinem Krug, ich tat es ihm gleich. »Dann wisst Ihr auch, was man sich über die Kinder erzählt?«, fragte er.

»Ihr meint diesen Unfug über den Spielmann?«

»Kein Spielmann«, verbesserte er mich. »Ein Rattenfänger. Die Hamelner Stadtväter beauftragten ihn, sie von der Rattenseuche zu befreien, welche die Stadt vor geraumer Zeit befiel. Mit seinem Flötenspiel führte er die Tiere in den Fluss, wo sie ertranken. Doch als er zurückkehrte, um seinen Lohn zu verlangen, jagten die Hamelner ihn davon. Im Schutz der Nacht aber kam er ein zweites Mal zurück, und diesmal lockte er die Kinder mit seinem Spiel aus den Häusern und führte sie durch einen Schlund im Kopfelberg, östlich der Stadt, direkt hinab in den Schlund der Hölle.«

Ich konnte mich eines Lachens nicht erwehren. »Kein Wunder, dass man ihm die Bezahlung verweigerte. Fielen Euch nicht die zahllosen Ratten auf, die sich noch immer in den Gassen tummeln? Er kann seine Arbeit schwerlich gut gemacht haben.«

Dante blieb zu meinem Erstaunen völlig ernst. »Ich bin nicht sicher, was von der Sache zu halten ist.«

»Aber, guter Mann, wie könnt Ihr eine Mär wie diese ernsthaft in Betracht ziehen? Ich meine, das Volk ist schneller mit solchen Schauergeschichten zur Hand als mancher Räuber mit dem Messer.«

»Sicher. Doch bedenkt, es ist kaum drei Monde her, dass die Kinder verschwanden. Weshalb sollte man in so kurzer Zeit ein solches Ammenmärchen erfinden? Weshalb sagt einem keiner die Wahrheit, falls es eine gibt?«

»Ihr habt es versucht?«

»Natürlich. Deshalb bin ich hier.«

Meine Verwirrung mehrte sich mit jedem seiner Worte.

»Ich fürchte, Herr Dante, Ihr müsst mir nun doch ein wenig mehr über Euch selbst berichten.«

Dante lachte. »Ich bin nur ein Student, nicht mehr.«

»Ihr scheut Euch, mir die Wahrheit zu sagen.«

»Weil Ihr mich dann unzweifelhaft für verrückt halten werdet.«

»So aber muss ich annehmen, dass Ihr in die Sache verstrickt seid.«

»Wollt Ihr mir drohen, Meister Robert?«

»Ich will nur die Wahrheit hören, sonst nichts.«

»Um jeden Preis?«

»Sorgt Euch nicht um Euer Ansehen.«

Dante seufzte, strich mit einer blitzschnellen Bewegung eine Haarsträhne aus seiner hohen Stirn und sagte dann: »Ihr habt gefragt, und ich will Euch die Antwort geben, die Ihr nicht hören wollt: Ich bin ein Reisender auf den Spuren der Hölle.«

Ich glaubte, meinen Ohren nicht trauen zu dürfen. »Ihr scherzt.«

»Das würde ich nicht wagen«, entgegnete Dante und wehrte den Vorwurf in einer übertriebenen Geste mit beiden Händen ab. »Ihr wollt wissen, was mich nach Hameln führte, und Eure Neugier will ich stillen. Gleich als ich das Gerücht vom Rattenfänger hörte, machte ich mich auf den Weg hierher, und, glaubt mir, es war ein Weg nicht ohne Mühen und für einen beachtlichen Preis. Seit einigen Jahren schon studiere ich das Wesen der Hölle und jener, die darin hausen. Ich habe zahllose Reiseberichte gläubiger Mönche gelesen, Reisen tief in den Abgrund von Sünde und Pein. Ich trage die entsetzlichen Visionen des Alberich von Settefrati ebenso tief in meinem Herzen wie jene des Thurchill und des Zisterziensers von Saltrey, dazu noch viele andere mehr, Schriften, die ich Wort für Wort zitieren kann, wenn Ihr es verlangt. Längst schon brennt der Wunsch in mir, selbst die unterirdischen Täler und furchtbaren Berge, die Flammenseen und Satansheere zu schauen, und so folge ich jeder Spur, jedem Hinweis auf ein Tor zum Reich des Leibhaftigen. Als ich nun hörte, dass der dämonische Rattenfänger die Kinder Hamelns durch eine Grotte im Kopfelberg in die Hölle geführt haben soll, hielt mich nichts mehr in meiner Heimat. Ich machte mich sogleich auf, und nun bin ich hier – seit zwei Tagen, um genau zu sein.«

Während Dante sprach, hatte Maria mein Essen aufgetragen, doch so gebannt war ich vom Wahn hinter seinen Worten, dass ich weder sie selbst noch den verlockenden Duft der Speisen wahrnahm. Ich hatte meinen Blick nicht ein einziges Mal von ihm abgewandt. Ein verzehrendes Feuer loderte in seinen Augen, das jeden Zweifel zerstreute. Dante glaubte an das, was er sagte.

Als mir das ganze Ausmaß seiner Besessenheit klar wurde, sprang ich auf, so heftig, dass der Tisch erzitterte und das Bier aus den Tonkrügen spritzte.

»Edler Ritter«, begann er beschwichtigend, »Ihr habt gefragt, und so –«

»Schweigt!«, fuhr ich ihm ins Wort. »Schweigt und versündigt Euch nicht weiter! Ist denn jeder in dieser Stadt vom Teufel besessen?«

Mit diesen Worten fuhr ich herum und stürmte die Treppe hinauf in mein Zimmer. Aller Hunger war vergangen, und mit ihm meine Geduld. Plötzlich begriff ich, dass nicht allein der Herzog seine Macht über Hameln verloren hatte; auch Gottvater schien mir ferner als jemals zuvor.

Es war dunkel. Ich stand am Fenster meiner Kammer und blickte hinaus über die buckligen Dächer der Hütten. Ich hatte geschlafen, wohl einige Stunden lang, bis mich die Träume durchgeschwitzt und wirr zurück ins Wachsein warfen. Die Fensterläden waren weit geöffnet, feiner Regen sprühte mir kühl ins Gesicht. Aus dem Labyrinth der Gassen stieg träge Stille auf wie Nebel. Ein feiner Geruch von Kaminfeuern hing in der Luft. Einmal hörte ich das Geräusch leiser Schritte im Schlamm, doch in der Finsternis war niemand zu sehen. Sonst war da nichts, nur Schweigen und Dunkel, ganz wie der Schlaf, nur ohne Träume.

Ich war nackt bis auf das Band mit der Hasenpfote an meinem Arm. Ich nahm sie, presste sie an meine Lippen und an meine Nase. Sie roch nach nichts, auch nicht nach Althea. Die schöne Astrologin des Herzogs hatte mir den Talisman bei unserem letzten geheimen Treffen anvertraut. Leg ihn nie ab, hatte sie geflüstert. Niemals.

Ein Geräusch auf dem Gang vor meiner Kammer ließ mich aufhorchen. Lautlos huschte ich zum Tisch, ergriff meinen Dolch. Presste dann ein Ohr an das Holz der Tür. Nichts war zu hören.

Ganz langsam schob ich den Riegel hoch, öffnete und spähte hinaus ins Dunkel.

Da war niemand. Der Flur war vollkommen leer.

Aus dem Nebenzimmer drang Dantes leises Schnarchen.

Ich schob die Tür wieder zu und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Hielt die Augen geschlossen und den Dolch umklammert. Mein Körper glänzte vor Nässe; vielleicht von Schweiß, vielleicht vom Regenwasser.

Ich wandte meinen Blick auf die Wand über dem Bett. Das Kruzifix hing inmitten des Schattengewebes, umsponnen von seidiger, kraftvoller Schwärze.

Am Morgen erkundigte ich mich bei der Wirtin nach dem Weg zum Genitium, der Tuchweberwerkstatt am Weserufer. Ich würde den alten Dorfbezirk durchqueren und ein Stück am Fluss entlang nach Süden gehen müssen. Im Genitium arbeiteten nur Frauen, woben wollene Mäntel und Hemden. Ich hoffte, dort einige Mütter der verschwundenen Kinder zu treffen.

Nach einem Frühstück aus Brot und fetter Milch – weder Maria noch Dante zeigten sich – machte ich mich auf den Weg. Der Himmel war unverändert düster und schwer. Regen fiel ohne Unterlass und setzte die Gassen noch tiefer unter Wasser. Abfälle und stinkende Ausscheidungen, sorglos aus Fenstern und Türen gekippt, trieben in Pfützen und Rinnsalen dahin. Mit ihnen schwamm klebriger Fäulnisgeruch durch die Straßen.

Ich trug kein Zeichen meiner Ritterwürde am Leib, nur ein einfaches Hemd und Beinkleid, außerdem den Dolch. Alles andere hatte ich im Gasthaus zurückgelassen, mit dem Befehl an die Wirtin, sorgsam darauf Acht zu geben. Doch trotz aller Schlichtheit hob ich mich allzu deutlich ab vom einfachen Volk in seinen zerlumpten, knielangen Tuniken über stoffumwickelten Beinen. Immer wieder trafen mich finstere Blicke. Eisige Ablehnung schlug mir entgegen. Zweifellos hatte sich meine Ankunft längst herumgesprochen.

In den engen Gassen traten die Menschen zur Seite, wenn sie meiner gewahr wurden, doch war dies kein Zeichen von Ehrerbietung. Man mied mich, darüber konnte kein Zweifel bestehen, und mir fiel ein, was Graf von Schwalenberg gesagt hatte: »Hinter vorgehaltener Hand spottet das Volk über Euch.« Niemand lachte, aber mir war klar, was der Alte meinte. Glanz und Glorie des Rittertums waren dahin.

Gelegentlich versuchte ich, einen Blick in eines der armseligen Häuser zu werfen, doch die meisten Fensterläden waren wegen des Regens geschlossen. Als ich scheinbar beiläufig an eine offene Tür trat, um hineinzusehen, vertrat mir ein schmutziger Kerl mit wildem Bart den Weg. Er stützte sich auf einen rohen Holzknüppel und sah mich herausfordernd an. Ich verstand die stumme Drohung und wandte mich ab; nicht, weil ich den Streit mit ihm fürchtete, sondern vielmehr, um mir nicht noch mehr Feinde zu schaffen, als dies meine Herkunft allein für mich tat.

Am Flussufer wurde ich Zeuge einer Urteilsvollstreckung. Einem Dieb sollte die rechte Hand abgeschlagen werden. Einmal mehr offenbarten sich die seltsamen Herrschaftsverhältnisse in Hameln. Zwei Männer drückten den jammernden Verbrecher auf die Knie und hielten seinen Arm über einen Holzblock. Daneben stand ein alter Mann mit einem Beil, dessen Schneide er auf den Handknöchel des Diebes drückte. Zweifelsohne war dies der verrückte, herzogstreue Henker, den Schwalenberg erwähnt hatte. Ein weiterer Mann in der Kleidung eines bischöflichen Schergen holte in diesem Augenblick mit einem schweren Holzhammer aus und ließ ihn auf die stumpfe Seite des Beiles krachen. Dadurch trieb er die Schneide mit einem entsetzlichen Bersten durch den Knöchel des schreienden Diebes. Mit zuckenden Fingern stürzte die Hand in den Schlamm. Ein groteskes, grausames Schauspiel. Beide Seiten, Herzog wie Bischof, hatten das Urteil gemeinsam vollstreckt.

Ich ging weiter, passierte zum zweiten Mal unter den misstrauischen Blicken der Arbeiter das Hamelner Loch und gelangte schließlich zum Genitium.

Das Gebäude war ein lang gestreckter Fachwerkbau, dessen Hinterwand an den Fluss grenzte. Riesige Wasserräder drehten sich knarrend mit der Strömung. Über dem Eingang bemerkte ich ein Kreuz, an dem man fünf Borretschblüten befestigt hatte – schlichte Hausmannsmagie, die es Ehebrecherinnen unmöglich machen sollte, das Gebäude zu verlassen. Ich bezweifelte, dass die Tagelöhnerinnen Kreuz und Blüten aus freiem Willen angebracht hatten.

Ich trat ein und sah mich zwei langen Reihen von Webstühlen gegenüber, an denen Frauen lautstark damit beschäftigt waren, grobe Wolle zu Kleidung zu verarbeiten. Der Lärm zahlloser Gespräche war ohrenbetäubend. Die Frauen, vielleicht drei Dutzend, trugen einfache Kleider und hatten die Haare mit Tüchern hochgebunden. Die Luft war gesättigt von Feuchtigkeit und Schweiß.

Während ich mich noch umsah, übertönte plötzlich ein Ruf alle Gespräche und ließ sie verstummen:

»Seht!«

Im selben Moment wandten sich sämtliche Blicke in meine Richtung. Für endlose Herzschläge sagte niemand ein Wort. Alle starrten mich an, manche ausdruckslos, einige ablehnend. Das Surren der Webstühle brach ab, als alle Frauen auf einen Schlag ihre Arbeit ruhen ließen. Nur das Rauschen der Wasserräder an der Rückseite zerstörte die Vollkommenheit des Schweigens.

Etwas Merkwürdiges war mit diesen Augen, die mich aus allen Richtungen ansahen, als wollten sie mich kraft ihrer Blicke an die Tür nageln. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was es war. Sie wirkten seltsam leblos, wie Perlen aus glasiertem Ton, unheimlich und leer. Die meisten dieser Frauen hätten ebenso gut tot sein mögen, seelenlose Körper, von den Wasserrädern in Bewegung gehalten, ihr Dasein allein von harter Arbeit bestimmt. Es war mehr als Unbehagen, das mich dastehen ließ wie versteinert, unfähig, mich zu regen; für einen Augenblick war es nackte, frostige Angst.

Schließlich gab ich mir selbst einen Ruck, suchte mir eine jener Frauen heraus, die mir am nächsten saßen, und sprach sie direkt an. Ich nannte meinen Namen und den meines Herrn – und wurde sogleich unterbrochen.

»Wir kennen dich, der du dich nun Robert von Thalstein nennst«, sagte eine der Arbeiterinnen und erhob sich von ihrem Platz. Es war nicht jene, die ich angesprochen hatte, sondern eine hagere, hoch gewachsene Frau mit spindeldürren Händen und knochigem Hals. Ihr Gesicht sah aus wie ein Stück alte Baumrinde, obgleich sie ihr dreißigstes Jahr schwerlich überschritten hatte.

»Wir kennen dich«, sagte sie noch einmal, »und wir wollen dich nicht in Hameln sehen. Geh zurück zum Hof deines Herzogs. Geh und komm nie wieder.«

Die Kälte in ihrer Stimme und die eisige Entschlossenheit ihrer Worte ließen mich für einen kurzen Moment in meiner Entscheidung schwanken. Wie sollte ich die Mission meines Herrn erfüllen, wenn mich schon einige Weiber schreckten? Ich tat also, als kümmerte mich nicht, was sie sagte, und entgegnete: »Ich bin wegen eurer Kinder hier. Es heißt, sie seien fort.«

Die Frau kam näher. »Du warst selbst einst ein Kind in Hameln, doch sieh dich nun an. Sieh, was aus dir geworden ist! Robert von Thalstein war nicht immer dein Name, nicht wahr?«

Da war etwas in ihren Bewegungen, das mich warnte. Eine unausgesprochene Drohung. Was würde geschehen, wenn sich all diese Frauen plötzlich auf mich stürzten?

»Wie ist dein Name, Weib?«, fragte ich mit betonter Ruhe.

»Ich bin Imma, die Frau des Hufschmieds. Ich spreche für diese Frauen, und ich sage dir: Wir wollen deine Fragen hier nicht, Ritter.« Das letzte Wort spie sie mir voller Verachtung entgegen.

»Was geschah mit euren Kindern, Imma?« Ich hätte Zorn spüren müssen über die Weise, wie sie mit mir sprach, doch zu meinem eigenen Erstaunen war da nichts als bohrende Unruhe.

Das Knochenweib hielt es noch immer nicht für nötig, mir Antwort zu geben, und ein Blick in die Runde versicherte mir, dass dies auch für die übrigen Frauen galt. Im Gegenteil – die Gleichgültigkeit in ihren Gesichtern wandelte sich mehr und mehr in Zorn. Ich begriff nicht, womit ich sie gegen mich aufgebracht hatte. War es wirklich nur mein Stand als Ritter im Gegensatz zu ihrer erbärmlichen Armut?

Imma stand jetzt nur noch zwei Schritte von mir entfernt, die Arme leicht angewinkelt, die dürren Finger zu Klauen gespreizt. »Erinnerst du dich noch an deine Kindheit in diesen Gassen?«

»Meine Kindheit hat nichts mit meiner Mission zu tun«, erwiderte ich mit aller Härte, zu der ich noch fähig war. »Ich habe einen Auftrag, und ich gedenke, ihn zu erfüllen. Hundertdreißig eurer Kinder sind verschwunden, alle auf einen Schlag. Wie viele sind übrig geblieben? Zehn oder fünf? Vielleicht keines?«

Einen kurzen Augenblick lang sah es aus, als rege sich etwas in diesen Gesichtern aus erstarrtem Hass und trotziger Wut. Doch falls da wirklich etwas gewesen war, so verschwand es binnen eines einzigen Herzschlages.

»Der Rattenfänger nahm unsere Kinder mit sich, und sie sind nun an einem besseren Ort als diesem dunklen Loch.« Immas Augen verengten sich; Zorn loderte in ihnen. »Keine hier wird dir eine andere Antwort geben. Sie können es nicht, denn was ich sage, ist die Wahrheit. Und nun geh! Geh endlich!«

Ein Raunen ging durch die Menge, als sei jedes ihrer Worte eine geheime Losung, eine Aufforderung zum Angriff. Einige der Frauen erhoben sich langsam von ihren Hockern. Ihre Gebärde unterstrich die Drohung in Immas Worten, stärker als eine gezogene Klinge es vermocht hätte. Entgegen meines Vorsatzes verspürte ich Angst.

Noch einmal machte ich den Versuch, die Lage zu entspannen: »Ich bin hier, um euch zu helfen und die Schuldigen ihrer gerechten Strafe zuzuführen.«

Imma lachte auf, ein hoher, grauenvoll schriller Laut, der die Luft durchschnitt wie ein Pfeil. »Gerechtigkeit, Ritter Robert? Was ist mit deiner eigenen gerechten Strafe?«

Ich blickte ihr direkt in die Augen und sah Wissen darin, ein Wissen viel schlimmer als jede Waffe. Vor Fäusten und Krallen mochte mich mein Dolch bewahren, doch nichts konnte die entsetzliche Macht der Vergangenheit zerschlagen, die aus diesen Augen über mich kam wie eine Heerschar vergessener Geister. Die Erinnerung übermannte mich mit all ihrer Macht, ich fuhr herum wie vom Blitz getroffen, riss die Tür auf und rannte ins Freie. Panik trieb mich voran, rasend schnell durch fremde Gassen, fort von diesen Augen, fort von dem, was sie wussten.

Ich erreichte die Grenze der kargen Bauwüste, fast blind vor Grauen, stolperte vorwärts über Stege aus Balken und Brettern, schwankend auf zähem Morast. Eine Wand aus Holz und Stein wuchs vor mir in den grauen Himmel, ich umrundete sie und sank in den trügerischen Schutz ihres Schattens. Hingehockt, die Knie fest an die Brust gezogen, blieb ich sitzen, lauschte dem Grollen fernen Donners und dem Flüstern des Regens auf tiefschwarzen Pfützen.

Eine rohe Stimme riss mich schließlich aus traumloser Gleichgültigkeit.

»He, du! Verschwinde!«

Vor mir stand, aufgestiegen aus der Tiefe eines Moors, ein riesiger Mann, über und über mit Schlamm bedeckt. In einer Hand hielt er einen schweren Hammer. Seine Stimme war kraftvoll und bestimmt. Ich blinzelte zu ihm auf und erkannte, dass es sich um einen Steinmetz handeln musste.

»Was hast du hier zu suchen?«, fragte er.

Hinter ihm erschienen weitere Männer, vier an der Zahl. Sie wirkten mir kaum weniger kräftig als der erste.

Ich stemmte mich rücklings an der Mauer auf die Beine und bemühte mich, so gelassen wie möglich zu wirken. Falls mir dies gelang, schien es die Tagelöhner nicht zu beeindrucken.

»Er hat dich was gefragt«, brüllte einer aus dem Hintergrund.

»Du bist nicht von hier«, stellte ein anderer fest.

»Seht euch den Dolch an«, rief ein dritter.

Der Steinmetz beugte sich vor und starrte mir ins Gesicht. »Wer bist du?«, fragte er.

»Robert von Thalstein«, erwiderte ich wahrheitsgemäß, ehe mir schlagartig die Erkenntnis kam, dass dies ein Fehler sein mochte. Wahrscheinlich war auch mein Name – mein neuer Name – längst allseits bekannt.

Zu meiner Erleichterung schienen die fünf Männer ihn jedoch zum ersten Mal zu hören. »Was tust du hier?«, fragte der Steinmetz, offenbar Wortführer des kleinen Bautrupps. »Niemand darf die Baustellen betreten, solange hier gearbeitet wird. Anweisung des Vogts.«

»Das wusste ich nicht.« Einen Augenblick lang erwog ich, mich als Ritter des Herzogs zu erkennen zu geben, dann aber verwarf ich den Gedanken. Im Genitium hatte wenig gefehlt, und die Frauen hätten sich mit bloßen Händen auf mich gestürzt. Nicht auszudenken, was diese Kerle mit ihren Werkzeugen anstellen mochten.

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Kerl«, donnerte der Steinmetz. »Was hast du hier zu suchen?«

»Ich habe mich ... verirrt«, erwiderte ich matt. »Lasst mich gehen, und ich will euch nicht weiter von Eurem Tagwerk abhalten.«

»Unsere Arbeit ist für heute getan«, sagte der Anführer. »Es dämmert schon.«

Großer Gott, wenn das die Wahrheit war, dann musste ich mehr als den halben Tag hier verschlafen haben. Der Himmel hatte die Farbe verschimmelten Brotes angenommen, ein schillerndes Graugrün. Der Regen fiel ohne Unterlass. Plötzlich hatte ich nur noch den brennenden Wunsch, mich auf den Weg zurück zur Herberge zu machen.

»Wie kann man sich hierher verirren?«, fragte einer der Tagelöhner zu Recht. Hameln war nicht groß, und von hier aus waren die Hütten des Dorfes im Norden wie auch die Häuser der Reichen im Süden nicht zu übersehen. Ganz zu schweigen vom Turm der Marktkirche und den Holzzinnen der Mysterienbühne.

»Gib du ihm die Antwort«, sagte der Steinmetz und wies mit dem Hammer auf meine Brust.

Da traf ich eine Entscheidung.

Mit gehöriger Schnelligkeit packte ich den Hammer mit beiden Händen, doch statt ihn dem Mann zu entreißen, stieß ich das Werkzeug nach hinten – dem anderen in den Magen. Mit einem Aufschrei krümmte er sich zusammen und stieß einen Schwall wilder Flüche aus. Die übrigen vier sprangen nach vorne und griffen nach mir, doch ich entging ihren zupackenden Händen mit einem gewagten Sprung aus dem Schatten der Mauer, mitten in eine gewaltige Schlammpfütze abseits der Holzstege. Verwünschungen brüllend setzten sie mir nach, einer nach dem anderen landete unter peitschenden Schlammfontänen im Dreck. Der Morast saugte an meinen Stiefeln, trotzdem gelang es mir, nach vorn zu springen. Links und rechts von mir schossen fette Ratten aus den Fluten und brachten sich vor Füßen und Schreien in Sicherheit. Ich erreichte ein Brett und balancierte darauf entlang eines schmalen Erdwalls zwischen zwei mit Wasser gefüllten Baugruben. Als die Männer es mir gleichtaten, rutschte prompt einer von ihnen ab und landete mit ausgebreiteten Armen im Brackwasser.

»Jetzt erkenne ich ihn«, brüllte einer. »Es ist der Ritter. Der Ritter des Herzogs.«

Darauf verdoppelten sie ihre Anstrengungen, meiner habhaft zu werden. In einigen Bauruinen zu beiden Seiten des wirren Netzes aus Fußbrettern reckten sich weitere Köpfe aus Fenstern und Gruben. Einige Männer ließen von ihrer Arbeit ab und nahmen gleichfalls die Verfolgung auf. Sie alle schrien Flüche und Drohungen, und nur ein Wunder mochte verhindern, dass andere Tagelöhner, die sich noch irgendwo vor mir befanden, meinen Weg versperrten.

Tatsächlich gelang es mir, trockenen Boden zu erreichen. Eine schmale Schotterstraße führte am Ufer entlang und verband den Stiftsbezirk mit dem Dorf. Zweihundert Schritte weiter nördlich erkannte ich das Genitium. Genau vor mir lag der Fluss.

Es blieb keine Zeit zu zögern. Schritte und Rufe in meinem Rücken kamen immer näher und mehrten sich auf Besorgnis erregende Weise. Ich hatte vor der Hinrichtung des Ketzers erlebt, zu welcher Grausamkeit das Volk fähig war, und hegte keinesfalls den Wunsch, das erbärmliche Schicksal des Mannes zu teilen.

So sprang ich mutig voran in den Fluss und versank. Die wilde Jagd hatte mir den Atem genommen, und schon nach Augenblicken musste ich erneut auftauchen, um Luft zu holen. Da sah ich sie am Ufer stehen, zehn, fünfzehn Mann, mit grimmigen Mienen, Hämmer und Hacken in Händen haltend, bereit, mir sofort den Garaus zu machen. Zu meinem Glück verbargen mich Wellen und die anbrechende Dunkelheit vor ihrem Zorn. Ich tauchte sogleich wieder unter und schwamm unter Wasser nach Norden.

Immer wieder nach Luft schnappend, gelang es mir, die Bootsdurchfahrt zu passieren und dahinter unbemerkt an Land zu gehen. Triefend und zutiefst in meinem Stolz getroffen, schlich ich mich durch die engen Gassen zurück zur Herberge. Niemand schien mich auf dem Weg dorthin zu bemerken. Die meisten Menschen wärmten sich nach der feuchten Kälte des Tages in ihren Hütten. Vor den wenigen, die mir begegneten, verbarg ich mich in Torbögen und Eingängen.

Schon von weitem hörte ich, dass der Schankraum der Herberge voller Menschen war. Sie lärmten und sangen, tranken und lallten, sodass es mir als ein zu großes Wagnis erschien, mich durch ihre Mitte zu bewegen. Ich umrundete das Haus und fand an seiner Rückseite eine schmale Holztreppe, die an der Außenwand hinauf ins obere Stockwerk führte. Sie endete vor einer morschen, niedrigen Tür, die schon auf einen leichten Druck hin nachgab und nach innen schwang. Gebückt trat ich ein und schob die Tür hinter mir zu.

Der Gang, auf dem ich mich wiederfand, war dunkel. Unzweifelhaft handelte es sich um jenen Flur, an dem auch mein Zimmer lag, denn an seinem Ende erkannte ich im Boden das helle Rechteck, durch das es hinab in den Schankraum ging.

Ich unterdrückte den Drang, vor Erleichterung aufzuatmen, als hinter mir die Schatten in Wallung gerieten. Aus dem Augenwinkel sah ich noch, wie eine Gestalt auf mich zuschoss und mit einem langen Gegenstand nach mir ausholte. Ehe ich herumwirbeln und den Schlag abwehren konnte, traf er mich schon an der Schulter, nicht fest, auch nicht schmerzhaft, aber doch vollkommen unerwartet.

Ich griff blind ins Dunkel und bekam einen Arm zu fassen, ein schmales Handgelenk. Mit der anderen Hand packte ich den dünnen Stock, mit dem man auf mich eingeschlagen hatte. Mein Gegner strampelte wild, und ich wollte eben ausholen und meinerseits zuschlagen, als sich meine Augen soweit an die Finsternis gewöhnten, dass ich erkannte, mit wem ich rang.

Es war Maria. Ihr langes Haar war zerzaust, das hübsche Gesicht verzerrt, sei es von Schmerz oder Scham.

Überrascht ließ ich sie los, sie stolperte vom eigenen Schwung getragen nach hinten und fiel auf ihr Hinterteil. Wie ein Tier in der Enge kroch sie in eine dunkle Ecke und blieb dort mit gesenktem Haupt sitzen, das Gesicht zwischen den Knien vergraben.

»Um Himmels willen, was tust du?«, fragte ich erregt, wenn auch leise genug, um kein Aufsehen in der Schänke zu erregen.

Maria gab keine Antwort, nur ihr jagender Atem drang aus den Schatten. Ich hielt den dürren Haselnussstecken ins fahle Licht des Treppenaufgangs. Mehrere Schriftzeichen waren in seine Rinde geschnitzt, offenbar von jemandem, der des Schreibens nicht kundig war und die Buchstaben verzerrt von einer Vorlage kopiert hatte.

PAX + PIX + ABYRA + SYNTH + SAMASIC las ich, und wenngleich diese Worte wie Latein klangen, so ergaben sie doch keinen Sinn. Trotzdem begriff ich. Die merkwürdigen Zeichen, der Haselnusszweig, der Angriff aus dem Verborgenen – alles Teile eines bäuerlichen Liebeszaubers, von dem ich einst an anderem Ort gehört hatte.

Maria schien zu ahnen, dass ich ihr Ansinnen durchschaut hatte, denn plötzlich sprang sie auf, drängte sich an mir vorbei und verschwand am Ende des Gangs in einer Tür. Von innen schob sie den Riegel vor. Ich stand da, völlig durchnässt, den Zweig in der Hand, und wusste nicht recht, was ich denken sollte.

Schließlich raffte ich alle Sinne beisammen und betrat meine Kammer. Gleich als Erstes entdeckte ich meine Kleidung, die Maria gesäubert und sorgfältig auf dem Bett zusammengelegt hatte. Sie musste sie über einem Feuer erwärmt haben, um sie bei diesem Wetter in so kurzer Zeit zu trocknen.

Ich legte den Haselnussstecken beiseite, verriegelte die Tür und entkleidete mich. Mit frischem Wasser aus der Schüssel wusch ich mir den Schmutz vom Leib und schlüpfte in die trockene Kleidung. Auf dem Tisch lag die Kugel des Ketzers, die ich vor dem Inferno auf dem Marktplatz eingesteckt hatte. Maria musste sie in der Tasche meines Wams gefunden und vor dem Waschen beiseite gelegt haben.

Einen Moment lang erwog ich, das Mädchen für das Geschehene zur Rede zu stellen, dann aber legte ich mich einfach aufs Bett, ließ meine Gedanken treiben und muss wohl wiederum eingeschlafen sein, denn ...

... ich erwachte von Stimmen vor meiner Zimmertür. Ob Stunden vergangen waren, vermag ich nicht zu sagen. Draußen, im Spalt zwischen den angelehnten Fensterläden, herrschte tiefschwarze Nacht.

Und wieder vernahm ich leises Flüstern und Murmeln.

Augenblicklich war ich auf den Beinen, hielt den Dolch in der Hand und lauschte atemlos ins Dunkel.

Da waren sie wieder. Leise Worte, ganz nah.

Sollten mich einige der aufgebrachten Tagelöhner bis hierher verfolgt haben? Oder hatten andere Meuchelpläne gegen mich geschmiedet? Man wusste zweifellos, wo ich wohnte, und sicher war es ein leichtes, die gierige Wirtin mit einigen Münzen von der Notwendigkeit meines Ablebens zu überzeugen. Vielleicht hatte ich den Zorn des Volkes unterschätzt. Meist glätteten sich die Wogen, sobald sich die Meute zerstreute, und alle Gedanken ans Aufknüpfen und Töten wurden verworfen. Möglicherweise aber war die Lage hier eine andere. Vielleicht war es tatsächlich Hass, mit dem sie mich verfolgten. Vielleicht wollten sie wirklich meinen Tod.

Ich trat an die Tür und horchte. Das Flüstern war noch da, wenngleich es nun aus größerer Entfernung erklang. Konnte es Maria sein, die einen neuen Versuch ausheckte, sich mir zu nähern?

Ich öffnete den Riegel und spähte einmal mehr in die Finsternis. Die gemurmelten Worte waren nun deutlicher zu hören, obgleich sich niemand vor der Tür oder auf dem Gang befand. Meine Kleidung trug ich noch am Körper, sodass es nicht unschicklich war, die Kammer zu verlassen und nach dem Rechten zu sehen.

Ich hatte kaum den ersten Schritt getan, als mir klar wurde, dass das Flüstern aus dem Nebenzimmer kam. Aus Dantes Unterkunft.

Leises Lachen erscholl hinter der Holztür. Durch zahlreiche Fugen drang der flackernde Schein einer Kerze. Gut möglich, dass sich der sündige Italiener ein junges Weibsbild von der Straße mit aufs Zimmer genommen hatte. In einem Haus wie diesem, in solcher Umgebung, musste das ganz alltäglich sein. Ich ließ den Dolch sinken und wandte mich zurück zu meiner Kammer, als Dante mit einem Ruck die Tür öffnete.

»Sieh da«, sagte er keck, »der edle Ritter lauscht an fremden Türen. Zudem zu solch später Stunde. Ich muss mich wundern.«

Ich blieb wie vom Schlag getroffen stehen. Schließlich drehte ich mich zu ihm um. »Ich weiß nicht, was Ihr meint, werter Dante.«

Sein Blick fiel auf den Dolch in meiner Hand. »Ich hoffe, es waren keine Mordgelüste, die Euch an meine Schwelle trieben.«

Ich fühlte mich ertappt, gedemütigt durch jedes seiner Worte. »Verzeiht, wenn ich mich nun zurückziehe«, entgegnete ich knapp. »Und Ihr, mein Herr, solltet Euren Besuch nicht ungebührlich warten lassen.«

»Meinen Besuch?« Einen Augenblick lang schien er verwirrt, dann entfuhr ihm ein herzliches Lachen. »Ihr meint sicher Albertus.«

Keine Frau, also – ein Mann. Umso schlimmer.

»Gute Nacht«, empfahl ich mich und wollte endlich in mein Zimmer treten, als er sagte:

»Bitte, edler Ritter, wartet einen Augenblick. Ich weiß, Ihr denkt schlecht über mich, wegen der Dinge, die ich zu Euch beim Essen sagte. Doch zumindest Euren letzten Verdacht will ich zerstreuen.«

»Nicht nötig«, erwiderte ich kühl, doch da war er bereits in seiner Kammer verschwunden und rief: »Tretet doch einen Moment lang ein.«

»Ich wüsste nicht, weswegen«, sagte ich.

Dante erschien wieder im Türrahmen. »Deswegen«, sagte er und hielt mir mit beiden Händen einen Kopf entgegen. »Wegen Albertus.«

Nun war dies kein gewöhnlicher Kopf, wie es im ersten Augenblick erschien. Er hatte Größe und Form eines menschlichen Schädels, mit kurzem, eng anliegendem Haar und scharf geschnittenen Zügen. Seine Miene strahlte ehrwürdige Strenge aus, die Lippen waren schmal, kaum mehr als dünne Striche. Die Wangenknochen wetteiferten beinahe mit der Nase, so spitz standen sie hervor. Beide Augenbrauen waren zusammengezogen, was dem ganzen Gesicht einen übellaunigen, unzufriedenen Ausdruck verschaffte.

Der Kopf war aus Metall, aus Bronze, nahm ich an. Der Künstler, der ihn geschaffen hatte, musste große Mühe darauf verwandt haben, ihm möglichst große Lebensnähe zu verleihen. Selbst das Innere der Augen war wirklichkeitstreu nachgebildet.

»Sehr schön«, sagte ich ehrlich beeindruckt, wenngleich mir der Sinn dieser Vorführung entging.

Dante lächelte noch immer. »Dies ist Albertus. Zumindest nenne ich ihn so. Er war es, mit dem ich mich vorhin unterhielt.«

»Ihr sprecht mit einem Bronzekopf?«, fragte ich zweifelnd.

Dante zog belustigt die Augenbrauen in die Höhe. »Ich kann mir denken, was Ihr von mir haltet. Erst mein Reden über die Hölle, und nun dies.«

Tatsächlich war mir ein wenig flau im Magen. Nicht etwa aus Furcht; vielmehr berührten mich seine wirren Worte aufs Peinlichste. Gewiss war es am besten, wenn ich mich endlich zurückzog.

»Meine Einladung gilt noch«, sagte Dante. »Kommt einen Moment zu mir herüber. Ich mag in Euren Augen ein bemitleidenswerter Verrückter sein, doch, glaubt mir, gefährlich bin ich nicht.«

Ich bin heute nicht mehr sicher, was es war, das mich umstimmte. Vielleicht war es eine gewisse Ehrlichkeit, die aus seiner Stimme sprach, oder auch nur die beruhigende Erwartung, mit einem Menschen ein paar freundliche Worte zu wechseln.

Wie auch immer – ehe ich mich versah, saß ich in Dantes Kammer auf einem Holzschemel, blickte unsicher zwischen dem Italiener und seinem Bronzekopf einher und hörte mich fragen: »Wie weit seid Ihr mit Euren Nachforschungen gekommen?«

Er setzte sich mir gegenüber auf die Bettkante und stellte den Schädel sanft mit dem Halsstumpf auf die Decke. »Das Tor zur Hölle habe ich nicht gefunden, soweit kann ich Euch beruhigen. Ich hege langsam Zweifel, ob sich die Reise hierher für mich auszahlen wird.«

»Ist Euch jemals der Gedanke gekommen, dass Euer Streben sündig sein könnte?«, fragte ich.

»Nicht nach meinem Verständnis von Sünde.«

»Und welches wäre das?«

Dante holte tief Luft und lehnte sich gegen die Wand. »Die Antwort gibt uns Aristoteles: zügelloser Appetit, mangelnde Beherrschung im Benehmen, tierisches Verhalten und krankhafter Geschmack, lasterhaftes und böses Tun, also eine schlechte Anwendung der menschlichen Vernunft. Oh, und vergessen sollten wir nicht Cicero, der Verrat und Gewalt verurteilte.«

»Ihr überseht dabei die zehn Gebote des Herrn.«

Dante schüttelte entschieden den Kopf. »Denkt nach, und Ihr werdet feststellen, dass sie alle im eben genannten enthalten sind. Allerdings bin ich bereit, der Kirche ein Zugeständnis zu machen und Ketzerei und Unglauben mit ins menschliche Sündenregister aufzunehmen.«

»Und, glaubt Ihr nicht, Euer Streben nach einem Abstieg zur Hölle sei Ketzerei?«

»Keineswegs. Viele fromme Menschen haben von ihren Erlebnissen im Reich des Leibhaftigen berichtet, und sie alle waren danach ebenso treue Diener ihres Schöpfers wie zuvor.« Er zog beide Beine zum Schneidersitz an. »Ich bin vollkommen sicher, dass mir das Heil des Herrn, auch bei einem Erfolg meiner Suche, nicht versagt bleiben wird. Denn wie anders als unter seinem Schutz, könnte ich mich jemals hinab in die Hölle wagen und auf eine glückliche Rückkehr hoffen?«

»Wem sollte dann überhaupt das Heil versagt bleiben, wenn nicht einmal demjenigen, der die Nähe des Teufels sucht?«, fragte ich zweifelnd.

Dante hob die Schultern. »Sicher wird es jener nicht erlangen, der niemals getauft wurde.«

»Damit schließt Ihr all diejenigen aus, die vor der Offenbarung und den Lehren Christi lebten.«

»Ganz gewiss.«

»Was aber ist mit Platon, Sokrates und – Ihr nanntet ihn selbst – mit Aristoteles? Mit Aeneas, Homer und Heraklit? Was ist mit Horaz und Ovid?«

Dieser Einwand ließ Dante fast väterlich lächeln. »Sie haben schlichtweg Pech gehabt.«

Ich runzelte die Stirn. »Damit erhebt Ihr Euch über die Kirche. Noch nie hat sie einen Menschen zur Hölle verdammt. Nicht einmal Judas Ischariot.«

»In der Tat. Und warum ist das so?«

»Sagt Ihr es mir.« Zu meinem eigenen Erstaunen musste ich feststellen, dass ich am Gespräch mit Dante Gefallen fand.

Der Florentiner räusperte sich. »Einerseits mag die Kirche so handeln, weil sie nie den Glauben an die göttliche Gnade verlieren darf, denn damit widerspräche sie ihrer eigenen Berechtigung. Doch wichtiger ist in meinen Augen, dass die Entscheidung, einen Menschen zu verdammen, höchst gefährlich sein könnte. Jemandem das Paradies zu versprechen verpflichtet zu nichts; falls er nach den Regeln Gottes und der Kirche lebt, wird er sich eines Tages dort wiederfinden. Andererseits: Einen Menschen zur Hölle zu verdammen könnte sich im Falle eines Irrtums als fatal erweisen, denn eine solche Verkündung ist unwiderruflich. Träfe man den Unglücklichen – oder eben Glücklichen – stattdessen im Himmel an, müssten die Pfaffen ihren Fehler eingestehen. Und die Kirche lebt davon, dass sie keine Fehler gesteht.«

»Das aber würde bedeuten, die Hölle wäre leer«, sagte ich. »Warum wollt Ihr sie dann finden?«

»Leer ist sie nicht. Nur weiß niemand zu Lebzeiten eines Menschen, ob es ihn dorthin verschlagen wird. Glaubt man den alten Berichten, so ist Satans Reich gar übervoll mit armen Seelen.«

Mein Blick fiel erneut auf den Bronzeschädel an Dantes Seite. »Bevor Ihr weitersprecht, erlaubt mir eine Frage. Hat Euch ... Albertus, so war doch sein Name? Hat er Euch je geantwortet?«

Ich hatte die Worte nicht ganz ernst gemeint, was Dante kaum zu bemerken schien, denn er erwiderte aufrichtig: »Gelegentlich gibt er Antwort. Doch vielleicht sollten wir beim alten Gegenstand unseres Gespräches bleiben, denn ich fürchte, Ihr mögt mir ohnehin nicht glauben.«

»Woher habt Ihr den Kopf?«, fragte ich, ohne seine letzten Worte zu beachten.

Dante lächelte verlegen. »Er gehörte einst Albertus von Bollstädt, darum gab ich ihm seinen Namen. Auch er führte Zwiegespräche mit ihm. Es heißt, Thomas von Aquin habe ihn zerschlagen, als er und Albertus sich trafen.« Er schmunzelte. »Thomas hielt ihn für Teufelswerk, was man einem großen Geist wie dem seinen wohl nachsehen muss. Es mag wahr sein, dass ihn der Schädel entsetzte, doch dass er ihn zerstörte, ist eine Lüge. Tatsächlich stahl er ihn von Albertus und nahm ihn mit in seine Heimat. Ich stieß darauf, als ich Thomas’ Werk vor Ort studierte.«

»Wie das?«, fragte ich erstaunt.

Dante wurde offenbar unbehaglich zu Mute, denn er wandte den Blick ab und ließ ihn fahrig durchs Zimmer schweifen. »Nun, sagen wir, ich fand ihn.«

Ich lachte laut auf. »Dann habt Ihr ihn gestohlen.«

»Wie könnt Ihr es wagen?«, fuhr er auf, nur um sogleich hinzuzufügen »Nun ist er jedenfalls mein. Lasst uns über etwas anderes sprechen. Sagt mir, wie es mit Euren eigenen Ermittlungen im Fall der verschwundenen Kinder steht.«

Ich zögerte einen Augenblick, dann fasste ich endgültig Vertrauen zu dem Kauz und berichtete ihm von meinen Erlebnissen und Niederlagen. Nur über Marias Liebeszauber schwieg ich.

Nachdem ich geendet hatte, sagte Dante lange Zeit kein Wort. Dann, nach einer ganzen Weile, die mir beinahe endlos schien, meinte er: »Die Hamelner sind gottesfürchtige Menschen, die sich völlig ihrem Schicksal ergeben. Offenbar mögen sie es nicht, wenn man sich in ihre Obliegenheiten mischt.«

»Nennt Ihr es gottesfürchtig, wenn man einen Ritter des Herzogs grundlos ermorden will?«

Statt einer Antwort fragte Dante: »Habt Ihr die Mysterienbühne auf dem Marktplatz gesehen?«

Ich nickte, und er fuhr fort »Dann wisst Ihr auch, dass nur Menschen, in denen der Glaube an Gott und seine Gnade tief verwurzelt ist, solch einen Aufwand betreiben, um ihm gefällig zu sein. Ganz Hameln ist seit Wochen wegen dieses Spiels auf den Beinen. In wenigen Tagen findet die Aufführung mit der Kreuzigung Christi ihren Höhepunkt. Es heißt, der Herzog persönlich, wie auch der Bischof von Minden, werden anwesend sein.« Diese Nachricht traf mich unerwartet. »Beide kommen nach Hameln?«, fragte ich verblüfft.

»So sagte man mir. Ihr wusstet nichts davon?«

»Am Hof hat man mir nichts davon erzählt.«

Dante lachte. »Nun fürchtet Ihr, Euer Herr wird einen Bericht über den Stand Eurer Nachforschungen verlangen. Ihr fürchtet, Euer Gesicht zu verlieren.«

Ich muss eingestehen, dass Dante mich durchschaute.

»In der Tat.«

»Ich will Euch mit einem Hinweis behilflich sein, denn wenngleich ich auch hoffe, den Aufenthaltsort der Kinder zu kennen – eben die Hölle, wie Ihr wisst –, habe ich doch ein, zwei Dinge erfahren.«

»So sprecht«, bat ich hoffnungsvoll.

Dante veränderte seine Haltung und brauchte eine Weile, bis er wieder angenehm saß. Die Wartezeit stellte meine Geduld auf eine harte Probe. Dann aber sagte er: »Unter den hundertdreißig Verschwundenen war eine, die viel älter war als alle anderen.«

»Bislang hieß es, nur Kinder seien abhanden gekommen.«

»Allerdings. Und doch war eine dabei, die bereits ihr siebzehntes Jahr vollendet hatte.«

»Wer?«

Dante hob beide Augenbrauen. »Die einzige Tochter des Bürgermeisters, Margarete Gruelhot. Sie stand kurz vor ihrer Vermählung.«

Ich dachte eine Weile nach, ob dies eine Bedeutung haben mochte, kam aber zu keinem rechten Ergebnis. Daher fragte ich: »Was war es noch, das Ihr erfuhrt?«

»Eine Magd soll den nächtlichen Auszug der Kinder aus der Stadt in Richtung Kopfelberg beobachtet haben.«

»Wo finde ich sie?«

Dante seufzte. »Dies eben ist das große Hindernis. Die junge Frau ist gleich danach ins Klarissenkloster am Rande der Stadt eingetreten.«

»Dann werde ich sie dort aufsuchen.«

Er schüttelte den Kopf. »Die Klarissen geloben bei ihrer Aufnahme strenges Schweigen. Nur alle zwei Wochen dürfen sie einen Besucher empfangen und mit ihm durch ein enges Gitter einige Worte wechseln. Das Gitter ist undurchsichtig, man kann nie sicher sein, wer einem auf der anderen Seite gegenübersitzt. Ein einziges Mal im Jahr ist es ihnen erlaubt, einem Besucher von Antlitz zu Antlitz zu begegnen, doch bis dahin müssen noch neun Monde vergehen.«

»Ich muss sie nicht sehen, um mit ihr zu sprechen«, sagte ich. »Gleich morgen will ich ins Kloster gehen und sie aufsuchen.«

»Nun«, sagte Dante, »dann wünsche ich Euch viel Glück. Ich selbst werde meine Forschungen auf dem Kopfelberg weiterführen. Vielleicht können wir am Abend unsere Ergebnisse austauschen.«

»Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte ich. Dies war ein guter Moment, das Gespräch für die Nacht zu beenden, daher erhob ich mich. Auch Dante stand auf und reichte mir die Hand. »Ein Verbündeter kann uns beiden schwerlich schaden, oder?«

Ich lächelte erfreut über dieses Angebot seiner Freundschaft und schlug ein. Als ich zur Tür ging, fiel mein Blick auf Dantes Kapuzenmantel, der in einer Ecke lag.

»Sagt, mögt Ihr mir Euren Mantel borgen?«, fragte ich.

»Mir scheint es besser, fortan unerkannt durch die Straßen zu gehen.«

»Sicher«, erwiderte Dante. »Nehmt ihn mit.«

Damit verließ ich ihn und trat frohgemut zurück in meine Kammer. Der Abend hatte eine Wende zum Guten genommen, die erste, seit ich die Stadt betreten hatte. Ein Freund war in Umständen wie diesen ein Geschenk des Himmels, und ich blickte dem morgigen Abend mit Ungeduld entgegen.

Das Schicksal freilich hielt anderes bereit.

Der Rattenzauber

Подняться наверх