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Kapitel 2

Am Morgen des Winterfestes war Snowflake schon früh auf den Beinen. Sie stand am Fenster ihres Zimmers, einen Schal aus dicker Wolle fest um die Schultern geschlungen, um sich vor der morgendlichen Kälte zu schützen. Da sich ihr Gemach hoch oben im Turm der königlichen Burg befand, erlaubte es ihr einen Blick über das weite, schneebedeckte Land, das ruhig und friedlich unter einer dicken weißen Decke lag. Ihr Blick wanderte über die kleinen Dörfer, die sie von hier oben sehen konnte, wenn der Morgen so klar war wie an diesem Tag. Von den Kaminen stieg Rauch auf und zeigte ihr, dass sie nicht die Einzige war, die früh aus dem Bett gefunden hatte.

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, die gerade über den Horizont stieg und den Himmel in kräftiges Rot und Orange färbte, fielen ihr ins Gesicht und belebten ihre Sinne. Eisblumen verzierten den äußeren Rand ihres Fensters mit wunderschönen Mustern, und sie nahm sich einen Moment Zeit, sie zu betrachten. Sie liebte dieses Land und seine Menschen. Den winterlichen Zauber, der stets über allem lag. Auch wenn die meiste Zeit Schnee fiel und Kälte herrschte, so waren die Herzen der Menschen mit Wärme erfüllt, und sie liebten das Lachen, das Leben, das Schlittschuhlaufen. Die Hütten und Häuser der Menschen waren mit liebevollen Bildern bemalt. Meist waren es tanzende Schneeflocken, die durch mit Magie angereicherte Farbe glitzerten, auch wenn die Sonne sie an einem trüben Tag nicht beschien. Die Dächer waren mit Schindeln aus blauem Ton bedeckt, den man in den südlichen Gebirgen von Winter finden konnte und den es nur in diesem Königreich gab. Nach einer verschneiten Nacht wurden morgens die Wege von den Bewohnern geräumt und man nutzte die Gelegenheit, um Neuigkeiten und Tratsch auszutauschen. Abends saßen sie an wärmenden Feuern beisammen, erzählten sich Geschichten von vergangenen Zeiten und magischen Wesen, sangen Lieder oder fertigten Dinge für den Alltag, seien sie nun nützlich oder schmückend. Es war ein friedvolles Leben, trotz allem, was Schnee und Eis den Menschen manchmal abverlangte.

Lange verharrte Snowflake nicht am Fenster, denn es war reichlich kalt an diesem Morgen, und so beschloss sie, ihr Tagwerk zu beginnen, bevor ihr noch kälter wurde.

Die zwei Tage bis zum Winterfest waren wie im Fluge vergangen, sodass Snowflake nicht wirklich zum Nachdenken kam. Sie fand kaum die Zeit, sich über die winterlichen Sonnentage zu freuen, die einen wahrhaftigen Zauber über das ganze Land legten. Sie schaffte es nicht einmal, den Streit mit Juna, der ihr wie Blei auf der Seele lastete, aus der Welt zu schaffen. Zumal ihre Freundin ihr aus dem Weg zu gehen schien.

Sie stand frühmorgens auf, hetzte den ganzen Tag von einem auferlegten Termin zum nächsten und fiel abends erschöpft ins Bett, wo sie sogleich einschlief. Selbst wenn sich die Gelegenheit für ein Gespräch mit ihrer Patin ergeben hätte, war sich Snowflake nicht sicher, ob die Regentin tatsächlich offen mit ihr über ihre Pläne gesprochen hätte und ob Snowflake selbst nicht viel zu müde für eine Unterhaltung dieser Art gewesen wäre.

In den wenigen Momenten, in denen ihre Gedanken nicht um das Winterfest und die Vorbereitungen dafür kreisten, bemühte sie sich, nicht darüber nachzudenken, welche Zukunft sie womöglich erwartete. Würde sie es tun, wäre sie nicht mehr in der Lage, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, so viel stand fest. An Ayris wollte sie gar nicht denken. Ihn würde sie ohnehin früher sehen, als ihr lieb war.

Am Nachmittag des Tages, an dem das Winterfest stattfinden sollte, war es so weit: Prinz Ayris aus dem Königreich Sommer reiste mit seinem Gefolge an. Hoch zu Ross, gekleidet in dicke Pelze, ritten sie in den Burghof ein. Die Gesandtschaft aus Sommer wurde von einem Trupp Krieger aus Winter begleitet, die den Schluss des Zuges bildeten und weitaus beeindruckender als die Soldaten aus Sommer wirkten. Man sah ihnen an, wie wenig sie von den Sommern hielten. Seit jeher gab es Zwistigkeiten zwischen den Soldaten beider Königreiche, die ihre Konkurrenz gelegentlich bei Wettkämpfen austrugen.

Snowflake schaute dem Treiben vom Fenster ihres Zimmers aus zu. Ihr war klar, dass sie irgendwann würde hinuntergehen müssen, um den Prinzen gebührend zu begrüßen, so wie es die Etikette von ihr verlangte. Es war eine Pflicht, die es zu erfüllen galt, unabhängig von ihren Empfindungen ihm gegenüber. Sie hoffte, sie wäre in der Lage, es noch bis zum Abend hinauszuzögern und ihm erst auf dem Fest zu begegnen. So lange würde sie einfach in ihrem Zimmer bleiben oder sich irgendwo ein Plätzchen suchen, wo sie sich verstecken konnte. Würde ihre Patin ihre Anwesenheit früher für notwendig befinden, dann würde sie nach ihr schicken.

Eine Weile später klopfte es an der Tür und Snowflake seufzte. Wie es schien, war ihre Schonfrist vorbei. Früher als erhofft.

»Herein«, rief sie.

Kaum hatte sie die Aufforderung einzutreten ausgesprochen, wurde die Tür geöffnet und Juna steckte ihren Kopf ins Zimmer.

»Sei gegrüßt, Snow«, sagte sie förmlich.

»Hallo Juna. Hat dich meine Patin gesandt, um mich zu holen?«, wollte Snowflake wissen.

»Nein, sie hat mich geschickt, um dir zu helfen, dich für das Winterfest und den Ball zurechtzumachen.«

»Ah, sie will mich besonders präsentabel haben.« Snowflake verzog missmutig das Gesicht. »Ich komme mir wie ein Stück Ware vor, das an den Meistbietenden verkauft werden soll.«

»Sie meint es doch nur gut mit dir.«

»Mag sein.«

»Manchmal bist du wirklich undankbar«, sagte Juna verärgert.

»Wieso das?«, fragte Snowflake überrascht.

»Dir fällt alles in den Schoß. Jeder reißt sich ein Bein aus, um es dir recht zu machen und dir behilflich zu sein. Du musst dich um nichts kümmern. Und was tust du? Dich beklagen. Ständig.«

»Das mache ich doch gar nicht.«

»Ach ja? Das sehe ich aber ganz anders. Immerhin hat deine Patin dafür gesorgt, dass du eine gute Partie bist, und einen Prinzen für dich ausgesucht, nach dem sich jede Frau verzehrt.«

Snowflake stutzte und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Hörte sie da etwa Eifersucht heraus? Ging es darum?

Sie ergriff die Hand ihrer Freundin. »Sei ehrlich zu mir: Bist du in Ayris verliebt?«

Juna sah aus, als wollte sie etwas sagen, schloss aber den Mund und nickte unglücklich.

»Ich wusste nichts davon, dass du Gefühle für ihn hegst. Ehrlich. Hätte ich es geahnt, hätte ich doch nie so abfällig über ihn gesprochen. Es tut mir leid. Ich wollte dich niemals verletzen. Das musst du mir glauben. Was kann ich tun, um dir zu helfen?«

»Du kannst mir nicht helfen. Er ist ein Prinz und ich bin nur eine einfache Zofe.« Eine Träne rollte über Junas Wange. »Für ihn bin ich unsichtbar. Egal wie sehr sich mein Herz auch nach ihm sehnt.«

»Das weißt du doch gar nicht«, versuchte sie ihre Freundin zu trösten.

»Natürlich. Anders kann es gar nicht sein. Er ist der zukünftige König von Sommer und wird eine Prinzessin heiraten, so wie es seinem Stand entspricht.«

»Das werde aber ganz sicher nicht ich sein.« Snowflake schnaubte. »Entschuldige. Ich kann ihn nicht ausstehen. Er wäre niemals der Richtige für mich.«

»Weil du einfach seine verletzliche Seele nicht erkannt hast.«

Sie wagte zu bezweifeln, dass er so etwas besaß, doch Snowflake biss sich auf die Zunge, um nicht Gefahr zu laufen, etwas darauf zu erwidern und Juna von Neuem zu verärgern. Immerhin hatte die Zofe ihr ihren größten Herzschmerz anvertraut. Da sie noch nie wirklich verliebt gewesen war, konnte Snowflake nur erahnen, was in ihrer Freundin vorging, seit sie erfahren hatte, dass er eine andere heiraten sollte. Sie wäre sicherlich genauso unglücklich wie Juna.

»Ich werde versuchen dir zu helfen.«

»Wie willst du das anstellen? Es gibt keine Möglichkeit.«

»Seit wann bist du so pessimistisch?«

»Seit mein Herz gebrochen wurde.«

»Dann werden wir es wieder heilen, indem wir dich mit dem Prinzen vereinen.«

»Und wie willst du das machen?«

»Das weiß ich noch nicht, aber es wird mir schon etwas einfallen.« Hoffe ich zumindest, fügte sie in Gedanken hinzu.

Juna fiel ihr um den Hals. »Danke.«

»Ich kann dir nichts versprechen.«

»Aber du willst es versuchen. Das ist schon mehr, als ich zu hoffen wagte.« Sie seufzte. »Es tut mir leid, wie zickig ich mich verhalten habe.«

»Mir tut es leid, dass ich nicht bemerkt habe, wie es um dein Herz steht.«

Juna schniefte noch einmal, löste sich aus der Umarmung und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»Alles wieder gut zwischen uns?«, fragte Snowflake.

»Ja«, erwiderte Juna und lotste ihre Freundin hinüber zum Frisiertisch, wo sie sie zwang, sich hinzusetzen. Dann nahm sie die Bürste und begann mit kräftigen, gleichmäßigen Strichen durch Snowflakes langes Haar zu fahren.

»Ich wünschte, meine Locken hätten dieses wunderschöne Silberblond«, schwärmte sie. »Stattdessen sind sie langweilig braun.«

»Ich finde es wunderschön. Es passt gut zu deinen grauen Augen.«

»Wahrscheinlich würde ich dem Prinzen mehr auffallen, wenn ich so aussähe wie du.«

Snowflake entgegnete nichts darauf. Die Farbe ihres Haares hatte schon zu oft für Gesprächsstoff gesorgt. Keiner der anderen Einwohner Winters hatte ein solch helles Blond. Sie war die Einzige. Die meisten hatten ohnehin braunes oder schwarzes Haar. Eine Ausnahme zu sein, war nicht unbedingt immer vorteilhaft, denn es trug einem mehr Aufmerksamkeit ein, als einem lieb sein konnte. Besonders in Winter. Als ob Prinzessin zu sein allein nicht reichte.

»Ich denke, eine hübsche Hochsteckfrisur wäre genau das Richtige«, meinte Juna, nahm ein paar Strähnen und hielt sie hoch.

Snowflake zuckte mit den Schultern. »Was immer du sagst. Ich überlasse es ganz dir und deinen fähigen Händen. Was immer du tust, wird besser aussehen als das, was ich zustande bringe.«

Ein Strahlen breitete sich auf Junas Gesicht aus und sie machte sich eifrig an die Arbeit. Snowflake schloss die Augen und ließ das Ganze über sich ergehen. Das fröhliche Geplauder ihrer Freundin rauschte an ihr vorbei, ohne dass sie wirklich zuhörte. Offen gestanden versuchte sie an rein gar nichts zu denken und ihrem Geist eine kleine Verschnaufpause zu gönnen.

Eine gefühlte Ewigkeit später war Juna mit ihrem Werk fertig. Sie hatte Snowflake nicht nur frisiert, sondern auch geschminkt. Mittels Magie hatte Juna Diamantenstaub herbeigezaubert und auf ihren Augenlidern und ihrem Dekolleté verteilt, sodass es glitzerte und schimmerte. Als Snowflake die Augen öffnete und sich im Spiegel betrachtete, erkannte sie sich selbst fast nicht wieder. Sie sah schön aus, auch ein wenig fremd und tatsächlich wie eine Prinzessin. Ihr Haar glänzte und war zu einer aufwendigen, aber nicht protzigen Frisur hochgesteckt und mit glitzernden Schneeflocken geschmückt. Ihre blauen Augen strahlten.

»Wie findest du es?«, fragte Juna mit hoffnungsvoller Stimme.

»Es ist wunderschön«, sagte Snowflake ehrlich und blickte noch einmal auf die ihr fremde Person im Spiegel. »Besser, als ich es mir hätte träumen lassen.«

Juna lächelte und ihre Wangen röteten sich leicht. »Dann werde ich dir mal in dein Kleid helfen, denn es ist schon bald an der Zeit hinunterzugehen. Bei allen Schneeflocken, du wirst die Schönste auf dem Winterfest sein. Keiner der Anwesenden wird seinen Blick von dir abwenden können.«

Snowflake verzog das Gesicht. »Ich lege keinen besonderen Wert darauf, irgendjemandem zu gefallen. Am allerwenigsten einem Mann und noch weniger einem Prinzen«, murmelte sie, woraufhin Juna ihr einen missbilligenden Blick zuwarf, da sie die Worte verstanden hatte, so leise sie auch aus ihrem Mund gekommen waren.

»Du solltest den edlen Herren wirklich eine Chance geben«, tadelte Juna. »Wer weiß, vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie du denkst. Irgendwann wirst du heiraten müssen.«

Snowflake schnaubte wenig prinzessinnenhaft. »Das glaube ich kaum. Nun gut, vielleicht irgendwann. Wenn der Richtige kommt. Derjenige, den mein Herz als den Einzigen erkennt.«

Statt etwas darauf zu erwidern, nahm Juna ehrfurchtsvoll Snowflakes Kleid vom Bett, auf dem sie es abgelegt hatte, und hielt es hoch, damit die Prinzessin es betrachten konnte.

»Ist es nicht atemberaubend?«, fragte Juna schwärmerisch. »Ich glaube, ich habe noch niemals zuvor ein schöneres Ballkleid gesehen.«

Das war es in der Tat. Es war aus mehreren Schichten feinster eisblauer Seide gefertigt. Der Saum des langen Rockes und das Mieder waren mit Schneeflocken aus Silberfäden filigran bestickt. Die Schneiderin und ihre Gehilfinnen hatten sich wirklich selbst übertroffen.

Vorsichtig half Juna ihr in das Kleid und begann die Haken des Mieders am Rücken zu schließen.

»Fertig«, verkündete die Zofe kurze Zeit später und trat zwei Schritte zurück, um ihre Freundin zu betrachten. »Du bist wirklich bezaubernd. Ganz sicher wirst du die Schönste auf dem ganzen Ball sein.«

Sie zog Snowflake zum Spiegel hinüber, der in ihrem Zimmer stand und einst der Königin, ihrer Mutter, gehört hatte.

Als Snowflake sich darin betrachtete, überkam sie ein merkwürdiges Gefühl. Es war, als wäre das Abbild dort nicht sie. Jene junge Frau war eine Prinzessin. Genau, was man von ihr zu sein erwartete. Das Blau ihrer Augen strahlte mehr als sonst und wirkte klar wie Eis im Sonnenlicht. Sie kam sich fremd vor. Erwachsener. Wichtiger. Bedeutender. Und sie wusste nicht, ob es ihr gefiel oder nicht. Dennoch fand sie sich hübsch. Juna hatte ein Wunder vollbracht, so viel stand eindeutig fest.

Snowflake atmete tief durch und straffte die Schultern. »Ich sollte dann wohl hinuntergehen«, meinte sie zögerlich.

»Ja, das solltest du«, sagte Juna und lächelte sie aufmunternd an.

Doch Snowflake bewegte sich nicht von der Stelle. Noch nie war sie vor einem Winterfest nervös gewesen. Voller Vorfreude, das schon. Aber dieses Mal war etwas anders, und sie konnte nicht wirklich sagen, was es war, das sie verunsicherte und zögern ließ. Womöglich spielte es eine Rolle, dass ihre Patin mit dem Gedanken liebäugelte, sie zu verheiraten, und im Festsaal der entsprechende Kandidat wartete, den die Regentin für sie ausgewählt hatte. Doch so einfach würde sich Snowflake nicht verschachern lassen. Schon als kleines Mädchen hatte sie entschieden, nur einen Mann zu heiraten, den sie liebte. Prinz Ayris war ganz sicher nicht derjenige – der Eine. Er war jemand, den sie nicht leiden konnte, was so ziemlich die schlechteste Voraussetzung für eine Ehe war, die man sich denken konnte. Nein, sie glaubte ganz und gar nicht, dass sie sich in ihm täuschte. Er war genau so, wie er sich in der Öffentlichkeit darstellte. Ein Leben mit ihm konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Es wäre für sie beide die Hölle.

»Nun geh schon«, drängte Juna aufmunternd. »Das Volk von Winter will seine Prinzessin sehen. Du wirst die Attraktion des heutigen Abends sein. Also auf ins Getümmel.«

»Kommst du nicht mit?«, fragte Snowflake.

»Doch, ich werde gleich nachkommen. Ich ziehe mich nur kurz um und gehe dann hinunter in die Festhalle. Wir sehen uns dort«, versicherte sie.

»Soll ich auf dich warten?«

Juna stemmte die Hände in die Hüften. »Snowflake Winter, fürchtest du dich etwa, deinem Volk gegenüberzutreten?«, wollte sie mit gespieltem Ernst wissen.

»Ich bin nervös«, gab sie zu. »Ich habe mich noch nie so gefühlt.«

»Ich habe dich auch noch nie so erwachsen und königlich erlebt.« Juna nahm Snowflakes Hand in ihre. »Ich bin mir sicher, du wirst eines Tages eine wundervolle Königin sein. Du hast ein gutes Herz. Und Winter liebt dich. Es gibt nichts, weshalb du nervös sein oder wovor du dich fürchten müsstest. Jetzt geh schon.«

Snowflake umarmte Juna kurz und flüsterte ihr ein »Danke« zu.

Ihre Freundin drückte sie noch einmal und schob sie schließlich von sich. Sie gab Snowflake noch einen Seidenschal in derselben Farbe wie das Kleid, den sich diese um die Schultern drapierte, und schob sie dann sanft, aber energisch aus dem Zimmer, damit sie sich auf den Weg zum Festsaal machte.

***

Snowflake verharrte einen Moment auf der obersten Stufe und schritt dann langsam die große Treppe hinunter, um zur Festhalle zu gelangen, die im Erdgeschoss der Burg lag. Sie hob leicht den Rock ihres Kleides an, um ja nicht auf den Saum zu treten und womöglich die steinernen Stufen hinunterzufallen.

Snowflake ließ ihren angehaltenen Atem entweichen, als sie heil am Fuß der Treppe ankam. Rasch ließ sie den Rock los und strich ihn glatt. Nicht dass es etwas zu glätten gegeben hätte, aber es half ihr, die Nervosität ein wenig zu überspielen und sich selbst einen Augenblick zu geben, um noch einmal tief durchzuatmen.

Aus dem Saal klang fröhliche Musik zu ihr heraus. Offensichtlich hatte die Feier bereits begonnen. Es gab keine vorgegebenen Abläufe beim Winterfest. Das Fest begann am frühen Abend, sobald die Sonne vollständig untergegangen war, was in Winter früh war, und ab da wurde gefeiert. Essen nahm sich jeder, wann er wollte und Hunger verspürte. Die Speisen wurden auf langen Tischen angerichtet und immer wieder nachgefüllt, sobald etwas leer war. In anderen Reichen galt es als verpönt, Essen auf diese Weise zu servieren, doch darum scherte man sich in Winter nicht. Anderswo wurde erst an langen Tafeln gespeist, bevor die Feierlichkeiten mit Tanz und Musik begannen. Nicht nur aus diesem Grund galt Winter als ein wenig fremd und andersartig bei den Menschen der übrigen Königreiche. Doch das störte hier niemanden.

Zögernd stieß Snowflake die Tür zum Saal auf und trat ein. Ein zauberhafter Anblick bot sich ihr. Alles war überaus festlich geschmückt. Es war genau so, wie sie es sich gewünscht und vorgestellt hatte. Wunderschön. Jemand hatte sogar mit einem kleinen Zauber dafür gesorgt, dass echter Schnee auf den geschmückten Tannenbäumen lag. Die Luft war erfüllt von herrlichen Gerüchen. Nelken, Zimt, Anis, dem Harzduft der Bäume und noch mehr. Es war betörend und gehörte so sehr zu Winter wie das knisternde, wärmende Feuer in einem Kamin, das am Morgen entzündet wurde.

Langsam schritt sie voran, um zu ihrer Patin zu gelangen, die gemeinsam mit Prinz Ayris am anderen Ende des Saales stand. Nur gelegentlich wechselten die beiden ein paar Worte miteinander, schienen aber kein wirkliches Gespräch zu führen. Regentin Theodoras Haltung drückte Missfallen aus. Wahrscheinlich hatte Prinz Ayris unüberlegt etwas gesagt und damit Snowflakes Patin verärgert, denn die Lippen der Regentin waren zu einem schmalen, missbilligenden Strich zusammengepresst. Gut, wenn auch sie ihn nicht leiden konnte, dachte sie mit Genugtuung.

Als Snowflake durch den Saal schritt, hielten die Gäste inne und wichen respektvoll zurück, wobei sie ihre Prinzessin bewundernd anblickten. Sie tuschelten aufgeregt miteinander. Hier und da glaubte sie Bewunderung herauszuhören und spürte, wie sie vor Verlegenheit errötete.

Snowflake blieb vor ihrer Patin und Prinz Ayris stehen und machte einen Knicks mit aller Grazie, die sie aufbringen konnte, und so würdevoll, wie es ihr möglich war. Erleichtert richtete sie sich auf, weil sie sich nicht blamiert hatte, wie sie es zu früheren Anlässen das eine oder andere Mal getan hatte, wenn sie beispielsweise beim Knicksen das Gleichgewicht verlor und beinahe auf ihren Hintern plumpste oder versehentlich beim Essen ein Glas Wein umstieß. Die Regentin lächelte sie an und nickte ihr wohlwollend zu. Offensichtlich fand sie Gefallen an der Erscheinung und dem Auftreten ihres Patenkindes. Vielleicht war es aber auch die Erleichterung über das Ausbleiben irgendwelcher Katastrophen, von denen Snowflake in ihrem Leben schon genug verursacht hatte.

Prinz Ayris dagegen musterte sie abschätzend, mit mehr Überheblichkeit in seinem Blick, als ihm gut zu Gesicht stand. Gelangweilt hob er eine Augenbraue und presste missbilligend die Lippen aufeinander. Anscheinend hielt er sie nicht für würdig genug, um ihm ebenbürtig zu sein. Und für zu unbedeutend, um sie zu begrüßen, wie die Höflichkeit es verlangte.

Aufgeblasener Fatzke, dachte Snowflake, hütete sich aber davor, es laut auszusprechen, obwohl ihr die Worte geradezu auf der Zunge brannten. Beruhigend war, dass ihrer Patin sein Benehmen augenscheinlich ebenfalls missfiel. Das erhöhte die Chance für Snowflake, diesen entsetzlichen Angeber niemals heiraten zu müssen. Zumindest hoffte sie, ihre Patin möge ein Einsehen haben und ihr dieses Schicksal ersparen. Sie konnte nicht verstehen, was Juna an ihm fand. Ihre Freundin sah wohl etwas in dem Prinzen, was sie selbst bei aller Bemühung nicht erkennen konnte.

Snowflake stellte sich auf die andere Seite neben ihre Patin. Die Regentin gab ein Zeichen und alle Anwesenden widmeten sich wieder dem Feiern.

»Du siehst wirklich hübsch aus«, sagte Theodora und tätschelte ihr den Arm.

»Danke. Juna hat mir geholfen, mich zurechtzumachen. Ich freue mich, dass du sie zu mir geschickt hast«, erwiderte sie. »Ohne ihre Hilfe hätte ich es nicht geschafft. Sie hat ein wahres Wunder vollbracht. Ich habe mich noch nie so sehr wie eine Prinzessin gefühlt.«

»Nun, sie hat wirklich ein Händchen für so etwas. Ich brächte nicht die Geduld auf, Haare auf eine so kunstvolle Weise in eine ansehnliche Form zu bringen.« Ihre Patin lächelte.

Snowflake warf einen kurzen Blick an ihr vorbei auf Prinz Ayris, der gelangweilt dastand und die Gäste beobachtete. Einen Moment später schlenderte er ohne einen Gruß davon und gesellte sich zu einer Gruppe junger Mädchen, die ihn kichernd umringten.

»Keine Sorge«, flüsterte die Regentin ihr zu, »ich kann ihn nicht ausstehen. Er ist den Ärger nicht wert. Wir werden einen anderen Weg finden, um unsere Handelsbeziehungen mit Sommer zu festigen.«

Überrascht blickte Snowflake ihre Patin an.

»Juna hat mir gebeichtet, dass sie dir von meinen zugegebenermaßen übereilten Plänen erzählt hat«, erklärte sie augenzwinkernd.

Beruhigt atmete Snowflake tief durch und ein Stein fiel ihr bei den Worten ihrer Patin vom Herzen.

»Es tut mir leid, ich sollte nicht so offensichtlich darüber erleichtert sein.«

»Nein, das solltest du nicht. Schließlich kommt er aus einem Königshaus und wäre eine wirklich gute Partie«, tadelte Theodora sie gutmütig.

Snowflake gab ein Schnauben von sich, was ihr einen mahnenden Blick der Regentin eintrug. »Er ist ein solch aufgeblasener Gockel.«

»Dennoch wirst du wohl oder übel mit ihm tanzen müssen, wenn auch nur aus reiner Höflichkeit unserem Gast gegenüber.«

»Das bekomme ich hin, wenn es denn sein muss«, sagte sie und hatte es schon befürchtet. Doch da eine mögliche Heirat mit dem Prinzen aus Sommer vom Tisch war, würde sie es einfach hinter sich bringen und hoffen, ihr gemeinsamer Tanz würde der letzte für eine wirklich lange Zeit sein. Am besten für immer. Sollte sie einen verstauchten Knöchel vortäuschen? Nein, das wäre nicht klug und außerdem reichlich kindisch. Schließlich hatte jeder gesehen, dass sie auf zwei gesunden Füßen in den Ballsaal gekommen war. Snowflake warf einen Blick hinüber zu Juna, die auf der anderen Seite der Tanzfläche stand und verträumt zu Ayris hinüberschaute. Es tat ihr leid, ihre Freundin so sehnsuchtsvoll zu erleben. Sie musste etwas für Juna tun. Irgendwie würde sie schon einen Weg finden. Wenn nicht jetzt, dann eben zu einem späteren Zeitpunkt.

Winter

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