Читать книгу Marokko fotografieren - Karen Meyer-Rebentisch - Страница 16
ОглавлениеAlltag in Marokko
In diesem Kapitel möchten wir Ihnen den marokkanischen Alltag nahebringen. Dabei gilt es, zu bedenken, dass die marokkanische Gesellschaft weitaus heterogener ist als in mitteleuropäischen Ländern und die Lebenssituation eines Menschen in Marokko sehr stark dadurch geprägt wird, welches Geschlecht die Person hat, ob sie in der Stadt oder auf dem Land lebt wird, welche Bildung und Erziehung sie erfahren hat, welcher Tätigkeit sie nachgeht und wie das Einkommen ist. Prägend sind ebenfalls die familiäre Einbindung und die persönliche Einstellung zur Religion.
Sofort erkennbar ist auch, dass viel »draußen« gelebt wird, was sowohl mit dem Klima als auch mit der überwiegend schlechten bis katastrophalen und beengten Wohnsituation zu tun hat. Im öffentlichen Leben, wie z. B. in Straßencafés, in Geschäften, aber auch in der Politik sind die Männer viel präsenter als die Frauen. Dies hat sowohl mit der Tradition als auch mit der Religion zu tun, die den Frauen eher den Innenbereich des Hauses zuweisen. Aber auch in dieser Hinsicht ist in Marokko mittlerweile vieles im Fluss.
BEVÖLKERUNG
Zunächst fällt Besuchern schnell auf, dass die Bevölkerung jung erscheint. Während der Altersdurchschnitt in Deutschland 42 Jahre beträgt, liegt er in Marokko bei 29 Jahren. Aber auch dort altert die Gesellschaft aufgrund des geringen Bevölkerungswachstums. Die durchschnittliche Kinderzahl liegt nur noch bei ca. 2,1 je Frau und wegen massiver Landflucht lebt heute die große Mehrheit der Menschen in urbanen Zentren, wo das Jobangebot besser ist.
Straßensituation in Marrakesch.
40 mm · ISO 100 · Blende 9 · 1/400 s
Im Süden: Die Freunde teilen sich gutgelaunt ein Fahrrad. Mitzieher bei 60 mm · ISO 100 · Blende 8 · 1/200 s
Die Bevölkerung setzt sich aus Berbern, arabisierten Berbern und Arabern zusammen. Dabei ist der genaue Anteil der berberischen Marokkaner unklar, geschätzt sind es 60–75 % der Bevölkerung. Als reine Araber bezeichnen sich ungefähr 25–30 %. Die Kultur der Berber ist viele tausend Jahre alt. Sie waren traditionell in Stämmen organisiert, die auch matriarchalisch angeführt wurden. Doch haben Kolonialismus und Arabisierung den Berbern sehr zugesetzt. Ihre Kultur und ihre Sprache wurden an den Rand gedrängt. Auch nach der Unabhängigkeit versuchte der neue marokkanische Staat, ethnische Unterschiede zu Ungunsten der berberischen Bevölkerung auszumerzen. Es entwickelte sich jedoch Widerstand und seitdem König Mohammed VI. den Thron einnahm, geht es mit der Integration und Wertschätzung der Berberkultur bergauf. 2011 wurden in der neuen Verfassung die Rechte der Berber festgeschrieben. So gibt es heute drei offizielle Berbersprachen in Marokko, zudem wurde mit Tifinagh eine eigene Schrift anerkannt, die man nun immer öfter auf Schildern sehen kann. Im Idealfall befruchten und ergänzen sich heute die berberische und arabische Kultur, was den kulturellen Reichtum Marokkos ausmacht.
FAMILIE, GEMEINSCHAFT UND KOMMUNIKATION
Durch den Islam ist der Gemeinschaftssinn sehr ausgeprägt. Individualismus nimmt weniger Raum ein als bei uns und ist – wenn überhaupt – den Reichen, die oft eine europäische Erziehung genossen haben, vorbehalten. Das Wohlergehen der Familie steht über allem und wird bei Begrüßungen als erstes abgefragt. Ein sehr freundschaftlicher, gleichgeschlechtlicher Umgang ist vor allem auf dem Land üblich, Körperkontakt wird nicht gescheut. Gerne wird geteilt: Man isst gemeinsam mit der Hand aus einer Tajine; Obst, Süßes oder andere Leckereien werden selbstverständlich angeboten. Die Gastfreundschaft – auch gegenüber Fremden – ist heilig. Sie werden in vielen Situationen einen Tee gereicht bekommen: Vielleicht wenn Sie in Ihrer Unterkunft ankommen oder wenn Sie eine Besichtigung machen oder sich für die Waren eines Händlers interessieren. Natürlich ist eine Einladung zum Tee bei einem Teppichhändler auch mit dem Hintergedanken verbunden, einen Kauf zu forcieren, schafft aber eine sehr freundliche Atmosphäre.
Generell ist den Marokkanern die Kommunikation von Mensch zu Mensch sehr wichtig, auch wenn man die Sprache nicht beherrscht. Sie werden viele angenehme Erinnerungen mit nach Hause nehmen, wenn Sie sich dafür öffnen: Ein Bonjour oder Salaam, eine kleine Wertschätzung, ein Lob, ein Lächeln, die rechte Hand, die auf das Herz geführt wird – diese Gesten entscheiden letztendlich über den Erfolg einer Reise nach Marokko.
Landmarkt in dem südmarokkanischen Dorf Tamezmoute.
53 mm · ISO 100 · Blende 8 · 1/80 s
FRAUEN
Mit der neuen Verfassung von 2011 wurde den Frauen die Gleichberechtigung garantiert, bei der Gestaltung des täglichen Lebens und in der Gerichtsbarkeit wird sie jedoch sehr häufig noch nicht umgesetzt. Erreicht wurde aber unter anderem, dass sich Frauen scheiden lassen können. In Ausnahmesituationen besteht sogar das Recht auf legale Abtreibung.
Ca. 20 % Frauen sitzen als Abgeordnete im Parlament. Vier einflussreiche Frauenverbände mit vielen Untergruppen kämpfen aber weiterhin um die Lösung dringender Probleme. So liegt z. B. die Alphabetisierungsquote der Frauen nur bei 62 %. Schwierig ist es für marokkanische Frauen auch, wenn sie uneheliche Kinder haben. Denn dann werden sie manchmal von ihren Familien verstoßen, gesellschaftlich geächtet und die Kinder oft nicht im Geburtsregister aufgenommen. Häusliche Gewalt wird häufig nicht sanktioniert und das Problem der Hochzeit minderjähriger Mädchen besteht weiterhin. Besonders schwierig ist die Situation für Frauen, die auf dem Land leben. In den Städten sind die Bildungsmöglichkeiten viel besser und die Frauen deshalb selbstbewusster. Immerhin studieren schon fast genauso viele Frauen wie Männer an marokkanischen Universitäten.
SOZIALE SITUATION
Die soziale Lage ist alles andere als rosig: Bei einer Arbeitslosigkeit von offiziell 10 % ist die Jugendarbeitslosigkeit mindestens doppelt so hoch. Der gesetzliche Mindestlohn liegt bei knapp 235 Euro im Monat. Viele werden trotzdem schlechter bezahlt. Manche Menschen halten sich mit prekären Jobs über Wasser: Sie verdingen sich als Schlepper für die Gastronomie, bieten als Schuhputzer ihre Dienst an, verkaufen Taschentücher oder andere Waren per Bauchladen, arbeiten als nichtlizensierte Fremdenführer, aber auch als Musiker oder Gaukler. All diese Überlebensstrategien sind nötig, denn es gibt keine staatliche Unterstützung. Daher sollte auch diesen Menschen mit Respekt begegnet werden!
Auch mit einem improvisierten Saftladen kann man Geld verdienen.
135 mm · ISO 200 · Blende 9 · 1/400 s
Die meisten Menschen haben gerade genug Geld zum Überleben, aber Zahnarztbehandlungen, Krankenhausaufenthalte oder teure Medikamente können nicht bezahlt werden, da die staatliche Krankenversicherung nur wenige Leistungen übernimmt. Erschreckend aus unserer Sicht ist auch, dass nur staatlich Angestellte, Militärs und Mitarbeiter großer Unternehmen rentenversichert sind. Deshalb begegnet man oft auf der Straße Menschen, die um milde Gaben bitten müssen, um zu überleben. Die Ärmsten der Armen sind ältere und kranke Menschen sowie alleinerziehende Frauen mit ihren kleinen Kindern.
ALMOSEN
Da es eine der fünf Regeln im Islam ist, den Armen zu spenden, werden diese Personen zwar irgendwie überleben, aber eben auf eine miserable Weise. Deshalb möchten wir Sie ausdrücklich ermuntern, auch immer wieder mal etwas Kleingeld zu geben (2–5 MAD). Kinder sollten jedoch kein Geld bekommen, da die Gefahr besteht, soziale Strukturen zu zerstören und es zu fördern, dass die Kinder lieber Betteln gehen als die Schule zu besuchen.
Schnappschuss: Vermutlich die letzte Ausfahrt der Ziege …
60 mm · ISO 100 · Blende 5 · 1/80 s
INFO
Landesgröße: 446.550 km2, Westsahara 266.000 km2
Einwohner: 36,2 Mio.
Kindersterblichkeit: 35/1000 (10 mal so hoch wie in Deutschland)
Bevölkerungswachstum: 0,96 %, Deutschland 0,4 %
Lebenserwartung: 75,3 Jahre (Frauen: 77,3 Männer: 74,3 Jahre)
Alphabetisierung (ab 15 Jahren): Bevölkerung insgesamt 73,8 %, Männer: 83,3 %, Frauen: 64,6 %
Religion: Muslime 99 % davon über 90 % Sunniten, unter 1 % Christen, 3.000–5.000 Juden
Wohnsitz: Land 35 %, Stadt 65 % (davon über 50 % im Großraum Casablanca, Rabat-Sale, Fes, Marrakesch, Tanger, Oujda – somit leben 65 % der Bevölkerung auf 10 % der Landesfläche)
Sprache: 90 % sprechen Arabisch, es gibt drei Berbersprachen mit eigenem Alphabet. Französisch ist die Handels-, Bildungs- und häufig die Arbeitssprache, im Norden und in der Westsahara wird neben Arabisch eher Spanisch gesprochen.
Bildung: 9 Jahre Schulpflicht, davon 6 Jahre Grundschule
Bevölkerung unter der Armutsgrenze: 15 %
Arbeitskraft: Landwirtschaft 39 %, Industrie 20 %, Dienstleistungen 40 %, 12 Mio. Menschen insg.
Anteil am BIP: Dienstleistungen 46 %, Industrie 30 %, Landwirtschaft 13 %, Tourismus 10 %
Wichtigste Industrien: Kraftfahrzeugbau und Luftfahrtindustrie, Kunststoff- und Metallverarbeitung, Montage von Elektrogeräten, chemische Industrie, Zement- und Ölindustrie, Bauwesen, Phosphatgewinnung, Lebensmittel- und Textilindustrie, Fischerei und Pulindustrie (Garnelen), traditionelles Handwerk, Tourismus
Landwirtschaftliche Produkte: Getreide, Hülsenfrüchte, Zuckerrüben, Datteln, Sonnenblumen, Erdnüsse, Oliven, Orangen, Baumwolle, Wein, Mandeln, Aprikosen, Erdbeeren, Kartoffeln, Spargel, Artischocken, Tabak, Viehzucht, Kork, Cannabis
Tourismus: 2019 gab es 13 Mio. Touristen.
Autowerkstatt im Hohen Atlas bei M’Semrir
Am Rande von Tetouans Altstadt. Um die abendliche Alltagsstimmung einzufangen, musste ich eine hohe ISO-Zahl einstellen.
60 mm · ISO 3200 · Blende 6,3 · 1/50 s