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DER ERSTE HUND

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EINIGE MEINER VERWANDTEN BLIEBEN IN SPANIEN und Südwestfrankreich. Andere aus der mütterlichen Abstammungslinie zogen weiter nach Süden, über Gibraltar nach Afrika: an die Küsten, in die Berge der Kabylei und bis in den Senegal. Dort trifft man noch heute auf ihre Nachkommen. Das wissen wir dank des Vorkommens von Mitochondrien der Haplogruppe U5b1 in diesen Gegenden. Sie sind zwar selten, aber es gibt sie.

Wieder andere wanderten stattdessen nordwärts, nachdem die strengste Kälte vorbei war. Sie folgten den Rentieren, die ihre wichtigste Jagdbeute waren.

Einige zogen entlang des Flusses, den wir heute Rhein nennen, geradewegs nach Norden.

Vor ungefähr 14 700 Jahren wurde das Klima in Nordeuropa deutlich milder. Bäume wie Birken, Weiden und Espen eroberten die Steppe. In Laubwäldern dieser Art fühlen sich Rentiere nicht wohl, denn dort gibt es für sie im Winter nichts zu fressen. Meine Verwandten im Rheintal waren daher gezwungen, sie rasch durch andere Beutetiere wie Elche, Hirsche und Biber zu ersetzen, was für sie eine große Umstellung bedeutete.

Zwei meiner Verwandten starben in Höhe der heutigen Stadt Bonn: ein fünfzigjähriger Mann und eine Frau um die Zwanzig. Ihre Begleiter hoben ein Grab aus, betteten sie dicht nebeneinander hinein und bestreuten sie reichlich mit rotem Farbpulver. Als Grabbeigaben schenkten sie den Toten eine feine Haarnadel aus Knochen, ein verziertes Stück Hirschgeweih und einen rot angemalten Hirschzahn.

Außerdem wurde ihnen ein Hund auf den Weg in das Totenreich mitgegeben. Das war sicherlich ein großes Opfer, das größte, das man bringen konnte.

Die Grabfunde mit Namen Bonn-Oberkassel sind um die 14 500 Jahre alt und stammen somit aus einer Zeit direkt nach dem Ende der Eiszeitkultur des Magdalénien. Analysen der mitochondrialen DNA der beiden Personen ergaben, dass sie in mütterlicher Linie der Gruppe U5b1 angehörten.

Das ist die Gruppe, zu der auch ich gehöre. Wir hatten also vor mehreren Jahrtausenden eine gemeinsame Vorfahrin. Sie waren Kinder und Enkel von „Ursula“, genau wie ich.

Das Interessanteste an Bonn-Oberkassel ist allerdings nicht die Tatsache, dass entfernte Verwandte von mir dort begraben wurden. Der wichtigste Fund ist der Hundeschädel.

Es ist der älteste Fund eines Hundes, über den bei allen Forschern Einigkeit herrscht. Der Schädel erfüllt alle Anforderungen an einen frühen Hund. Das Aussehen stimmt, die Zeit stimmt, der Ort stimmt und die DNA des Hundes stimmt ebenfalls.


Die Frage, wann der Wolf zum Hund wurde, war viele Jahrzehnte lang Gegenstand hitziger Debatten. Es geht dabei auch um viel Prestige. Der Hund war unser erstes Haustier und wird bis heute der „beste Freund des Menschen“ genannt.

Anfangs versuchten Archäologen Hund und Wolf nur nach dem Aussehen ihrer fossilen Knochen zu unterscheiden. Dabei gingen sie in erster Linie davon aus, dass Hunde, die viele Generationen lang in der Obhut des Menschen gelebt hatten, kleiner und zierlicher geworden sein und anders aussehen müssten als Wölfe.

Auf Grundlage dieser Definition lassen sich viele Hunde-Kandidaten ausmachen, deren älteste ungefähr 30.000 Jahre alt sind. Fossile Funde gibt es aus Russland, der Ukraine, Tschechien, der Schweiz und Belgien. Einige der angeblichen frühen Hunde stammen von dem Grabungsplatz Dolní Veˇstonice in Tschechien, wie ich im Kapitel „Die Mammuts in Brünn“ erwähnt habe.

Während der letzten zwanzig Jahre haben sich Genforscher in die Debatte eingeschaltet und sich dabei auf mehr oder weniger umfassende DNA-Analysen und mehr oder weniger ausgereifte Berechnungsmethoden gestützt. Ihre Resultate wiesen in verschiedene Richtungen. Sie sind sich bis heute nicht einig, um es vorsichtig auszudrücken. Den gegenwärtigen Kenntnisstand könnte man folgendermaßen zusammenfassen:

Die Vorgänger der heutigen Hunde scheinen vor mindestens 15.000 Jahren gezähmt worden zu sein, vielleicht sogar schon viel früher. Wahrscheinlich wurde der erste Hund irgendwo in Europa oder Sibirien geboren, doch auch China kann als Geburtsort nicht ausgeschlossen werden.

Natürlich ist es möglich, dass Menschen bereits früher versucht haben, Wölfe zu zähmen. Im Altaigebirge in Sibirien und der Goyet-Höhle in Belgien wurden 30.000 Jahre alte Fossilien gefunden, die hundeähnlich aussehen und durchaus Belege für derartige Zähmungsversuche sein könnten. Dennoch scheint es sich hier nicht um den Ursprung der heutigen Hunde zu handeln, sondern eher um genetische Sackgassen.

Alle heute lebenden Hunde, auch Basenjis in Afrika, verwilderte Dingos in Australien, blauäugige sibirische Huskies, wohlfrisierte Zwergpudel und verspielte Labradore, scheinen auf eine kleine Gruppe von Wölfen in Europa oder Asien zurückzugehen. Diese Wölfe sind wahrscheinlich schon vor langer Zeit ausgestorben, was die Ermittlung des Verwandtschaftsgrades erschwert. In Vergleichen von Zehntausende Jahre alter DNA fossiler Wölfe mit fossilen und heute lebenden Hunden tritt das Muster deutlicher hervor.

Dass zahme Hunde sich gelegentlich mit Wölfen gepaart haben, stellt für die Forscher ein Problem dar. Das wird zum Beispiel in der DNA von Jagdhunden in Skandinavien und halbwilden Hunden in China sichtbar. Solche Kreuzungen machen das Bild unscharf.

Doch das Grundmuster bleibt: Als wir aus Afrika auswanderten, wurden wir nicht von Hunden begleitet. Wölfen begegneten wir erst in Europa und Asien. Irgendwann während der Eiszeit zähmten wir sie, als wir noch als Jäger und Sammler lebten und noch bevor einige von uns über Beringia nach Amerika zogen.

Die Frage ist nur, warum. Welchen Nutzen hatte der Hund für uns?


Im Laufe der Jahre habe ich annähernd ein Dutzend der führenden Hundeforscher der Welt interviewt – und dabei fast genauso viele verschiedene Erklärungen dafür erhalten, warum Hund und Mensch begannen, zusammenzuleben.

Viele Wissenschaftler sind der Ansicht, dass es gar nicht der Mensch war, der den Hund zähmte, jedenfalls nicht zu Anfang. Der Hund zähmte stattdessen uns.

Wölfe wurden von den Eiszeitmenschen wegen ihres Pelzes gejagt und müssen sie als Bedrohung wahrgenommen haben. Sie profitierten aber auch von den Menschen, da die große Mengen an Futter zurückließen: Reste von Jagdbeute, die sie nicht selbst verwerten konnten. Diese Reste deponierten sie am Rande ihrer Lager, weil sie schlecht rochen und Raubtiere anzogen.

Nachts, wenn die Menschen sich um die Feuer versammelten oder schliefen, schlichen die Wölfe zu den Essensresten. Ab und zu, vor allem in der Dämmerung, konnte es geschehen, dass Mensch und Wolf einander begegneten. Das endete häufig mit dem Tod des Wolfs. Doch manchmal war der Wolf ganz einfach zu niedlich. Vielleicht war es ein kleiner Welpe, ein übermütiges und zutrauliches Jungtier, das kein Mensch, der ein Herz hatte, töten konnte. Dann durfte das Wolfsjunge mit am Feuer sitzen. Und mit den Kindern spielen. Jeder, der schon einmal ein kleines Kind und einen Welpen miteinander hat spielen sehen, versteht, was ich meine.

Die Jahrtausende vergingen und diejenigen Wölfe, denen es gelang, ihre Aggressivität zu beherrschen und die Zuneigung der Menschen zu gewinnen, hatten eine Nische gefunden, die ihnen das Überlebten ermöglichte. In der Biologie heißt das Selektion: Eigenschaften, die der Mensch schätzte, hatten größere Chancen, an die nächste Generation weitergegeben zu werden.

Mehrere Forscher haben untersucht, in welchen Genen sich Hunde und Wölfe voneinander unterscheiden. Die meisten dieser Unterschiede betreffen das Gehirn. Der amerikanische Hundeforscher Robert Wayle hat zum Beispiel eine besondere Genveränderung entdeckt, die bei allen Hunden aufzutreten scheint, jedoch nicht bei Wölfen. Eine ähnliche Veränderung kommt bei Menschen vor, die an dem angeborenen William-Beuren-Syndrom leiden und darum leicht geistig behindert sind. Am charakteristischsten für Menschen mit William-Beuren-Syndrom ist jedoch ihr freundliches, extrovertiertes und zutrauliches Wesen.

Hunde und Wölfe unterscheiden sich vor allem darin, dass Hunde im Allgemeinen kindlicher wirken, sowohl äußerlich als auch in ihrem Wesen. Sie ähneln Wolfsjungen mehr als erwachsenen Wölfen: Sie sind eher verspielt und ausgelassen als ernst und wild. Oft besitzen Hunde außerdem eine stumpfere Nase und kürzere Beine als erwachsene Wölfe, genau wie Wolfsjunge.

Sie haben darüber hinaus die außergewöhnliche Fähigkeit, die Gedanken der Menschen zu lesen. Viele Experimente haben gezeigt, dass Hunde verstehen können, was wir von ihnen möchten. Sie können unseren Blicken folgen und dahin schauen, wohin wir zeigen. Andere Tiere, wie Schimpansen, Wölfe und Katzen, sind in vieler Hinsicht genauso intelligent, doch in der Interpretation menschlichen Verhaltens sind sie Hunden hoffnungslos unterlegen.

In den bitterkalten Nächten der Eiszeit könnten Menschen ihre ersten Hunde als Wärmedecken benutzt haben. Der Archäologe Lars Larsson erzählt mir, dass die australischen Aborigines noch heute von „Einhundnächten“, „Zweihundenächten“ und „Dreihundenächten“ sprechen, deren kälteste die „Dreihundenacht“ ist.

Andere Wissenschaftler vermuten, dass der Mensch zuerst die Funktion der Wölfe als Wachhunde entdeckte. Sie lagen am Rande des Lagers und schlugen sich die Bäuche mit Fleischresten voll. Allmählich gingen sie dazu über, auch dort zu übernachten. Wölfe und Hunde haben einen viel leichteren Schlaf als Menschen. Wenn ein anderes, gefährlicheres Raubtier, zum Beispiel ein Löwe, sich näherte, heulten sie lauthals, worauf die Menschen erwachten und sich verteidigen konnten.

Den Menschen bei der Jagd zu helfen, gehörte sicherlich auch schon früh zu den Aufgaben der Hunde. Im Rudel zu jagen ist ein Teil des ererbten wölfischen Verhaltensrepertoires. Viel ist schon darüber geschrieben worden, dass Hunde die Jagd der Menschen effektiver gemacht haben, nicht zuletzt bei eiszeitlichen Jagden auf die ganz großen Tiere wie Mammuts und Wollnashörner. Einigen Theorien zufolge war das Großwild in Europa, Asien und Amerika in dem Moment dem Untergang geweiht, als Mensch und Hund begannen, bei der Jagd zusammenzuarbeiten. Doch herrscht diesbezüglich Uneinigkeit. Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Hunde und Menschen unschuldig sind und dass sowohl die Mammuts als auch die Nashörner ausstarben, weil das Klima sich erwärmte und die Pflanzenwelt sich veränderte.

Der Archäologe, der sich in letzter Zeit am intensivsten mit den fossilen Hunden in Bonn-Oberkassel beschäftigt hat, heißt Martin Street. Er spricht sich dafür aus, dass die in Schweden sogenannte „Jagd mit stellendem Hund“ eine der ersten wichtigen Aufgaben der Hunde war. Diese Form der Jagd wird auch heute noch vielerorts ausgeübt, nicht zuletzt in den schwedischen Wäldern. Der Hund läuft dabei auf der Suche nach dem Wild selbstständig durch den Wald, während der Jäger nach Möglichkeit in der Nähe bleibt. Hat der Hund das Wild aufgespürt, verbellt er es, sodass das Tier stehen bleibt und sich ganz auf den lästigen Hund konzentriert. Der Hund hat das Wild „gestellt“. Währenddessen kann der Jäger sich anschleichen und das Tier mit seiner Waffe töten.

Diese Jagdtechnik erlangte Bedeutung, als Wälder in der Tundra heranwuchsen und die Sicht behinderten. Vorher war es einfacher gewesen, sich auf einen erhöhten Punkt zu stellen und nach Beutetieren Ausschau zu halten.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass der erste sicher belegte Hund in Bonn-Oberkassel vor 14 500 Jahren lebte, also genau zu dem Zeitpunkt, als die eiszeitliche Tundra sich bewaldete. Meiner Meinung nach kann das kein reiner Zufall gewesen sein.

Falls wir bereits vorher Hunde gehalten haben sollten, schon während der kältesten Perioden der Eiszeit, dann vermutlich, um mit ihrer Hilfe Dinge zu transportieren. Hunde könnten als Saumtiere Verwendung gefunden haben, um Gepäck zu tragen, oder als Schlittenhunde oder Zughunde für Skiläufer. Sie könnten dazu beigetragen haben, dass wir uns über größere Distanzen fortbewegen und entsprechende Netzwerke unterhalten konnten. Zwar sind keine derart alten Tragegestelle, Schlitten oder Skier gefunden worden, doch wären diese ja aus Holz oder einem anderen organischen Material gefertigt gewesen, das wohl kaum einen Zeitraum von mehreren Zehntausend Jahren überdauert hätte.

Denkbar ist auch, dass es die erste Aufgabe des Hundes war, selbst als Nahrung für den Menschen zu dienen. Zahme Hunde wären dann in harten Zeiten eine sichere Fleischquelle gewesen. Der Forscher, der mir diese Möglichkeit nannte, heißt Peter Savolainen. Er gehört zu den Verfechtern der These, dass die Wiege der Hunde in China stand.

Savolainen arbeitet an der Königlich Technischen Hochschule in Stockholm und war einer der Ersten, die einen groß angelegten Vergleich der mitochondrialen DNA von Hunden unternahmen. Schon 1997 berichtete ich in Dagens Nyheter über diese Studie. Er und seine Mitarbeiter reisten zu Hundeausstellungen und sammelten Haare mehrerer Hundert Hunde, die sie mit denen von Wölfen aus vielen Teilen der Welt verglichen. Die Idee dahinter war, dass Kriminaltechniker die DNA-Profile benutzen könnten, um Aussagen darüber zu treffen, welche Hunderassen ihre DNA an einem Tatort hinterlassen hatten. Doch schon bald ging den Wissenschaftlern auf, dass ihre Arbeit auch dazu beitragen könnte, den Ursprung des Hundes einzukreisen.

Ihre Ergebnisse deuteten darauf hin, dass der Wolf zuerst in Südostasien zum Hund wurde, in einer Gegend, wo die Menschen übrigens heute noch Hundefleisch essen.

Ich bin in Hanoi, Vietnam, gewesen, das in der betreffenden Region liegt, und habe dort eine Straße besucht, in der sich zahlreiche Restaurants aneinanderreihen, die sich auf Hundefleisch spezialisiert haben. Einige Vietnamesen machen sich einen Spaß daraus, Europäer hier hinzuführen und über diese Essgewohnheit zu scherzen, weil sie sich durchaus der Tatsache bewusst sind, dass dies ein absolutes Tabu in unserer Kultur berührt. Der vietnamesische Journalist, der mich in Hanoi begleitete, erzählte, dass er und seine Bekannten genau wie Europäer Familienhunde hielten, zu denen sie eine starke gefühlsmäßige Bindung entwickelten, dass sie aber auch Hundefleisch äßen. Das sind schlicht zwei verschiedene Blickwinkel. Ähnliches zeigen auch die Ausgrabungen aus dem steinzeitlichen Europa. Einige Hunde sind offenbar geschätzte Familienmitglieder gewesen, die mit wertvollen Gaben geehrt wurden. Andere Hundefossilien weisen Kratzspuren von Werkzeug auf – die durchaus ein Hinweis darauf sein könnten, dass Menschen ihr Fleisch gegessen haben. Beide Arten von Funden traf man auch am Hornborgasee in Schweden an, der älteste ist 10.000 Jahre alt.

Peter Savolainens frühe Schlussfolgerung, dass die Wiege des Hundes in Südostasien stand, ist heute stark umstritten, nicht zuletzt seit andere Forscher DNA von sehr alten fossilen Hunden und Wölfen untersucht haben. Mittlerweile führen mindestens genauso deutliche Spuren nach Europa.

Zwar könnte Savolainen durchaus recht haben mit der Annahme, die erste Aufgabe des Hundes sei es gewesen, als Nahrungsreserve für den Menschen zu dienen. Doch könnte der Hund ebenso gut Gesellschafter und Spielkamerad, Wärmedecke, Transportmittel, Wachhund oder Jagdhund gewesen sein. Das eine muss das andere nicht ausschließen.

Die erste Aufgabe des Menschen war es zweifellos, die Hunde mit Nahrung zu versorgen.

Wir sollten aber auch die Liebe nicht unterschätzen. Die Gefühle, die heutige Hundebesitzer für ihre Tiere hegen, waren sicherlich bereits in der Eiszeit bekannt: Schließlich wurde meinen Verwandten in Bonn-Oberkassel – dem Mann und der Frau mit der Haplogruppe U5b1 – vor 14 500 Jahren ein Hund mit auf ihren Weg in die ewigen Jagdgründe gegeben.

Meine europäische Familie

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