Читать книгу Karin Bucha Classic 42 – Liebesroman - Karin Bucha - Страница 3
ОглавлениеEigentlich müßte der Himmel weinen, als Ulrich Karsten vor seinen Richtern steht. Aber es wölbt sich ein unwirklich blauer Himmel über der Stadt. Die Luft ist wie Seide, und die Menschen sind großzügig gestimmt.
Nur Ulrich Karsten merkt nichts davon. Alles sieht er grau in grau. Er wartet auf sein Urteil. Man hat ihn mit seinem Wärter in einen schmalen Raum gebracht. Er sieht nicht die goldenen Kringel, die die Sonnenstrahlen auf den blitzblanken, aber kühlen Fußboden malen. Nichts sieht er. Nicht den Mann, der ihn bewachen muß, der ihn aufmerksam mustert und sich seine Gedanken über seinen Gefangenen macht.
Einen Mörder hat er sich ganz anders vorgestellt. Er ist noch nicht lange im Dienst und sein Herz noch nicht verhärtet und ohne Mitleid. In den Zügen dieses Mannes, von denen man behauptet, er sei ein Mörder, sieht er nur tiefe Schatten, Schatten, die ein unerbittliches Schicksal hineingegraben hat.
Er sieht überhaupt gut aus! Er ist hochgewachsen, breitschultrig und schmal in den Hüften. Selbst nach langer Haft ist sein Gang aufrecht. Sein Haar ist dunkelbraun und schlicht aus der hohen Stirn gekämmt. Sein Mund gutgeschnitten.
Der Wärter dreht sich mit einem Ruck zur Tür und versucht seine Gedanken von dem Gefangenen abzulenken.
»Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück!« hieß es, und nun wird in einem der hohen Zimmer über Sein oder Nichtsein Ulrich Karstens entschieden.
Sie sitzen um einen langen Tisch, der Vorsitzende, die Beisitzer und die Geschworenen.
»Ich bin überzeugt«, läßt der Vorsitzende Feurig sich vernehmen, »daß er mit voller Absicht getötet hat. Also Mord.«
Die Geschworenen sehen bleich und abgespannt aus. Es hat einen heißen Kampf zwischen dem Staatsanwalt Kerst und dem Verteidiger Doktor Ernst Rauh gegeben. Sie rauchen hastig ihre Zigaretten. Selbst die einzige Frau unter ihnen, Eva-Maria Harris, hat zur Zigarette gegriffen. Sie gibt sich nach außen hin gelassen. Keiner ahnt, was sie diese Ruhe kostet. Jeder Nerv an ihr zittert.
Sie hört das Gemurmel um sich wie aus weiter, weiter Ferne. Sie kommt sich wie auf einer einsamen Insel vor, ganz ihren quälenden Gedanken preisgegeben. Und noch etwas hält sie eisern gepackt, Angst! Eine wahnsinnige, jedes andere Gefühl unterdrückende Angst. Jawohl, sie hat Angst um den Mann, über den man zu Gericht sitzt, und den sie liebt.
Sie weiß, daß diese Liebe niemals Erfüllung finden wird. Sie weiß, daß es niemals einen Weg von ihr zum Herzen Ulrich Karstens geben wird.
Sein Herz liegt gefesselt in den Banden der einzigen Frau, die ihn hätte retten können und die ihn, keines Blickes würdigend, im Gerichtssaal verriet.
»Ich verweigere die Aussage!«
Mit harter Stimme hat es die schöne blonde Frau mit den grünen Augen gesagt, und ihr stand als Verlobte des Angeklagten das Recht dazu zu.
Das alles erlebt Eva-Maria Harris noch einmal so deutlich, daß ihr das Herz davon schmerzt. Über die Köpfe der Anwesenden hinweg irrt ihr Blick hinüber zu dem Fenster.
Mein Gott! Man wird ihn verurteilen! Er wird lange, vielleicht niemals wieder die Freiheit erlangen.
Lieber Gott! Das kann doch nicht wahr sein! Niemals hat er die Absicht gehabt, John Unger zu töten. Man hat ihn gereizt. Man hat ihn vielleicht angegriffen. Er hat in Notwehr gehandelt!
Plötzlich ist es, als gehe ein Ruck durch ihren Körper. Ich darf nicht träumen. Ich muß ganz aufmerksam sein.
»Ich weiß nicht«, hört sie jetzt Brandt, den Handwerksmeister, sagen. »Mord möchte ich nicht behaupten. Vielleicht Notwehr?«
»Mord?«
Aller Augen sind auf Eva-Maria Harris gerichtet, die dieses Wort entsetzt ausspricht. »Ich glaube nicht daran«, setzt sie bestimmt hinzu.
Präsident Feurig, ein schlanker weißhaariger Mann, mit klaren, durchdringenden Augen, lächelt.
»Liebe, gnädige Frau, hier geht es nicht um Glauben oder Nichtglauben. Hier geht es um Beweise. Der Angeklagte hat gestanden –«
»– und sich dann ausgeschwiegen«, zittert es erregt von Eva-Marias Lippen. »Nicht einmal sein Anwalt hat Licht in das Dunkel der Tat bringen können. Und die einzige Zeugin, die ihn hätte entlasten können, hat geschwiegen.«
»Oder sie hat geschwiegen, um ihn nicht zu belasten«, wirft der Präsident gütig ein. Er mag sie gern, diese aparte, auffallend schöne Frau, mit dem leuchtenden Haar und den jetzt ganz dunkel erscheinenden Blauaugen, die das zarte Gesicht völlig beherrschen.
»Aber das sind doch alles nur Vermutungen«, stößt sie rauh hervor. »Man kann doch einen Menschen nicht verurteilen, wenn man nicht von seiner Schuld überzeugt ist.«
»Sind Sie es nicht, gnädige Frau?«
Diese Frage wirft Eva-Maria völlig aus dem Gleichgewicht. Sie streicht sich über die Stirn. Sie fühlt sich naß an. Kleine Schweißtropfen stehen darauf. Hastig sucht sie nach ihrem Taschentuch und tupft über die Stirn. Sie zwingt sich eisern zur Ruhe.
»Nein!«
»Und sein Geständnis?«
Sie fühlt die Augen der anwesenden Männer auf sich gerichtet.
»Es kann aus edlen Motiven gegeben sein.«
»Wir haben kein edles Motiv gefunden«, antwortet Feurig. »Was uns der Angeklagte verschwiegen hat, haben wir versucht allein zu finden. Es war nichts da. Er hat diesen John Unger erschossen, aus Eifersucht. Das ist kein edles Motiv.«
Eva-Maria Harris sinkt etwas in sich zusammen. Sie spürt ihr Herz bis zum Hals herauf hämmern.
»Ist Ihnen nicht wohl?« schlägt die Stimme des Vorsitzenden an ihr Ohr.
Sie lächelt schwach, hilflos. »In der Tat«, stammelt sie und lehnt sich mit geschlossenen Augen zurück. »Wenn ich um ein Glas Wasser bitten dürfte?«
Ein Gerichtsdiener wird herbeigeklingelt, und er kehrt mit dem Gewünschten zurück. Eva-Maria nimmt ein paar tiefe Schlucke. Dann setzt sie das Glas bedächtig vor sich hin. Es ist eine gewollt langsame Bewegung.
»Es kann sich doch niemals um einen Mord handeln – höchstens um Notwehr«, knüpft sie wieder an das Vorhergesagte an. »Wir wissen, daß der Angeklagte John Unger mit seiner Verlobten überrascht hat. Sie hat sich gewehrt gegen den Mann, und da ist der Angeklagte ihr beigesprungen. So sehe ich jedenfalls die Tat. Ich gebe zu, daß auch Eifersucht dabeigewesen sein mag – aber daß es zu der Tat kam, war die Reaktion auf das Handgemenge, in das seine Verlobte verwickelt war.«
Erstaunt zieht der Vorsitzende die Brauen hoch.
»Woher wollen Sie das wissen? Das steht weder in den Akten, noch ist es in den Vernehmungen zur Sprache gekommen.«
Hilflos zuckt Eva-Maria mit den Achseln. »Ich betonte schon, so sehe ich die Tat. Ich kann nur von Notwehr sprechen.«
Eine Debatte setzt ein, an der sich Eva-Maria Harris nicht beteiligt, aber aufmerksame Zuhörerin ist. Kein Wort entgeht ihr.
Doch sie fühlt, daß eine andere Stimmung unter den Anwesenden herrscht wie zu Beginn. Ihre Augen irren umher, bleiben an dem Zifferblatt der Uhr haften. Noch zehn Minuten Zeit – denkt sie, und sie ist der Verzweiflung ausgeliefert.
Mit einem schwachen Laut, den keiner vernommen hat, so sehr sind sie in Reden und Gegenreden vertieft, lehnt sie sich tief in ihre Sessel zurück.
Nur nicht ohnmächtig werden – denkt sie, aber dann wird es schon dunkel um sie. Dunkel, und barmherzige Ruhe hüllt sie ein.
*
Zur selben Zeit steht Dr. Ernst Rauh, mittelgroß, ziemlich beleibt, aber von einer Lebhaftigkeit, die man ihm nie zugetraut hätte, vor dem stummen Mann, den er verteidigt hat, verteidigen mußte.
»Menschenskind, so reden Sie doch«, schreit er wütend. Er möchte diesem Mann, den er als Mensch wie als begabten, modernen Architekten schätzengelernt hat, helfen, und er spürt, wie dieser selbst sich alle Wege verbaut.
»Karsten«, sagt er besänftigt und legt dem Angeklagten die Hand auf die Schulter. »Ich will Ihnen doch helfen. Meinen Sie, daß es ein Vergnügen ist, einen Mann in sein Unglück rennen zu sehen?«
Karsten öffnet den Mund und schließt ihn sofort wieder. Er zuckt nur mit den Achseln.
»Ich will Ihnen helfen«, betont Doktor Rauh abermals und erhebt seine Stimme wieder. »Aber Sie müssen sprechen.«
Karsten macht eine kurze Handbewegung. »Sie können mir nicht helfen. Keiner kann mir helfen, und ich will auch nicht, daß Sie mir helfen.«
Doktor Rauh möchte den Mann hernehmen und tüchtig schütteln. Er fühlt, daß hinter dieser Ablehnung keine Verstocktheit steht.
Plötzlich hebt Karsten den Kopf. »Sie wollen mich vor einem Unglück retten?« Seine Lippen verziehen sich spöttisch. »Wissen Sie denn, ob es ein Glück für mich wäre, jetzt frei zu sein?«
Doktor Rauh stutzt. Eindringlich fragte er: »Karsten, was verbergen Sie vor mir, vor Ihren Richtern, überhaupt vor den Menschen?«
Sekundenlange Stille, dann ein kurzes, entscheidendes:
»Nichts!«
Achselzuckend wendet Rauh sich der Tür zu und gibt dem Wärter einen Wink, seinen Platz wieder einzunehmen. Zu Karsten sagt er:
»Dann wünsche ich Ihnen nur, daß das Gericht auf mildernde Umstände zurückgreift. Ich kann nichts mehr für Sie tun.«
Karsten kämpft mit sich. Ein kurzer Kampf ist es. Dann steht er schnell auf und geht auf den Mann zu, der in den langen Wochen immer wieder versucht hat, ihm zu helfen. Er streckt ihm seine Hand entgegen.
»Ich danke Ihnen für alles, Doktor. Sie meinen es gut mit mir. Aber –« Er zögert, und vorübergehend pressen sich seine Lippen zusammen. Ganz langsam öffnen sie sich wieder. »Ich – ich habe meine Gründe.«
Karsten sieht mit einem verzweifelten Ausdruck auf die Tür, die sich hinter der massigen Gestalt des Rechtsanwaltes geschlossen hat. Von dieser Minute an kommt die große Unruhe über ihn, Unruhe und eine grenzenlose Einsamkeit.
*
»Im Namen des Volkes…«
Der Gerichtshof steht, auch der Angeklagte steht hoch aufgerichtet in seiner Bank.
»… und so sind wir nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung gekommen, daß es eine Affekthandlung war, zu der der Angeklagte gereizt wurde. Da der Angeklagte ein bis jetzt ernsthafter, unbescholtener Mann mit bestem Leumund war, haben wir unedle Motive ausgeschaltet. Nach Paragraph…«
Ein Laut fällt in die erwartungsvolle Stille. Eva-Maria Harris, blaß bis in die Lippen, hat ihn ausgestoßen. Sie preßt die Hände gegeneinander, schlingt die Finger zusammen, daß sie ihr schmerzen, und verhält sich wieder ruhig.
Der Vorsitzende vollendet seine Rede.
»… aus diesem Grunde hält das Gericht die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat mit zwei Jahren Gefängnis für abgegolten.«
Eva-Maria Harris sinkt mit geschlossenen Augen auf ihrem Stuhl zurück.
Herrgott! Lieber, guter Gott – denkt sie! Zwei Jahre wird er überstehen. In zwei Jahren wird er nicht zugrunde gehen.
Langsam leeren sich die Bänke im Zuschauerraum. Der Gerichtshof hat den Saal verlassen. Auch Karsten wird davongeführt.
Er sieht nicht, daß unweit von ihm eine Frau an der Wand lehnt und mit brennenden Augen zu ihm hinüberstarrt.
Er würde sie wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen. Er hat sie sicher vergessen, die Frau, deren Geschäft für Antiquitäten und kunstgewerbliche Arbeiten er vor einem Jahr modern und harmonisch umgestaltet hat. Aber er hat den größten Eindruck bei ihr hinterlassen. Nie hat sie ihn vergessen können. Er war damals besessen von seiner Arbeit und von seiner Liebe zu Marion Wendland.
Als die hohe Männergestalt verschwunden ist, kehrt sie sich dem Ausgang zu.
Zwei Jahre, denkt sie! Ich werde auf ihn warten! Vielleicht wird er eines Tages geheilt von seiner Krankheit, die Marion Wendland heißt.
*
»Wo bleiben denn meine Koffer?« herrscht Marion Wendland die langsam näherkommende Pensionswirtin an. Wenn man die mollige Frau näher betrachtet, hat man den Eindruck, sie sei aus dem vorigen Jahrhundert übriggeblieben. Alles wirkt altmodisch und verstaubt an ihr. Aber das Herz, das sitzt auf dem rechten Fleck, und sie ist ihren Pensionsgästen weniger Wirtin als Mutter. Sie war es auch zu der eleganten Marion Wendland. Eigentlich nicht ihretwegen, aber um des Mannes willen, mit dem sie verlobt war. Sie hat nun einmal ihr Herz an Ulrich Karsten verloren, in wahrhaft mütterlicher Art. Sie hat seinen Wert, seine Zuverlässigkeit und Treue erkannt.
Marion Wendland starrt die Wirtin an. »Mein Gott, wie sehen Sie denn aus? Sind Sie krank?«
»Man kann es auch so nennen«, erwidert die gleichmütig und bleibt in der Tür stehen.
»Und wo bleiben meine Koffer?« Marions Stimme ist herausfordernd.
»Die werden Sie sich wohl selbst vom Boden holen müssen«, erwidert Milli Bothe gelassen. »Das Mädchen hat Ausgang, und ich rühre für Sie keinen Finger mehr.«
Marion Wendland läßt vor Überraschung das Nachthemd aus den Händen gleiten.
»Was soll denn das heißen?«
Milli Bothe kreuzt die Arme über der üppigen Brust. Sie ist ganz verändert. Die kleinen, flinken Augen unter dem ergrauten Haar blitzen nur so vor Verachtung. »Ist das so schwer zu begreifen? Ich sagte es bereits. Keinen Finger rühre ich mehr für Sie – Sie –«
»Erlauben Sie mal«, braust Marion Wendland auf. »Was ist das für ein Ton?«
Langsam kommt Milli Bothe näher.
»Ich will Ihnen mal was sagen«, beginnt sie mit zitternder Stimme, die aus einem empörten Herzen kommt. »Bisher habe ich Sie für eine anständige Frau gehalten. Aber seit heute weiß ich, daß Sie eine ganz schäbige Person sind. Schämen Sie sich kein bißchen vor den Leuten?« unterbricht sie ihren Redestrom und macht eine wegwerfende Handbewegung. »Quatsch! Was gehen mich die Leute an. Vor sich selbst müßten Sie sich schämen. Da sitzt ein grundanständiger Mensch auf der Anklagebank – Ihretwegen –«
Marion Wendland erbleicht und weicht unwillkürlich vor der sich in Fahrt befindlichen Frau zurück.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Warum haben Sie denn dann nicht gesprochen? Sie sind ja seine Verlob-
te –«
»Ich war es, bitte.«
»Das kann ich mir denken«, höhnt Milli Bothe. »Heute, wo er in der Patsche sitzt, da wollen Sie nichts mehr von ihm wissen. Ich war nicht dabei. Aber ich glaube die Szene förmlich vor mir zu sehen. Sie sind an allem schuld.« Jetzt kann Milli Bothe sich nicht länger beherrschen. Sie schreit der Frau ins Gesicht, was sie bedrückt. »Dieser üble Bursche, dieser John Unger, war Ihr Liebhaber –«
»Ich verbitte mir –«
»Sie haben mir überhaupt nichts zu verbieten«, faucht Milli Bothe. »In meinem Haus schon gar nicht. Aber einer muß Ihnen einmal die Wahrheit sagen. Sie haben ein gemeines Spiel mit Ulrich Karsten getrieben.«
Sie ballt die Faust und streckt sie der am ganzen Körper zitternden, sonst so selbstherrlichen Frau entgegen. »Aber das sage ich Ihnen, so wahr ich Milli Bothe heiße, Ulrich Karsten wird alles von mir erfahren, was ich über Sie weiß.«
Milli Bothe atmet tief und erregt. »So, das wollte ich Ihnen nur sagen, und nun können Sie Ihre Koffer packen und verschwinden.«
Die Dielen knarren unter dem energischen Schritt der Frau. Marion Wendland sinkt in den nächsten Stuhl. Sie schlägt die Hände vor das Gesicht und atmet erregt. So völlig unverhofft sind die Vorwürfe der sonst so liebenswürdigen Wirtin, die sie immer für ein wenig dusselig gehalten hat, auf sie herniederprasselt, daß sie erstmals ein Gefühl befällt, was sie sonst nicht gekannt hat.
Angst! Richtige Angst!
»Wahnsinn!« flüstert sie vor sich hin. »Die Frau ist verrückt!«
Sie klettert auf den Boden, immer bedacht, keinen Lärm zu machen. Nicht noch einmal will sie dieser Frau begegnen, vor der sie sich plötzlich fürchtet.
Sie muß dreimal nach dem Boden laufen und ist ganz außer Atem. Dann wirft sie die Sachen in die Koffer, wahllos, ohne Sorgfalt.
Fort – denkt sie – nur fort!
Sie hetzt in die Diele, bestellt sich telefonisch eine Taxe, legt das Geld für das Gespräch auf den daneben stehenden Teller und rennt in ihr Zimmer zurück.
Vor dem Spiegel beginnt sie ihr Gesicht herzurichten. Alles geschieht mit zitternden Händen, die ihr nicht recht gehorchen wollen.
Es ist aber nicht nur die Angst vor der Wirtin. Es sind ein paar helle Männeraugen, vor Erstaunen geweitet, sie sie überallhin verfolgen.
Ich brauche Ruhe, sinnt sie dabei. Ich bin vollständig mit den Nerven fertig.
Sie wühlt in ihren Schriftstücken, immer hastiger, immer nervöser. Du lieber Gott! Sie braucht Geld. Endlich hat sie das Scheckheft gefunden. Gedankenvoll blättert sie darin. Sie sieht die steile energische Schrift Ulrichs, und etwas wie Scham kommt über sie. Wie er ihr vertraut hat. Wie oft hat sie für ihn die Bankgeschäfte erledigen müssen. Bedenkenlos hat er ihr Vollmacht erteilt.
Jetzt soll sein Vertrauen ihr zur Flucht verhelfen. Es soll eine Flucht ins Vergessen werden.
Dann ist alles vorbereitet. Am Fenster wartet sie, bis die Taxe vorfährt. Sie öffnet und winkt den Fahrer herauf. Der schleppt unermüdlich die Koffer. Ohne sich noch einmal umzusehen, verläßt sie die Pension.
»Zur Deutschen Bank«, sagt sie und nimmt aufatmend Platz. Jetzt ist alles an ihr in Unruhe und Nervosität. Wenn Ulrich die Vollmacht gesperrt hat, oder sein Anwalt das Konto?
Äußerlich gelassen geht sie zu dem ihr bekannten Beamten.
»Gnädige Frau«, begrüßt er sie. Sie reicht ihm den Scheck. Bis auf hundert Mark hebt sie das Guthaben Ulrich Karstens bedenkenlos ab, und anstandslos wird ihr die Summe ausgezahlt.
Erst als sie wieder im Wagen sitzt, verläßt sie der Druck. Sie hat sogar ein heimliches Triumphgefühl in sich.
Sie wird ein neues Leben beginnen. Alles wird sie vergessen. Sogar den Mann, der sie selbstlos geliebt hat und mit dem sie… Nicht weiterdenken, kommandiert sie sich selbst.
*
»Eva-Maria Harris, Kunstgewerblerin«, liest Rechtsanwalt Rauh und blickt grübelnd zu seinem Bürovorsteher auf. »Kommt mir bekannt vor, weiß aber nicht wohin damit. Na, lassen Sie die Dame eintreten und bringen Sie eine neue Akte mit.«
»Jawohl, Herr Doktor!« Paul Fricke, der Bürovorsteher, verschwindet und läßt kurz darauf eine Dame eintreten. Die Akte legt er vor seinem Chef auf den Schreibtisch, dann zieht er sich zu-rück.
»Sie sind es!?« Mit diesem Ausruf erhebt Doktor Rauh sich und schiebt seiner Besucherin den Sessel ihm gegenüber zurecht. »Bitte, nehmen Sie Platz.«
Er öffnet die rechte Schublade und bietet Eva-Maria Zigaretten an.
»Danke!« Als er ihr Feuer reicht, sieht er, wie die schmale, feingliedrige Frauenhand leicht zittert.
»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte er, und sein Blick ruht bewundernd auf ihrem blassen, schönen Gesicht mit den leuchtenden Augen.
»Für mich nicht, Herr Doktor.« Sie stockt, und er lauscht hinter der dunklen, wohllauten Stimme her. Er wartet geduldig, bis sie weiterspricht. »Es handelt sich um Ulrich Karsten.«
Wieder stockt sie und sieht ihn erwartungsvoll an. Aber sie vermag nichts in seinen Zügen zu lesen.
»Glauben Sie an die Schuld Ulrich Karstens?«
Er vermag seinen Blick nicht aus den leuchtenden Augen zu lösen. Als habe er sich diese Frage selbst schon längst beantwortet, sagt er:
»Nein!«
Sie lehnt sich zurück. Ihre Brust hebt sich in einem tiefen Atemzug. »Dafür danke ich Ihnen. Ich glaube auch nicht daran.«
»Was kann man tun, um diese Unschuld zu beweisen?«
»Sind Sie deshalb zu mir gekommen?«
Sie nickt.
Er lächelt. »Sie sollten sich an einen tüchtigen Detektiv wenden.«
»Das könnte ich wohl, doch ich will es nicht«, widerspricht sie heftig. »Sie haben ein so menschliches Interesse an Ulrich Karsten genommen, daß es überhaupt nur Sie gibt, der mir helfen könnte.«
»Ihnen?« verwundert Doktor Rauh sich. »Ich denke Ulrich Karsten?«
»Doch, auch mir«, bestätigt sie ernsthaft. Ruckartig hebt sie den Kopf. »Was halten Sie von dieser – dieser Marion Wendland?« Jetzt zittert ihre Stimme etwas.
»Gar nichts!« antwortet er, und seine Züge, soeben noch aufgeschlossen, verhärten sich. »Diese Frau hat den denkbar ungünstigsten Eindruck hinterlassen. Nicht nur bei mir, auch beim Gericht. Trotzdem sie kein Wort gesprochen hat.«
»Man müßte den Hebel bei ihr ansetzen«, sinnt sie.
»Leider hat sie auf unbestimmte Zeit die Stadt verlassen. Auf Reisen«, erklärt er ihr.
Sie ist überrascht.
»Woher wissen Sie das?«
Er lächelt geheimnisvoll. »Ich weiß noch so allerhand.«
»Wußten Sie das schon vor dem Prozeß?« forscht sie mit Spannung.
Er wiegt den Kopf. »Teil – teils. Leider hat mir der Mann alles aus der Hand gewunden – durch sein hartnäckiges Schweigen.«
»Und – und wenn Sie sich jetzt mit ihm in Verbindung setzen würden. Glauben Sie, daß er dann noch schweigt?«
»Möglich! Alles was für ihn spricht, sind Vermutungen. Er ist verdammt stolz – und sehr sensibel.«
»Wollen Sie ihm auch heute noch helfen?« fragt sie atemlos.
»Natürlich!« kommt prompt seine Antwort. Da tritt wieder dieses hoffnungsvolle Strahlen in ihre Augen.
»Weiß Karsten, daß Sie so viel Anteil an seinem Geschick nehmen?«
»Nein! Er wird mich kaum mehr kennen. Ich will zu Ihnen ganz ehrlich von unserer Bekanntschaft sprechen. Damals suchte ich für mein Geschäft einen guten Architekten. Man empfahl mir Ulrich Karsten. Er kam mit seinen Plänen. Wir waren damals viel zusammen. Ich glaube –«, jetzt lächelte sie in ihrer reizenden, hilflosen Art, »ich glaube, er hat nicht einmal bemerkt, daß ich eine Frau bin. Aber wir haben großartig harmoniert, und ich fand seine Pläne einmalig. Nun ja, er hat den Umbau vollendet. Ich war sehr zufrieden damit. Dann verloren wir uns aus den Augen.«
Sie stockt, und wieder erglüht sie. »Das heißt, ich habe ihn nie ganz aus den Augen verloren. Er interessierte mich. Seine Art nahm mich gefangen. Als ich den Prozeß miterleben mußte, war ich erschüttert. Nun wissen Sie Bescheid.«
»Ja, nun weiß ich Bescheid«, wiederholt er und denkt dabei: Die Hauptsache hast du mir natürlich verschwiegen. Nämlich, daß du diesen Mann liebst.
»Sie halten mich sicher für sehr – albern.«
»Nein – für sehr liebenswert.«
Erschreckt weiten sich ihre Augen. Er kommt um den Schreibtisch herum und stellt sich vor ihr auf.
»Wie oft habe ich für Menschen arbeiten müssen, die ich sehr unsympathisch fand. Erschrecken Sie bitte nicht, wenn ich Ihnen ehrlich bekenne, daß es mir Freude bereitet, für Sie und Ulrich Karsten arbeiten zu dürfen.«
»Also – sind wir Verbündete?« strahlt sie und streckt ihm impulsiv die Hand entgegen.
»Das soll ein Wort sein.« Er drückt die feine Frauenhand und nimmt seinen Platz wieder ein. Er dreht ihre Besuchskarte zwischen den Fingern. »Ich darf Sie doch anrufen, wenn ich Ihrer Hilfe bedarf?«
»Jederzeit«, erwidert sie rasch und erlöst und verabschiedet sich.
*
Ulrich Karsten ist ein williger Gefangener. Er kennt weder Auflehnung noch Verstocktheit. Seinem Wesen haftet dagegen etwas Sinnendes, Grüblerisches an.
Umschließen ihn die Wände seiner Zelle, dann starrt er stundenlang ins Leere. Auch in seinem Innern gähnt es vor Leere.
Immer wieder sieht er einen hohen Baum vor sich. Butzenscheiben, durch die schräg das Sonnenlicht fällt und die Dame Justizia beleuchtet. Und dann sieht er die blonde Frau, wie sie dicht an ihm vorüber an diesen Tisch tritt und mit harter Stimme spricht. Eine Stimme, die ihm unendlich fremd war.
Hat er erwartet, daß sie sprechen würde? Hat er nicht nur nach einem aufmunternden Blick aus diesen geliebten graugrünen Augen gehungert?
Stundenlang zermartert er sich so den Kopf. Er fiebert innerlich, wenngleich er sich äußerlich gelassen gibt. Er fiebert auf ein Lebenszeichen von Marion.
Er springt auf, wandert ruhelos hin und her.
Marion liebt ihn! Marion verrät ihre Liebe nicht! Oder er müßte an der ganzen Welt zweifeln.
Etwas ruhiger geworden, sinkt er wieder auf das harte Lager zurück und verfällt abermals in Grübeleien.
So vergeht die Zeit. Tage reihen sich an Tage. Er verbringt sie in völliger Einsamkeit und Verlassenheit. Die Kälte um ihn und diese entsetzliche Leere wird immer größer.
Er ist innerlich wie abgestorben, und es überrascht ihn gar nicht, daß er eines Tages zum Anstaltsleiter gerufen wird und dieser ihm eröffnet, daß der Rest der Strafe bei Bewährung ausgesetzt wird.
Jetzt atmet er wieder die Freiheit! Er ist wie benommen. Er trägt wieder Zivilkleidung und glaubt damit einen neuen Menschen übergestreift zu haben. Er geht im Strome der Passanten und fällt nicht auf. Oder doch?
Scheu blickt er sich um. Unsinn! Er sieht Gespenster. Er hat auch etwas Geld in der Tasche. Schnell winkt er sich eine Taxe herbei und nennt die Pension Bothe.
Zu Marion! ist sein einziger Gedanke.
Das Mädchen sieht erschrocken zu dem hochgewachsenen Mann auf.
»Der Herr Karsten«, kreischt sie und stürzt davon. Langsam folgt Karsten, unangenehm berührt. Am liebsten möchte er kehrtmachen. Aber es ist bereits zu spät. Ein weiter Morgenmantel wedelt um die Ecke des Flurs und drin steckt Milli Bothe
»Nein, ist das eine Überraschung, lieber Herr Karsten. Und Sie kommen zuerst zu mir? Wie mich das freut? Ist denn die Zeit…«
Sie verstummt und legt den Finger auf den Mund. »Verzeihen Sie, Herr Karsten. Ich wollte Sie nicht daran erinnern.«
Sie bemerkt, daß er noch immer steht. »So setzen Sie sich doch. Bitte, lieber Herr Karsten –«
»Eigentlich wollte ich zu Marion«, fällt er ihr leise ins Wort.
»Zu Marion, natürlich!« Verlegen zerrt sie an den Enden ihres Gürtels. Sie weicht diesen hellen tiefliegenden Augen aus.
»Die Marion – sie ist nicht hier –«, stottert sie und sucht krampfhaft nach Worten, die nicht weh tun sollen.
»Ist sie ausgezogen?«
»Sie ist fort – abgereist –!«
Er starrt sie betroffen an. »Wann?«
Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. »Gleich nach der Verhandlung. Hals über Kopf ging alles. Ich hätte sie auch keinen Tag länger beherbergt –«
Sein Gesicht wird verschlossen.
»Aber warum denn?« fragt er gequält.
»Warum?« Sie tritt nahe zu ihm heran und senkt ihre Stimme etwas. »Weil es eine niederträchtige Person ist, die Ihre Liebe verraten hat.«
»Sie sind verrückt«, stößt er grimmig hervor.
»Und Sie sind ein verdammter Narr, Herr Karsten.« Sie schreit es ihm förmlich entgegen, weil sie ihn aus einer Ahnungslosigkeit herausreißen möchte. »Ein blind verliebter Narr, der nicht gemerkt hat, wie er betrogen wurde.«
Hart umspannt er ihr Handgelenk. »Frau Bothe, Sie sprechen von meiner Verlobten. Sie waren immer sehr liebenswürdig zu mir. Bitte, machen Sie das Maß Ihrer Güte voll und sagen Sie mir, wo ich Marion finden kann. Ich will Ihre Worte vergessen.«
»Sie sollen sie aber nicht vergessen, Ulrich Karsten«, keucht sie und reißt ihre Hand aus seiner Umklammerung. »Ja, ich war nett zu Ihnen und auch zu Marion. Aber nur Ihretwegen, denn ich habe sie vom ersten Augenblick durchschaut, die Frau, die Ihre Verlobte war. Ich sage w a r, denn sie ist davongelaufen und hat Sie verraten. Sie hat sich auch im Gerichtssaal grausam benommen. Das ist es, was mich so gegen sie aufgebracht hat. Sie haben mir schon lange leid getan.«
Ihre Stimme wird weich, wie eine mütterliche Liebkosung. »Herr Karsten«, spricht sie hastig weiter, und sie schiebt ihm einen Sessel zu, da sie bemerkt, daß er sich kaum auf den Beinen halten kann. »Bitte, setzen Sie sich. Ist Ihnen nicht gut? Warten Sie, ich hole Ihnen eine Stärkung.«
Sie wirbelt zur Tür hinaus und kehrt mit der Flasche und einem Glas zurück.
Sie gießt die goldgelbe Flüssigkeit ein und reicht es ihm. Wie im Traum greift er zu. »Trinken Sie«, ermuntert sie ihn.
»Sehen Sie, Herr Karsten. Ich brauche den Kontakt mit dem Leben, mit der Jugend. Aber ich habe in Menschengesichtern lesen gelernt. Sie haben einen Teufel in Engelshülle geliebt. Das muß ich Ihnen einmal sa-gen –«
»Frau Bothe!« stöhnt Karsten auf. Ihm ist, als würde der Boden unter seinen Füßen hinweggerissen und er stürze in eine grundlose Tiefe.
»Lassen Sie mich aussprechen«, bittet sie leise. »Nehmen Sie meinen Rat an, er kommt aus einem selbstlosen Herzen. Lassen Sie diese Person laufen. Beginnen Sie ein neues Leben. Sie haben das Zeug dazu. Sie dürfen nicht an dieser Frau zugrunde gehen, denn sie ist schlecht, abgrundschlecht. Ich weiß, daß es für Sie eine große Enttäuschung ist. Aber ich habe mir vorgenommen, Ihnen die Augen zu öffnen, und das tue ich hiermit. Wenngleich ich Ihnen weh tun muß. Marion Wendland hatte noch mehr Liebhaber – außer Ihnen!«
Ulrich Karsten ist wie zerbrochen. Er spürt die tiefe Wahrheit aus Milli Bothes Worten. Wie ein Blatt im Winde, hin und her geweht kommt er sich vor, ohne Halt, ohne die Sicherheit, die die Liebe, die treue, opferbereite Liebe einer Frau zu geben vermag.
»Mein Gott!« Wieder dieses aus dem Herzen kommende, qualvolle Stöhnen. Jetzt weiß er es mit Bestimmtheit. Er hat es während seiner Haft geahnt. Aber jetzt hat er Gewißheit. Sie ist grausam, vernichtend, zu Boden drückend.
Marion! ruft sein Herz, Marion, warum hast du mich verraten?
Er erhebt sich, taumelt, und sofort steht Milli Bothe neben ihm. »Bleiben Sie heute hier, Herr Karsten, bitte. Gehen Sie nicht in dieser Verfassung fort.«
»Danke, vielen Dank.« Sein Mund verzieht sich schmerzlich. Sie weiß nicht, meint er es ehrlich oder ist es Ironie. Sie weiß nur, daß er ihr unendlich leid tut. Er nimmt ihre Hand, drückt sie und geht zur Tür. »Ich muß mich um mein Zimmer kümmern.«
Wieder steht sie neben ihm. »Ihr Zimmer ist längst weitervergeben, Herr Karsten. Ihre Sachen liegen bei mir –«
»Ach so«, sagt er und macht eine mutlose Handbewegung. Trotzdem muß er hinaus. Die Decke will ihm auf den Kopf fallen. Die Wände erdrücken ihn. Er braucht Luft, frische Luft.
*
Karsten betritt den Kassenraum der Deutschen Bank. Mit unsicheren Schritten steuert er hinüber zu dem bekannten Schalter. Der Beamte sieht von seinen gebündelten Scheinen auf, erkennt ihn, und auch hier hört Karsten ein erschrecktes:
»Sie, Herr Karsten?«
»Ich wollte mich nur einmal über den Stand meines Kontos erkundigen«, sagt er, sich zur Ruhe zwingend.
»Natürlich, selbstverständlich«, ereifert der Mann sich und holt die Unterlagen herbei. Eifrig erklärt er. »Hundert Mark ist der augenblickliche Stand Ihres Kontos –«
»Was sagen Sie?« Karsten beugt die hohe Gestalt und lehnt die Hände gegen die Glasverschalung. »Das kann doch wohl nicht möglich sein.«
Der Mann lächelt unverbindlich. »Es ist aber so. Das Konto wurde bis auf hundert Mark abgehoben. Hier bitte, wie Sie sehen, ist die Ausbuchung ordnungsgemäß vorgenommen worden.«
»Die Unterschrift«, murmelt Karsten.
»Marion Wendland!«
»Danke!«
Karsten dreht sich auf dem Absatz um und verläßt die Bank. Hundert Mark! Hundert Mark! Er lacht auf, grell, unnatürlich. Die Fußgänger sehen sich nach dem lachenden Mann um. Da flüchtet er. Er läuft sinnlos durch die Straßen. Kreuz und quer läuft er.
Alles ist wahr! Marion ist schlecht, abgrundschlecht! Diese Gedanken beherrschen ihn, halten ihn umklammert und schalten alle Vernunft in ihm aus.
Vernünftig wäre es, jetzt zu Milli Bothe zu flüchten und dort unterzukriechen. Aber gerade Mitleid kann er nicht vertragen.
Ich Narr. Ich blödsinniger Narr! Weiter denkt er nichts. Er denkt an die Stunde, da er seinen Rechtsanwalt gebeten hat, sein Büro aufzulösen und die Gelder auf sein Konto zu überweisen. Er hat es gewissenhaft erledigt, und Marion hat ihn um die Früchte harter Arbeit betrogen. Mehr noch. Sie hat ihm den Glauben an die Menschheit zerstört.
Wem kann er noch vertrauen? Und diese Frau hat er selbstlos, bis zur Selbstaufgabe, geliebt.
Vielleicht hat sie, während sie an seinem Herzen ruhte, an einen anderen gedacht. Vielleicht an den schwarzhaarigen John Unger?
Hat er sie überhaupt belästigt? Oder hat sie, Marion, ihm eine erbärmliche Komödie vorgespielt? Ist er das Opfer einer Täuschung geworden?
Mein Gott! Wer gibt ihm Antwort auf die vielen, vielen Fragen?
Auf einer Bank läßt er sich nieder. Todmüde, wie ausgepumpt! Er blickt über die blanke Wasserfläche, die vor seinen Füßen liegt. Er sieht die Lieblichkeit der Landschaft und sieht sie auch nicht. Er spürt nur die grenzenlose Einsamkeit, die Verlassenheit und die Verzweiflung.
Man müßte auf dem Grund dieses stillen Wassers liegen und schlafen, schlafen.
*
»Er ist frei!«
Mit dieser alarmierenden Nachricht holt Doktor Rauh Eva-Maria Harris aus dem Bett. Sie ist im Nu hellwach.
»Nein, Doktor, das kann doch nicht möglich sein«, stammelt sie und fühlt dabei den erhöhten Pulsschlag.
»Doch, soeben erfuhr ich es, und verzeihen Sie mir, daß ich zu so früher Stunde bei Ihnen anrufe.«
»Ich bin Ihnen dankbar.« Eva-Maria Harris nimmt den Hörer von der rechten in die linke Hand. »Und wo – wo ist er jetzt?« Atemlose Spannung liegt in dieser Frage.
»Ich vermute dort, wo seine Sachen sind, bei Frau Bothe. Sie glauben nicht, wie ratlos ich im Augenblick bin. Gehe ich zu ihm – oder warte ich, bis er mich aufsucht? Man muß sehr behutsam mit ihm umgehen.«
Eva-Maria nagt verzagt an der Unterlippe. Sie überlegt krampfhaft. Schließlich sagt sie: »Ich hätte die größte Lust, mich in der Pension Bothe einzuquartieren, um unauffällig unsere Bekanntschaft zu erneuern.«
»Meinen Sie nicht, er würde stutzig werden?« gibt er zu bedenken.
»Ach, es gibt so viele Gründe, die man angeben kann«, wehrt sie seinen Einwurf ab. »Vielleicht rufen Sie erst mal bei Frau Bothe an, ob er sich dort aufhält?«
»Gut!« entscheidet er. »Jetzt ist es noch etwas früh. Aber in einer Stunde rufe ich wieder bei Ihnen an.«
»Ich danke Ihnen!« Eva-Maria legt den Hörer auf.
Ulrich Karsten frei! Selten noch hat sie ein so großes Glücksgefühl empfunden. Sie weiß ihn nicht mehr hinter Mauern versteckt. Er ist wieder frei. Darf tun und lassen was er will. Er ist wieder Mensch.
Und nun hat sie so viel zu denken, so viel, daß sie kaum merkt, wie der Zeiger der Uhr weiterrückt. Sie schreckt zusammen, als die Glocke des Fernsprechers anschlägt.
»Ja, Herr Doktor!« spricht sie hinein in die Muschel.
»Er war da, gestern gleich«, hört sie die Stimme des Anwaltes an ihr Ohr schlagen. »Frau Bothe hat zuerst sehr zurückhaltend geantwortet und dann zugegeben, daß er sie verstört verlassen hat. Wollen wir gemeinsam zu der Pension gehen?«
»Ja, Herr Doktor«, stimmt sie ohne sich zu bedenken zu. »In einer Stunde bin ich bei Ihnen. Sie wollen mich abholen. Gut! Ich halte mich bereit.«
*
Ulrich Karsten weiß genau, daß es sinnlos ist, was er tut. Die Dämmerung bricht herein, und noch immer irrt er umher. Er hat die Stadt bereits hinter sich gelassen und eine baumbestandene Straße, schnurgerade, liegt vor ihm.
Von den Wiesen steigt Kühle hervor. Ein ganz feiner Nebel, wie duftiger Schleier, zieht darüber hin.
Müde, hungrig, innerlich zerrissen, lehnt er sich gegen den Stamm einer hohen Birke, die die Straße umsäumen. Er schließt die Augen und hat das Bedürfnis zu schlafen. Schlafen, schlafen – und nichts mehr denken.
Wohin? Zu Milli Bothe? Er sieht ihr gutmütiges, kummervolles Gesicht mit den aufmerksamen Augen vor sich. Es zieht ihn zu ihrer wohltuenden Mütterlichkeit, aber vor ihrem Mitleid sträubt sich alles in ihm.
Geh zu ihr – rät eine Stimme in ihm. Dort findest du Ruhe und zu dir selbst zurück.
Rein mechanisch, wie unter einem Zwang, macht er kehrt und geht mühevoll den Weg zurück.
Er erreicht das Zentrum der Stadt, als die Kinos die Vorstellungen beendet haben und die Menschen Straßen und Gehsteige bevölkern. Autos reihen sich hintereinander. Lichtreklamen flammen auf und sinken wieder ins Dunkel. Es ist ein Bild lebendigen, anmutigen Lebens, und unwillkürlich spürt er eine Welle der Freude durch seinen Körper strömen.
Er kann wieder an diesem Leben teilnehmen. Es liegt nur an ihm. An ihm und seiner jungen Kraft, die er einsetzen muß.
Unter solchen Gedanken erreicht er die Pension Bothe. Die Tür ist noch offen, als habe man auf ihn, den verspäteten Gast, gewartet.
In der Halle brennt ein warmes, gedämpftes Licht, und der dicke Teppich fängt den Laut seiner Schritte auf. Er steigt die Treppe empor, hinauf zu den Wohnräumen, und da steht sie vor ihm, Milli Bothe. Wortlos nimmt sie ihn am Arm und führt ihn in eines der ruhigsten Zimmer.
»Wie schön, daß Sie da sind«, sagt sie nur. Nichts davon, daß sie sich maßlos um ihn gesorgt, daß man nach ihm gefragt hat, und daß ein neuer Gast, eine bildschöne, anmutige Frau ein Wohn- und Schlafzimmer bezogen hat.
An seiner erschlafften Haltung, an seinem Schuhwerk und dem durchweichten Kragen sieht sie, daß er eine große Wanderung hinter sich hat.
»Machen Sie es sich bequem, Herr Karsten«, fordert sie ihn auf und öffnet die Tür zum Badezimmer. Sie läßt das Wasser in die gekachelte Wanne laufen.
Karsten hört diese vertrauten Geräusche und hat das Gefühl, heimgekehrt zu sein. Mit geschlossenen Augen genießt er die Wärme des Wassers. Ganz ruhig liegt er, und langsam, ganz langsam kommen seine aufgepeitschten Nerven zur Ruhe. Dann reibt er den Körper ab, als müsse er unsaubere Dinge wegwaschen, und frottiert sich so lange, bis die Haut krebsrot anläuft.
Als er, in frische Wäsche gehüllt, das Zimmer betritt, verharrt er sekundenlang starr in der Tür. Die Schlafcouch ist für die Nacht zurechtgemacht. Ein Tisch ist daneben aufgestellt und einladend gedeckt. Schönes, im Schein der Stehlampe blitzendes Geschirr. Eine Vase mit süßduftenden Federnelken. Die Teekanne steht auf dem silbernen Wärmeöfchen, eine Platte mit appetitlichen Schnitten.
Der Schein eines ersten Lächelns huscht über seine ernsten Züge. Liebe, gute Milli Bothe, denkt er dankbar und gerührt.
Er ist bereit, alles zu vergessen! Alles was er in den langen Monaten gelitten und das, was ihn heute zerbrochen hat.
Er schläft im Handumdrehen ein, tief und traumlos. Es ist der Schlaf eines körperlich und seelisch Erschöpften.
*
Als Ulrich Karsten am nächsten Morgen die Augen öffnet, da sitzt Milli Bothe neben seinem Lager. Sie ist verlegen.
»Verzeihen Sie, Herr Karsten, stören wollte ich Sie nicht. Ich wollte nur da sein, wenn Sie erwachen. Haben Sie gut geschlafen? Ja? Man sieht es Ihnen an.«
Er blinzelt sie aus verschlafenen Augen an. »Wie spät ist es?«
Milli Bothe lächelt. »Gleich zwölf Uhr.«
»Lieber Himmel«, fährt er entsetzt empor. »Wie kann man nur so verschlafen.«
»Haben Sie etwas Besonderes vor?« erkundigt sie sich wie nebenbei und zieht die grüne Übergardine zur Seite, damit das Tageslicht in den Raum fallen kann.
»Nur einige Besuche«, erwidert er. »Ich denke da an einige Freunde. Vielleicht können sie mir raten. Natürlich will ich sobald wie möglich wieder in meinem Beruf arbeiten.«
Nachdenklich kehrt sie zu ihm zurück. »Sie haben ja genügend Geld, Herr Karsten. Sie brauchen bestimmt keine Freunde, die Ihnen helfen sollen. Sie eröffnen ein neues Büro – und alles ist gut.«
Sie bemerkt sofort den Schatten, der seine Züge verdüstert. Er schweigt und blickt an ihr vorbei.
»Vorläufig würde ich an Ihrer Stelle ein paar Tage ausruhen. Meinen Sie nicht auch?«
Er schüttelt heftig den Kopf. »Ich brauche Arbeit, viel Arbeit.«
Und dann muß ich Marion suchen – setzt er in Gedanken hinzu. Eher habe ich keine Ruhe.
»Na schön«, sagt Milli Bothe. »Aber zuerst frühstücken Sie, Herr Karsten. Mit gefülltem Magen kann man wesentlich leichter Entschlüsse fassen.«
Sie kann so behutsam auftreten, wie eben jetzt. Man traut es der molligen Frau nicht zu. Er huscht indessen ins Bad und macht sich fertig.
Als er zurückkehrt, erscheint auch Milli wieder.
Sie balanciert ein Tablett vor sich her und deckt ihm den Frühstückstisch, nicht minder fürsorglich als am Abend vorher.
»Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir?«
Sie muß darauf gewartet haben, denn sie zaubert eine zweite Tasse herbei und bedient ihn und sich.
»Heute gefallen Sie mir schon viel besser«, plaudert sie, während sie nicht müde wird, ihm die Brötchen, die goldgelbe Butter und das Glas mit der Konfitüre zu reichen. »Gestern hatte ich Angst um Sie.«
»Ich auch«, erwidert er kurz, und dann macht er eine schneidende Handbewegung durch die Luft. »Das Kapitel ist für mich auch noch nicht abgeschlossen. Zuerst muß ich etwas Abstand von den Dingen gewinnen. Seien Sie mir nicht böse. Aber noch glaube ich nicht an Marions Schlechtigkeit. Noch nicht ganz –«, setzt er leise und einschränkend hinzu. Er hebt den Blick, und sie ist erschüttert von der stummen Qual, die darin liegt, von der stummen Bitte, ihm nicht jeden Glauben zu rauben.
»Ich verstehe Sie, Herr Karsten. Sie müssen sich selbst Gewißheit holen. Aber wo wollen Sie sie suchen?«
Ratlos hebt er die Schultern. »Das weiß ich auch noch nicht.«
Karsten zündete sich eine Zigarette an, und Milli Bothe räumt das gebrauchte Geschirr auf das Tablett.
»Wollen Sie nun ausgehen?« erkundigt sie sich. »Und werden Sie zum Mittagessen wieder da sein?«
»Das weiß ich noch nicht. Bitte, meinetwegen keine Rücksichtnahme.«
Ehe sie das Zimmer verläßt und er ihr dabei die Tür weit offen hält, sagt er zu ihr: »Sie sind ein wirklich gütiger Mensch, Milli Bothe.«
Sie murmelt etwas vor sich hin, was wie »Quatsch« klingt. Aber der Blick, den sie ihm dabei zuwirft, ist ein freudiger.
Sie ist so glücklich, daß er den Weg zu ihr gefunden hat und voller Hoffnung, daß alles gut wird.
*
Es ist eine kleine Stadt, aber mit breiten, gepflegten Straßen und hellgestrichenen Häusern. Am Außenrand dieser Stadt gibt es aber auch noch kleine Gassen mit niedrigen, altmodischen Häusern und einer Fassade aus Fachwerk.
In einer dieser Gassen befindet sich die Bar »Zum Blauen Engel«. Es ist eine Bar, die erst am Abend ihre Pforten öffnet und dafür bis in den frühen Morgenstunden Betrieb hat.
Die Bar »Zum Blauen Engel« ist im weiten Umkreis bekannt. Nicht nur wegen seines guten Publikums, sondern auch wegen der gepflegten Atmosphäre, der guten Getränke und der Jazz-Band.
Vor dem Eingang brennt eine Laterne mit einem blauen Engel. Dann kommt ein Vorraum mit Blattpflanzen, und dann die Halle mit den Glasvitrinen und den eleganten Auslagen der besten Geschäfte der Stadt. Rechts und links liegen die Barräume. Weiche Teppiche, runde, niedrige Tische mit polierten Platten und modernen, bequemen Sesseln. Überall Blumen, der Jahreszeit entsprechend, und kleine Lampen, die rosige Lichtwellen auf die Tische warfen.
An der Bar hockten sie besonders gern, die Stammgäste des »Blauen Engels«. An jeder Bar, im rechten und linken Zimmer, bedienten drei Bardamen. Unter ihnen fiel die hochgewachsene rotblonde Frau mit den grünen Augen besonders auf.
Sie verstand es ausgezeichnet, mit ihren Gästen umzugehen, ihre Wünsche zu erraten und ihnen besondere Drinks zu mixen.
Sie ist eine seltsame Frau, von Geheimnissen umwittert. Wunderschön gewachsen mit Bewegungen, die an ein junges Raubtier erinnern, geschmeidig und von verhaltenem Temperament. Aber kühl und sehr unnahbar.
So rätselt man an ihr herum. Man spricht von einer unglücklichen Liebe, von einem überaus eifersüchtigen Gatten und dergleichen mehr. Keiner kommt der Wahrheit nahe.
Marion Wendland weiß, daß viel über sie gesprochen wird. Nach Schluß des Lokals verschwindet sie wie die anderen in ihre Garderobe, mit dem Unterschied, daß sie diese mit niemandem zu teilen hat. Durch eine zweite Tür verschwindet sie dann in ihre eigenen Räume. Dort beginnt ihr eigentliches Leben.
Sie hat sich hinter den Räumen der Bar zwei Zimmer mit allem Komfort eingerichtet, und dort erwartet sie meist ein dunkelhaariger Mann, der sie mit einem langen, leidenschaftlichen Kuß empfängt, den sie mehr aus Gewohnheit, denn aus Liebe über sich ergehen läßt. Manchmal versteht sie sich selbst nicht mehr. Sie glaubt wie ausgebrannt und keines Gefühls mehr fähig zu sein. Aber zu einem gewissen Grad hat er ihr diese Bar vermittelt. Keiner weiß, daß sie die Inhaberin ist. Er hat seinen Namen dafür hergegeben, und sie das Geld.
Sie weiß genau, daß sie Frank Bendler nicht liebt. Aber sie duldet seine Leidenschaftsausbrüche und duldet seine Liebkosungen mit geschlossenen Augen und leiser Abwehr, die der Mann zuerst nicht spürt. In letzter Zeit hat er oft das Gefühl, eine seelenlose Puppe im Arm zu halten, und überhäuft sie mit heftigen Vorwürfen, die sie dann, wachgerüttelt, mit einer forcierten Leidenschaft ihrerseits zu zerstreuen versteht.
So ist ein ewiger, heimlicher Kampf zwischen den beiden Menschen. Frank Bendler weiß, daß er dieser nach außen hin so kühl erscheinenden Frau, die sich aber auch manchmal zu einem Vulkan in seinen Armen verwandeln kann, nicht viel bedeutet. Er beargwöhnt sie, spioniert heimlich hinter ihr her.
Als sie sich heute aus seiner heißen Umarmung befreit und in einen der weichen, tiefen Sessel fallen läßt, die schönen langen Beine über die Lehne gestreckt, betrachtet er sie aufmerksam.
»Du siehst übermüdet aus, Liebling«, sagt er, aus innerer Besorgnis heraus. »Warum schindest du dich so ab? Hast du nicht schon genügend Geld verdient?«
Sie sieht ihn mit einem rätselhaften Blick an, dann greift sie zur Zigarettendose. Gleichmütig erwidert sie: »Man kann nie genug davon haben.«
»Du bist wie besessen. Tagsüber schläfst du, machst die nötigsten Besorgungen, und nachts steckst du in dem nervenaufreibenden Betrieb. Wozu, frage ich dich?«
Sie entzündet die Zigarette, bläst bedächtig das Streichholz aus und legt es in die Aschenschale. »Du fragst zuviel, Frank. Ich habe meine Gründe.«
»Die möchte ich gern wissen«, beharrt er voller Hartnäckigkeit, die bei ihr ein Stirnrunzeln hervorruft. »Du bist nicht ehrlich zu mir. Ich fühle das. Was verbirgst du eigentlich vor mir?«
Sie hält die Augen geschlossen. Die dichten Wimpern werfen einen langen Schatten auf die Haut. »Nichts! Was soll ich vor dir verbergen?«
Ärgerlich erhebt er sich, schwingt sich auf die freie Lehne ihres Sessels und legt den Arm um sie.
»Wollen wir nicht eine schöne Reise zusammen machen? Nach dem Rhein, nach Heidelberg an den Nekkar. Nach Hamburg? Wohin du willst. Meinetwegen auch ins Ausland.«
Sie ist leise in seiner Umarmung zusammengezuckt. »Ich möchte hierbleiben. Ich fühle mich wohl hier. Später vielleicht«, vertröstet sie ihn.
»Dann muß ich wohl gehen«, sagt er enttäuscht. Sie kommt auf ihn zu, legt ihre Hände um seinen Hals und lächelt ihn an.
»Sei lieb, Frank. Ich bin wirklich fertig für heute. War ein toller Betrieb. Erst noch das Geld nachzählen und die Abrechnung prüfen.« Sie reicht ihm den Mund zum Kuß. Es ist ein kalter, flüchtiger Kuß. Zögernd wendet er sich zum Gehen.
»Hast du mir die Zeitung besorgt?« fragt sie noch.
»Sie liegt auf deinem Nachttisch«, erwidert er, setzt seinen Hut auf und verläßt den Raum.
Wie befreit atmet sie auf, als seine Schritte verklingen. Sie schließt ab und beginnt sich zu entkleiden. Im Badezimmer macht sie sich für die Nacht zurecht und kehrt in einem Hausanzug zurück
Von dem Nachttisch holt sie sich die Zeitung, wirft sich auf die breite Couch und schaltet die Wandbeleuchtung ein. Eifrig studiert sie das Blatt. Das, was sie sucht, findet sie nicht.
Grübelnd starrt sie vor sich hin. Frank beginnt unbequem mit seinen Fragen zu werden. Er versucht, in ihre Vergangenheit einzudringen, und das will sie auf jeden Fall vermeiden. Warum er sie immer wieder, wenn auch unbewußt, daran erinnert?
Kann er nicht zufrieden sein mit dem, was sie ihm gibt? Was sie ihm geben kann? Vielleicht ist sie überhaupt keines tiefen Gefühls fähig?
Manchmal, wie eben jetzt, empfindet sie etwas wie Ekel vor sich selbst. Sie hat genommen, nur genommen, aber nichts gegeben.
Sie hat Intrigen gesponnen, hat die Männer gegeneinander aufgebracht und eine wahre Freude daran gehabt. So wie manche das Spiel mit den Karten lieben, so hat sie das Spiel mit Menschenherzen geliebt. Und heute noch kann sie es nicht lassen, dieses prickelnde Gefühl zu empfinden, wenn die Männer sich gegenseitig belauern, daß sie keinen zu freundlich, keinen bevorzugt behandelt. Noch hat sie sich zurückhaltend benommen. Aber wie lange noch, und ihre wahre Natur bricht wieder hervor?
Frank Bendler – sinnt sie weiter – und lächelt mitleidig dabei. Er ist ein Narr wie all die anderen. Er merkt kaum, daß sie ihn nur duldet, weil sie ihn augenblicklich nötig hat, weil sie im Hintergrund bleiben will und muß.
Aber das weiß sie jetzt schon. Eines Tages wird sie ihn verlassen wie die anderen. Und sie wird keinen Schmerz dabei empfinden, höchstens Erleichterung, und ein anderer wird seine Stelle einnehmen.
Ihre Züge sind unerbittlich, kalt, nichts Bezauberndes liegt mehr darin. Weiter arbeitet ihre Phantasie. Plötzlich verwandelt sich der kosige Raum in eine enge Zelle, kahle Kälte ausströmende Wände umschließen sie, und darin lebt ein Mann mit hellen Augen, in denen die Verzweiflung brennt.
Plötzlich schlägt sie die Hände vor das Gesicht und stöhnt vor sich hin.
Immer wieder martert sie dieses Bild. Es verfolgt sie unbarmherzig. Aber sie will es nicht sehen… sie will nicht!
*
»Ist Herr Meinhardt zu sprechen?« wendet Ulrich Karsten sich an die Dame im Vorzimmer des Bauunternehmers, mit dem er früher gut zusammengearbeitet hat.
Die Frau sieht sich um, erkennt ihn und erschrickt. »Herr Karsten – Sie?«
»Ja – ich«, sagt er bitter. »Ist Herr Meinhardt da?«
»Ja, ich glaube – einen Augenblick, bitte«, stammelt sie und verschwindet. Sie kehrt bald zurück und nähert sich zögernd dem Mann, der immer noch auf demselben Fleck steht.
»Herr Meinhardt hat eine Besprechung«, erklärt sie. »Es wird etwas dauern –«
»Ich warte«, fällt er ihr rasch ins Wort und setzt sich auf einen der Stühle, die an der Wand aufgereiht sind.
Das Mädchen hat hinter seinem Schreibtisch Platz genommen. Karsten sinnt vor sich hin und merkt nicht die Nervosität des Mädchens. Es schiebt Papiere auf der Schreibtischplatte hin und her, ohne etwas damit anfangen zu können. Als der Fernsprecher anschlägt, faßt sie nur zögernd danach. Zögernd legt sie den Hörer in die Gabel zurück.
»Wollen Sie nicht noch eine Besorgung machen?« wendet sie sich an den ganz in sich versunkenen wartenden Mann. »Es wird doch noch länger dauern, als Herr Meinhardt glaubte.«
»Eine Besorgung?« Karsten erwacht zur Wirklichkeit. Ich habe nichts zu besorgen, denkt er. »Lassen Sie nur, ich warte«, setzt er aus seinen Gedanken heraus hinzu.
»Wie Sie wünschen!«
Und Karsten wartet geduldig. Er hat soviel zu denken und zu überlegen.
Marion Wendland, die Arbeit, die Vergangenheit, mit der er glaubt, gebrochen zu haben und die Wünsche an die Zukunft.
»Herr Meinhardt ist abgerufen worden«, reißt ihn die Stimme des Mädchens aus der Wirrnis von Gedanken.
Im Nu ist er hellwach. »Aber – ich sah ihn gar nicht durch das Zimmer gehen.«
»Er hat sein Zimmer durch den zweiten Ausgang verlassen.«
Schwerfällig erhebt er sich. »Ach so«, sagt er nur, und in den zwei Worten liegt so viel Bitternis, daß das Mädchen rasch zur Seite sieht.
Er geht zur Tür. Auf einmal ist das Hoffnungsvolle von ihm gefallen. Seine Schultern neigen sich nach vorn wie unter einer schweren Last.
»Wenn Sie vielleicht morgen wiederkommen könnten?« Die Stimme ist voll Mitleid, und das kann er am allerwenigsten vertragen.
»Danke schön für Ihre Bemühung«, sagt er steif.
Die Tür sinkt hinter ihm ins Schloß. Er steht im Sonnenlicht auf der Straße. Er blickt nicht zurück auf die Hausfront. Er würde sonst den Kopf Meinhardts hinter der Scheibe erspähen, der vorsichtig auf die Straße blickt.
Als die hohe Männergestalt zwischen den Passanten verschwindet, geht er ins Vorzimmer.
»Damit Sie Bescheid wissen: Ich bin für Herrn Karsten nicht zu sprechen«, befiehlt er, und das Mädchen nickt gehorsam. Als die Tür mit einem Knall hinter dem Chef zuschlägt, kräuseln sich ihre Lippen. Einmal war das anders. Da kam Meinhardt mit vorgestreckten Händen aus seinem Büro geschossen. »Großartig, Karsten, daß Sie da sind. Kommen Sie, trinken wir ein Gläschen zusammen. Das Material für den Neubau rollt bereits…«
Und dann war Meinhardt für niemanden mehr zu sprechen. Karsten hat Meinhardt so viel Aufträge zugeführt. Und heute?
Sie ist nur eine Angestellte, aber ihr ist elend zumute und sie könnte weinen. –
Karsten geht weiter Er hat soviel Bekannte. Er will nicht an eine gewisse Dankbarkeit appellieren. Er will Arbeit haben. Viele von diesen Leuten sind ihm irgendwie verpflichtet. Taktvoll übergeht er es.
Er läuft bis in den Nachmittag hinein. Allmählich kann er unterscheiden, ob einer wirklich da ist, oder ob man ihn nicht empfangen will.
Nur Oswald Römer kommt ihm mit einer lärmenden Fröhlichkeit entgegen und nimmt ihn mit in sein Büro.
Karsten hat sich müde gelaufen. Aufmerksam betrachtet er aus der Tiefe eines weichen Sessels sein Gegenüber.
»Schön, Karsten, daß Sie wieder da sind«, unterbricht er die peinlich wirkende Stille. »Geht die Arbeit wieder los? Wollen Sie ein neues Büro eröffnen? Geld haben Sie doch genügend.«
»Eigentlich wollte ich Sie fragen, ob Sie mich unterbringen können?«
Das freundliche, wohlwollende Gesicht Römers verändert sich schlagartig, wird kühl, abwehrend.
»Arbeit bei mir, Karsten? Ich bitte Sie, mein Lieber. Wollen Sie etwa auf dem Bau arbeiten, Sie als Architekt?«
»Warum nicht? Arbeit ist keine Schande.«
Römer windet sich förmlich. »Gewiß nicht. Aber bedenken Sie, Karsten. Sie würden sich kaum wohl fühlen. Man hat den Prozeß noch nicht vergessen –«
»Ach so«, fällt Karsten ihm ins Wort, und auch hier spricht grenzenlose Bitterkeit aus den beiden Worten.
»Ich meine es doch nur gut mit Ihnen, Karsten«, läßt Römer sich wieder vernehmen. »Sie mit Ihrem Können.« Er lacht. Es ist ein unnatürliches Lachen und es fährt Karsten erschreckt durch die Glieder. »Sie machen Witze, Karsten.«
»Vielleicht könnten wir einen Versuch machen«, schlägt Karsten noch einmal vor.
Römer erhebt sich. »Ersparen Sie sich doch diese Demütigung, Karsten. Wir kennen doch beide die Menschen. Sie würden sich bestimmt nicht wohl fühlen, glauben Sie mir das.«
Karsten taumelt empor. Jetzt hat er endlich begriffen. Man schämt sich seiner Bekanntschaft. Man will ihn loswerden.
»Entschuldigen Sie die Störung«, stammelt er und verläßt auch dieses Haus hoffnungslos, wie er gekommen ist.
Unschlüssig, ziellos geht er weiter. Wieder läuft er kreuz und quer. Er hätte doch einige Tage vergehen lassen sollen. Sicher hat er nicht die richtigen Worte gefunden. Er hat Hemmungen, und das spürt man. Er muß ganz anders auftreten.
Plötzlich stockt sein Fuß. Er muß lachen. Ein Büro eröffnen! Mit hundert Mark? Man hält ihn für wohlhabend, was er eigentlich auch wäre, wenn eine Frau ihn nicht um die Früchte seiner Arbeit gebracht hätte.
Hundert Mark! Davon kann er nicht einmal Milli Bothe bezahlen, wenn er länger dort wohnen bleibt. Er muß Arbeit finden, keiner soll wissen, daß er jetzt arm ist.
Aber er muß Marion Wendland finden. Sie kann nicht einfach verschwinden. Irgendwo muß sie wohnen, leben, gemeldet sein.
Also geht er auf das Einwohnermeldeamt. Die Antwort ist niederschmetternd. »Auf Reisen.«
Wohin ist sie gereist? Wo soll er sie suchen?
Er ist wie zerschlagen, als er die Pension Bothe erreicht hat. Er sieht nicht die Frau mit dem kastanienbraunen, glänzenden Haar, dem zarten Antlitz und den schönen tiefblauen Augen, die ihn hinter der Zeitung versteckt beobachtet.