Читать книгу Karin Bucha Classic 43 – Liebesroman - Karin Bucha - Страница 3
ОглавлениеDer Unfall ereignete sich in den frühen Morgenstunden.
Fürst Alexander von Thorsten-Thorn sah nur das bezaubernde Bild der aus dem Meer aufsteigenden strahlenden Sonne, als er den Strand entlang galoppierte. Aber der Fahrer des Motorrollers sah den Reiter, riß geistesgegenwärtig den Roller nach rechts, konnte aber nicht vermeiden, daß das Vorderrad den Bordstein streifte. Der Roller senkte sich zur Seite, und der Fahrer flog nach links in den Sand, den der Wind vom Strand her in die Straße gefegt hatte.
Im Nu brachte der Fürst seinen Braunen zum Stehen und schwang sich aus dem Sattel. Mit ein paar Schritten stand er neben dem verunglückten Fahrer. Der saß im Sand, hatte die Hände um die hochgezogenen Knie gelegt und blinzelte zu dem Reiter auf.
»Erlauben Sie mal«, herrschte der Fürst die unglücklich im Sand hockende Gestalt an. »Wie kommen Sie dazu, zur nachtschlafenen Zeit durch die Straßen zu rasen?«
Ein paar tiefblaue Augen mit langen dunklen Wimpern blitzten ihn an.
»Kann ich dafür, daß Sie auf Ihrer alten Mähre schlafen?«
»Erlauben Sie mal«, braust der Fürst auf, wird aber mit einer ungnädigen Handbewegung unterbrochen.
»Ich erlaube Ihnen höchstens, mir beim Aufstehen zu helfen«, kommt es befehlend, und sofort greift er dem Fahrer unter die Arme, um ihm auf die Beine zu helfen.
»Uff!« macht dieser und reißt sich den leuchtendroten Sturzhelm vom Kopf. Eine Flut blauschwarzer Haare fällt bis auf die Schultern, und der Fürst prallt zurück.
»Sie – mein Gott – Sie sind –«
»Jawohl! Ich bin eine Frau.« Die Fahrerin stockt. »Und Sie Sie sind…. ach, du lieber Himmel!«
Damit stürzt sie sich auf ihren Roller, bringt ihn in Gang, schwingt sich auf den Sitz und braust davon, den Fürst in eine Staubwolke einhüllend.
Als Fürst von Thorsten sich den Sand aus den Augen gewischt hat, ist die Straße wie leergefegt. Kopfschüttelnd kehrt Fürst von Thorsten zu seinem Rassepferd zurück. Er liebkost seinen »Sturmwind« und flüstert ihm dabei ins Ohr:
»Hast du das gehört, Sturmwind? Eine alte Mähre hat sie dich genannt, dieses kleine freche Biest. Und wir wissen nicht einmal wer sie ist. Aber hübsch sah die Kleine aus, nicht wahr?«
Nach diesem einseitigen Gespräch mit seinem Pferd sitzt Fürst von Thorsten auf und reitet im Trab dem Fürsten-Palais zu. Er reitet durch das Tor, an der präsentierenden Wache vorbei und übergibt dem herbeieilenden Reitknecht sein Pferd. Mit großen Schritten springt er die Freitreppe hinan und verschwindet durch das säulengetragene Portal.
Er sucht sofort seine Räume auf, nimmt ein Bad und kleidet sich um. Pünktlich erscheint er im Frühstückszimmer, wo er, wie immer, seine Groß-mutter, die Fürstin-Mutter, wie sie allgemein genannt wird, vorfindet.
Ja, es ist wirklich wahr, daß Thorsten-
Thorn ein kleines Fürstentum ist, von dem Fürst Alexander spöttelnd behauptet, er könne sein Land mit drei Schritten durchqueren.
Thorsten-Thorn ist eine Dreiecksinsel, auf deren Südspitze der Landsitz der von Thorsten-Thorn liegt. Ein zauberhaft schönes Anwesen, weißleuchtend mit einer wunderbaren Aussicht auf das blaue Meer.
Und Fürst Cornelius, Heribert, Alexander von Thorsten-Thorn ist der regierende Fürst. Er hat sehr viel für sein kleines Land und seine Leute getan.
Fürst von Thorsten-Thorn hat es verstanden, sein Land zu einem vornehmen Erholungsgebiet zu machen, so daß man von einem soliden Wohlstand sprechen kann. Haupteinnahmen aber ergeben die Weinberge. Die größten besitzt der Fürst. Aber er hat dafür gesorgt, daß auch der kleinste Bauer einen Weinberg sein eigen nennt. Und die milden, blumigen Weine sind weltbekannt.
Nur eine Sorge hat das Fürstentum. Es möchte seinen Fürsten, der allgemein geliebt und verehrt wird, gern verheiratet sehen. Man will neben dem Landesherren eine junge Frau sehen.
*
Mit viel Geknatter lenkt Beatrix Chapu ihren Roller in die schmale Einfahrt neben dem kleinen Haus, das sie mit ihrer Mutter, der Musikpädagogin Germaine Chapu, bewohnt. Bevor sie das Haus betritt, sieht sie noch einmal an ihrem Anzug hinab, klopft die schmutzigen Stellen aus und eilt ins Haus.
Germaine Chapu, die ebenfalls Frühaufsteherin ist, hat ihre Tochter kommen gehört und tritt ihr im Flur entgegen.
»Ausgetobt, Kind?« begrüßt sie das junge Mädchen und küßt sie auf beide Wangen. Beatrix bedeutet ihr alles und sie behütet sie wie ihren Augapfel. Beatrix dankt es ihrer Mutter durch grenzenlose Liebe und Vertrauen.
Germaine Chapu genießt als Musiklehrerin einen guten Ruf, und sie erteilt allen heranwachsenden Töchtern der Familien der Gesellschaft Musikunterricht. Im übrigen wird sie nicht als gesellschaftsfähig angesehen, und es flattert sehr selten eine Einladung in das kleine Haus der Chapus, so daß Beatrix wenig Zerstreuung hat. Nun, das junge Mäd-chen macht sich sehr wenig daraus.
»Schön, daß du schon da bist, Beatrix. Wir können gleich frühstücken. Während ich den Kaffee aufbrühe, kannst du dich rasch umkleiden.«
»Sofort, Musch.« Beatrix küßt die Mutter schnell noch einmal, wird aber lachend von dieser fortgeschoben. »Beeil dich, Kind. Wir wollen die Kaffeestunde genießen.«
Wie jeden Tag wird es eine recht gemütliche Kaffeestunde. Germaine Chapu tut alles für Beatrix, nur in einem ist sie unerbittlich. Beatrix besitzt einen zauberhaften Sopran, von dem Ger- maine behauptet, da sie Beatrix natürlich selbst ausbildet, daß es eine solche Stimme kaum noch einmal gäbe.
Beatrix versucht immer wieder, ihre Mutter zu überreden, sie einmal bei einer öffentlichen Veranstaltung singen zu lassen, was diese jedoch strikt ablehnt, ohne einen stichhaltigen Grund anzugeben. Und dieses »Nein« findet Beatrix unerbittlich und ungerecht.
Alljährlich findet der sogenannte »Fürstenball« im Palais Thorsten statt, und dazu wählt Germaine jeweils die Künstler aus, die dazu ausersehen sind, das Fest zu verschönern.
An einem solchen Fest möchte Beatrix sehr gern einmal teilnehmen, was ihr jedoch von seiten der Mutter bisher jedesmal verwehrt wurde.
Auch heute versucht sie es wieder, jedoch ohne Erfolg.
»Ich verstehe dich wirklich nicht, Musch. Immer wird Renata Orgon in das Palais geschickt. Die ist doch viel zu alt und könnte gut und gern der Jugend Platz machen«, mault Beatrix.
Mit einer Handbewegung bringt Germaine die Tochter zum Schweigen.
»Du weißt genau, daß ich das nicht bestimme, sondern die Fürstin-Mutter. Bisher hat sie immer noch Frau Renata Orgon verlangt.«
Beatrix seufzt tief auf und räumt das Geschirr zusammen.
»Was nützt mir eine schöne Stimme, wenn ich sie nicht hören lassen darf?« In Beatrix’ Stimme schwingen Tränen.
»Du singst doch wirklich genug und zu deiner eigenen Freude.«
Beatrix fährt erregt herum. An den langen, gebogenen Wimpern glänzen wirklich Tränen.
»Du selbst hast gesagt, es sei ein Vergehen an der Menschheit, ihr eine gute Stimme vorzuenthalten.«
Germaine Chapu erschrickt. So heftig hat Beatrix noch nie ihren sehnlichsten Wunsch geäußert.
»Du bist noch längst nicht das, was man bühnenreif nennt, mein Kind. Als deine Lehrerin kann ich das wohl beurteilen.«
Beatrix nimmt das Tablett auf und verschwindet. Germaine verfolgt die liebliche Erscheinung mit einem sehr nachdenklichen Blick, dann läßt sie sich bequem in ihren Sessel zurücksinken und grübelt vor sich hin. Es sind teils erfreuliche, teils sehr traurige Bilder, die an ihrem geistigen Auge vorüberziehen.
*
»Also gut, Großmama«, erklärt Fürst Alexander, »ich werde mir also auf dem diesjährigen ›Fürstenball‹ eine Frau aussuchen.«
»Endlich!« Die Zwillinge, Schwestern des verstorbenen Fürsten Ferdi-nand, die eben ihre Tassen zum Munde führen wollten, hätten sie beinahe fallen lassen. Fürst Alexander wirft den beiden grauen Gestalten, die er insgeheim die »Spitzmäuse« nennt, einen kurzen zornigen Blick zu. An den Zwillingen, die leider keinen Mann gefunden haben und weil sie arm sind, in der Familie Thorsten einen geruhsamen Lebensabend verbringen, ist wirklich alles grau.
Die immer noch schönen, klaren Augen der Fürstin-Mutter leuchten auf. Sie liebt ihren Enkel Alexander von ganzem Herzen, und er hat ihr nie Kummer bereitet, obwohl sie selbst seine Erziehung übernehmen mußte. Seine Mutter mußte bei der Geburt das Leben lassen, und so gab sie all ihre Liebe dem mutterlosen Kind.
Fürst Ferdinand, ihr einziger Sohn, hatte nicht wieder geheiratet. Er war bei einer Segelpartie verunglückt, als sein Sohn Alexander zweiundzwanzig Jahre alt war. Danach mußte der die Regierung des Fürstentums übernehmen.
Fürst Alexander glich in seinem Wesen sehr seiner Großmutter. Er war von Natur aus fröhlich und gerecht. Und sein verbindliches Wesen schaffte ihm überall Freunde. Außerdem nahm er die ihm nach dem Tode seines Vaters übertragenen Pflichten sehr ernst und galt allgemein als äußerst zuverlässig und gewissenhaft.
»Alexander!« ruft die Fürstin-Mutter freudig erregt aus. »Treibst du auch keinen Scherz?«
»Bestimmt nicht, Großmama. Ich werde mir also eine passende Frau suchen. Sie muß standesgemäß sein, Geld haben, schön sein und klug.«
»Irrtum!« fällt die Fürstin-Mutter ihm in die spöttische Rede. »Sie muß eine tadellose Vergangenheit haben und kerngesund sein.«
»Nun, das wird wohl aufzutreiben sein«, spöttelt Fürst Alexander weiter. »Die Ausstattung des Festes lege ich in deine bewährten Hände, geliebte Großmama.«
»Und wenn dir keine der jungen Damen gefällt?« wagt Fernande, eine der Zwillinge,einzuwerfen.
Fürst Alexander grinst die beiden Prinzessinnen an. »Dann nehme ich die erste beste, die mir in den Weg läuft.«
»Aber – aber…« Den Zwillingen bleibt vor Schreck der Mund offenstehen.
»Was ist denn? Ihr wollt durchaus eine Fürstin haben, also sollt ihr sie bekommen.« Fürst Alexander küßt seine Großmutter und den Tanten die Hand und verläßt mit einer Verbeugung das Frühstückszimmer. Er hinterläßt zwei aufgeregt durcheinanderschwatzende Tanten und eine belustigt zuhörende Großmutter. –
Pfeifend durcheilt Fürst Alexander die Flure, steigt eine Marmortreppe empor und betritt sein Arbeitszimmer, wo er bereits seinen Sekretär, Studiengenossen und treuen Freund, Baron Felix von Horby bei der Arbeit vorfindet. Der Baron ist dabei, den Stapel eingegangener Post zu sortieren.
»Na, altes Haus«, begrüßt Fürst Alexander den Freund, »schon fest bei der Arbeit? Warum warst du nicht im Frühstückszimmer?«
Baron von Horby schiebt seine Hornbrille auf die Stirn.
»Donnerwetter, Alex, das habe ich tatsächlich vergessen.«
»Dann hol es schleunigst nach, sonst bekommen die Tanten zuviel«, meint der Fürst und schwingt sich auf die Lehne des Sessels, in dem der Baron sitzt. Mit einem Male ist der Ausdruck von Sorglosigkeit aus seinen Zügen wie fortgewischt. Der Freund blickt ihn nachdenklich von der Seite an.
»Es hat wohl was gegeben?« fragt er.
»Stimmt, Felix. Man hat mir das Versprechen abgerungen, mir zum ›Fürstenball‹ endlich die passende Frau zu suchen.«
»Ach, du meine Güte«, stöhnt der Baron auf. »Du hast dich so einfach überrumpeln lassen?«
»Leider!« Fürst Alexander zuckt resignierend die Schultern. »Nun geht es nicht anders. Ich muß auf Brautschau gehen.«
»Und deine kleine süße Unbekannte?« wagt der Baron den Einwurf. »Hast du sie vergessen?«
»Keineswegs«, erwidert der Fürst ernst. »Ich denke ständig an sie. Wenn ich bloß eine Ahnung hätte, wo ich sie finden könnte. Hast du nichts erfahren?«
Baron von Horby schüttelt den Kopf. »Nach deinen dürftigen Angaben…«
»Finde ich gar nicht. Ein solch liebliches Menschenkind muß ja auffallen und gibt es meiner Meinung nach überhaupt nicht zweimal. Bitte, streng dich ein bißchen an, damit du sie findest.«
»Sie braucht doch nicht unbedingt hier zu wohnen, kann zum Beispiel zu Besuch bei irgendeiner Familie sein. Soll ich etwa einen Aufruf in den Zeitungen erlassen?« fällt der Baron ihm in die Rede.
»Gar nicht schlecht.« Fürst Alexander wiegt den Kopf. »Es müßte dann ungefähr so heißen: ›Rekordwütige junge Dame auf einem roten Motorroller‹.«
Baron Felix bricht in schallendes Ge-lächter aus. »Halt ein, Alex, man bekommt ja Lachkrämpfe. Weißt du was? Such du deine rekordwütige Rollerdame selbst.«
Der Fürst durchmißt den weiten, kostbar eingerichteten Raum, der mit allerlei Andenken an die großen Reisen des Fürsten, die ihn in alle Welt geführt haben, angefüllt sind.
»Am liebsten würde ich mich dem ganzen Rummel durch eine Reise um die ganze Welt entziehen«, meint er aus seinen Gedanken heraus.
Baron Felix macht eine entsetzte Handbewegung.
»Das laß dir ja nicht einfallen, mein Lieber. Hast du ›A‹ gesagt, mußt du auch ›B‹ sagen, und von deiner schönen Unbekannten kannst du schon jetzt Abschied nehmen.«
»Schöne Aussichten sind das!« knurrt Fürst Alexander wütend.
»Tscha«, macht der Baron scheinbar ungerührt. »Hättest dir eine andere Wiege aussuchen sollen, nicht eine mit einer siebenzackigen Krone. Das verpflichtet, mein Lieber, hörst du, das verpflichtet, um mit den Worten von Prinzessin Ulrike zu antworten.«
»Geh mir bloß mit der alten Schachtel weg. Nur weil sie keinen Mann mitgekriegt hat, soll ich durchaus heiraten, nur damit sie endlich einmal eine Hochzeit erlebt und wenn es auch nicht die eigene ist.«
Baron Felix wendet sich dem Schreibtisch wieder zu. »Du, Alex, hör mal. Ist dir bekannt, daß dein Vater eine Schwester Henriette hatte?«
Fürst Alexander sieht den Freund ungläubig an. »Mein Vater eine Schwester? Unmöglich, Felix! Es gibt nur die Zwillinge Fernande und Ulrike. Von einer Schwester Henriette ist mir nichts bekannt. Wie kommst du darauf?«
Baron Felix schiebt dem Freund das dicke Buch zu, in das er eine Eintragung machen wollte. Es ist der Familien-
Stammbaum derer von Thorsten-Thorn. Ȇberzeug dich selbst, Alex. Hier steht: Prinzessin Henriette von Thorsten-
Thorn, geboren am… warte mal, sie müßte jetzt ungefähr zweiundvierzig Jahre alt sein. Wäre sie gestorben, müßte eine Eintragung dasein. Du bist jetzt zweiunddreißig Jahre alt. Du wärest zu ihren Lebzeiten zehn Jahre alt gewesen und müßtest dich ihrer doch erinnern können.«
Fürst Alexander schüttelt den Kopf. »Das ist merkwürdig, Felix. Ich kann mich nicht an eine Tante dieses Namens erinnern.«
Der Baron erwidert: »Deine Groß-mutter müßte dir doch Auskunft geben können über ihre Tochter Henriette.«
Fürst Alexander nickt.
»Darüber werde ich sie befragen. Das interessiert mich.«
Doch vorläufig kommt Fürst Alexander nicht dazu, da ihm sein Tagesablauf keine Zeit dazu läßt. Erst bei der Abendtafel fällt es ihm wieder ein. Und so wendet er sich, nachdem der Mokka serviert und die Familie unter sich ist, an die Großmutter. Baron Felix von Horby zählt man längst zur Familie.
»Wie kommt es, daß man noch nie etwas von Henriette von Thorben-Thorn gehört hat?«
Lähmendes Schweigen legt sich über die kleine Runde, in das Fürst Alexander mit einer neuen Frage einbricht.
»Ist sie tot?«
»Nein! Durchgebrannt ist sie, unsere mißratene Schwester.«
»Schweig!« verweist die Fürstin-Mutter ihre Tochter streng. Fürst Alexander blickt auf die vorlaute, sensationslüsterne Tante.
»Es ist aber doch wahr. Sie ist mit ihrem Musiklehrer durchgebrannt«, sagt sie schrill.
Fürst Alexander bricht in ein helles Gelächter aus.
»Ach nee, sehr interessant«, macht Fürst Alexander belustigt. »Daß es so was in unserer hochnoblen Familie gegeben hat. Wirklich interessant. Was war sie für ein Mensch?« Diesmal wendet er sich wieder an die Fürstin-Mutter, deren Gesicht sich verfärbt hat. Sie zögert eine Weile, dann entschließt sie sich, zu sprechen.
»Sie war ein wunderbarer Mensch, Alexander, und hätte jedem Fürstenthron zur Ehre gereicht. Sie wurde in einem der vornehmsten Schweizer Internate erzogen und besaß eine einzigartig schöne Stimme. Wäre sie eine Bürgerliche gewesen, sie hätte sich mit dieser Stimme ein Vermögen ersingen können.«
»Also zog sie es vor, mit ihrem Mu-
siklehrer durchzubrennen«, wirft Fürst Alexander ein, als die Fürstin-Mutter eine Pause macht. »Hast du dich nie wieder um deine Tochter gekümmert, Großmama? Hast du irgendwelche Nachforschungen angestellt?«
»Natürlich habe ich das. Aber alles mußte in aller Heimlichkeit geschehen. Wir durften es doch zu keinem Skandal kommen lassen. Leider war es damals so. Auch ich, als Mutter, mußte mich dem Hausgesetz fügen und durfte von Stunde an den Namen meiner Tochter Henriette nicht mehr nennen. Was aus ihr geworden ist, weiß ich nicht. Bei Gott, ich habe es hundertmal bereut, mich nicht einfach über diesen Zwang hinweggesetzt zu haben und weiter nach ihr zu forschen.
Heute existiert dieses Gesetz nicht mehr, Gott sei Dank. Du wirst der erste von Thorsten-Thorn sein, der frei nach seinem Herzen wählen darf.«
Das Gesicht der Fürstin-Mutter scheint wie versteinert und sieht verfallen aus. Fürst Alexander empfindet tiefes Mitleid mit ihr. Er weiß, daß sie heimlich sehr gelitten haben muß.
»Aber jetzt steht es dir doch frei, nach deiner Tochter Nachforschungen anzustellen«, sagt Fürst Alexander nach einer Pause. »Wäre es für dich nicht eine große Beruhigung, zu wissen, was aus Henriette geworden ist?«
Die Fürstin-Mutter sieht ihn aus wie erloschen wirkenden Augen an. Mit Anstrengung erhebt sie sich, hält sich ein paar Sekunden am Tisch fest und strafft ihre Gestalt.
»Bitte, Alexander, ich wünsche über die Angelegenheit nicht mehr zu sprechen. Du weißt alles, was du wissen mußt.«
In vorbildlicher Haltung verläßt sie die Abendtafel. Mit Bestürzung sehen die Zurückbleibenden hinter ihr her.
*
»Mutti!« Madame Chapu legt das soeben von der Fürstin-Mutter eingegangene Schreiben aus der Hand und blickt erwartungsvoll auf ihre Tochter.
»Ja, Kind?«
»Kommt zum diesjährigen ›Fürsten-
Ball‹ wieder Madame Orgon in das Palais?«
»Gewiß, Kind. Man teilt es mir soeben mit, daß ich alles in die Wege leiten soll.«
Ungestüm erhebt Beatrix sich und läßt sich neben dem Sessel ihrer Mutter nieder.
»Muschi«, bittet sie mit der ganzen Unwiderstehlichkeit der Jugend, »muß denn unbedingt die Orgon singen? Kannst du mich nicht ins Palais schikken?«
Entsetzt wehrt Germaine Chapu ab. »Aber Kind, was denkst du dir? Es
geht auf gar keinen Fall. Es geht
nicht, Beatrix, es geht wirklich nicht. Was meinst du, was für Unannehm-
lichkeiten für mich daraus entstehen würden. Die Orgon wäre fähig, alle
meine Schüler gegen mich aufzuhetzen, vielleicht die Schüler nicht so sehr, als deren Eltern. Gib dich damit zufrieden, Liebes. Außerdem bist du viel zu
jung.«
»Das finde ich gar nicht«, läßt sich eine dunkle wohltönende Stimme hören, bei deren Klang Mutter und Tochter erschreckt zur Tür schauen.
Lächelnd kommt die Fürstin-Mutter näher, die das Mädchen, das sie anmelden wollte, einfach zur Seite schob und den Wohnraum des ihr sehr bekannten Hauses betritt und so Zeuge der leidenschaftlichen Bitte Beatrix’ wurde.
»Durchlaucht!« Wie elektrisiert fährt Germaine Chapu von ihrem Sitz auf und geht der vornehmen Besucherin entgegen. Auch Beatrix steht langsam auf und starrt auf die Fürstin-Mutter, die sie heute zum erstenmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen bekommt. Sie war schon häufig Gast in dem kleinen Haus, aber nie durfte Beatrix dabei in Erscheinung treten.
»Wer ist denn diese junge, impulsive Dame?« erkundigt die Fürstin-Mutter sich und betrachtet mit Wohlgefallen das schöne Mädchen.
Madame Chapu sieht verstört aus. Ihre Augen wandern von der Fürstin-Mutter zu Beatrix.
»Es ist, es ist meine Tochter«, stammelt sie.
»Ihre – Tochter?« erwidert die Fürstin gedehnt und schüttelt den Kopf. »Aber, meine Liebe, warum haben Sie mir denn dieses liebliche Kind unterschlagen?«
»Ich, ich hatte meine Gründe«, versetzt Madame Chapu reserviert und preßt die Zähne zusammen. Ein kurzer, scharfer Blick streift die Sprecherin, dann wendet sie sich Beatrix zu.
»Ich verstehe. Nun, man soll sich nicht in die Angelegenheiten fremder Menschen stecken. Und warum lassen Sie Ihre Tochter nicht zum ›Fürsten-Ball‹ singen? Das ist eine Angelegenheit, die auch mich angeht. Und finden Sie es besonders nett, daß Sie mir bis jetzt Ihre Tochter noch nicht vorgestellt haben?«
»Verzeihung, Durchlaucht. Es gibt wenige Menschen, die um die Existenz meiner Tochter wissen«, weicht Ger-maine Chapu aus.
»Singen kann sie auch? Haben Sie Ihre Ausbildung übernommen?« forscht die Fürstin weiter.
Germaine Chapu zuckt mit den Schultern. »Es gibt nichts, was ich meiner Tochter noch beibringen könnte.«
Beatrix errötet bis unter das schwarzblaue Haar. Noch nie hat sie jemals von ihrer Mutter ein Lob in dieser Form gehört.
»Waas?« Die Fürstin ist ehrlich erstaunt. »Das sagen Sie so einfach dahin?« Und noch lebhafter setzt sie hinzu: »Jetzt haben Sie mich so neugierig gemacht, daß ich Ihre Tochter unbedingt singen hören muß. Wollen Sie, mein Kind?« wendet sie sich direkt an Beatrix.
»Sehr gern, Durchlaucht«, versichert sie eifrig und macht eine kleine einladende Handbewegung zum Nebenzimmer.
Der Flügel singt und klingt unter Germaine Chapus Händen, und dann setzt Beatrix mit ihrer glockenreinen Stimme ein. Sie hat das Gebet aus der Oper »Tosca« gewählt. Schon bei den ersten Tönen neigt die Fürstin-Mutter sich interessiert vor, als könne sie dadurch das junge Mädchen besser in Augenschein nehmen. Und von Minute zu Minute wächst ihr Erstaunen.
Die Fürstin-Mutter lehnt sich zurück und schließt die Augen. Die Wände des Zimmers scheinen zurückzutreten, und sie sieht eine andere Frauengestalt und ein anderes Frauenantlitz vor sich. Sie hört eine andere Stimme, die auch so rein, so warm und so voll Innigkeit war. Nein! Es ist nur eine Erinnerung.
Allmählich kehrt die Fürstin in die Wirklichkeit zurück. Sie mißt Beatrix mit einem langen, eingehenden Blick und sagt spontan in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet:
»Madame, Sie werden am 6. Februar Ihre Tochter in das Palais zum Fürstenball begleiten. Eine Sondereinladung erhalten Sie noch.«
»Und Renata Orgon?« entfährt es Germaine Chapu.
»Sie wird ebenfalls zum Fürstenball erscheinen und sich einmal anhören müssen, wie sie nicht einmal zu ihrer Glanzzeit gesungen hat. Auf Wiedersehen. Es war mir eine große Freude.« Sie reicht Germaine die Hand und Beatrix fährt sie über die heißglühende Wange. »Sie werden singen dürfen, mein Kind. Dafür lassen Sie mich sorgen. Eine passende Balltoilette lasse ich Ihnen zugehen.«
»Aber, Durchlaucht!« wirft Ger-
maine scheu ein.
»Sie sind sozusagen meine Entdeckung und mit dieser will ich auf der ganzen Linie glänzen, verstanden?«
»Vielen Dank, Durchlaucht!« Beatrix verneigt sich vor der Fürstin. Sie findet erst wieder in die Gegenwart zurück, als ihre Mutter neben ihr auftaucht, die der Fürstin-Mutter das Geleit bis zu ihrem Wagen gegeben hat.
Germaine Chapu sinkt erschöpft in den nächsten Sessel, und dann kniet
Beatrix vor ihr und umarmt sie.
»Oh, Mutti, ich weiß gar nicht, was ich vor Freude machen soll. Stell dir vor, ich darf im Palais singen. Keiner wird es mir verbieten dürfen, selbst eine Renata Orgon nicht. Die Fürstin-Mutter selbst hat es so bestimmt.«
Germaine kann sich der Umarmungen kaum erwehren. Als sie endlich Luft schnappen kann, sagt sie trocken:
»An deiner Stelle würde ich ins nächste Mauseloch kriechen, wenn die Orgon hier aufkreuzt und ich ihr sagen muß… nein! Das gibt eine Katastrophe. Sie wird dich und mich in der Luft zerreißen und niemals glauben, daß ich am Zustandekommen dieser Einladung völlig unschuldig bin.«
Beatrix springt auf. Unternehmungslustig blitzt sie ihre Mutter an.
»Sie soll nur kommen, Muschi. Jetzt werde ich ihr etwas von ihrem Hochmut und ihrer Arroganz heimzahlen.«
»Nichts wirst du tun, du unmögliches Mädchen«, herrscht Germaine ihre Tochter an. »Du wirst wie immer unsichtbar bleiben.«
Erstaunt mißt Beatrix die Mutter aus großen Augen. Diesen Ton ist sie nicht gewohnt.
»Nun gut, Mutti«, sagt sie recht kleinlaut und ungewöhnlich ernst. »Ich werde also wieder einmal unsichtbar bleiben, weil du es wünschst.«
»Beatrix!« flüstert Germaine Chapu tonlos. Aber der Ruf ist viel zu schwach, um Beatrix’ Ohr zu erreichen. Leise klappt die Tür hinter der schmalen Mäd-chengestalt ins Schloß.
»Mein Gott!« raunt Germaine Chapu. »Habe ich alles falsch gemacht?«
Beatrix ahnt nicht, daß sie eine völlig verwirrte Frau zurückgelassen hat, die mit der Vergangenheit nicht fertig werden kann.
In großer Niedergeschlagenheit betritt Beatrix ihr kleines Reich, das liebevolle Mutterhände zu einem trauten Heim gestaltet haben. Sie öffnet den Wandschrank. An der Innentür ist jedes Plätzchen mit Fotografien bedeckt. Sie zeigen alle verschiedene Aufnahmen eines einzigen Mannes, den Beatrix verehrt, bewundert und heimlich anbetet. Es sind aus Zeitschriften ausgeschnittene Aufnahmen des Fürsten Alexander von Thorsten-Thorn.
*
Wie in jedem Jahr herrscht in jedem Haus, das eine Einladung zum »Fürsten-Ball« erhalten hat, erhebliche Aufregung.
Es wird entworfen und verworfen. Ratschläge werden erteilt, wenn man zuviel des Guten tun will.
Diese Sorgen quälen Beatrix Chapu nicht. Ihr ist von der Fürstin- Mutter mit einem Handschreiben versehen, ein Kleid ins Haus gebracht worden, das einfach überwältigend ist. Fasziniert steht Beatrix vor diesem Wunderwerk, das sie zum »Fürsten-Ball« tragen soll.
Aber einmal gehen die Wogen der Erregung im Hause Chapus, in die Höhe, nämlich als Renata Orgon, der bisher unerreichte Star des Hoftheaters zwar zum »Fürsten-Ball« eingeladen ist, jedoch nicht singen wird.
Wie eine Gewitterwolke braust sie in das kleine Haus Germaine Chapus und ihr Temperament entlädt sich wie ein Unwetter über dem unschuldigen Haupt der Musiklehrerin.
Renata Orgon, deren Figur in den letzten zwei Jahren, sehr zum Leidwesen der Sängerin, in die Breite gegangen ist und den Verlust ihrer entschwundenen Jugend nur noch deutlicher macht, steht wie eine Rachegöttin vor Ger-
maine.
»Sie wünschen, gnädige Frau?« Germaine weist dabei auf die Sesselgruppe. Renata Orgon zittert vor Wut.
»Sie wissen natürlich, daß ich dieses Jahr nicht zum Singen aufgefordert worden bin?« zischt sie Germaine an.
»Ja, gnädige Frau.«
»Und wer wird an meiner Stelle singen?« fragt sie, sich mühsam beherrschend.
Germaine spürt ihr Herz bis zum Halse herauf klopfen. Gerade diese Frage zu beantworten bereitet ihr das größte Unbehagen. Aber sie kann nicht mehr zurück.
Nicht ohne Stolz sagt sie:
»Meine Tochter Beatrix wird singen.«
Renata Orgons Züge verzerren sich. »Das haben Sie wunderbar eingefädelt. Sie sind sehr heimtückisch. Sie haben mein Vertrauen sehr schmählich miß-braucht und hinter meinem Rücken gegen mich intrigiert. Das soll Ihnen teuer zu stehen kommen. Das letzte Wort wird die Fürstin-Mutter sprechen.«
»Sie hat es bereits gesprochen, gnädige Frau«, fällt Germaine ihr beherrscht in die Rede. »Sie war es, sie allein, die die Anwesenheit meiner Tochter auf dem ›Fürsten-Ball‹ gewünscht hat, ja, bestimmte –«
»Sie lügen!« zischt die Orgon.
»Sie irren, gnädige Frau. Die Fürstin-
Mutter hat meine Tochter singen hören. Es ist widersinnig von Ihnen, sich gegen etwas zu sträuben, was bereits feststeht.«
»Sie – Sie sind eine unverschämte Person. Die Antwort darauf wird Ihnen der Hof geben. Ich halte es für unter meiner Würde, mich weiter mit Ihnen zu unterhalten. Selbstverständlich verzichte ich für alle Zukunft auf Ihre musikalische Unterstützung.«
Als das Unwetter an Germaine vor-übergerauscht ist, muß sie sich doch erst einmal niedersetzen. Ihr zittern die Knie. Beatrix, die die Sängerin hat abfahren sehen, kommt ins Zimmer gestürzt. Sie wird von ihrer Mutter mit den Worten empfangen:
»Die bin ich los, Kind – für immer los.«
Beatrix umarmt ihre Mutter. »Freu dich doch darüber, Muschi. Du hast lange genug unter ihren Launen gelitten. Hast du ihr schon jemals etwas recht gemacht?«
»Woher weißt du das, Beatrix? Hast du etwa gelauscht?« erkundigt Ger-
maine sich verwundert. Beatrix errötet. »Ja, Muschi, ich habe oft an der Tür ge-lauscht. Ich – ich wollte doch nur hören, wie die Orgon singt.«
»Und wie singt sie, wenn man fragen darf?« Germaine hat ihren Humor wiedergefunden. »Weißt du das etwa auch, du Guck-in-dieWelt?«
»Genau«, erwidert Beatrix heftig. »Sie singt ausgesprochen schlecht. Ihr macht das Atmen große Mühe. Sie sollte rechtzeitig abtreten. Das ist meine Meinung.«
Und das Kind hat auch noch recht – denkt Germaine – die Orgon sollte sich um einen glanzvollen Abgang bemühen.
»Du sagst doch gar nichts mehr, Mutti!« erinnert Beatrix ihre in Gedanken versunkene Mutter. Germaine lächelt.
»Nun ja, ich gebe zu, Madame Orgon hat früher besser gesungen. Jeder Künstler überschreitet einmal den Zenit. Du aber, Kleines, sollst nicht überheblich werden. Madame Orgon hat schon Erstaunliches geleistet, du aber noch nicht.«
»Aber, Mutti. Auf keinen Fall möchte ich überheblich erscheinen.«
Beatrix stürzt auf ihre Mutter zu und schließt sie impulsiv in die Arme. Ihr ist, als könne sie erst jetzt richtige Freude an der Einladung zum »Fürsten-Ball« finden.
*
Das Fürsten-Palais erstrahlt im festlichen Glanz. Die Tore sind weit geöffnet. Wagen auf Wagen rollen vor dem hellerleuchteten Portal vor. Auf der Freitreppe werden sie von uniformierten Dienern in Empfang genommen und in die Vorhalle und von da aus in die Garderobe geleitet. Dann nimmt sie der Haushofmeister in Empfang und bittet sie in den Audienzsaal, damit sie auf das Erscheinen des Hofes warten können.
Erwartungsvolle Stimmung liegt über den Anwesenden. Die ersten Familien des Landes sind mit ihren Töchtern versammelt. Roben aus glänzenden, kostbaren Stoffen werden achtlos über den flimmernden Marmorboden getragen. Brillanten funkeln in blonden, braunen und schwarzen Haaren.
Während sich der Audienzsaal immer mehr füllt, steht Baron Felix von Horby vor seinem Freund.
»Laß dich mal anschauen«, sagt er und dreht Fürst Alexander zu sich herum. Der Fürst trägt den Frack und die Schärpe der Farben des regierenden Fürstenhauses und an der linken Brust den Stern.
»Nun, was gibt es da zu sehen? Ist doch alles in Ordnung. Oder?«
Baron von Horby lacht. »Ich wollte mir nur mal ansehen, wie ein Mensch in die Welt blickt, der in wenigen Stunden Bräutigam sein wird.«
»Bist du so fest überzeugt?« gibt der Fürst kühl zurück.
»Und wie, Alex. Du hast doch dein Wort gegeben. Das gilt doch noch!«
»Ja – es gilt noch«, gibt der Fürst ernst zurück. »Wir müssen die Fürstin-
Mutter abholen. Komm, Felix!« Gemeinsam verlassen sie die Gemächer des Fürsten, überqueren einen langen Flur und suchen den linken Seitenflügel auf, wo sich die Zimmer der Fürstin-
Mutter und die der Prinzessinnen befinden. Auf dem Weg fragt der Fürst: »Nichts gehört von meiner schönen Unbekannten?«
»Leider muß ich dich enttäuschen, Alex«, antwortet der Baron, der selbst neben der imponierenden Gestalt des Fürsten eine gute Erscheinung abgibt.
Fürst Alexander vermag seine Enttäuschung nur schwer zu verbergen.
»Dann wird diese heimliche Liebe wohl ein Märchen bleiben«, sagt er verträumt. Besorgt blickt der Baron den Freund von der Seite her an.
»Die richtige Stimmung, um auf Brautwerbung zu gehen. Alexander, wach auf«, ermuntert er den Fürst.
Zehn Minuten später meldet der Haushofmeister die hohen Herrschaften den Gästen und lächelnd, die Fürstin-
Mutter am Arm, gefolgt von den Prinzessinnen und dem Hof, betritt Fürst Alexander von Thorsten-Thorn den Saal.
Und dann beginnt die Vorstellung der jungen Damen, die vor den Fürstlichkeiten ihren Hofknicks machen und langsam an ihnen vorüberschreiten.
Fürst Alexander lächelt und grüßt, grüßt und lächelt und keiner bemerkt, daß nur seine Lippen lächeln, sein Auge aber bleibt ernst, kühl, und seine Gedanken sind ganz woanders.
Nach der Vorstellung begibt man sich in den Konzertsaal, wo in jedem Jahr das Fest mit einem Konzert eingeleitet wird.
Fürst Alexander nimmt das Programm zur Hand, um es zu studieren. Er wendet sich an den neben ihm sitzenden Freund.
»Ist Renata Orgon erkrankt?« erkundigt er sich flüsternd. »Warum hat man anstatt ihres Namens drei Zeichen hingesetzt?«
»Das weißt du nicht?« gibt der Baron im gleichen Flüsterton zurück. »Die Fürstin-Mutter hat uns doch eine Überraschung versprochen. Ich vermute diese Überraschung hinter den drei Zeichen.«
»Möglich!«
Das Konzert nimmt seinen Anfang. Zunächst spielt das Sinfonieorchester der Landeshauptstadt. Anschließend stellt Madame Chapu junge Solisten vor. Meisterschüler, die sie ausgebildet hat, und die jeweils zum »Fürsten-Ball« dem Hof vorgestellt werden.
Doch die größte Überraschung kommt zum Schluß des meist nicht länger als eine Stunde dauernden Konzertes.
Schlagartig löschen die Lichter im Saal. Die Scheinwerfer sind auf die Bühne mit dem Flügel aus Elfenbein gerichtet. In ihrem Schein taucht Madame Chapu auf. An der Hand geleitet sie eine zarte lichtumflutete Mädchengestalt auf die Bühne. Ihre Robe ist von zauberhafter Wirkung. Ein Gedicht aus weißglänzender, schwerer Seide, verarbeitet mit hauchzartem Tüll, übersät mit flimmernden Steinen.
Mit einem Ruck sitzt Fürst Alexander aufrecht. Seine Hand tastet zu dem Freund und preßt den Arm Horbys so fest, daß dieser den Mund verzieht.
»Das ist sie, Felix.« Seine Stimme ist heiser vor Erregung. »Felix, das ist meine schöne Unbekannte.« Und dann sagt er kein Wort mehr. Aber sein Gesicht spricht Bände.
Unauffällig beobachtet die Fürstin-
Mutter von ihrem erhöhten Platz aus die Wirkung der Erscheinung Beatrix Chapus auf die anwesenden Gäste. Sie lächelt zufrieden vor sich hin und streift dabei den Fürst mit einem Blick.
Nanu? Was ist plötzlich mit Alexander los? Wie hat sich sein Aussehen von einer Minute zur anderen gewandelt? Ist er so tief beeindruckt von der kleinen Chapu?
Beider Blicke begegnen sich. Fürst Alexander strahlt sie an, und die Fürstin-Mutter neigt sich etwas zu dem Enkel.
»Das ist meine Überraschung, Alexander. Meine Entdeckung. Gefällt dir die Kleine?«
Wie aus einem Traum erwachend nickt der Fürst.
»Aber du sollst sie erst singen hören. Psst! Es geht los«, setzt sie leise hinzu, als der Fürst ihr anworten will. Er läßt sich zurückgleiten und schließt die Augen.
Es ist ein anspruchsvolles Programm, was die junge Sängerin zum Vortrag bringen wird. Auf dem Podium setzt eine Stimme ein, die ihn geradezu erschauern läßt. Ihm ist, als würden seine Augen gewaltsam aufgerissen. Das kann doch nicht möglich sein, daß dieses junge, wunderschöne Geschöpf, mit so viel Liebreiz und Schönheit ausgestattet, auch noch über eine geradezu phänomenale Stimme verfügt?
Aber es ist kein Traum. Dort steht seine schöne Unbekannte in gänzlich unbefangener Haltung und singt mit einer glockenreinen Innigkeit, die einen zu Tränen rühren könnte.
Als der letzte Ton der ersten Arie verklungen ist, lagert atemloses Schweigen über dem Konzertsaal. Doch dann brandet der Beifall los.
Erregt neigt Fürst Alexander sich zur Fürstin-Mutter.
»Großmama, das ist keine Überraschung, das ist ein unfaßbares Wunder. Wer ist die Sängerin?«
Während die Fürstin-Mutter immer noch applaudiert, erklärt sie ihm leise: »Die Tochter Madame Chapus.«
Der Fürst schüttelt den Kopf. »In der Tat, kaum zu fassen. Werden wir sie nun öfter sehen und hören? Und wird sie zum Essen und am Tanz teilnehmen?«
»Viele Fragen auf einmal, Junge. Jedenfalls hoffe ich stark, daß Madame Chapu uns mit ihrer Tochter die Ehre geben wird.«
»Du vermutest, sie könnten uns beide davonlaufen?« fragt er düster.
»So ganz unwahrscheinlich wäre es nicht. Madame Chapu hat eine sonderbare Vorstellung davon, was ein junges Mädchen mitunter dringend nötig hat, nämlich sich unter die Jugend zu mischen und fröhlich zu sein.«
Außer dem Programm muß Beatrix Chapu noch drei Zugaben singen. Sie tut es gern, obgleich ihre Mutter ihr heimlich ein Zeichen gibt, Schluß zu machen.
Das Konzert ist beendet, und nun setzt das Rätselraten ein. Renata Orgon hat heimlich das Palais verlassen, nachdem sie Zeuge des triumphalen Auftrittes Beatrix’ geworden ist.
Die Fürstin-Mutter hat sich erhoben und mit ihr der Hof und die Gäste. Die Türen zum großen Empfangssaal sind weit geöffnet. Man steht in zwanglosen Gruppen zusammen und wartet auf die Fürstin-Mutter und den Fürst.
Diese haben soeben das Künstlerzimmer betreten. Sie finden die junge soeben noch begeistert gefeierte Künstlerin weinend vor.
»Nanu, Kindchen!« Die Fürstin-Mutter geht betroffen auf das Häufchen Elend zu, das zusammengekauert in einem der tiefen Sessel lehnt und bitterlich schluchzt? »Tränen? Und das am heutigen Tag?« Von der hilflos weinenden Beatrix hinweg, über deren Kopf sie streichelt, schaut sie auf die erblaßte Germaine Chapu. »Wer hat denn unseren Star so sehr gekränkt?«
Germaines Augen wandern von der Fürstin-Mutter hinweg zu der hohen Gestalt des Fürsten hinüber, der wie angewurzelt neben der Tür stehen geblieben ist. Ihre ganze Haltung drückt Ratlosigkeit aus.
»Bitte, Großmama, stellt mich doch der jungen Dame vor«, läßt der Fürst seine sonore Stimme ertönen. Von ihrem Klang wird Beatrix förmlich herumgerissen.
Mit einem belustigten Lächeln, Madame Germaines Ratlosigkeit ignorierend, übernimmt die Fürstin-Mutter die Vorstellung, und die beiden Menschen, die sich zum ersten Male sehen, begrüßen sich höflich und ohne ein Zeichen des Wiedererkennens.
»Auf Wiedersehen, in zehn Minuten«, erklärt die Fürstin-Mutter, nimmt den Arm des Fürsten und verläßt mit ihm das Künstlerzimmer.
Schicksal, denkt Germaine verzweifelt, nimm deinen Lauf. Ich kann nichts mehr daran ändern. Nachdem sie das gedacht hat, fordert sie Beatrix auf, sich herzurichten, damit die Fürstin-Mutter nicht zu warten brauche.
Germaine Chapu hat bis jetzt immer nur als Künstlerin geholfen, das Fest zu verschönern. Heute ist sie aber als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zum Essen und anschließenden Ball eingeladen. Sie ist sehr glücklich darüber, auch auf ihre Tochter ist sie stolz. Und doch zittert sie innerlich, und das überschattet ihre Freude.
Ein paar Stunden dauert das Essen, unterbrochen von Ansprachen, die gehalten werden und in denen auch von der jungen, vielversprechenden Künstlerin Beatrix Chapu die Rede ist.
Beatrix wagt kaum die Augen zu heben. Die dichten Wimpern liegen wie ein Schleier über den schönen tiefblauen Augen. Wenn sie sie hebt, trifft ihr Blick jedesmal mit dem des Fürsten zusammen. Sie spürt jedesmal ihr Herz heftig hämmern.
Endlich ist auch die lange Tafel überstanden. Die nächsten Flügeltüren öffnen sich, und eine gute Kapelle spielt zum Tanz auf.
Noch immer hat der Fürst mit einer Tochter aus erster Familie den Reigen eröffnet, und jedesmal hoffte man, es sei die Auserwählte des Fürsten. Doch genauso oft wurde man enttäuscht.
Fürst Alexander steuert direkt auf Beatrix Chapu zu. Heute kümmert er sich überhaupt nicht um Tradition. Heute will er nichts als ein glücklicher Mensch sein.
Und zum Erstaunen aller, außer der Fürstin-Mutter, eröffnet er die diesjährige Ball-Saison mit der jungen, liebreizenden Beatrix Chapu. Aus respektvoller Entfernung sieht man den ersten Runden des Wiener Walzers zu, den das schöne Paar zusammen tanzt. Erst auf einen Wink des Haushofmeisters reihen sich die anderen Paare ein.
Stumm, aber beglückt, schwebt der Fürst mit seiner anmutigen Tänzerin über das Parkett.
Lange hält der Fürst das Schweigen nicht aus.
»Kennen Sie ein junges Mädchen, das ein edles Pferd mit einer ›alten Mähre‹ verglichen hat?«
Ohne den Blick zu heben, haucht
Beatrix:
»Ja, Durchlaucht!«
»Demnach dürfte Ihnen ein rollerwütiges Mädchen auch nicht unbekannt sein.«
»Ja, Durchlaucht!«
Er zieht sie mit einer heftigen Gebärde enger an sich heran.
»Gedenken Sie mich den ganzen Abend mit der geistreichen Rede ›ja, Durchlaucht‹ zu unterhalten?«
Die dunklen Wimpern flattern. Ihr Mund bleib todernst.
»Nein, Durchlaucht, damit würde ich eine Todsünde begehen.«
»Eine – was?«
»Eine Todsünde, Durchlaucht. All diese schönen jungen Damen sind eigens Ihretwegen hierher gekommen. Nicht nur um Sie von weitem anzuhimmeln. Sie wollen mit Ihnen tanzen.«
»Sagten Sie wirklich – anzuhimmeln?«
»Sehr richtig. Das dürfte Ihnen doch kaum entgangen sein, Durchlaucht. Sie würden also eine Todsünde begehen, wollten Sie wirklich den ganzen Abend auf mein ›geistreiches‹ Geplaudere hören.«
Er lacht herzlich auf
»Sie reden wie ein Rechtsanwalt. Wenn ich mal in der Klemme bin, komme ich zu Ihnen.«
Ihre Augen funkeln ihn erzürnt an.
»Sie machen sich nur lustig über mich, Durchlaucht.«
»Im Gegenteil, Gnädigste, ich nehme Sie sogar sehr ernst«, widerspricht er, dabei sitzt ein Lächeln in seinen Mundwinkeln. Sie ist ja noch viel anziehender, als er sie in Erinnerung hat.
»Und Sie sind nun überzeugt, daß ich Ihren weisen Rat befolgen werde und es den ganzen Abend mit diesem einen Tanz mit Ihnen bewenden lasse?«
»Überzeugt?« Sie sieht in das schmale, energische Gesicht des Fürsten, und sie weiß, daß er unter allen Umständen seinen Willen durchzusetzen verstehen wird. So gibt sie zögernd zu. »Überzeugt? – Nein! Sie werden nur einsichtsvoll sein und alles vermeiden, sich den Zorn der Fürstin-Mutter zuzuziehen –«
»– zumal man von mir verlangt, daß ich mir heute meine zukünftige Frau auswähle«, versetzt er mit einem Ernst, der sie tief erblassen läßt. Ihr Herz zieht sich schmerzvoll zusammen. Lieber Himmel! Er wird sich unter den standesgemäßen Töchtern eine passende Frau aussuchen. Er wird eine der anwesenden Damen zur glücklichsten Frau der Welt machen, und sie wird todunglücklich sein.
Er hat ihr Erblassen wohl bemerkt, weiß aber nicht, mit was er es in Verbindung bringen soll.
Seine Fürsorge erwacht, und mit warmer Stimme fragt er:
»Sie sind ganz bleich geworden. Ist Ihnen nicht wohl?«
Mit einer geistesabwesenden Geste streicht sie sich mit der Linken über die Stirn, als könne sie damit die quälenden Gedanken fortwischen.
»In der Tat«, stammelt sie. »Es ist sehr heiß hier –«
»– und der Tag ist sicher auch sehr aufregend für Sie«, vollendet er.
»Ja, Durchlaucht!«
»Nun sind wir bereits wieder bei unserer einseitigen Unterhaltung angelangt –«
»Und der Tanz wird auch gleich zu Ende sein«, erinnert sie ihn an die Wirklichkeit.
Im selben Augenblick setzt auch die Musik aus, und der Fürst gibt sie frei. Ihren Arm jedoch nicht. Er hat es auch nicht sehr eilig, sie sofort an ihren Tisch zu bringen. Er steuert auf den an-schließenden Salon zu, und ängstlich sieht Beatrix zu ihm auf.
»Es wäre besser, Durchlaucht würden mich zu meiner Mutter zurückbringen«, bittet sie ihn leise.
»Viel besser ist, wenn Sie sich in der hier weit besseren Luft etwas erholen«, schlägt er vor und zwingt sie mit sanfter Gewalt in einen zierlichen Sessel.
»Jetzt sehen Sie so ängstlich aus, als sei ich der böse Wolf und Sie hätten Angst vor mir.«
Sie schöpft tief Atem. »Angst vor Ihnen? Nein! Ich fürchte nur, man wird es mich sehr fühlen lassen, daß Sie sich mehr um mich als um die anderen bemühen. Bitte, führen Sie mich zurück!«
Er sieht ihr lange in die groß zu ihm aufgeschlagenen Augen. Sie hat richtige Märchenaugen, durchfährt es ihn, und er würde sie am liebsten in die Arme nehmen und von dem Trubel hinwegtragen.
Statt dessen verneigt er sich höflich, reicht ihr den Arm und bringt sie wortlos zu Germaine zurück.
Abermals eine Verneigung, auch zu Germaine hin, und er durchquert den Saal, taucht wenig später hinter der Fürstin-Mutter auf, die von einer Anzahl Damen und Herren umgeben ist, die sich im Halbkreis um ihren Platz gruppiert haben.
Die Fürstin-Mutter ist eine glänzende Plauderin, sie besitzt Humor und lacht gern. Ihre Augen suchen Fürst Alexander, sie kann ihn aber nirgends entdecken. Ein klein wenig fährt sie zusammen, als sie hinter sich sein leises Flüstern hört.
»Kann ich dich einen Augenblick sprechen, Großmama?«
Sie nickt, gibt den Umstehenden einen Wink, damit man sie mit dem Fürsten allein läßt, und als es geschehen ist, läßt Fürst Alexander sich neben ihr nieder.
Während die beiden den Tanzenden zuschauen, unterhalten sie sich.
»Nun, gefällt es dir, Alexander? Und warum tanzt du nicht?«
»Es ist sehr schön. Aber ich muß mit dir sprechen, Großmama.«
Freundlich lächelnd nickt die Fürstin-
Mutter einem an ihr vorübergehenden Paar zu. »Was gibt es jetzt Wichtigeres, als dich zu amüsieren? Sieh mal die blonde Gräfin Eichberg an. Ist sie nicht sehr schön?«
»Hm!« macht der Fürst und blickt
sekundenlang interesselos nach der Gräfin. »Geschmacksache, Großmama. Es gibt weitaus schönere Frauen im Saal.«
»Wie ich meinen Enkel Alexander kenne, hat er sich bereits die Schönste ausgesucht. Darf man fragen, wer es ist?«
Alexanders Augen leuchten auf, und sie suchen eine einzige, deren Tisch umlagert ist.
»Man darf«, sagt er kurz, und wie ihr scheint, etwas gepreßt. »Es ist Beatrix Chapu.«
Beängstigende Stille.
»Großmama!« Fürst Alexanders Hand tastet nach der Hand der Fürstin-Mutter. »Warum antwortest du nicht?«
»Du hast mir vor kurzem erklärt, ich wäre der erste Fürst von Thorsten-
Thorn, der nach seinem Herzen wählen dürfte. Hat das noch Gültigkeit?«
»Das hat noch Gültigkeit, Alexander.«
»Großmama, das heißt also –«
Sie nickt nur. Er drückt so heftig ihre Hand, daß sie den Mund verzieht. »Bitte, bring mich nicht gleich um, Junge.«
»Ich danke, Großmama!«
»Halt, wohin willst du?« hält sie ihn zurück, da er aufgesprungen ist. »Setz dich noch einmal.« Gehorsam nimmt er wieder Platz.
»Schwierigkeiten?« fragt er.
»Ja, Alexander, nicht von meiner Seite. Meine Befürchtungen bewegen sich nach einer anderen Richtung. Du wirst bei Madame Germaine Chapu einen schweren Stand haben. Hast du nicht gemerkt, daß sie mit ihrer Tochter nach dem Konzert das Palais verlassen wollte? Sie will unter allen Umständen vermeiden, daß Beatrix in die Gesellschaft kommt. Nun, eingeführt habe ich sie selbst. Aber so einfach bestimmen, daß sie ihre Tochter dir zur Frau gibt, das kann ich nicht.«
Fürst Alexander lacht sorglos auf. »Das werde ich gleich feststellen, Großmama.« Er erhebt sich. »Bis nachher«, sagt er siegessicher und entfernt sich rasch.
*
Beatrix tanzt gerade, als Fürst Alexander bei Germaine auftaucht.
»Madame, würden Sie mir eine kurze Unterhaltung gewähren?«
Überrascht sieht sie ihn an, steht aber widerspruchslos auf und geht mit ihm. »Hier, Madame!« Er öffnet die Tür zum Salon, der völlig verlassen ist und läßt sie eintreten.
Beherrscht steht er vor ihr, mit äußerer Gelassenheit. Innerlich ist er längst nicht so ruhig. Er hat die zierliche Französin, die sich in der Stadt durch ihr Wirken einen guten Namen gemacht hat, schon immer gut leiden können.
Germaine beginnt die Stille peinlich zu werden.
»Durchlaucht wollten mich sprechen?« wagt sie ihn zu erinnern.
»Verzeihung, Madame. Sie sollen nicht länger im unklaren sein. Da ich Ihre Tochter Beatrix liebe, bitte ich Sie hiermit um ihre Hand.«
Germaines Züge entspannen sich und verwandeln sich zu völliger Verstörtheit. »Durchlaucht – das ist doch wohl nicht möglich«, stößt sie atemlos hervor.
»Das Wort ›unmöglich‹ existiert für mich nicht, Madame.«
»Denken Durchlaucht nicht daran, daß Sie eine standesgemäße Frau heimführen müssen?«
Er lächelt amüsiert. Nun, daß sie besonders erfreut über seinen Antrag ist, kann er nicht gerade feststellen.
»Denken Durchlaucht nicht an die Gesetze des Hauses Thorsten-Thorn?« bringt sie sich wieder in Erinnerung.
»Was wissen Sie von den Hausgesetzen unserer Familie?«
Germaines Gesicht ist wie in dunkle Glut getaucht.
»Das – was fast jeder in Ihrem Lande weiß, Durchlaucht, eben, daß vor allem die zukünftige Landesmutter von hoher Geburt zu sein hat.«
»Das war einmal, Madame. Diese Gesetze sind grundlegend geändert worden. Auch ein Mann von fürstlicher Geburt darf nach seinem Herzen wählen.«
»Da Durchlaucht so ehrlich zu mir sind, muß ich es auch sein. Beatrix ist nicht meine leibliche Tochter. Sie ist meine Adoptiv-Tochter. Das müssen Sie unbedingt wissen.«
Betroffen schweigt der Fürst. Liegt hier der Schlüssel zu Madame Chapus Zurückhaltung? Aus rein familiären Gründen hält Madame Chapu ihre Tochter aus der Öffentlichkeit heraus?
»Kennen Sie Beatrix’ Eltern?«
»Ich habe sie sehr gut gekannt. Sie sind tot. Beatrix weiß nicht, daß ich sie adoptiert habe. Sie hält mich für ihre richtige Mutter. Sie soll es an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag erfahren. Es liegt ein Testament bei einem Notar, das ihr an diesem Tage zugeleitet werden wird. So –«, endet sie mit einem tiefen Aufatmen. »Das mußte ich Ihnen unbedingt sagen, Durchlaucht. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.«
Fürst Alexander geht einige Male vor Germaine auf und ab. Er hört seine Großmutter sagen: »Sie muß nur eine tadellose Vergangenheit haben.«
Ruckartig verhält er vor Germaine den Schritt. »Das ändert nichts an meinem Entschluß, Madame. Nur eine Frage wollen Sie mir bitte noch beantworten. Können Sie mit gutem Gewissen behaupten, daß Beatrix’ wirkliche Eltern ehrenwert waren?«
»Das kann ich sogar beeiden«, kommt ohne Überlegung Germaine Chapus Antwort.
»Danke, Madame, das genügt mir schon.«
»Sie sagten, Sie lieben meine Tochter, Durchlaucht. Aber Sie kennen sie doch erst seit wenigen Stunden.«
Mit einem charmanten Lächeln sagt er: »Muß man einen Menschen erst Jahre kennen, um ihn zu lieben? Gibt es keine Liebe auf den ersten Blick mehr?«
»Doch, Durchlaucht«, erwidert Germaine mit gesenktem Kopf leise. »Die hat es jedenfalls gegeben, aber in einer romantischeren Zeit als heute. Beatrix’ Eltern hat auch diese Liebe auf den ersten Blick zusammengeführt.«
»Aha! Und war die Ehe glücklich, Madame?« forscht er, mit Spannung auf ihre Antwort wartend.
»Sie war außerordentlich glücklich. Trotzdem möchte ich Durchlaucht bitten, vorläufig meiner Tochter nicht mit Liebesanträgen zu kommen. Sie ist noch viel zu jung, um zu wissen, was die richtige Liebe ist.«
»Sie wollen damit sagen, Madame, daß sie meinen Antrag – ablehnen könnte?«
Germaine legt den Kopf in den Nakken. »Ja, Durchlaucht«, erwidert sie kühl und entschlossen.
»Und was müßte ich Ihrer Meinung nach tun, um an mein Ziel zu gelangen?«
»Durchlaucht müßten warten, bis
Beatrix das einundzwanzigste Jahr erreicht hat.«
»Wann würde das sein?«
»Beatrix wird in zwei Monaten achtzehn Jahre alt. Sie können es sich ausrechnen, Durchlaucht.«
»Danke, Madame, für Ihre Offenheit. Genau das wird ein Fürst Alexander von Thorsten-Thorn nicht tun, wenn er sich einmal entschlossen hat. Sie wissen, was Sie wollen, Madame – mein Kopf ist aber noch ein bißchen härter. Darf ich Sie an Ihren Tisch zurückbegleiten, Madame?«
Wie betäubt nimmt sie seinen Arm. »Aber, Durchlaucht, was werden Sie tun? Sie wissen doch gar nicht, ob Beatrix Sie ebenfalls liebt.«
»Es genügt, wenn ich sie liebe, Ma-dame. Es wird mir gelingen, ihr Herz zu erobern, dessen bin ich sicher.«
Germaine sagt kein Wort mehr. In ihrem Herzen sieht es trostlos aus. Mit bleichem Gesicht nimmt sie an ihrem Tisch ihren Platz wieder ein.
Beatrix tanzt an dem Tisch vorbei und wirft eine verstohlene Kußhand zu ihrer Mutter hin, was diese aber nicht sieht. Ihr Auge sucht Fürst Alexander. Sie kann jedoch weder ihn noch die Fürstin-Mutter im Saal entdecken.
*
»So ist das also«, sagt die Für-stin-Mutter. Sie sitzt genau in dem Sessel, in dem kurz vor ihr Germaine Chapu gesessen hat. Fürst Alexander hat ihr den Verlauf der Unterredung mit Germaine wortgetreu wiedergegeben. »Und was soll ich dabei tun? Man kann doch Madame nicht zwingen, dir ihre Tochter zu geben.«
Fürst Alexander hat einen Entschluß gefaßt. »Nein, zwingen kann man sie nicht, aber einfach überrumpeln.«
»Und wenn die schöne Beatrix dieselbe Einstellung wie ihre Mutter hat, was dann?«
Fürst Alexander schüttelt den Kopf. »Das glaube ich nicht, Großmama.«
Die Fürstin-Mutter versinkt in Nachdenken, aus dem sie plötzlich aufschreckt.
»Tu mir den einzigen Gefallen und kehr zu den Gästen zurück und tanze. Zumindest mußt du die Pflichttänze hinter dich bringen. Sorge dafür, daß Baron von Horby in genau einer halben Stunde Madame Chapu und ihre Tochter ganz in meine Nähe bringt, damit ich beide mit einer Handbewegung zu mir rufen kann. Alles andere überlaß mir. Nun geh schon«, winkt sie mit beiden Händen ab. »Du machst mich auf meine alten Tage noch zur Kupplerin.«
Lachend eilt Fürst Alexander davon, erwischt Baron Felix, mit dem er ein paar Minuten eindringlich spricht, bis dieser sich willig entfernt. Er verspricht sich einen Heidenspaß von dem Kommenden.
*
Kein Gerücht macht so schnell die Runde, als wenn man es jemand unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut.
»Wissen Sie schon, der Fürst wird sich heute verloben!«
»Endlich. Wer ist denn unsere zu-künftige Landesmutter?«
»Keine Ahnung.«
So ist noch keine halbe Stunde vergangen, als jeder im Saal von dieser Neuigkeit unterrichtet ist.
Auch Beatrix und ihre Mutter erfahren es. Germaine atmet tief auf. Gottlob! Der Fürst hat sich abgefunden. Also muß sie ihn überzeugt haben, daß es keinen Zweck hat, auf Beatrix zu warten.
Die ahnungslose Beatrix empfängt diese Nachricht wie einen Schlag aufs Herz.
»Mutti, bitte, laß uns das Palais verlassen«, raunt sie mit bebenden Lippen Germaine zu.
Aufmerksam betrachtet Germaine ihre Tochter und erschrickt.
»Wie sieht du denn aus, Kind?«
»Mir ist nicht wohl, Mutti. Bitte, komm«, drängt sie. Um nichts möchte sie erleben, die Auserwählte des Fürsten zu sehen, ihr vielleicht gar noch gratulieren zu müssen.
»Sicher gehen wir. Du siehst ja direkt elend aus. Laß uns heimlich verschwinden«, stimmt Germaine ihr zu und sieht sich um. Geradewegs steuert Baron von Horby, der auch Germaine kein Unbekannter ist, auf sie zu. Nun ist es zu spät, davonzulaufen.
»Madame, würden Sie die Güte haben, mich Ihrer Tochter vorzustellen?« beginnt er das Gespräch, und Germaine bleibt nichts anderes übrig.
Sie setzt hinzu: »Baron von Horby ist der Freund und Vertraute des Fürsten Alexander.«
Beatrix zwingt sich zu einem höflichen Lächeln.
»Madame, die Fürstin-Mutter bittet Sie und Ihre Tochter zu sich. Darf ich Sie führen?«
Ein Entrinnen ist jetzt unmöglich, denkt Germaine. Wenn die Fürstin- Mutter bittet, so ist das so gut wie ein Befehl. Ergeben geht Beatrix hinter der Mutter her. Sie preßt die Abendtasche an das wild klopfende Herz.
Der Tanz ist beendet, und die Paare kehren an ihre Plätze zurück. Die Fürstin-Mutter winkt Beatrix Chapu zu sich und streckt ihr die Hand entgegen, die Beatrix zaghaft erfaßt. Sie ist so unglücklich, daß sie kaum merkt, wie ihre Hand festgehalten wird.
Jetzt erhebt die Fürstin-Mutter sich, mit ihr Fürst Alexander und dann alle Gäste.
Die Musik spielt einen Tusch, und augenblicklich herrscht eine mit Spannung geladene Stille.
Die Fürstin-Mutter lächelt über die Anwesenden hin, dann dreht sie sich halb Beatrix zu, die sie immer noch fest an der Hand hält und schiebt sie vor sich her an die Seite des Fürsten.
Was sonst nicht am Hof üblich ist, diesmal tut es die Fürstin-Mutter. Und sie weiß genau, warum! Da Beatrix Chapu weder dem Hochadel noch der Geldaristokratie angehört, will sie besonders betonen, wie sehr sie mit dem, was da kommt, einverstanden ist.
Mit ihrer dunklen, melodischen Stimme verkündet sie:
»… und so kann ich Ihnen die freudige Mitteilung machen, daß sich Fürst Alexander von Thorsten-Thorn soeben mit der Tochter unserer allseits geschätzten Madame Germaine Chapu, Beatrix Chapu, verlobt hat. Unser Land wird hiermit endlich wieder eine junge Landesmutter haben. Bitte, trinken Sie mit mir auf das Glück und Weiterbestehen unseres Fürstenhauses Thorsten-
Thorn.«
Unauffällig haben sich eine Anzahl Diener genähert und verteilen auf Silbertabletts Sekt.
Dadurch sind zunächst die Gäste abgelenkt, und so achtet keiner auf Beatrix, die blaß neben dem Fürsten lehnt, der seine Hand rasch unter ihren Arm schiebt.
»Bitte kein Aufsehen, Beatrix. Hinterher will ich dir alles erklären. Ich liebe dich!«
Eine sich schnell über ihren ganzen Körper verbreitende Schwäche wandelt sie an, gegen die sie tapfer ankämpft.
»Haltung bitte, Beatrix«, hört sie neben sich die beschwörende Stimme des Fürsten. In ihren Ohren ist ein Sausen und Brausen, aus dem sich nur etwas in ihr festsetzt, Alexanders geflüstertes: »Ich liebe dich!«
Voll Schreck stellt der Fürst fest, wie Beatrix langsam seine Hand von ihrem Arm schiebt, um im nächsten Augenblick zu spüren, wie sie ihren Arm dafür in den seinen schlingt. Und damit geht gleichzeitig ein Leuchten über seine Züge, was sie unwiderstehlich macht. Langsam dreht Beatrix den Kopf, sieht mitten hinein in seine strahlenden Augen und lächelt ihn bezaubernd an.
Seine hohe Gestalt strafft sich noch etwas. Dann steht er mit unendlichem Besitzerstolz neben seiner schönen Braut, und gemeinsam nehmen sie die zahlreichen Glückwünsche der an ihnen vorbeiziehenden Gäste entgegen.
Unbewegt lehnt Madame Germaine unweit von dem jungen Paar. Sie starrt ins Leere. Aber auch sie muß die Glückwünsche der Anwesenden über sich ergehen lassen.
Beatrix versucht immer wieder, einen Blick aus den Augen ihrer Mutter zu erhaschen. Vergebens! Langsam kommt Unruhe über Beatrix, was der Fürstin-Mutter nicht entgeht.
Sofort ergreift sie die Initiative. Als auch der letzte Gratulant vorübergegangen ist und die Sektkelche eingesammelt, gibt sie Alexander und Madame Germaine einen Wink.
Die Fürstlichkeiten ziehen sich für kurze Zeit zurück. Die Zwillinge mit hektisch geröteten Wangen drängen hinterher in den Salon. Für sie, wie für alle anderen, war es eine große Überraschung.
Sie sind die ersten, die das Paar mit einem Schwall von Worten überfallen.
Prinzessin Fernande bekommt kaum Luft, so erregt ist sie.
»Du bist mir ein schöner Schlingel. Hast eine Braut und läßt uns in voller Ahnungslosigkeit. Das war eine richtige Überrumpelung. Nein – ich muß schon sagen –«
Hier holt sie tief Luft, und Fürst Alexander fällt ihr in die Rede, die keineswegs seinen Geschmack getroffen hat. Doch um die Tanten zu beruhigen, denn auch Tante Ulrike wirft ihm einen bitterbösen Blick zu, sagt er lächelnd:
»Du hast ganz recht, Tante Fernande, aber es handelt sich dabei wirklich um eine Überraschung. Wie ich sehe, ist sie mir gelungen. Da es sich, und das hoffe ich doch stark, für euch um eine freudige Überraschung handelt, wäre die Angelegenheit wohl bestens geregelt.«