Читать книгу Die Erben - Karin Dietl-Wichmann - Страница 4
ОглавлениеSämtliche Personen und Schauplätze dieses Romans sind frei erfunden. Alles, was hier geschildert wird, betrifft Gesetzmäßigkeiten des Wirtschaftslebens und könnte sich deshalb so abgespielt haben, ist aber real so nie geschehen. »Die Erben« ist kein Schlüsselroman. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen wären rein zufällig und keinesfalls von Autorin oder Verlag beabsichtigt.
Prolog
Von der Aussegnungshalle bis zum Grab hüpfte der große schwarze Vogel vor ihr auf dem Kiesweg. Er schien darauf bedacht, den kleinen Zug nicht näher als zwei Meter an sich herankommen zu lassen. Manchmal flog er kurz auf, setzte sich auf einen Ast und wenn sie dachte, dass er verschwunden sei, war er wieder vor ihr.
Franziska hatte den Eindruck, dass der Vogel sie mit seinen starren Augen musterte. Eine Krähe, dachte sie und musste lachen, eine Krähe begleitet Mutter auf ihrem letzten Weg. Alles an diesem Tag kam ihr falsch vor. Auf dem Friedhof roch es nach Frühling. Alle Zeichen standen auf Neuanfang. Für eine Beerdigung war dieser Tag einfach zu schön. Tod, Tränen und Abschied schienen fehl am Platz.
Auf dem ganzen Weg fühlte Franziska eine Leichtigkeit, die nicht zu dem Anlass passte. Selbst der üppige Strauß weißer Lilien, den sie im Arm hielt, wirkte nicht wie ein Trauerbouquet, sondern eher wie ein Brautstrauß. Verstohlen sah sie zur Seite, wo mit ernstem Gesicht die Schwester ihrer Mutter schritt. Franziska schämte sich, dass sie nicht weinen konnte.
Vor drei Tagen war ihre Mutter gestorben. Magenkrebs – die Krankheit hatte sie von innen aufgefressen.
Immer hatte ihre Mutter mit dem Entsetzen und der Besorgnis der Familie gespielt. Hatte die Todkranke gemimt, als es noch keine Krankheit gab. Dann, als die Krankheit sie wie eine Strafe für diese Leichtfertigkeit überfiel, hielt es die Familie für ihr gewohntes Spiel und reagierte nicht. Ihre Mutter hatte derartige Spiele geliebt. Sie inszenierte häusliche Dramen, deren tatsächliche Bedrohung Franziska nicht einschätzen konnte. Einmal, erinnerte sich Franziska, als sie von der Schule heimkam, hatte sie ihre Mutter leichenblass in der Küche kauernd vorgefunden. Die blonden Haare klebten ihr auf der schweißnassen Stirn.
»Was ist mit dir?«, hatte Franziska gefragt. Müde hatte die Mutter abgewinkt.
»Es ist nichts, Schatz«, hatte sie geflüstert. »Ich habe manchmal so einen furchtbaren Schmerz im Kopf! Du weißt doch, Gehirntumore liegen in unserer Familie!« Franziska hatte die Mutter gedrängt zum Arzt zu gehen. Aber das tat sie nicht. Sie sagte lediglich: »Was soll der mir noch helfen!«
Niemals würde Franziska den Blick ihrer Mutter vergessen, als sie trotz dieses neuen Leidens nicht bereit war, ein Rendezvous abzusagen. Der panische Blick verfolgte sie den ganzen Abend. Und noch Jahre später ergriff sie eine große Wut, wenn sie an diese perfide Art der Erpressung dachte. Die Jahre ihrer Kindheit verbrachte Franziska in einem Zustand der Verängstigung und der Anspannung. In der bescheidenen Dreizimmerwohnung herrschte der Terror. Alles schien auf eine unausweichliche Katastrophe zuzulaufen. Immer wieder erwähnte die Mutter, dass sie ein großes Geheimnis hüte. Eines, von dem sie ihr, der Tochter, erst auf dem Sterbebett erzählen werde. Im Laufe der Zeit wurde Franziska dieser ewigen Andeutungen müde. Sie sehnte sich nach einfachen, klaren Worten. Sie wollte nicht mehr raten, nichts mehr deuten müssen. Sie verließ ihr Zuhause ohne Abschied.
So lange sie zurückdenken konnte, hatte Franziska das Gefühl gehabt, dass ihre Mutter auf etwas wartete. Ob es sich dabei um einen Menschen oder ein Ereignis handelte, wusste sie nicht.
Warum nur hatte Franziska diesen Eindruck?
Ihre Mutter würde sie auch jetzt beobachten. Erneut beschlich sie das Gefühl, diese Beerdigung sei nur eine weitere Inszenierung. Ein Test, um zu sehen wie viele Menschen sie beweinten. Mit einem Mal überfiel sie die Traurigkeit wie ein schneller, spitzer Schmerz. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht herauszufinden, welchen Grund ihre Mutter gehabt hatte, die Familie mit dem lächerlichen Schauspiel einer Dahinsiechenden zu quälen. Warum war ihr niemals in den Sinn gekommen, dass diese immer neuen Krankheiten ein verstecktes Betteln nach Liebe gewesen waren?
Franziskas Leichtigkeit war verschwunden. Die helle Frühlingssonne erschien ihr plötzlich wie ein Verrat an der Toten.