Читать книгу Verschlungene Wege - Karin Kehrer - Страница 4

Begegnung

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Barbara hält ihr Gesicht in die Sonne.

Stille, nur durch das Zwitschern der Vögel und das Raunen des Windes in den Büschen unterbrochen.

Doch die Angst und das allumfassende Gefühl tiefer Erschöpfung kann nichts vertreiben. Sie wird den Kampf verlieren. Der Krebs ist dabei, zu siegen.

Sie spürt das bösartige Gewächs in ihrem Bauch, das sich unaufhaltsam vergrößert, um sie aufzufressen. Ihren bereits zerschnittenen und verstümmelten Leib ganz zu erobern.

Etwas in ihr wehrt sich gegen diesen Gedanken.

Sie hat so hart um jedes bisschen Leben gekämpft, hat die Nebenwirkungen der Chemotherapien ausgehalten, die Tatsache hingenommen, dass ihr Haar ausfällt, dass sie sich in ein Gespenst ihrer selbst verwandelt. Auch die Schmerzen erträgt sie, manchmal besser, manchmal weniger gut.

Barbara setzt sich schwerfällig auf die Steinbank, welche die Mitte des Labyrinths ziert. Langsam ist sie den verschlungenen Pfad entlang gegangen, er ist ihr endlos erschienen. Aber das hat ihr nichts ausgemacht. Im Gegenteil. Jeder Schritt hat sie näher an das Ziel gebracht. Es gibt kein Irren, kein Nachdenken darüber, ob sie auch den richtigen Weg geht.

Diesmal wird sie keine Chemotherapie mehr machen. Es ist genug. Dann muss sie eben mit nicht einmal sechzig Jahren sterben.

Der Stein ist warm von der Sonne. Sie bleibt einfach sitzen, mit geschlossenen Augen. Josef wird erst in einer halben Stunde wieder kommen. Sie hat ihn darum gebeten, allein sein zu dürfen und er hat nur stumm genickt.

In den letzten Tagen, seit sie die niederschmetternde Neuigkeit erfahren hat, ist sie selten allein gewesen. Sie hat es bewusst vermieden, nur froh, dass Josef da ist, obwohl sie spürt, dass ihre Krankheit sie fremd für ihn gemacht hat.

Da ist jemand. Etwas. Es sieht mich an. Es wartet.

Barbara öffnet die Augen, sieht sich um. Das Gefühl, beobachtet zu werden, verschwindet sofort, wird verdrängt von Licht und Wärme. Erdwälle, auf denen die unterschiedlichsten Pflanzen wachsen, bilden die Begrenzung des Labyrinths. Schafgarbe, Minze, Lavendel, Bartnelken und Phlox senden einen Cocktail von Düften aus, der sie an die Bauerngärten der Jugendzeit erinnert. Er mildert das Durcheinander in ihrem Inneren und sie ist dankbar dafür. Wie schön wäre es, den Augenblick genießen, sich einfach fallen lassen zu können!

Nichts denken.

Leere zulassen.

Ein Gefühl der Unwirklichkeit ergreift sie. Dieser gequälte Körper gehört nicht zu ihr. Sie kann sich von ihm lösen, ihn auf dieser Steinbank zurücklassen, befreit von jeglicher Last sein.

Kurz vermeint sie zu schweben.

Gib auf! Kämpfe nicht mehr dagegen an!

Angst flackert in ihr auf. Nein! Sie kann nicht loslassen. Zu ungewiss ist das, was dann sein mag.

Aus dem Augenwinkel nimmt sie eine Bewegung wahr, einen Schatten im Grün der Büsche. Ein Flüstern huscht durch die Luft, ein kaum wahrnehmbarer Hauch streift sie.

Barbara zuckt erschrocken zusammen, zwinkert mit den Augen.

Da ist nichts. Nur ein Haselnussstrauch, genau gegenüber der steinernen Bank, am Eingang des Labyrinths. Dann sieht sie Josef den Hügel heraufkommen und winkt ihm zu.

Sie läuft, spürt den weichen Waldboden unter ihren bloßen Füßen. Es ist Nacht, aber der Vollmond beleuchtet den schmalen Pfad, der den Hügel hinauf führt.

Wirre Gedanken jagen durch ihren Kopf. Sie muss sich beeilen! Sie darf nicht zu spät kommen! Aber der Weg ist so weit!

Ihre Muskeln beginnen zu schmerzen, die kalte Nachtluft brennt in ihrer Kehle. Ein verzweifeltes Schluchzen befreit sich aus ihrer Brust.

Lauf!

Sie bleibt stehen, muss Atem schöpfen. Ihr Blick sucht den dunklen Wald ab, sie lauscht auf jedes Geräusch. Nichts ist zu hören außer das Rauschen des Windes in den Blättern und das leise Rascheln und Knacken von Zweigen.

Sie zuckt zusammen, als ein Käuzchen seinen Ruf erklingen lässt. Der Totenvogel.

Barbara reißt die Augen auf, holt keuchend Luft. Ihr Nachthemd ist durchtränkt mit kaltem Schweiß und sie fröstelt im leichten Luftzug, der durch das Fenster streicht. Das Licht der Straßenlaterne malt helle Streifen auf die leere Doppelbetthälfte neben ihr. Schon seit einer Weile schläft sie allein, erträgt Josefs Nähe nicht mehr. Jegliche Berührung löst Qual in ihr aus.

Sie liegt ganz still, versucht, ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen. Sie fühlt sich tatsächlich, als wäre sie gerannt. Dieser Traum, in dem sie zu einem unbekannten Ziel laufen muss, zu dem etwas sie mit aller Macht drängt und ruft, verfolgt sie hartnäckig seit dem Besuch beim Labyrinth.

Was mag das nur bedeuten?

Natürlich, sie läuft noch immer vor der Wahrheit weg. Ihr Leben geht zu Ende und sie wehrt sich mit Macht gegen diese Tatsache. Es ist noch viel zu früh. Sie will noch nicht gehen. Man hat ihr zu einer weiteren Chemotherapie geraten. Zuerst hat sie abgelehnt, aber zunehmend öfter denkt sie daran, diese Chance noch zu ergreifen.

Oder doch nicht? Welchen Weg soll sie gehen? Gibt es überhaupt eine Wahlmöglichkeit?

Ich habe Angst. Etwas Furchtbares wird geschehen. Ich muss laufen, um es zu verhindern. Aber ich kann nicht mehr. Ich bin so müde …

Haymon! Sie muss ihn warnen, auch wenn ihr etwas sagt, dass es längst zu spät ist. Ansgar, ihr Bruder, hat von ihren heimlichen Treffen erfahren und wartet auf ihn bei den Linden oben auf dem Berg.

Warum hat sie auch nicht besser achtgegeben! Ansgar muss ihr gestern gefolgt sein, als sie das Haus nach dem Versorgen des Viehs verlassen hat. Und heute Morgen hat er sie so seltsam angesehen und sie nach Haymon gefragt. Ob er ihr gefalle. Und dass sie nicht auf den Gedanken kommen solle, etwas mit diesem armseligen Burschen anzufangen.

Heißer Schreck ist ihr durch sämtliche Glieder gefahren und sie hat hastig geleugnet, etwas mit Haymon zu tun zu haben. Aber Ansgar hat ihre Lüge natürlich durchschaut. Und jetzt ist er bestimmt unterwegs, um ihrem Geliebten etwas anzutun. Seit Vaters Tod hat er sich zu ihrem Beschützer ernannt. Er kann so jähzornig sein!

Barbara starrt auf den Haselnussstrauch. Wieder hat sie gerade eben das Gefühl gehabt, als befände sich ein Schatten dort zwischen den Blättern. Ihre Gedanken laufen im Kreis. Ansgar? Ihr Bruder? Sie hat keinen Bruder. Und wer um alles in der Welt ist Haymon?

Wahrscheinlich wird sie verrückt.

Sie atmet tief durch, versucht das unwirkliche Gefühl zu verdrängen, das sie beschleicht.

Warum hat sie ständig das Bedürfnis, hierher kommen zu müssen? Es ist, als würde etwas sie nach oben auf den Hügel drängen, etwas, das nach ihr ruft, auf sie wartet.

Sie schüttelt den Kopf. Seltsame Anwandlungen sind das!

Ein leichter Luftzug fächelt über ihr Gesicht. Fröstelnd zieht sie die Schultern hoch. Der Himmel ist bedeckt, es sieht nach Regen aus. Was macht sie hier eigentlich? Es gibt auch hier keine Antworten auf ihre Fragen, keine Lösungen.

Ein kühler Finger berührt ihre Schultern. Sie schrickt zusammen, dreht sich um, mustert den Haselnussstrauch hinter ihr.

Vielleicht hat der Wind die Blätter bewegt. Aber das kann nicht sein. Sie steht nicht nahe genug, um von ihnen gestreift zu werden.

Haselnusssträucher sind Tore in die Anderswelt.

Das hat Martha gesagt. Martha, die an allen möglichen esoterischen Unsinn glaubt. Nur eine weitere Möglichkeit, um der Realität zu entfliehen. Barbara sind solche Gedanken fremd. Es gibt nur den Tod und danach nichts mehr.

Aber das Labyrinth hier ist schön, ein Ort mit besonderer Atmosphäre und sie nimmt die halbstündige Fahrt gerne in Kauf.

Sie setzt sich unter den Strauch, lehnt den Kopf an den Stamm und schließt die Augen.

Sie läuft. Die Anhöhe hinauf, ihre Füße tragen sie über den so oft begangenen Pfad, den sie selbst in tiefster Dunkelheit gefunden hätte. Aber jetzt beleuchtet ihn der volle Mond. Tau benetzt ihre bloßen Füße, lässt Kälte in sie dringen, ihre Beine klamm werden, macht jeden Schritt zur schieren Anstrengung.

Stechender Schmerz jagt durch ihre Seite. Sie bleibt kurz stehen, um Atem zu schöpfen, dann hastet sie weiter.

Der Anstieg auf den Hügel ist so steil! Noch niemals ist ihr das so erschienen. Bis jetzt hat immer die Freude auf das Wiedersehen mit ihrem Geliebten ihre Schritte beflügelt, doch diesmal nimmt der Weg kein Ende. Vage kann sie die Hügelkuppe sehen und die Schatten der beiden mächtigen Bäume, die sie krönen.

Sie bleibt stehen, lauscht. Es ist still. Ein Käuzchen schreit und sie zuckt zusammen. „Haymon?“ flüstert sie.

Nichts. Außer ihr eigenes Keuchen und das Rauschen des Blutes in ihren Ohren.

Sie presst die Hand auf die Brust, um den jagenden Herzschlag zu beruhigen. Haymon ist sicher schon hier. Er muss nicht durch das ganze Dorf gehen, so wie sie, um den Hügel zu erreichen und sie hat sich außerdem verspätet, aus Angst, Ansgar könne merken, dass sie ihm folgt.

Ein Rascheln ganz in der Nähe lässt sie zusammenfahren. „Erdmutter, hilf!“ Ihr Flüstern klingt überlaut in der Stille der Nacht. Unschlüssig späht sie auf den von Mondlicht überfluteten Pfad. Es ist Mittsommernacht und sie glaubt, das Raunen der Erdgeister zu spüren, die ungehalten über die Störung sind. „Ich muss Haymon suchen“, wispert sie, mehr zu ihrer eigenen Beruhigung. „Und ich muss Ansgar davon abbringen, ihm etwas anzutun.“

Ein Schrei! Gedämpft dringt er durch die Büsche, jagt heißen Schreck durch ihren Leib. Haymon!

Sie hastet weiter, bemüht sich dabei, so lautlos wie möglich zu sein. Unsägliche Angst schnürt ihr die Kehle zu. Die Ahnung, dass Schlimmes dort oben geschieht. Ansgar hasst Haymon. Hat ihn schon immer gehasst. Weil er anders ist, sanft und gutmütig. Und natürlich, weil er kein eigenes Anwesen besitzt.

Vor ihr erheben sich die mächtigen Bäume. Es ist dunkel zwischen den Stämmen, das Mondlicht vermag das dichte Unterholz nicht zu durchdringen. Hastige Schritte kommen näher, sie springt hinter einen Busch. Aus der Dunkelheit eilt eine Gestalt knapp neben ihr vorbei. Sie hört den Atem des Unbekannten, aber sie kann nicht erkennen, wer es ist.

Eine quälende Ewigkeit lang bleibt sie unschlüssig in ihrem Versteck, kauert sich auf das feuchte Gras. „Ich muss nachsehen. Heilige Erdmutter, gib, dass Haymon nichts geschehen ist!“ Sie horcht in die Stille. Ist da nicht ein leises Stöhnen, ein Röcheln?

Barbara? Hörst du mich? Barbara!

Ein Ruck geht durch ihren Körper. „Wer … wer ist da?“ Benommen starrt sie auf grüne Blätter, auf das Gras am Boden. Sie muss tatsächlich schon wieder geträumt haben.

Bohrender Schmerz jagt durch ihre Eingeweide. Barbara unterdrückt ein Stöhnen und tastet nach der Handtasche, holt die Schachtel mit den Tabletten heraus. Schluckt eine davon hastig mit dem mitgebrachten Wasser und wartet darauf, dass die Pein nachlässt. Es dauert viel zu lange, bis die leichte Benommenheit einsetzt, die sie in Kauf nimmt, obwohl sie manchmal dieses Gefühl hasst, die Welt nur mehr wie durch einen dicken Wattebausch wahrzunehmen. Sie wird einfach noch ein wenig hier sitzen bleiben und dann Josef anrufen, damit er sie abholt.

Zärtliche Finger berühren ihr Haar. Sie spürt ganz deutlich die Hand, die ihren Hals entlang streicht, sich auf ihre Schulter legt. Bald wirst du zu mir kommen, ich habe so lange auf dich gewartet, flüstert es an ihrem Ohr.

Sie schwebt, nickt nur und lächelt. Ja, Haymon! Bald ist es so weit!

„Barbara? Was ist los mit dir? Barbara?“ Josefs lautes Rufen drängt sich hartnäckig in ihre Benommenheit.

Geh nicht fort, Barbara! Bleib …

Sie öffnet die Augen, starrt verständnislos in das Gesicht des Mannes, der sich über sie beugt. „Was hast du?“ Die Besorgnis in seinem Blick holt sie in die Wirklichkeit zurück.

„Ich habe über eine Stunde gewartet. Warum hast du dich nicht gemeldet?“

Sie schüttelt müde den Kopf. „Ich wollte einfach ein wenig allein sein, tut mir leid. Ich hätte dich angerufen. Später …“

„Komm jetzt. Du bist ja eiskalt. Du wirst dir noch den Tod holen.“

Beinahe hätte sie gelacht. Der Tod ist mir gewiss. Bald schon …

Er stützt sie, als sie sich mühsam aufrappelt. Ihre Beine fühlen sich an, als wären sie aus Gummi. Eine Nebenwirkung der Schmerzmittel.

Wieder glaubt sie, eine leichte Berührung an ihrer Schulter zu spüren. Das erinnert sie an ihren Traum. Oder war es gar keiner? Die Empfindungen sind so unmittelbar gewesen, so, als hätte sie alles wirklich erlebt.

„Der Platz, an dem dieses Labyrinth errichtet wurde, war schon immer etwas Besonderes. Früher trafen sich dort die jungen Paare.“ Martha lächelt.

Barbara schüttelt den Kopf. „Das ist alles schön und gut. Aber ich weiß nicht … Das ist doch alles nur Unsinn. Ich bin nicht mehr ich selbst, seit … Ich hätte nicht darüber reden sollen.“

Martha nickt. Natürlich weiß sie um Barbaras Ansichten über alles, was nicht fassbar ist. Aber sie hat es aufgegeben, ihre Freundin zu überzeugen und Barbara ist ihr dankbar dafür.

„Träume haben immer etwas zu bedeuten, egal, woran du glaubst. Vielleicht hast du recht und es geht tatsächlich nur darum, eine Entscheidung zu treffen. Aber du musst keine Angst haben“, sagt Martha. „Es wird alles gut, ganz bestimmt.“

Wie hohl das klingt!

„Ich wünschte, ich könnte deine Überzeugung teilen.“ Barbara seufzt. „Du glaubst an die Wiedergeburt. Das ist schön für dich und macht es leichter.“

„Nein, das würde ich so nicht sagen. Öffne dich, verschließ dich nicht länger. Ich weiß, dir bleibt nicht mehr viel Zeit, also nutze sie. Vielleicht wartet etwas Besonderes auf dich. Das ist mein einziger Rat.“

Wozu soll sie die Zeit nutzen? Hat es Sinn, sich noch länger abzurackern für ein Leben, das es nicht mehr für sie geben wird?

Ist es nicht viel wichtiger, dem Wind zu lauschen, der mit den Blättern des Haselnussstrauchs spielt? Den Duft der verschiedenen Blumen zu riechen? Den Geschmack der wilden Erdbeeren zu schmecken? Den Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten?

Und zu warten.

Worauf?

Barbara weiß an diesem nebeligen Tag Ende Oktober, dass sie zum letzten Mal hierher zum Labyrinth kommt. Sie ist zu schwach, um diese Strapaze noch länger auf sich nehmen zu können. Nur noch einmal den Hügel hinaufsteigen, der jetzt verborgen im Dunst liegt. Ein Sinnbild für ihr zu Ende gehendes Leben. Was mag danach kommen?

Leere? Dunkelheit? Oder dieser Ort des wunderbaren Lichtes, von dem diejenigen sprechen, die dort gewesen und wieder zurückgekommen sind?

Sie macht einen Schritt nach dem anderen. Langsam, um ihren ausgezehrten Körper nicht zu überanstrengen. Trotzdem erscheint ihr der Weg viel zu lang. Sie ist unendlich müde. Schmerzen spürt sie nicht. Zumindest jetzt nicht.

Sie folgt der schmalen Straße, erreicht den Eingang des Labyrinths. Auch hier ist alles in Nebel gehüllt, das Ziel – die Mitte des Labyrinths – verborgen in weißer Undurchdringlichkeit. Aber das macht nichts. Sie kennt den Weg, sie kann nicht in die Irre gehen.

Die Zweige des Haselnussstrauchs streifen ihre Schultern, als sie daran vorbeigeht. Sie hinterlassen eine feuchte Spur auf der Jacke, die unangenehm kühl durch den Stoff dringt.

Sie bleibt kurz stehen, um ihren Atem unter Kontrolle zu bringen.

Barbara?

Da ist jemand. Ganz bestimmt. Sie dreht sich abrupt um. „Ja? Wer – wer ist da?“ Ihr Flüstern wird vom Nebel erstickt.

Ein kühler Finger fährt über ihre Wange. Sie schreit leise auf.

Ich bin Haymon. Ich habe auf dich gewartet. Komm.

Ein kalter Schauer jagt über ihren Körper. „Wer bist du? Was willst du von mir?“

Komm. Du wirst es erfahren.

Da ist ein Schatten zwischen den Zweigen des Haselnussstrauches. Nein, kein Schatten. Etwas Fremdes und doch so vertraut. „Haymon?“

Sie streckt ihre Hand aus. Ihre Finger berühren Dunkelheit.

Dein Name ist Borbeth. Benannt nach der Schwarzen, unserer Göttin der Dunkelheit und Ruhe. Du hast immer geglaubt, dass deine Mutter gefrevelt hat, als sie dir diesen Namen gab. Er sei zu erhaben für dich, hast du gesagt. Aber ich finde noch immer, dass es der einzige Name ist, der zu dir passt. Und siehst du, auch jetzt trägst du ihn.

Ja, sie erinnert sich. Martha hat davon gesprochen. Borbeth soll die keltische Version des Namens Barbara sein.

„Aber – was hat das alles zu bedeuten? Ich verstehe das nicht.“

Es ist lange her. Du hast vergessen. Viele Leben hat es gedauert, bis du hierher gefunden hast. Doch du wirst dich erinnern, wenn du es zulässt.

Barbara nickt. Zu betäubt, um weitere Fragen zu stellen, um überhaupt zu hinterfragen, was hier mit ihr geschieht. Wahrscheinlich hat sie Halluzinationen. Kurz taucht der Gedanke auf, nach Josef zu rufen. Er wartet im Gasthaus unten im Ort, hat sie nur nach langem Zögern und ihrem inständigen Bitten allein gehen lassen.

Aber eigentlich spielt es keine Rolle, was mit ihr geschieht. Es wird ohnehin nicht mehr lange dauern.

Bist du bereit? drängt die Stimme, die sie zu kennen glaubt.

„Wofür?“ Ihre eigene Stimme klingt fremd, gedämpft im Nebel.

Um zu sehen …

„Was? Was soll ich sehen?“

Deine Vergangenheit und deine Zukunft. Deine Bestimmung.

„Aber … ich weiß nicht. Ich verstehe das alles nicht.“

Vertrau mir.

Feuchte Blätter legen sich auf ihr Gesicht. Sie sieht grüne Dunkelheit. Und dann nichts mehr.

Sie ist oben auf dem Hügel angelangt, bei den Linden. Zögernd setzt sie Schritt um Schritt, tastet sich zwischen den Sträuchern durch. Ihr Fuß stößt an etwas Weiches. „Haymon?“ Eine Welle von Furcht rast durch ihren Körper, lässt sie leise aufschreien. Sie hockt sich auf den Boden, berührt etwas Warmes, Feuchtes.

Wieder ein Stöhnen.

Haymon? Bist du das?“

Borbeth?“

Bei der heiligen Erdmutter, was ist geschehen? Bist du verletzt?“

Ich … ich weiß nicht. Es ist … seltsam. So … kalt. Ich … brauche … Licht.“

Borbeth sieht sich gehetzt um. Unweit von ihr erhellen die Strahlen des Mondes ein Fleckchen Gras.

Ich helfe dir. Kannst du aufstehen? Nein? Ich bring dich dahin, ins Licht.“

Mit fliegenden Fingern tastet sie nach seinen Schultern, fasst ihn unter den Achseln und hebt ihn halb hoch. Er hilft nicht mit, liegt schwer in ihren Armen, stöhnt laut.

Borbeth zieht ihn auf das mondbeschienene Gras, legt ihn sachte nieder. Wie bleich sein Gesicht ist! Erst jetzt bemerkt sie den dunklen, nass glänzenden Fleck auf seinem Bauch.

Haymon? Was …?“ Sie schluchzt laut auf.

Seine Augenlider flattern. „Borbeth, ich … ich werde sterben. Geh! Nein, warte …“ Ein Wimmern entschlüpft ihm. Sie fasst nach seiner Hand. „Wer? War … war das Ansgar?“

Ich … ich weiß nicht. Da … war jemand. Ich dachte … du seist es. Das Messer …“

Es ist meine Schuld“, flüstert sie tonlos. „Ich bin zu spät gekommen. Ich wollte dich warnen, aber ich konnte nicht weg. Ansgar hat mich beobachtet. Als er ging, bin ich ihm gefolgt.“ Sie hält inne, holt tief Luft und blinzelt die aufsteigenden Tränen weg. „Du musst nach Hause. Ich werde Hilfe holen.“

Seine Hand krampft sich um ihre Finger. „Nein! Bleib! Es … es ist zu spät. Ich spüre … den Tod.“ Angst verzerrt für einen Moment sein Gesicht. „Verlass mich nicht, bitte. Bleib bei mir. Ich … warte auf dich. Dort …“ Er hustet, ein Blutfaden sickert aus seinem Mund.

Ein Würgen kriecht ihre Kehle hoch. Borbeth unterdrückt es mit Macht. „Ich bleibe bei dir. Das verspreche ich.“

Das Zeichen. Gib mir unser Zeichen. Du weißt …“ Haymon schließt die Augen.

Sie nickt stumm, im Bewusstsein, dass er es nicht wahrnimmt. Dann öffnet sie vorsichtig sein Hemd. Sie erschrickt, als sie das viele Blut sieht. Es pulsiert hell aus der klaffenden Wunde auf dem Bauch. Ein Zittern überläuft sie, doch dann taucht sie die Fingerspitze in die warme Flüssigkeit.

Ich verspreche dir Liebe und Treue bis an mein irdisches Ende. Durch die Zeiten werde ich auf dich warten, bis wir wieder vereint sein können.“ Sie malt das Symbol auf Haymons Brust, über seinem Herzen. Erst ein Kreuz, dann vier Eckpunkte, verbindet sie, bis ein einfaches Labyrinth entsteht. Dann öffnet sie ihr Mieder, zeichnet das Symbol mit seinem Blut auf ihre Brust.

Haymon öffnet die Augen und sieht sie an. Seine Lippen bewegen sich lautlos, aber sie weiß auch so, dass er den gleichen Schwur wie sie ausspricht. Vereint für alle Zeiten.

Sie nimmt seine Hand, sitzt stumm an seiner Seite. Es gibt nichts mehr, was sie für ihn tun kann. Schließlich läuft ein Zittern über seinen Körper. Seine Finger gleiten aus ihrer Hand. Für einen Moment kann sie seinen Geist spüren, der sie umfängt und sich dann verflüchtigt.

Haymon ist tot.

Barbara öffnet die Augen, findet sich im ersten Moment nicht zurecht. Sie berührt ihre Wangen, fühlt Feuchtigkeit darauf. Dann nimmt sie den Schatten wahr, der in den Zweigen des Strauches schwebt, auf sie wartet.

„Ich erinnere mich“, sagt sie leise. „Aber wie kann ich zu dir kommen?“

Ein glückliches Lachen weht an ihr Ohr. Es ist ganz einfach. Lass dich fallen. Überlasse dich der Dunkelheit. Du brauchst keine Angst zu haben.

Sie setzt sich auf den Boden, lehnt den Rücken an den Stamm des Strauches und schließt die Augen. Spürt die Kälte, die auf sie zu kriecht, langsam von ihr Besitz ergreift. Fühlt gleichzeitig eine Hand auf ihrer Schulter, den Griff von tröstenden Fingern.

Ihr Körper wird schwer, verbindet sich mit der Erde. Ein schönes Gefühl. Geborgen und gehalten von der Kraft des Elementes. Und dann sieht sie das Licht. Es breitet sich aus, überstrahlt alles, füllt sie aus, lässt sie leicht werden. Sie schwebt hoch, unter ihr sieht sie kurz den zusammengesunkenen Körper am Fuß des Strauches. Er ist nicht mehr wichtig, er hat seine Pflicht erfüllt. Sie braucht diese Hülle nicht mehr.

Aus dem Licht löst sich eine Gestalt.

Du bist da, sagt Haymon.

Ja, ich bin da. Endlich.

Sie lacht und lässt sich fallen in der Gewissheit, aufgefangen zu werden.

Durch die Zeiten hast du auf mich gewartet und jetzt sind wir eins.


Verschlungene Wege

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