Читать книгу Britta und der Weg ins Leben - Karin Schönfeld - Страница 3
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ОглавлениеErschrocken wachte sie auf. Die Angst drückte ihr die Brust zusammen, als läge ein großer Felsbrocken auf ihr. Was war geschehen? Sie hatte geträumt, aber alles schien so verwirrend, dass sie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Mühsam versuchte Britta sich zu orientieren. Sie lag in ihrem breiten Messingbett. Durch die Jalousien drang kein Licht herein. Stille umgab sie. Und Dunkelheit. Ihre Finger tasteten suchend nach dem Schalter ihrer kleinen Nachttischlampe, deren grellpinke Farbe sichtbar wurde, nachdem Britta das Licht angeknipst hatte. Ein billiges Stück, aber sie erfüllte ihren Zweck, wie alles in Brittas Wohnung seinen Zweck erfüllte. Mühsam rappelte sie sich hoch, schlurfte zur Toilette und versuchte, das beklemmende Gefühl in der Brust zu verdrängen. Vom Bad aus trottete sie in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Die runde Wanduhr zeigte vier Uhr morgens an. In zwei Stunden musste sie aufstehen. Britta seufzte in sich hinein. Es würde schwer sein, jetzt noch einmal einzuschlafen. Unbewusst strich sie sich durch das glanzlose, braune Haar. Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Der Traum ließ sie nicht los. Ein Mann und eine Frau waren auf der Flucht gewesen. Sie flogen mit einem Gerippe, mit einer Fischgräte. Britta runzelte die Stirn, schüttelte stumm den Kopf und schlurfte zurück in ihr Schlafzimmer. ‚So ein Quatsch‘.
„Hallo Britta, guten Morgen.“
„Guten Morgen.“
„Na, wie geht es dir? Du siehst irgendwie so... mitgenommen aus. Hast du etwa die Nacht durchgemacht, ohne mir etwas davon zu sagen?" Sonja sprühte wie immer vor Vitalität. Ihre sorgfältig manikürten Finger sortierten flink die Mappen in dem Aktenschrank.
Britta beobachtete neidisch ihre Freundin. Sie selbst hasste diese Arbeit.
Das stupide Herumsitzen an einem praktischen, farblosen Schreibtisch, der den gleichen Charme versprühte wie das grelle Licht der Neonröhren über ihr. Sonja und Britta waren Arbeitskolleginnen und erledigten all die anfallende Arbeit, die sich im Büro einer Firma, die mit Putzmittel handelte, so ergab. Ich bin schon viel zu lange hier, gestand sich Britta im Stillen ein. Anfangs hatte ihr das alles noch Spaß gemacht, sie lernte viel, fühlte sich gebraucht und bestätigt und verdiente ihr eigenes Geld. Innerlich schüttelte sie jedoch den Kopf. Welch ein Selbstbetrug. Der Chef nutzte sie in Wirklichkeit nach Strich und Faden aus. Er wusste genau, wie er ihr schmeicheln konnte, damit sie bereitwillig ein paar Stunden dran hing und genau das tat, was er wollte.
„Hast du den Meyer-Auftrag gesehen?“
„Was?“
„Den Auftrag, der gestern gekommen ist“, erklärte Sonja ungeduldig.
„Mist, ich hatte versprochen, dass heute die erste Teillieferung erfolgt.“
Alles in allem bin ich hier völlig fehl am Platze, befand Britta in Gedanken weiter grübelnd. Sonja war die Bessere von ihnen. Sie konnte besser mit den Leuten reden, behielt die Übersicht, gab sich selbstbewusst und sicher und sah auch noch überdurchschnittlich gut aus. Als Britta vor vier Jahren in der Firma anfing, hatte sie Sonja zunächst mit bewundernder Scheu beobachtet. So wie Sonja wollte sie auch werden. Sonja war einfach perfekt. Es hatte über ein Jahr gedauert, bis sie mal abends nach der Arbeit zusammen Essen gegangen waren. Ein weiteres Jahr verging, bis sie mit Fug und Recht als Freundinnen bezeichnet werden konnten. Sie hatten sich während der Arbeit aneinander gewöhnt, obwohl sie vom Charakter her nicht unterschiedlicher sein konnten. Dort die aufgekratzte, lebenslustige Männermörderin, da die schüchterne und in sich gekehrte Einzelgängerin.
„Du bist heute mit deinen Gedanken ganz woanders.“
„Kann sein.“
„Was ist los.“
„Ach!“ Britta wand sich. Sonja wusste von ihrem Traum einer Schriftstellerkarriere. „Es läuft nicht so mit dem Schreiben zurzeit.“
„Ach du meine Güte! Das liegt daran, dass du nur zu Hause herumhängst. Du musst auch mal unter Leute gehen.“
„Das lenkt mich nur vom Schreiben ab.“
„Quatsch, das bringt dich auf andere Gedanken. Ich habe eine Idee. Ich hole dich heute Abend ab und wir gehen zu ‚Tonis‘.“
‚Tonis‘ war ein Italiener in der Innenstadt, so eine Art Inn-Kneipe. Brittas Nackenhaare sträubten sich in alle Richtungen. „Ich weiß nicht so recht.“
„Das weißt du nie. Ich hole dich um acht Uhr ab. Basta.“
Damit war der Abend festgelegt. Britta wusste es und schmollte etwas missmutig in sich hinein. Sie fürchtete sich immer ein wenig davor, unter Menschen zu gehen, was Sonja jedoch noch nie gestört hatte. Ohnehin schien Sonja seither bestrebt, sie irgendwie an den Mann zu bringen. So erwies sich ihre Freundschaft als ständiges Tauziehen aus guter Absicht und Gegenwehr, was sie jedoch in gewisser Weise bereicherte und interessant machte, wie Britta sich insgeheim eingestehen musste.
‚Mühsam kämpfte sich der junge Mann durch das Dornengestrüpp. Als er endlich zu der Prinzessin durchgekommen war, wollte sie ihn nicht mehr.’
„Was schreibst du denn da für einen Käse?“
„Was?“ rief Britta aus dem Badezimmer.
„Ich lese mir gerade deine Schreibversuche durch“, rief Sonja lachend zurück.
„Was ist los?“ fragte Britta noch einmal, als sie aus dem Badezimmer kam, weil sie ihre Freundin nicht verstanden hatte. Sonja war wie immer überpünktlich gewesen, aber Britta musste auch ehrlich eingestehen, dass sie es bis zum letzten Moment hinausgeschoben hatte, sich für den gemeinsamen Abend fertig zu machen.
Britta sah, dass Sonja ihre letzten Schreibversuche studierte. „Ich habe dir doch gesagt, dass es im Moment nicht so läuft.“
„Mmmh“, meinte Sonja nur und sah Britta zu, wie diese den Inhalt ihrer Handtasche untersuchte. „Was du da schreibst sind auch allenfalls Wortfetzen. Es gibt überhaupt keine Zusammenhänge.“
Britta verzog missmutig das Gesicht. „Mir fehlt einfach die zündende Idee, die mich fesselt. Wofür auch? Ich werde ja sowieso nie etwas veröffentlichen.“
„Wenn du so denkst, kannst du dir gleich ein neues Hobby suchen.“
„Die Phantasie läuft eben nicht so rund. Bestimmt ist auch dieses Einerlei in der Firma schuld. Die Arbeit im Büro vereinnahmt einen total und abends bin ich immer so kaputt, dass ich keinen klaren Gedanken zusammen bekomme.“
„Ja, ja. Es gibt tausend Gründe, aber wenn du ehrlich bist, sind das alles nur faule Ausreden“, widersprach Sonja, „es liegt nur an dir selbst. Du versuchst dir da irgendwelche Gedanken zusammen zu spinnen, anstatt von dem zu schreiben, was du kennst. Schreib doch vom wirklichen Leben, von dir und was dir tagtäglich passiert.“
„Das interessiert doch keinen Menschen.“
„Ich glaube schon. Das Leben schreibt die besten Geschichten.“
„Der Satz ist ein alter Hut.“ Britta schüttelte resigniert den Kopf. Sonja verstand das nicht. Die Tage waren meistens so mit anderen Dingen ausgefüllt, dass für das Schreiben einfach nicht genug Zeit blieb. Morgens Aufstehen und dann acht Stunden arbeiten. Wenn sie dann nach Hause kam, fühlte sie sich richtig ausgelaugt. Sie brauchte einfach Zeit zur Entspannung. Außerdem wollte sie auch hin und wieder ein gutes Buch lesen oder im Kino einen Film ansehen. Letztendlich sorgte dann auch noch Sonja selbst dafür, dass ihr keine Zeit blieb, wenn sie abends gemeinsam etwas unternahmen. ‚Sei nicht ungerecht‘, mahnte sich Britta im Stillen, ‚sie meint es ja nur gut‘.
Müde schritt Britta auf dem nächtlichen Bürgersteig entlang. Es war spät geworden. Sonja hatte wie so oft kein Ende gefunden. Trotzdem fühlte sie sich nach dem zurückliegenden Abend besser. Ablenkung schien wirklich eine gute Medizin zu sein. Vor allem das Reden hatte ihr gut getan. Komisch, mit Sonja konnte sie über alles reden, denn trotz ihrer oberflächlichen Fassade war sie eine gute Zuhörerin.
„Du bist in letzter Zeit häufig so in dich gekehrt“, hatte Sonja das Thema behutsam angeschnitten.
„Ich weiß, aber ich weiß nicht, was ich dagegen unternehmen soll. Die Arbeit nervt mich total.“
„Wen von uns in der Firma nervt die Arbeit nicht? Der Chef wird immer unausstehlicher.“
„Er ist eben sehr launisch“, meinte Britta, „aber das ist es nicht allein. Du weiß doch, am liebsten möchte ich Schriftstellerin werden, aber dieses Ziel scheint weiter entfernt als je zuvor, wie du ja vorhin selbst feststellen konntest.“
„Ich glaube, du setzt dich selbst viel zu sehr unter Druck“, widersprach Sonja.
Sie saßen an einem runden Bistrotisch in der Kneipe. Sonja blinzelte dem schwarzhaarigen, jungen Kellner kokett zu, als sie ihre Bestellung aufgaben. Das ständige Flirten mit der männlichen Spezies schien ein Teil von ihr zu sein.
„Vermutlich werde ich sowieso nie berühmt. Es gibt so viele, die besser schreiben können als ich“, nahm Britta den Faden wieder auf.
„Aber niemand kann so schreiben wie du.“ Sonja versuchte, ihre Freundin aufzubauen. „Die Gedichte, die ich mal von dir lesen durfte, sind wirklich gut. Du darfst nicht aufgeben. Das ist das Entscheidende. Wenn du den Traum hast, einmal Schriftstellerin zu werden, dann wird dieser Traum früher oder später in Erfüllung gehen. Davon bin ich überzeugt.“
Britta lächelte unwillkürlich. Sonjas Optimismus wirkte ansteckend und belebend.
Britta lächelte auch noch auf dem Weg zu ihrer Wohnung. Irgendwie schaffte es Sonja immer wieder, sie aufzubauen. Sie brachte Britta dazu, an sich zu glauben, und alle Probleme schienen an solchen Abenden weit entfernt zu sein.
Sie bog um die letzte Ecke und stutzte. Vor dem mehrstöckigen Wohnhaus, in dem sich ihr Appartement befand, stand ein Umzugswagen. Wer, um alles in der Welt, zog nachts um ein Uhr um? Durfte man das überhaupt? Britta hatte zwar mitbekommen, dass ihre Nachbarin im Flur gegenüber letzte Woche ausgezogen war. Sie wohnte jetzt mit ihrem Freund zusammen, einem langhaarigen Musiker, über den sich alle im Haus aufgeregt hatten, weil er permanent auf seinem Schlagzeug herumhämmerte. Jetzt gab es anscheinend noch eine Steigerung. Neugierig blickte sie in den Umzugswagen. Ein Teil der Möbel schien schon ausgeladen zu sein. Vorsichtig öffnete sie die Haustür und betrat das hell erleuchtete Treppenhaus. Ihre Wohnung lag im zweiten Stockwerk. Von dort hörte sie schon ein Rumpeln und Schnaufen. Neugierig ging sie nach oben und traf auf dem oberen Treppenabsatz zwei Männer, die sich mit einem Schrank abplagten.
„Guten Abend“, sagte sie laut und deutlich.
Die Männer stellten den Schrank ab. „N’ Abend“, tönte es von beiden einvernehmlich.
Britta überwand ihre Scheu. „Ziehen Sie hier ein?“
„Ich ziehe ein“, erklärte der eine bereitwillig. „Thomas Waldner, freut mich, Sie kennen zu lernen, Frau...“
„Sommerfeld, ich heiße Britta Sommerfeld.“
„Also, freut mich, Sie kennen zu lernen“, wiederholte Thomas Waldner. Er hatte dunkle, lockige Haare und trug Jeans und Hemd. Auf Britta machte er einen ganz normalen Eindruck, sah man einmal von dem Zeitpunkt seines Einzuges ab. Der andere dagegen schien ihr nicht so ganz geheuer. Er hatte auffallend lange Haare und sah mit seinem Bart und seiner abgescheuerten Lederjacke irgendwie heruntergekommen aus.
Brittas Musterung dauerte schon zu lange. Sie räusperte sich nervös, um die entstandene Pause zu überbrücken. „Dann will ich mich mal ins Bett verziehen. Gute Nacht.“ Sie schob sich an dem Schrank und den Männern vorbei, die nur nickten und ebenfalls „Gute Nacht“ sagten.
Schnell schloss Britta die Tür zu ihrem Appartement auf und verschwand in ihren sicheren vier Wänden. Doch ihre Gedanken rasten. Jeder normale Mensch zog tagsüber ein. Jedenfalls alle, die sie kannte. Obwohl, da fiel ihr ein, ihre Eltern hatten schon einmal bis in die Nacht hinein ihr Haus renoviert. Gegen Mitternacht waren sie endlich fertig gewesen und hatten dann auch noch den ganzen Krempel zusammen geräumt. Aber ihre Eltern wohnten auf dem Land. Dort störte das niemanden.
Unwillkürlich musste Britta an ihren Traum in der vergangenen Nacht denken. Zwei Menschen, die auf der Flucht waren. Sie riss sich die Jacke herunter, schmiss sie achtlos über den Sessel und setzte sich an ihren Schreibtisch.
Rory und Heather waren auf der Flucht. Einst hatten sie zu der stärksten und schlagkräftigsten Truppe im Untergrund gehört. Jetzt liefen sie davon. Sowohl vor der Polizei als auch vor ihren ehemaligen Kameraden. Sie waren Gejagte und doch hatten sie beide ein gemeinsames Ziel. Ein friedliches und ruhiges Leben und Kinder, eine gemeinsame Zukunft. All jene Dinge, die sie vorher nie in Betracht gezogen hatten. Doch seit ihrem ersten Aufeinandertreffen war etwas Merkwürdiges mit ihnen passiert.
Britta runzelte die Stirn und las das soeben Geschriebene durch. „Das klingt ja total bescheuert“, schimpfte sie laut. Sie stöhnte und stützte den Kopf verzweifelt auf ihre Hände. Warum wollte ihr einfach keine klare Idee kommen? Warum fand sie keinen roten Faden, dem sie folgen konnte. Da waren lediglich kurze Gedankenfetzen oder rastlose Träume. Nichts, was ihr irgendwie den Eindruck vermittelte, von Bestand zu sein.
Ihre Gedanken gingen zurück zu dem Treffen auf der Treppe. Was ihr neuer Nachbar wohl beruflich machte? Hatte er irgendetwas zu verbergen? Sie nahm den Stift erneut zur Hand und kritzelte: - Geheimdienst, gefährlich,... ein Mann, der etwas zu verbergen hat. Er ist ständig in Gefahr. – Mussten Geheimdienstleute nachts ihre Umzüge erledigen, damit niemand etwas von ihnen mitbekam?
„Was? Dein neuer Nachbar ist nachts eingezogen?“ Sonja schüttelte amüsiert den Kopf. „Hat der ‚nen Knall?“
Britta zuckte nur mit den Achseln. „Ich weiß nicht. Ein bisschen merkwürdig ist das ja schon.“ Sie saßen zusammen im Büro und Britta hatte Sonja von der merkwürdigen Begegnung in der Nacht erzählt.
„Ein bisschen ist gut.“
„Ich habe mir schon überlegt, ob er irgendetwas Geheimnisvolles tut, was keiner herausbekommen darf oder so.“
„Na, jetzt geht deine Phantasie mit dir durch.“
„Du sagst doch selbst, es ist mehr als ein bisschen merkwürdig.“
„Ja, aber gerade dann steckt irgendetwas ganz Banales dahinter.“
„Meinst du?“
„Sicher. Menschen, die Geheimnisse haben, verhalten sich meistens unauffällig, so dass du gar nicht merkst, dass da noch was anderes dahinter steckt.“ Mit diesen Worten wandte sich Sonja abrupt ihrer Arbeit zu.
Britta zuckte mit den Schultern. „Schade, ich dachte, das wäre mal ein guter Stoff für eine interessante Geschichte.“